Skript PSYPE 3 Psychopädagogik 3 (Psychopädagogik des Erwachsenenalters/ spezielle Psychopädagogik) 1. Besondere Lebenslagen im Jugendalter Nach dem Konzept der Entwicklungsaufgaben gibt es auf jeder Stufe unserer Entwicklung eine Anzahl von Aufgaben, die in diesem Lebensabschnitt bewältigt werden sollten. Wird dies befriedigend erfüllt, so ist das Individuum besser vorbereitet auf die Bewältigung der Aufgaben zukünftiger Lebensabschnitte. In diesem Kapitel werden Anforderungen dargestellt, die in der Jugendphase zu bewältigen sind und Kindern, Jugendlichen einen Übergang in das Erwachsenenalter erleichtern oder erschweren können. 1.1 Entwicklungsförderung schulischer Leistungen 1.1.1 Allgemeine Bedingungen für die Entwicklungsförderung schulischer Leistungen Schulerfolg ergibt sich aus dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren, der Kontextfaktoren (wie z. B. Bildungssystem, Schulische Faktoren, Klasseninterne Faktoren), der individuellen Faktoren( z.B. kognitive Faktoren , Motivation. ), der familiären Faktoren (der sozioökonomische Status, das (autoritative) elterliche Erziehungsverhalten, Interesse der Eltern an den schulischen Dingen und altersgemäße Kontrolle Unterrichtes, die ) und der Unterrichtsvariablen (die Verwendung der sozialen, Qualität des individuellen oder kriterienabhängigen Bezugsnorm durch die Lehrperson). So wirken also internale Ressourcen des Schülers zusammen mit den Erziehungsbemühungen der Eltern oder Erzieher und den Lehrangeboten der Schule. Dieses gesamte Zusammenspiel wird von einer Reihe von Variablen beeinflusst. Für den Erzieher, ergibt sich also im Zusammenhang mit der Entwicklungsförderung schulischer Leistungen die Erwartung einer Kenntnis der wesentlichen Variablen für Schulleistungen allgemein, einer Kenntnis der Variablen, die Schulleistungen erschweren und in der Praxis der Fähigkeit und Bereitschaft zur Zusammenarbeit nicht nur mit dem zu fördernden Schüler sondern auch mit dessen Eltern und mit der Schule. 1 Skript PSYPE 3 1.1.2 Schulkonzepte in Luxemburg In Luxemburg wird mit den Projekten „Eis Schoul“, „Neie Lycée“ und der fundamentalen Neuausrichtung der Vor- und Primärschulen ab dem Schuljahr 2009 bestätigt, dass die bisherigen Konzepte zu wenig in der Lage waren, Schulerfolg ohne Berücksichtigung der sozialen Herkunft zu ermöglichen. Mit den neuen Konzepten orientiert man sich an Untersuchungsergebnissen, die gezeigt haben, dass die Qualität des Umfeldes (Schule, Klasse, Unterricht) tatsächlich Wirkung auf die Schulleistungen hat, besonders auf die der Schwächsten. Reform der Vor- und Primärschulen: Ziel der Reform ist es, Schülern/innen zu mehr Erfolg in ihrer Laufbahn zu verhelfen. Dabei steht die Individualisierung des Lernens im Mittelpunkt, d.h. dass jede(r) Einzelne die Möglichkeit erhält, sich seinen Fähigkeiten entsprechend möglichst gut zu entwickeln und zu entfalten. Kernelement der Umgestaltung betrifft die Einteilung in Zyklen und die Bewertung der Schulresultate nach Kompetenzsockeln. Der erste Zyklus besteht aus der fakultativen “éducation précoce“ und der Vorschule, stellt also eine Ausnahme dar, weil er statt zwei auch drei Jahre dauern kann, je nachdem, ob das Kind die nicht obligatorische Früherziehung besucht oder nicht. Die Zyklen 2, 3 und 4 entsprechen der ehemaligen Primärschule. Ob ein(e) Schüler/ Schülerin ins nächste Schuljahr wechseln kann, wird künftig erst nach zwei Jahren- der Dauer eines Zyklus, entschieden. Erfolgreich wechseln kann, wer Kompetenzen erworben hat, das Gelernte nicht nur in einer Klassenarbeit anwenden zu können sondern auch in verschiedenen Situationen des täglichen Lebens. Verschiedene Kompetenzen werden dabei als notwendig angesehen, um andere Kompetenzen aufzubauen und bilden in dieser Einheit dann den zu erreichenden Bildungsstandard, den Kompetenzsockel. Auskunft über den Weg dahin, d.h. über die Lernfortschritte im Verlauf eines Zyklus, ergeben in den Zyklen 1 und 2 an Stelle der herkömmlichen Zeugnisse, sogenannte Zwischenbilanzen (Bewertungen, keine Noten) jeweils am Ende eines Trimesters. Beispiel einer Zwischenbilanz in Geometrie im 2. Zyklus: 1.Trimester: der Schüler/ die Schülerin ist fähig, unterschiedliche geometrische Formen zu erkennen, verwechselt aber regelmäßig Quadrat und Rechteck. 2 Skript PSYPE 3 2.Trimester: er/sie kann in vorher geübten Situationen Quadrat und Rechteck unterscheiden. 3.Trimester: er/sie hat den Kompetenzsockel erreicht, weil er/sie fähig ist, regelmäßig und ohne fremde Hilfe einfache Flächen in bekannten, jedoch nicht speziell geübten Situationen zu identifizieren und zu benennen. 4. Trimester: er/sie hat keine Fortschritte in diesem Kompetenzbereich gemacht. 5. Trimester: er/sie ist fähig, die unterschiedlichen Eigenschaften aller bekannten Flächen auch ausserhalb des Unterrichts zu unterscheiden und zu beschreiben. Sicher wird das neue Konzept den gesellschaftlichen Herausforderungen eher gerecht, es wird aber ohne Unterstützung durch neue pädagogische Konzepte und ohne Versuche, Lösungen zu finden für die mit der Dreisprachigkeit auftretenden Probleme gerade in Bezug zu Schulleistungen, die Lernmotivation und das Selbstwertgefühl von Schülern/innen kaum nennenswert steigern können. Dazu kommt, dass die Betreuung außerhalb der Schulstunden bzw. eine verbesserte Koordinierung von Schul- und Betreuungsangeboten immer wichtiger wird. Für Erzieher/innen könnte das heißen, dass es Arbeitsplätze nicht nur im Foyer scolaire gibt, sondern auch im Team mit Lehrern/innen, wo sie wichtige Funktionen wahrnehmen könnten. Konzept „Eis Schoul“ Das Konzept der Schule beruht auf den Prinzipien eines integrativen pädagogischen Ansatzes, der allen Schülern/innen von der Précoce bis zum 6. Primärschuljahr unabhängig von ihren sozio-kulturellen, kognitiven, physischen, und emotionalen Fähigkeiten, Teilhabe sichert. Der Unterricht orientiert sich an den