ZF Kooperatives Netzbasiertes Lernen (Bodemer et al

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ZF Kooperatives Netzbasiertes Lernen (Bodemer et al.)
Einleitung
Mit dem Einsatz kooperativer netzbasierter Lernszenarien sind viele Erwartungen, aber auch Anforderungen verbunden.
Die Möglichkeit, mit anderen Personen netzbasiert zu interagieren, ist eines der zentralen Unterscheidungsmerkmale
aktueller Online-Lernszenarien gegenüber früheren Ansätzen computerunterstützten Lernens und Lehrens. Dieser Wandel
geht zurück auf neue Technologien, aber vor allem darauf, dass theoretische Ansätze besonders lernförderlicher Szenarien
inzwischen soziale Prozesse aktiver Wissenskonstruktion betonen.
1) Erwartungen, die mit dem Einsatz kooperativer netzbasierter Lernszenarien verbunden sind:
- Neben der zeitlichen und räumlichen Flexibilität und des Erwerbs von Medienkompetenz sind dies vor allem
potentielle Einflüsse der sozialen Situation, die sich positiv auf Motivation und Lernerfolg aufwirken können:
- Zugehörigkeit zu einer Gruppe: Kann gesteigerte Motivation, hohe Involviertheit der
Lernenden und aktive Verarbeitung der Lerninhalte zur Folge haben
- Inhaltsspezifisches Wissen der Gruppe kann über individuelles Wissen hinausgehen und multiple
Perspektiven aufzeigen, die eine aktive Verarbeitung der Lerninhalte unterstützen
- Kooperation mit anderen Lernenden: Kann soziale Kompetenzen wie Reflexionsvermögen,
Kommunikationsfähigkeit, Einfühlungsvermögen, Kooperationsbereitschaft und Konfliktfähigkeit fördern
- Externe Wissensbasis (spezifische Stärke netzbasierter Kooperation): gemeinsam erstellt, jederzeit veränderbar, allen
Gruppenmitgliedern zugänglich
→ kann konstruktive soziale Diskursprozesse und damit aktive Verarbeitung von Inhalten anregen
- Social software (Web 2.0-Anwendungen): Aktueller Trend, der die genannten Vorteile vereinigen soll
- große Anzahl an Personen kann übers Internet interagieren und Infos austauschen (z.B. Wikis, Webblogs,
Community-Netzwerke)
- leicht handhabbar → Erwartung: erhöhte Beteiligung, verbesserte Wiederverwendbarkeit der Inhalte, effektivere
Recherche
- offener kommunikativer Austausch, soziales Feedback, Aufbau sozialer Gemeinschaften sollen unterstützt werden
2) Anforderungen kooperativen netzbasierten Lernens
Die Bereitstellung sozialer Technologien führt nicht generell zu verbesserten, konstruktiven Lernprozessen. Kooperatives
netzbasiertes Lernen ist auch mit spezifischen Anforderungen verbunden, die von den Lernenden für erfolgreichen
Wissenserwerb bewältigt werden müssen.
2.1) Sozio-emotionale Aspekte
Netzbasierte Kommunikation hat (im Vergleich zu face-to-face) verschiedene Einschränkungen, die vor allem mit einer
reduzierten Wahrnehmung sozialer und emotionaler Kontextinformationen zusammenhängen. Verschiedene
Kommunikationsmedien sind in manchen Bedingungen unterschiedlich gut geeignet.
Kanalreduktionsmodelle (z.B. Theorie der sozialen Präsenz (1976), Theorie der reduzierten soz. Hinweisreize (1984))
- betonen Defizite schriftlicher Online-Kommunikation im Vergleich zu reichhaltigeren Kommunikationsszenarien (Videokonferenz, Face-to-Face-Interaktion)
- Reichhaltigkeit ist bestimmt durch Anzahl der zur Verfügung stehenden Kanäle. Stehen z.B. Video- und
Audiokanal zur Verfügung, können verschiedene Eigenschaften und Verhaltensweisen des Gesprächspartners
(z.B. Alter, Geschlecht, Kleidung, Gestik, Stimmung) und Informationen über dessen Umgebung (z.B.
Einrichtung, Hintergrundgeräusche) wahrgenommen werden.
- Bei rein schriftlicher Kommunikation: viele dieser sozialen Kontextinformationen nicht übermittelt
→ geringeres Maß an sozio-emotionalem Erleben der Anwesenheit des Gesprächspartners
→ u. a. verstärkte Wahrnehmung der eigenen Person, enthemmte, oft antisoziale Kommunikation
Eingeschränkte Wahrnehmung sozialer Kontextinformationen muss allerdings nicht zwangsläufig nachteilig sein.