unterschiedlichen Fähigkeiten, berücksichtigt die individuellen Lernwege und fördert die Kooperation durch altersgemischte Lerngruppen. „Eis Schoul“ ist eine Ganztagsschule von 8:00 Uhr bis 15:30 Uhr mit einem zusätzlichen Betreuungsangebot ab 7:00 Uhr und nach dem Unterricht bis 18:30 Uhr. Das Team ist multiprofessionell und besteht aus Heilpädagogen/innen, Psychologen/innen sowie Lehrern/innen, Sozial- und Erziehern/innen. Mit dieser 3 Skript PSYPE 3 Kompetenzvielfalt werden externe Beratungs- und Therapieangebote in den meisten Fällen überflüssig. Da Untersuchungen immer wieder zeigen, dass zwischen Anforderungen und Inhalten des Schulunterrichtes und der alltäglichen Problembewältigung sehr unklare Zusammenhänge bestehen, sind die Lernbereiche in „Eis Schoul“ so aufgebaut, dass alltagsnahes Schlussfolgern zwingend ist. So wird z. B. Mathematik in Bezug zu Geographie und Geschichte gelehrt, Sport und Psychomotorik gehören zum Lernbereich Biologie (Körper) und Gesundheitserziehung. In den Sprachen werden dramapädagogische Methoden angewandt wie Musik, Tanz und Theater. Die Alphabetisierung geschieht in Deutsch, (in Ausnahmefällen auch in französisch), wobei die jeweilige Muttersprache als Brückenhilfe benutzt wird. Soziales und demokratisches Lernen in Bezug auf Werte und Zusammenleben in modernen Gesellschaften, sind Themen im Ethik- oder Religionsunterricht. Bezüglich der Lernmethoden setzt „Eis Schoul“ auf das eigene Forschen und Recherchieren, wobei die unterschiedlichsten Medien einbezogen werden sollen. Die Ausarbeitung von Projekten in den verschiedenen Lernbereichen enthalten grundsätzlich auch handwerkliche, künstlerische und soziale Elemente im Sinne eines umfassenden Lernens. Innoviert wird auch bezüglich der Evaluationsmethoden. Zeugnisse und Klassenarbeiten werden durch Evaluationsmethoden ersetzt, die den individuellen Lernprozessen des Kindes sowie den sozialen und interaktiven Dimensionen des Lernens gerecht werden. Die Evaluation soll den Schülern/innen helfen, sich ihrer Stärken und Schwächen bewusst zu werden und die Lernherausforderungen, die auf sie warten, aus einem positiven Blickwinkel wahrzunehmen und zu erkennen. Hauptevaluationswerkzeug ist ein Portfolio. Es besteht aus einer Mappe mit den Schülerarbeiten und dient der Dokumentation der jeweiligen Lernwege. Daneben gibt es ein Lerntagebuch, in dem die Schüler/innen ihre Wege und persönlichen Lernziele kommentieren. Zusätzlich erstellt das multiprofessionelle Team einmal im Halbjahr einen Lernentwicklungsbericht. Die Eltern werden regelmäßig über die Lernfortschritte ihres Kindes informiert, wobei ihre Einbeziehung es dann erlaubt, effektive Lösungswege für Verbesserungen zu finden. Alle Schüler/innen erstellen während des sechsten Schuljahres bis zum Ende ihrer Primärschulzeit eine Jahresarbeit. Diese besteht aus einem interaktiven Referat zu 4 Skript PSYPE 3 einem selbst gewählten Thema und wird öffentlich vorgetragen. Sie versteht sich als das Endprodukt einer tiefgreifenden Dokumentationsarbeit und soll das Können in allen Lernbereichen miteinander verknüpfen. Die Durchführung verlangt von den Schülern/innen eine Vielzahl der in den vergangenen Schuljahren entwickelten Kompetenzen und dient als Beweis, eine an den individuellen Möglichkeiten angepasste weiterführende Schule besuchen zu können. Konzept „Neie Lycée“ Eine weitere Antwort, gesellschaftlichen Bedingungen mit neuen Konzepten zu begegnen, ist das „Neie Lycée“. Es ist eine Ganztagsschule, die 2005 als Pilotprojekt gestartet wurde und (vorläufig) nur Unterricht bis zur neunten Klasse, also der Unterstufe anbietet, allerdings gibt es inzwischen Pläne, auch das Abitur anzubieten. Bei der Auswahl der aufgenommenen Schüler/innen wird versucht, einen präsentativen Querschnitt der Bevölkerung zu wahren. Im wesentlichen zeichnet sich die Schule durch folgende Innovationen aus: Aufhebung der traditionellen Einteilung in Schulfächer: An ihre Stelle treten vier interdisziplinäre Bereiche: Kunst und Gesellschaft, Wissenschaft und Technik, Werteerziehung, Sport und Gesundheit. Projektarbeit: die Schüler/innen bestimmen nach Vorschlag eines Themas, welche Fragen sie dazu haben. Ziel ist also, ein möglichst selbständiges, offenes und kritisches Arbeiten und Denken zu lernen. Team: der Unterricht wird von jeweils sieben Lehrer/innen und zwei Erzieher/innen gehalten, die sich als verantwortliches Team die jeweiligen Bereiche aufteilen. Persönliche(r) Tutor/in: Alle Schüler/innen haben eine(n) persönliche(n) Tutor/in, der/ die während der gesamten Schulzeit begleitend zur Seite steht. Tutoren sind auch die wichtigsten Personen, wenn es z. B. am Ende der 9. Klasse um die Frage der Empfehlung für die weitere schulische Laufbahn geht. Notenvergabe: Um die jeweiligen Leistungen so gerecht wie möglich zu bewerten, sind Unterricht und Evaluation getrennt, d.h. nicht die unterrichtenden Lehrer verteilen die Noten, sondern eine externe Jury entscheidet nach Vorschlägen der betroffenen Schüler/innen, des Teams und der Eltern über ein Weiterkommen in die nächste Klasse. 5 Skript PSYPE 3 Bewertungsgrundlagen: ein Portfolio, das die Leistungen der Schüler/innen bescheinigt und dokumentiert, dazu schriftliche Prüfungen, deren Zahl aber nicht festgelegt ist, den Schülern/innen jedoch die Möglichkeit geben, sich auch freiwillig dazu zu melden und sich die Qualität bescheinigen zu lassen. Werteunterricht: Er ist eine weitere Besonderheit und möchte ganz wesentlich dazu beitragen, den interkulturellen Dialog in Luxemburg durch Einübung von Offenheit, Kritikfähigkeit und Engagement weiter zu tragen. Alle vorgestellten Neuerungen sind getragen von der Frage, inwieweit neue LernUnterrichts- und Evaluationsformen auch zu besseren Lernergebnissen führen können. Damit sind sie auch Antworten auf internationale empirische Schulstudien, bei denen vor allem die unterschiedlichen Ebenen wie Schüler, Lehrer, Klasse, Schule, Schulstruktur usw. in ihren Wechselwirkungen untersucht werden und so gut wie alle zu dem Ergebnis kommen, dass individuelle Entwicklungsverläufe, vor allem in der Grundschule, in Eingangsbedingungungen Abhängigkeit und dem zu affektiven schulischen und kognitiven Kontext verlaufen. Beispielhaft hierfür sind die BIJU-, die Logik- und die Scholastik-Studie. Empirische Untermauerung finden in diesen Untersuchungen z. B. der sogenannte “MatthäusEffekt“, das „Stereotyp des schlechten Schülers“ oder auch die mit der Dauer des Schulbesuchs parallel verlaufende Abnahme von Lernfreude und Selbstkonzept. Die wichtigsten Fragen ergeben sich allerdings immer noch aus der Tatsache, dass die soziale Herkunft die größten Auswirkungen auf den schulischen Lernerfolg hat. In Luxemburg (wie in Deutschland) stehen hinter der hohen Versagerquote hauptsächlich Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. Dieser mangelnde Schulerfolg setzt sich fort, so dass der Anteil unter den Arbeitslosen und Geringqualifizierten in Luxemburg beiden 20 – 29Jährigen dreimal so hoch ist wie unter Luxemburgern/innen der gleichen Altersgruppe. Da man aus vielen unterschiedlichen Untersuchungen weiß, dass die Fähigkeit, sich mündlich und schriftlich auszudrücken, ganz eng zusammenhängt mit Schulerfolg, muss die Förderung von Sprachkompetenz schon sehr früh einsetzen und unbedingt Priorität haben . Dies ist in Luxemburg aufgrund der Sprachensituation, die sich von der anderer Länder grundlegend unterscheidet, auch in Zukunft eine der wichtigsten Aufgaben. 6 Skript PSYPE 3 Quellen: Gespräche mit Schülern und Lehrern (Zeitraum Mai –Oktober 2009) Tageblatt und Luxemburger Wort: verschiedene Artikel zum Thema Schulreform (Zeitraum Mai – Oktober 2009) Rundfunkbeiträge zur Schulreform bei „honnert,7, de soziokulturelle radio“ (Zeitraum Mai –Oktober 2009) Université Luxembourg, EMACS research unit: „Das neie Lycee im Spiegel erster Evaluationen.“ Luxembourg 2008 http://www.entente.lu/EDUCA-NEU/Eis-Schoul.html 1.2 Entwicklungsförderung bei jugendlichem Problemverhalten Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben Unter dem Einfluss von biologischen Voraussetzungen, soziokulturellen Erwartungen und persönlichen Möglichkeiten, die allerdings stark durch die Lebensgeschichte bestimmt sind, müssen Jugendliche Wege finden, um ihre Entwicklungsaufgaben zu lösen. In einer schwierig. modernen, Zwar offenen Gesellschaft, ohne „verbindliche Normen“ ist das sind Jugendliche bis zu einem gewissen Grad den Verhaltenserwartungen ihrer Eltern und anderen Bezugsgruppen verpflichtet, aber im Rahmen der „Ablösung“ versuchen sie eigene Wege zu gehen. Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, die Anlass zu Problemverhalten sein können, sind nach Silbereisen und Eyferth (1984): 7 Skript PSYPE 3 Ein Übermaß an Fremdbestimmung durch autoritäre Eingriffe und durch die Beschneidung der Selbstregulierungsmöglichkeiten Das Erleben von Sinnverlust (etwa bei Arbeitslosigkeit) , das die Entwicklung zukunftsorientierter Perspektiven verhindert Störungen der sozialen Interaktion Soziale Desorganisation im engeren Lebensraum (Problemfamilien) Zwischen gelungener Entwicklung und Fehlanpassung bestehen fließende Übergänge. Viele jugendliche Problemverhalten sind nur wegen ihres Zeitpunktes problematisch. Außerdem wirkt Problemverhalten (z.B. übermäßiger Alkoholkonsum (siehe 4.3.3.1) zeitweise und adaptiv, um beispielsweise Ansehen in der Peergruppe zu gewinnen. Etwa 10% der Population zeigt ein die Jugendphase überdauerndes Problemverhalten. ( Schenk-Danzinger, 2004, 306) Zum Begriff „Problemverhalten“ Verhalten an sich ist weder normal, abweichend oder problematisch. Nur mit Bezug auf Normen, Erwartungen und Auswirkungen kann man entscheiden, ob ein Verhalten Problemverhalten ist oder nicht. Abweichendes Verhalten einzelner (auch normbrechend oder deviant genannt) beziehet sich auf soziale Normen und wird von der Bezugsgruppe oder der Gesellschaft als störend empfunden. Der Bezug auf Normen und Erwartungen bedeutet, dass man Problemverhalten nur in Abhängigkeit von Kultur, sozialem Umfeld (Subkultur, Familie, Peergruppe etc.), Geschlecht und Alter definieren kann. Diese Relativierung der Angemessenheit eines Verhaltens kann zu Verwirrungen und Unsicherheiten führen. Wann kann oder soll ich als ErzieherIn auf ein Verhalten Einfluss nehmen oder nicht? Ist beispielsweise das Konsumieren von Alkohol oder das Rauchen innerhalb einer (Sub-) Kultur Jugendlicher ein angemessenes- also kein abweichendes Verhalten, kein Problemverhalten, – weil viele so handeln und nicht nur eine nachgewiesene Minderheit? Rauchen und Alkoholkonsum sind wissenschaftlich Entwicklungsrisiken, die Entwicklung von Jugendlichen stark beeinträchtigen und können insofern als problematisch gesehen werden. 8 Skript PSYPE 3 A. Flammer und F.D. Alsaker definieren Problemverhalten, „als Verhalten, das eine Gefährdung für die eigene Entwicklung oder die Entwicklung anderer darstellt... „ Sie unterteilen Problemverhalten in zwei Hauptkategorien: Internalisierendes Problemverhalten (z.B. Essstörungen und Depressionen) bezeichnet eine Reihe von Verhaltensweisen, die vor allem die Betroffenen Personen in ihrer Entwicklung beeinträchtigen, aber für die Umwelt nicht immer klar erkennbar sind. Externalisierendes Problemverhalten (z.B. Aggressives Verhalten und delinquentes Verhalten) ist sichtbar abweichend, normbrechend und somit nicht nur für die betroffenen Personen problematisch, sondern auch für ihr Umfeld. Nachfolgend soll am Beispiel von „Substanzmissbrauch und Suchtverhalten“ jugendliches Problemverhalten und deren Einfluss auf die Entwicklung dargestellt werden. Substanzenmissbrauch / Suchtverhalten Sucht ist jeder Prozess, über den wir „machtlos“ sind. Wenn man Dinge tut und denkt, die im Widerspruch zu unseren Werten und Vorstellungen stehen, und