Bereits die Kanalreduktionsmodelle zeigten positive Effekte auf (postulierte Enthemmung ist nicht unbedingt mit
antisozialem Kommunikationsverhalten verknüpft, sondern kann auch zu konstruktiven nonkonformistischen Äußerungen
und einer gleichmäßigeren Beteiligung der Gruppenmitglieder führen).
SIDE-Modell (social identity model of deindividuation effects, Reicher et. al., 1995):
- Identifiziert unterschiedliche Auswirkungen von Bedingungen, die in netzbasierter. Kommunikation häufig
gegeben sind (visuelle Anonymität, Isolation und mangelnde Identifizierbarkeit)
- Bsp.: Wenn andere Gruppenmitglieder nicht individuell wahrgenommen werden können: Zugehörigkeit zu einer
Gruppe oder Fokussierung auf eigene Person verstärkt sich, je nachdem, ob soziale Identität einer Peson stark
oder schwach ausgeprägt → Bei vorherrschender sozialer I.: Anonymität kann zu homogenerer Wahrnehmung
einer Gruppe und zu verstärkter Orientierung an ihren Normen und Werten führen
Theorie der sozialen Informationsverarbeitung (Walther, 1992):
- Visuelle Anonymität kann zu verstärkter Betonung sozio-emotionaler Aspekte führen, da Hinweise auf
persönliche Eigenschaften häufig generalisiert (freundliche Mail → generell freundliche Person)
- Phänomen kann bewusste Betonung persönlicher Eigenschaften zur Folge haben (hyperpersonal communication)
- Sozio-emotionale Infos können auch schriftlich vermittelt werden. Dafür sind jedoch Kenntnisse zum
netzspezifischen Sprachgebrauch notwendig
→ Bei computervermittelter Kommunikation werden zwar häufig soziale Kontextinformationen eingeschränkt übermittelt, dies führt aber nicht notwendigerweise zu einem Defizit sozio-emotionalem Erlebens und zu negativen
Konsequenzen für die netzbasierte Kooperation.
→ Die zentralen Anforderungen für die kommunizierende Person bestehen in…
- der Fertigkeit, sozio-emotionale Kontextinformationen trotz eingeschränkter Kommunikationskanäle zu
interpretieren und zu vermitteln
- (nach Möglichkeit) der Wahl des richtigen Kommunikationsmediums in Abhängigkeit von Eigenschaften der
eigenen Person und Gruppe
2.2) Inhaltliche und strukturelle Aspekte
Die Lernenden müssen auch Anforderungen bewältigen, die in Zusammenhang mit den Inhalten stehen, die kooperativ
ausgetauscht werden. So kann es erforderlich sein, Kommunikationsmedien in Abhängigkeit von der inhaltlichen
Zielsetzung auszuwählen, das eigene Wissen zum Wissen des Lernpartners in Beziehung zu setzen sowie kooperative
Lernprozesse so zu koordinieren, dass die Informationen in strukturierter, lernförderlicher Weise verarbeitet und
ausgetauscht werden.
Theorie der Medialen Reichhaltigkeit (Daft und Lengel, 1986):
- Unterscheidet hinsichtlich der Wahl geeigneter Kommunikationsmedien unterschiedliche inhaltliche
Zielsetzungen, die mit dem netzbasiertem Austausch von Informationen verbunden sein können
- Reichhaltige Medien vor allem bei Aufgaben erforderlich, in denen man zu einer gemeinsamen Deutung der
Situation gelangen muss (z.B. komplexe kooperative Entscheidungssituationen wie Bewertung von Mitarbeitern)
- Wenn Aufgabe hingegen eindeutig: Einschränkung der Kommunikationskanäle ist sogar förderlich
Media synchronicity theory (Dennis & Valacich, 1999):
- Greift diese Annahmen auf, stellt aber Synchronizität der Medien in den Vordergrund (z.B. Unmittelbarkeit, mit
der auf Aussagen des Kommunikationspartners reagiert werden kann
- Medien mit geringer Synchronizität für das sammeln von Fakten (Informationsübermittlung) besser geeignet
- Medien mit hoher Synchronizität für die Integration dieser Fakten (Informationsverdichtung) vorteilhaft
Kommunikationstheorie von Clark (1991):
- Gesprächspartner müssen sich während der Kommunikation in Groundingprozessen darum bemühen, eine gemeinsame
Wissensbasis (common ground) zu ermitteln. Verschiedene Eigenschaften von Kommunikationsbedingungen haben
Einfluss auf den Aufwand, der für erfolgreiches grounding notwendig ist: sich im selben Raum befinden, sich sehen /
hören können, gleichzeitig agieren können, Botschaften unmittelbar bzw. in ursprünglicher Reihenfolge zu erhalten
sowie auf vorherige Botschaften zurückgreifen bzw. diese revidieren können.