unsere Verhaltensmuster einen immer zwanghafteren Charakter annehmen, dann hat sie die Kontrolle über uns gewonnen. „Ein sicheres Anzeichen von Sucht ist das unvermittelte Bedürfnis, sich selbst und andere zu täuschen- zu vertuschen, zu leugnen“. (Schaef , 1993, In Schenk- Danzinger,2004,310) Schenk-Danzinger unterteilt Süchte in zwei Kategorien: Substanzgebundene Süchte. Hierzu gehören alle Abhängigkeiten von einer bestimmten Substanz, die dem Körper vorsätzlich zugeführt wird und fast immer stimmungsverändernde Wirkung hat. Dazu gehören Alkohol, Drogen, Nikotin, Koffein und Zucker (z.B. bei Esssucht) Prozessgebundene Süchte. Zu dieser Gruppe gehören alle Süchte, bei denen ein Prozess, eine bestimmte Folge von Handlungen und Interaktionen, in die Abhängigkeit führt. Praktisch jeder Prozess kann als Sucht erzeugender Vermittler dienen, wie z.B. Spielen, Arbeit, Sexualität oder der Gebrauch von Internet. 9 Skript PSYPE 3 Alkoholkonsum/Alkoholmissbrauch Alkohol ist die am häufigsten konsumierte psychoaktive Substanz. Verlauf und Form von Alkoholmissbrauch variieren mit dem Alter. Im mittleren Erwachsenenalter ist der Alkoholmissbrauch relativ stabil, hingegen im Jugendalter und höheren Alter instabiler. Der Konsum von Alkohol gilt ab einem gewissen Alter als normal. Normative Entwicklungen und Entwicklungsaufgaben des Jugendalters sind dafür verantwortlich gemacht worden, dass der durchschnittliche Konsum von Alkohol und Drogen im Jugendalter seinen Höhepunkt findet. Die Entwicklungsaufgaben verlangen von Jugendlichen eine innere und äußere Loslösung von den Eltern und das Erreichen einer eigenen sozialen und sexuellen Erwachsenen vorbehalten sind, Identität. Mit Verhaltensweisen, die beanspruchen sie symbolisch den Erwachsenenstatus (Jessor, 1987). Zugleich demonstrieren sie ihre Eigenständigkeit durch Übertreibungen und Provokationen. Der Druck, erwachsen zu werden, hängt vor allem bei Mädchen auch von der sexuellen Reifung ab, die wiederum zu einer veränderten sozialen Kategorisierung und sozialen Reaktionen führt. Eine früher einsetzende Pubertät geht mit einem ausgeprägten Zigaretten- und früheren (15-17 Jahren) und stärker Alkoholkonsum einher. Eine früher einsetzende Pubertät führt allerdings nicht dauerhaft zu höherem Alkohol- und Zigarettenkonsum, „denn im Alter von 18 Jahren hatten die Spätpubertierenden die Frühreifen in ihrem Konsum eingeholt“. Eine weitere Entwicklungsaufgabe im Jugendalter ist die Identifizierung mit der erwachsenen Geschlechterrolle. Eine Reihe von Studien (allerdings Erwachsenen) zeigt einen Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum mit bzw.- missbrauch und traditionellen Frauen bzw. Männerrollen. Alkoholkonsum wird positiv mit der traditionellen Männerrolle (z.B. die Angst „unmännlich“ zu sein) und negativ mit der traditionellen Frauenrolle verknüpft. Wodurch unterscheiden sich Jugendliche, die einen Alkoholmissbrauch entwickeln werden, von anderen Jugendlichen? In einer Studie von Jessor u.a. (1991) wurden hierzu die Eigenarten der Herkunftsfamilien, der Peergruppe und der betroffenen Jugendlichen selbst untersucht. Die Eltern trinken selbst mehr Alkohol ( (andere 10 Skript PSYPE 3 Drogen), vernachlässigen ihre Kinder stärker, überwachen und unterstützten sie weniger. Die betroffenen Jugendlichen bewegen sich in Peergruppen, in denen mehr Alkohol und Drogen konsumiert wird. Die Jugendlichen selbst tendieren auch zu einer Reihe von weiteren „Problemverhalten“ wie beispielsweise der Konsum von Zigaretten und Drogen, Delinquenz, (früher) Geschlechtsverkehr und andere Verletzungen von Konventionen. Der Alkoholkonsum hängt mit einem geringeren Selbstwertgefühl zusammen, wohl aber mit dem Wunsch, Lebensprobleme durch Trinken zu „lösen“. Wer glaubt, dass Alkohol die Stimmung hebt, trinkt in der Regel mehr. Das heißt jedoch nicht, dass jede Peergruppe mit nicht-konventionellen Werten dieses Syndrom von Problemverhalten aufweisen muss. Langzeitstudien zeigen, dass einige Korrelate des Alkholkonsums lediglich Begleiterscheinungen oder Folgen sind, nicht aber Entwicklungsbedingungen. Der Zusammenhänge zwischen Alkoholkonsum und Freundesgruppen besagen vor allem, dass Alkohol in der Regel gemeinsam konsumiert und Freunde entsprechend ausgesucht werden. Pathologischer Internetgebrauch (PIG) Als Beispiel für prozessgebundene Süchte soll hier die „Droge“ Cyberspace genannt werden, obwohl die Existenz einer Internetsucht in Fachkreisen mehr als umstritten ist. Der Wiener Psychiater Zimmerl ermittelte in einer Umfrage (1998) bei ca. 13% der Befragten ein suchtartiges Verhalten, das er „pathologischen Internetgebrauch“ (PIG) bezeichnet. Auch M. Rautenberg (1996) kommt in seiner Online Studie in den Niederlanden mit 454 ausgewerteten Fragebögen zu dem Ergebnis, dass das Internet Menschen tatsächlich süchtig machen kann, wobei er das Potenzial ähnlich hoch einschätzt wie bei Alkohol. Schulte (1996) nennt hierfür folgende diagnostische Kriterien: Der Zwang des Cybernauten wächst, immer länger online zu gehen, um das gleiche Maß an Befriedigung zu erreichen. Es stellt sich Unruhe bis hin zu Angstzuständen ein, wenn der Nutzer nicht oft genug im Internet surfen kann. Internet-Süchtige lenken sich bei Problemen durch Surfen im Web ab. Online-Abhängige verlieren das Zeitgefühl, während sie online sind, oder sie verbleiben regelmäßig länger als sie ursprünglich vorhatten. 11 Skript PSYPE 3 Soziale und berufliche Verpflichtungen, auch wichtige, werden vernachlässigt, um sich statt dessen im Internet aufhalten zu können. Obwohl die negativen Auswirkungen auf Wohlbefinden, Gesundheit, Kontakte zu Familie und Freunden, Beruf bemerkt werden, schränkt der Süchtige seine Internetnutzung nicht ein. Nach Young ( 1997) schätzen Internet_ Süchtige das www nicht wegen der Fülle an Informationen, sondern aus folgenden drei Gründen: Soziale Unterstützung. Anders als in der Realität können im Internet – auch von schüchternen oder zurückhaltenden Menschen - sehr schnell Kontakte geknüpft werden. Sexuelle Erfüllung. Sexuelle Phantasien können anonym und ohne Furcht ausgelebt werden. Identitätssuche. Im Netz braucht man sich nicht zu deklarieren. Jugendliche (z.B.) mit niedrigem Selbstwertgefühl können sich „online“ selbst eine neue, problemlosere Identität verschaffen. (Schenk- Danzinger, 2004, 312 ) Gabriele Farke, die sich selbst als ehemalige Onlinesüchtige bezeichnet, gründete die erste deutsche Selbsthilfegruppe für Onlinesüchtige HSO (Hilfe zur Selbsthilfe für Onlinesüchtige). Sie ist von der Existenz der Internetsucht überzeugt und betont die Notwendigkeit von Hilfsangeboten. In ihren Büchern Sehnsucht Internet und Hexenkuss.de beschreibt sie ihre Erlebnisse mit allen Konsequenzen. Die Selbsthilfegruppe versteht sich als „Offline-Gemeinschaft“; ihr erstes Ziel ist die Teilnahme der Mitglieder am öffentlichen Leben und die Wiedereingliederung in ein normales soziales Umfeld. Gruppengespräche in Anlehnung an die Regeln der Selbsthilfegruppe stehen im Vordergrund. Nicht Entzug vom Internet, sondern das Erlernen eines bewussten Umgangs ist das leitende Motto dieser Gruppe. Quellen: Oerter / Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie.Weinheim 2002. Schenk – Danzinger: Entwicklungspsychologie. Wien 2004. Grob /Jaschinski: Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Weinheim 2003. 12 Skript PSYPE 3 Flammer /Alsaker: Entwicklungspsychologie der Adoleszenz. Bern 2002. 1.3 Störungen des Sozialverhaltens, Delinquenz Zum Begriff „Delinquenz“ Delinquente Handlungen sind Handlungen, die gegen das Strafrecht verstoßen und strafrechtlich verfolgt werden. Delinquenz. wird auch als antisoziales Verhalten (übergeordnete Kategorie) bezeichnet. Die Unterscheidung der beiden Begriffe ist ansonsten eher formell als inhaltlich. Was als Straftatbestand angesehen wird, variiert je nach Gesellschaft und historischer Periode. Zum Beispiel sind Eigentumsdelikte, Angriffe gegen Personen, Gefährdung der öffentlichen Sicherheit in vielen Gesellschaften eine Straftat. Die Beschränkung der persönlichen Freiheit (in totalitären Regimen), Umweltvergehen etc. werden in vielen Ländern nicht strafrechtlich verfolgt. Auch sei in diesem Zusammenhang an die jüngeren Veränderungen im deutschen Sexualstrafrecht erinnert z.B. Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe und Abschaffung der Strafbarkeit von Homosexualität. Gerade bei Reformen strafrechtlicher Normen wird deutlich, dass das Strafrecht in pluralistischen Gesellschaften nicht die moralischen Überzeugungen aller Bürger repräsentiert. Die Existenz von Minoritäten mit abweichendem Rechtsbewusstsein stellt auch ein Potenzial für sozialen Wandel dar. Schon deshalb ist Delinquenz psychologisch heterogen. Delinquenz: Ein Entwicklungsphänomen? Untersuchungen von Moffitt (1993) und Wetzels et al. (2001) in verschieden Ländern belegen, dass Delinquenz in Art und Häufigkeit mit dem Alter variieren. Delinquenz erreicht im Jugendalter bei den 16-20-Jährigen einen Höhepunkt und fällt danach kontinuierlich und deutlich ab. Die Mehrzahl der delinquenten Jugendlichen wird im Erwachsenenalter nicht mehr oder mit einer deutlich geringeren Häufigkeit und Tatschwere straffällig. Etwa 1-4% der Männer begehen ihren ersten Delikt nach dem 17.Lebensjahr. Nach dem 60. Lebensjahr ist Straffälligkeit selten. Bei einem Bevölkerungsanteil von über 20% sind weniger als 6% der Tatverdächtigen über 60 13 Skript PSYPE 3 Jahre. Aus neueren Dunkelfelderhebungen ist bekannt, dass die Mehrheit der Jugendlichen gelegentlich Straftaten begeht, wenn auch keine schweren. Delinquenz im Jugendalter ist insofern statistisch „normal“ geworden. Für die meisten Jugendlichen ist Delinquenz jedoch ein diskontinuierliches Phänomen. Moffitt (1993) unterscheidet in seiner Entwicklungstheorie 2 Täterkategorien: a) die persistent Delinquenten und b) die Jugenddelinquenten Die persistent Delinquenten weisen eine hohe Kontinuität bezüglich antisozialen Verhaltens auf: Unverträglichkeit, Ungehorsam und Aggressivität in der Kindheit und den ersten Schuljahren, die Aggressivität bleibt stabil, in den mittleren Schuljahren kommen kleinere Diebstähle hinzu, in der Jugend Fahrzeugdiebstähle, Drogenhandel und Einbrüche, später Raubüberfälle… und andere Verbrechen. Der Wechsel der Formen beruht auf einem Wandel der Handlungsmöglichkeiten und Gelegenheiten. Delinquenz ist in dieser Kategorie analog einer Eigenschaft konsistent über Situationen und stabil über die Zeit. Jugenddelinquenz setzt erst in der Adoleszenz ein und wird mit hoher Wahrscheinlichkeit im früheren Erwachsenalter wieder aufgegeben. Schon Robinson (1978) hat in einer Follow-up-Studie antisozialer Kinder über 40 Jahre festgestellt, dass Delinquenz im Erwachsenenalter faktisch nur bei Personen zu beobachten ist, die schon als Kinder durch multiples antisoziales Verhalten aufgefallen sind. Jugenddelinquenz wäre demnach also ein diskontinuierliches Phänomen. Im Vergleich zu persistenten Gruppen ist das delinquente Verhalten situativ variabel. So kann z.B. das Verhalten in der Schule positiv bleiben. Selbstverständlich birgt das delinquente Verhalten im Jugendalter Risiken. So kann z.B. das Probieren von Drogen Abhängigkeit führen, die strafrechtliche Verurteilung zur Stigmatisierung. Wiederholte Delinquenz formt die weitere Entwicklung, indem Optionen und Wege (z.B. Ausbildung) zunehmend verbaut und soziale Kontakte negativ beeinflusst werden. (Oerter& Montada, 2002, 867) 14 Skript PSYPE 3 Wie lässt sich Jugenddelinquenz erklären? Moffitt (1993) erklärt Jugenddelinquenz mit der Hypothese , dass sie ähnlich dem Drogengebrauch aus der besonderen Situation der Jugendlichen in modernen Gesellschaften zu erklären sei( =Statusmotivhypothese): Die Sexualreife erfolgt immer früher und die Ausbildung dauert immer