- Bei netzbasierter Kommunikation meist mehrere dieser Eigenschaften nicht gegeben → Grounding erschwert
- Weitere Schwierigkeit in diesem Zshg.: Aufbau einer Vorstellung / Modell über das Wissen des Lernpartners
- Wenn keine genauen Informationen verfügbar → Nutzung von Heuristiken (z.B. gemeinsame Zugehörigkeit zu einer
Gruppe, gemeinsame Umgebung oder Inhalt eines gemeinsamen Gesprächs als vorhandenes Wissen vorausgesetzt)
- Liegen auch solche Infos (noch) nicht vor:
→ eigenes Wissen als Basismodell für das Wissen des Gesprächspartners herangezogen
→ häufige Folge: Verzerrte Vorstellung des Partner-Wissens → Formulieren adressatengerechter Fragen /
Erklärungen, die gemeinsames Verständnis fördern könnten, ist erschwert
Die Koordination sozialer Interaktionen bei koop. Lernszenarien ist bereits face-to-face schwierig. Zur Strukturierung
koop. Lernens wurden daher Methoden vorgeschlagen, die didaktisch sinnvolle Abläufe des Lernprozesses vorgeben, z.B.
scripted cooperation (O´Donnell & Dansereau) oder reciprocal teaching (Palinscar & Brown).
→ Strukturierungsmethoden haben sich einerseits als lernwirksam erwiesen
→ Andererseits ist die Selbstregulation der Lernenden (beim koop. Lernen als besonders motivations- und
lernförderlich angesehen) dadurch stark eingeschränkt
- Beim netzbasierten Lernen ist die Schwierigkeit, strukturiert und zielführend zu interagieren, aufgrund der
eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten zusätzlich erhöht. Andererseits bietet der Computer auch
zusätzliche Möglichkeiten, Strukturierungsangebote adaptiv an die Lernenden anzupassen
- Koordination der Interaktionen, Aufbau eines Modells über Wissen des Lernpartners und Herstellen eines
gemeinsamen Verständnisses belasten das Arbeitsgedächtnis.
- AG ist beim computerbasierten Lernen (komplexe Infos auf unterschiedl. Weise dargestellt) ohnehin stark beansprucht
→ Gefahr nur geringer Lernerfolge aufgrund kognitiver Überlastung
- Für individuelle Lernszenarien: Computeransatz bietet aber auch Chance, adaptiv während des Lernprozesses
lernirrelevante kognitive Belastung zu reduzieren und bedeutsamen kognitiven Aufwand zu fördern
3) Unterstützung kooperativen netzbasierten Lernens
3.1) Sozio-emotionale Aspekte
Laut Forschung: oft reduzierte Wahrnehmung sozialer und emotionaler Kontextinformationen bei netzbasierter
Kommunikation (insbesondere schriftlicher). Daher:
→ Entwicklung von Maßnahen, die zu sozio-emotionaler Anreicherung dieser Kommunikation führen könnten
Emoticons: inzwisch. weit verbreitet, um Stimmungs- / Gefühlszustände bzw. soziale Bedeutung einer Aussage darzustellen
- Ironie in Aussagen (bei schriftlicher Kommunikation bei wenig bekannten Personen oft schwierig zu erkennen)
kann gekennzeichnet werden
- Gewisse Kenntnisse hinsichtlich Bedeutung sind notwendig (japanische Emojis sind anders als westl. Emoticons)
Group Awareness-Tools: technologisch anspruchsvollerer Ansatz zur Verminderung sozialer + emotionaler Defizite
- ursprünglich in Forschungsbereich computer supported cooperative work (CSCW) entwickelt
- erfassen soziale Kontextinformationen während der netzbasierten Zusammenarbeit und stellen sie den Partnern
- meist grafisch - zur Verfügung (z.B. Infos zum Aussehen der Gruppenmitglieder, zu ihrem Aufenthaltsort,
emotionalem Zustand und zu ihren sozialen Rollen und Verantwortlichkeiten. Häufig: „who is online Liste“, oder
etwa Avatare, beispielsweise in Second Life)
Konzept der transformierten sozialen Interaktion: geht über die Reduzierung der Defizite bzw. Herstellung von Face-toFace-Bedingungen bei netzbasierter Kommunikation hinaus:
- Erweiterte Nutzung von Avataren durch Trennung von Erscheinungsbild und Verhalten: Person kann einerseits
Avatar wählen, der nicht den realen Eigenschaften der Person entspricht (Geschlecht, Attraktivität, Kleidung,…),
andererseits kann auch das Verhalten des Avatars so manipuliert werden, dass es keine exakte reale Entsprechung
hat (z.B. situationsspezifisch optimaler Grad an Zustimmung durch Kopfnicken des Avatars)
→ Kooperationsbedingungen herstellbar, die einem realen Treffen überlegen sind. Eine Person wird positiver
Bewertet, wenn sie durch einen Avatar repräsentiert ist, der die Bewegungen des Gesprächspartners nachahmt
oder so eingestellt ist, dass alle Gesprächspartner unabhängig voneinander Blickkontakt mit ihm halten können
3.2) Inhaltliche und strukturelle Aspekte
In Face-to-Face-Kooperation: Herstellen gemeinsamen Verständnisses oft unter Verwendung externer Repräsentationen
(z.B. Texte, Grafiken, Gegenstände), auf die die Kommunikationspartner sich beziehen können.