länger, so dass die Zeitspanne, in der Jugendliche biologisch erwachsen sind , kulturell und gesellschaftlich aber nicht als voll erwachsen gelten, sehr lang geworden ist. Viele allgemeine oder familiäre Verbote und Reglementierungen wecken das Bedürfnis nach Autonomie, die als Privileg der Erwachsenen wahrgenommen wird (z. B. wirtschaftliche Selbständigkeit, sexuelle Beziehungen, Konsum von Alkohol und Nikotin und Pornographie)Delinquenz kann nun ein realer oder symbolischer Zugang u den Privilegien des Erwachsenenalters oder auch eine Autonomie- Demonstration sein. Eine höhere Bildung, Leistungen im Sport, in der Musik, im Beruf (u.a.) bringen Status und fördern die Herausbildung einer positiven Identität und die Wahrscheinlichkeit für delinquentes Verhalten sinkt! Selbstverständlich erklärt die Statusmotivhypothese nicht die gesamte Varianz jugendlicher Delinquenz. Sie muss ergänzt werden um Aspekte der moralischen Sozialisation, der Bindung an delinquente Bezugspersonen und – gruppen sowie um die Betrachtung der Möglichkeit zu deviantem Handel. Auch das rasche Wachstum der Städte und die Veränderungen familiärer Strukturen könnten den Anstieg von Jugenddelinquenz erklären. ( Oerter&Montada,2002, 865f) Warum sind Mädchen und junge Frauen selten delinquent? Haben Mädchen und Frauen mehr Quellen für soziale Anerkennung? Oerter und Montada stellen zu dieser Frage 4 Hypothesen auf: 1) Mädchen sind im Durchschnitt schulisch erfolgreicher 2) Mädchen haben mehr familiäre Verantwortlichkeiten als ihre Brüder, was zwar als Ungerechtigkeit problematisiert wird, aber vielleicht auch soziale Anerkennung in der Familie bringt. 3) Sozial verträgliches Verhalten gilt als frauliches Ideal und bringt insofern Anerkennung in der Familie 15 Skript PSYPE 3 4) Das jugendliche Schönheitsideal ist kulturell für das weibliche Geschlecht in den Medien dominant, so dass sich junge Frauen im Vergleich mit älteren als attraktiver erleben dürfen. Präventive und Korrektive Maßnahmen zur Jugenddelinquenz Die Rechtsstrafe wurde immer auch mit einer generellen Abschreckungswirkung (Generalprävention) oder mit individuell präventiver Wirkung (Spezialprävention) begründet. Die Vielzahl der Maßnahmen, die Delinquenzprävention bezwecken, ist groß: Jugendschutzgesetz Erziehungsberatungsstellen Jugendzentren Erziehungsheime Streetwork Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit Bewährungshilfe Stadtsanierung u.a. Ansatzpunkte für eine primäre Prävention in der Kindheit liefern Untersuchungen, die zeigen, dass Armut kombiniert mit chaotischen Familienverhältnissen und problematischen familiären Interaktionsformen und Erziehungsstilen antisoziales Verhalten generieren oder stabilisieren. Wichtig ist eine frühzeitige Erkennung individueller und kontextueller Risikofaktoren (z.B. in der Familie, in der Kindertagesstätte oder in der Schule). Als Möglichkeit der Primärprävention wurden Elterntrainings in solchen Familien versucht. Insgesamt erfolgreicher waren aber globale familiäre sozialarbeiterischen, Unterstützungsmaßnahmen pädiatrischen, psychologischen (kombinieren von Beratungs- und Betreuungselementen ) – denn durch Eltertrainings wurden nicht die Eltern erreicht, die es „am nötigsten hatten“. 16 Skript PSYPE 3 Da persistente Delinquenz mit Schulversagen, Schuldropout und dem Abbruch von Berufsausbildung korreliert ist, sind kompensatorische vorschulische und schulische Programme auch Möglichkeiten der Primär- und Sekundärprävention. Ausgehend von der Beobachtung, dass viele persistent Delinquente Defizite in der sozialen Interaktion haben, wurden Programme zum Aufbau sozialer Kompetenzen ( z.B. Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, unaggressive Formen von Konfliktverhalten entwickelt. Petermann und Petermann (1996) entwickelten ein Programm zur Förderung des Arbeits- und Sozialverhaltens von Jugendlichen. Ziel dieses Programms ist die Förderung von Selbstvertrauen und selbstsicherem Verhalten. Jugendliche lernen so mögliche Misserfolge als Herausforderung zu empfinden, die zu neuen kreativen Problemlösungen anregen können und damit langfristig immer schwierigere Probleme als bewältigbar erscheinen lassen. (Oerter&Montada,2002, 872f) Quellen: Montada, L(2002).Delinquenz. In. Oerter,R.& Montada, L. (Hrsg.) (2002) Entwicklungspsychologie. Flammer, A.& Alsaker, D. ( 2002). Entwicklungspsychologie der Adoleszenz. 2. Entwicklung und Sozialisation im Erwachsenenalter 2.1 Einführung Mit Beginn des 20. Jahrhunderts kam es in allen Industriegesellschaften zu sozialstrukturellen Veränderungen, die in der Folge auf das Leben der Menschen großen Einfluss nahmen. Was sich vor allem veränderte und allmählich auflöste, war die starke Bindung an Religion und Tradition. Diese hatte in der Vergangenheit dazu geführt, dass die 17 Skript PSYPE 3 unterschiedlichen Positionen und Rollen in den Lebensverläufen klar definiert und somit von vornherein immer schon festgelegt waren. Für die Betroffenen waren sie daher auch grundsätzlich erwartbar. Der „moderne“ Lebenslauf, wie er sich im 20. Jahrhundert herauszubilden begann, lässt sich auf diese Weise kaum noch festlegen. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass an Stelle religiöser und traditioneller Bindungen, die Menschen ihr Leben stärker an persönlichen Interessen auszurichten begannen. Somit konnte erstmals die Frage „Wie will ich leben?“ mit einer Reihe von ganz unterschiedlichen Lebensmodellen beantwortet werden. Diese zeigten sich vor allem bei beruflichen und privaten Entscheidungen. Die immer stärkere Orientierung an der eigenen Person machte die Menschen in gewisser Weise freier in ihrer Wahl, denn ihre Stellung in der Gesellschaft war jetzt stärker abhängig von ihren jeweiligen Fähigkeiten und Überzeugungen. Beides bot die Chance, dem eigenen Leben und den sozialen Beziehungen einen eigenen Stempel aufzudrücken – wenigstens im Prinzip. Dieser als „Individualisierung“ bezeichnete Prozess, mit der der Einzelne aus traditionalen und gemeinschaftlichen Bezügen „freigesetzt“ wurde, (Beck 1986), ist aber nicht nur als Chance zu verstehen. Mit ihm verbunden ist auch ein hohes Risiko für Fehlentscheidungen, d.h. mit den jeweiligen Entscheidungen immer auch scheitern zu können. Wenn daher leitende Normen (Glauben, Traditionen u.a.) nicht mehr wegweisend sind und immer weniger Einfluss haben, die Optionen (Wahlmöglichkeiten) jedoch zugenommen haben, unterliegen moderne Menschen „dem Zwang, ohne Selbstverständlichkeit für sich selbst und miteinander neue Selbstverständlichkeiten zu finden und zu erfinden.“ (Beck u. Beck-Gernsheim 1994) 2.2 Entwicklung und Sozialisation Entwicklungspsychologische und sozialwissenschaftliche Forschungen gehen unter diesen Bedingungen davon aus, dass eine Um- und Neuorientierung in jeder Altersphase erforderlich ist ( Ergebnisse der „life-span-psychology“ und Sozialisationsforschung). 18 Skript PSYPE 3 Im Ergebnis heißt das, dass Entwicklung als lebenslanger Prozess zu betrachten ist und Sozialisation auf das gesamte Leben ausgedehnt werden muss. Begründet wird diese Umorientierung mit der Erkenntnis, dass es besonders unter den Bedingungen (schnellen) sozialen Wandels bei den Individuen zu biographischen Brüchen, Bewältigungsproblemen und häufig auch Neuansätzen kommt. Diese erfordern, gerade im Erwachsenenalter, häufig den Wechsel von Positionen, Rollen und Status und erfassen dann auch das Selbst, die Persönlichkeit. Entwicklung und Erwachsenensozialisation beziehen sich also auf eine personenbezogene Auseinandersetzung und Seite, d.h. Entwicklung als innere Verarbeitung des gesellschaftlichen Prozesses (Psychologie) auf eine gesellschaftliche Seite, d.h. auf die Frage nach Integration (in die Gesellschaft). (Soziologie) 2.3 Sozialisation und Erwachsenensozialisation Sozialisation, allgemein Die mit dem gängigen Begriff „Sozialisation“ verbundenen Vorstellungen handeln von Kindern und Jugendlichen oder besser vom Verhältnis zwischen erziehenden und urteilenden Erwachsenen einerseits und zu erziehenden und beurteilenden Kindern andererseits. Notwendige Elemente, die der Begriff Sozialisation enthält, sind: Sozialisation beginnt unmittelbar nach der Geburt Sozialisation wird betrieben von den Interaktionspartnern der Kinder und Jugendlichen Diese vertreten Gesellschaft und Kultur Sozialisation führt zur Vermittlung von Werten, Normen, Einstellungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten Erfolgreiche Vermittlung führt bei den Betroffenen zu Verinnerlichung oder Internalisierung. Sozialisation führt zu Integration in Familie, soziale Gruppen, Gemeinschaften, Institutionen und Organisationen, Kultur und Gesellschaft. 19 Skript PSYPE 3 Erwachsenensozialisation Orientiert man sich nur an dem obigen Sozialisationsbegriff sind Erwachsene als vollgültige Gesellschaftsmitglieder eigentlich nicht mehr sozialisationsbedürftig, sondern sie erziehen selbst Kinder, unterrichten Schüler usw. Betrachtet man jedoch das Leben in modernen, d.h. vor allem industriell entwickelten Gesellschaften, muss man weitere Sozialisationselemente hinzufügen: Sozialisation bezeichnet nicht nur Erziehungsprozesse, sondern den lebenslangen Lernprozess des Menschen Sozialisation ist mit jedem Erlernen einer neuen Rolle, mit jeder Eingliederung in eine neue Gruppe verbunden (Ausbildung – Beruf, Familie, Mitglied in Verein, Partei usw.) Sozialisation ist lebenslanges Rollenlernen unter sich stets wandelnden gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen (besonders bei Migration, Auswanderung usw.). Lernprozesse müssen häufig durch Verlernprozesse ergänzt werden. (veränderte Lebensbedingungen, neues Wissen ) Notwendig gewordene innere Wandlungsprozesse, (die Wandlung des Selbst, der Identität) erfordern fortlaufende Bewältigung und führen zur Nachfrage von Psychotherapie, Esoterik, Ideologie, Religion.... „Sozialisation, lebenslange. Diese Bezeichnung betont, dass Sozialisation nicht wie nach älterem Verständnis - in Kindheit und Jugend mehr oder weniger abgeschlossen wird, sondern dass sie im Gegenteil während der ganzen Lebensspanne vor sich geht. Erlernen neuer Rollenanforderungen, Verlernen alter und Lösung aus den alten Rollen, Bewältigung von Statusübergängen und damit verbundene Identitätswandlungen und auch –krisen usw. werden jetzt als Kennzeichen des gesamten Lebenslaufs angesehen und erforscht.“ (Fuchs-Heinritz u.a.: Lexikon der Soziologie 2007, S. 606, Für die lebenslange Sozialisation bedeutsam ist, dass Lernen hier keineswegs zwingend in Institutionen stattfindet, es gibt also in aller Regel keine systematischen Bildungsprozesse mehr. Vielmehr geschieht das Erlernen im Alltag, nebenher, 20 Skript PSYPE 3 unorganisiert, unsystematisch. So bezeichnet z.B. die berufliche Sozialisation die andauernde Vergesellschaftung durch berufliche Tätigkeit, durch die Organisation mit festen Abläufen, durch KollegInnen und Vorgesetzte usw. Nachfrage und Angebot Kennzeichnend für moderne Industriegesellschaften ist, dass Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse eine hohe individuelle Nachfrage notwendig machen. Diese bezieht sich auf Aufklärung, Unterstützung, Beratung, Hilfe usw. und wird mit einer ständig wachsenden Fülle von Literatur sowie (psychologischen, sozial- pädagogischen, esoterischen, juristischen u.a.) Angeboten beantwortet. 