→ individuelle Beiträge können objektiviert und veranschaulicht, koordiniert und zueinander in Beziehung gesetzt werden
Bei netzbasierter Kooperation: solch gemeinsamer Bezug auf externe Repräsentationen nicht automatisch gegeben
- Bsp.: In vielen E-Learning-Szenarien: Es steht nur ein Kommunikationsmedium + Plattform zur gemeinsamen
Verwaltung von Dokumenten zur Verfügung. Auch wenn mehrere User dasselbe Dokument geöffnet haben,
werden Zeigegesten auf ein Objekt im Dokument von den anderen nicht wahrgenommen.
→ Lösung: Geteilte Anwendungen: Können von allen Lernpartnern gleichzeitig eingesehen und bearbeitet werden
- Vorteil gegenüber Papier / Bleistift (F-t-F): Inhalte flexibel veränderbar, können leicht abgespeichert und weiter
verarbeitet werden
- Nutzbar, um gemeinsam Verständnis fördernde Darstellungen der Lerninhalte zu betrachten / manipulieren (z.B.
Simulationen zu naturwissenschaftlichen Konzepten
- Nutzbar, um Bestandteile der gemeinsamen Diskussion grafisch darzustellen (z.B. Diagramme, die Argumente
und Gegenargumente zueinander in Beziehung setzen)
Um Aufbau eines Modells über das Wissen des Lernpartners zu unterstützen, wurde die Group-Awareness-Konzeption
aus CSCW-Forschung erweitert und auf den Forschungsbereich computer-supported collaborativ learning (CSCL) übertragen
→ Group-Awareness-Tools: Erfassen kognitive Variablen wie das Wissen und die Meinung der Gruppenmitglieder und
melden sie in vereinfachter, visualisierter Form an die Gruppenmitglieder zurück.
→ Beispielsweise kann Wissen eines Kooperationspartners zu einem Sachverhalt schnell und einfach erkannt und mit
eigenem Wissen verglichen werden
→ Kann kognitiven Aufwand, der zur Vermittlung des Partnerwissens notwendig ist, auf ein Minimum reduzieren
Anwendungen und Maßnahmen zur Strukturierung kooperativen netzbasierten Lernens lassen sich danach
unterscheiden, wie stark und explizit sie die Lernenden anleiten. Beispielsweise enthalten Kooperationsskripts relativ
explizite und starke Vorgaben zu Ablauf und Inhalt der Interaktion zwischen den Lernenden.
- explizite Strukturierung: koop. Lernen läuft didaktisch sinnvoll ab, aber Selbststeuerung der Lernenden eingeschränkt
CSCL-Bereich: Zwei Strukturierungsansätze ohne allzu explizite Vorgaben diskutiert:
- Group-Awareness Tools: Legen bestimmte Denk-, Kommunikations- und Verhaltensweisen nahe, indem soziale
Kontextinfos dargestellt werden. Z.B. Infos über Kooperationsverhalten → sozialer Vergleich → Anpassung Verhalten
- Repräsentationsinhärente Eigenschaften: Legen ebenfalls Denk-, Kommunikations- und Verhaltensweisen nahe:
Beispielsweise legt eine Matrix Suche bzw. Diskussion fehlender Infos stärker nahe als ein Begriffsnetz oder Text
→ Defizitorientierte Sichtweise, die lange Zeit aufgrund eingeschränkter Kanäle vorherrschend war, ist überwunden.
Sowohl in Bezug auf das sozio-emotionale Erleben der Lernpartner, als auch hinsichtlich der Verarbeitung der Lerninhalte
und der Strukturierung des Lerndiskurses können inzwischen sogar Bedingungen geschaffen werden, die eine Unterstützung
sinnvoller Lernprozesse auf eine ganz andere Weise ermöglichen, als dies in F.-to-F.-Lernszenarien möglich ist.
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