2.4 Darstellung und Beobachtung eines fiktiven Tagesverlaufs Martha M., z. Zt. Lehrerin, beginnt ihren Berufsalltag beim Frühstück musikalisch mit einem ihrer alten Lieblingssongs, Pink Floyds „We don’t need no education“ , gefolgt von den Nachrichten: heute vor allem mit der jüngsten Bankenkrise, danach mit Informationen zur steigenden Jugendarbeitslosigkeit in Luxemburg. Auf ihrem Weg zur Schule mit öffentlichen Verkehrsmitteln liest sie Zeitung. Dabei erfährt sie die neuesten Scheidungszahlen, ein erfolgreiches Programm zur beruflichen Wiedereingliederung und geplante Maßnahmen der Erziehungsministerin zur Sprachförderung ausländischer Kinder. In der Boulevard-Zeitung ihres Nachbarn erhitzen sich die Gemüter nach einem spektakulären Sexualmord über Sinn und Unsinn des resozialisierenden Strafvollzugs. In der Schule angekommen, wird sie noch vor ihrem Unterricht um ein Gespräch gebeten: ein Schüler aus einer ihrer Klassen braucht dringend Unterstützung: er lebt mit seinem alkoholkranken Vater zusammen und ist damit so überfordert, dass er sich von der Schule abmelden will. M. empfiehlt ihm, unbedingt mit der Schulpsychologin zu sprechen. Da Problemfälle zugenommen haben und sie an der Schule nur eine zweijährige Vertretung für eine Kollegin in Elternzeit hat, ist sie von ihrem anfänglich übergroßen Engagement etwas zurückgetreten - vor allem weil sie selbst noch nicht weiß, wie es bei ihr beruflich weitergehen soll. Das Unterrichten und der Austausch mit Jüngeren gefällt ihr zwar sehr gut, sie überlegt aber dennoch, ob sie mit ihrer zweiten Qualifikation als Diplombiologin nicht auch in der Forschung 21 Skript PSYPE 3 arbeiten könnte. In den vergangenen Wochen hat sie zumindest schon eifrig im Netz recherchiert und einige Bewerbungen auf den Weg gebracht. Manchmal träumt sie auch davon, nach all den Jahren einer Wochenendbeziehung mit ihrem Freund 250 km weiter, endlich zusammen ziehen zu können und, wenn beide Teilzeit arbeiten, auch eine Familie zu gründen. Was ihr bei dem Gedanken schwerfällt, ist die Vorstellung, bei einem Ortswechsel dann auch ihren Freundeskreis und die schöne kleine Wohnung wieder aufgeben zu müssen. Nach ihrem Unterricht ist heute noch eine Konferenz angesetzt. Die Teilnahme ist ihr hauptsächlich wegen des Kollegiums wichtig, noch immer fühlt sie sich nicht wirklich integriert. Die Sitzung dauert so lange, dass sie ohne Pause gleich zur nächsten Versammlung eilen muss: in ihrem Wohnviertel gibt es Aufruhr wegen eines Jugendheims. Nachbarn klagen wegen nächtlicher Ruhestörung, Eltern beschweren sich wegen Verunreinigung und Zerstörung eines in Eigeninitiative gebauten Spielplatzes. Da sie die Schließung des Jugendheims fordern, ist es ihr wichtig, auch die eingeladenen Vertreter des Jugendhauses zu hören und sich für eine faire Auseinandersetzung einzusetzen. Als sie gg. 22.30 Uhr nach hause kommt, schaut sie zur Entspannung noch in das Nachtmagazin des Fernsehens. Der eingeladene Experte empfiehlt die Einführung obligatorischer Gesundheitserziehung in Schulen. Sollte sie sich verstärkt dafür einsetzen? Ideen dazu, gerade als Lehrerin, hatte sie schon häufiger. Nach dem allabendlichen Telefongespräch mit ihrem Freund und einer Verabredung zum Abendessen mit einer Freundin für den übernächsten Tag, nimmt M. als Bettlektüre noch ein Buch zur Hand mit dem wunderbaren Titel: „Was machen wir jetzt?“ (D. Dörrie, 2000) Es geht neben Ehekrisen und Eltern-Kind-Konflikten auch um die heilsame Rolle buddhistischer Lebensphilosophie. Das Richtige also für Sinn suchende Angehörige der Mittelschicht in modernen Gesellschaften(!) Lange kann sie aber nicht mehr lesen, denn morgen, an ihrem freien Tag, ist sie als Referentin eingeladen bei einem Bildungsurlaubsseminar. Thema ihres Vortrags: „Die Notwendigkeit lebenslangen Lernens und berufliche Flexibilität.“ a) Kennzeichen eines „modernen“ Lebenslaufs Privat- und Berufsleben von Martha M.: Trotz akademischer Ausbildung hat Martha M. nur eine Zeitstelle als Lehrerin. Auf Grund ihrer Doppelqualifikation (Pädagogik und Diplombiologie) bewirbt sie sich 22 Skript PSYPE 3 auch in der Forschung als Biologin. Sie führt eine Fernbeziehung und möchte erst eine Familie gründen, wenn ihre beruflichen Zukunftsaussichten klarer sind. Wichtig für Selbstwert und Identitätsbewusstsein ist ihr ihre berufliche Sozialisation (als Lehrerin und Kollegin), bürgerschaftliches Engagement (Mitbestimmung beim Jugendhaus), außerberufliche Betätigung als Bildungsreferentin (BildungsurlaubsSeminar), die Pflege privater Rollen (Lebenspartnerin und Freundin) und, in Ansätzen und ganz nebenbei, die Suche nach einem darüber hinausgehenden „Sinn“ (Lektüre) b) Entwicklungs- und Sozialisationsanlässe (im Tagesverlauf von M.): Massenmedien (Rundfunk, Fernsehen Zeitungen, Internet) und Literatur: Information, Bildung, Unterhaltung. Menschen konsumieren freiwillig, aber die Wahl des Mediums ist selbst Ergebnis einer bestimmten Entwicklung und Sozialisation. (Welche Zeitungen, welche Fernsehprogramme, welche Bücher ?) Schule und Bildungseinrichtungen: wirtschaftliche Existenzsicherung, Karriere(planjung), Umgang mit verschiedenen Rollen und hierarchischen Zwängen, Solidarität, Balance zwischen Erfordernissen des Arbeitsmarktes und Wünschen und Bedürfnissen, wissenschaftlicher Austausch, persönlichen Generationen- Austausch, Beratung, Gesundheitsaufklärung, Bildungsbeiträge, Bürgerschaftliches Engagement: Verwirklichung politischer Ideen, soziale Arbeit, Austausch mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen Partnerschaft und Freundeskreis: Emotionaler Austausch, Selbstvergewisserung, Sicherheit und Stabilität, Wertorientierung Quellen: Abels u.a., Lebensphasen. Eine Einführung.Wiesbaden 2008 Behringer F. u.a., Diskontinuierliche Erwerbsbiographien, Hohengeren 2004 23 Skript PSYPE 3 Berk, Laura, Deveopment through the lifespan. Illinois State University. Pearsons Education 2007 Böhnisch, Lothar, Sozialpädagogik der Lebensalter . Weinheim, München 1997 Griese, Hartmut, Erwachsenensozialisation. München 1986 Fuchs- Heinritz Werner u.a., Lexikon der Soziologie. VSVerlag Wiesbaden 2007 Konietzka, Dirk, Zeiten des Übergangs. Sozialer Wandel des Übergangs in das Erwachsenenalter. VS Verlag Wiesbaden 2008 2.5 Das Konzept der lebenslangen Entwicklung – Entwicklungspsychologie der Lebensspanne Die wichtigsten Aussagen des Konzeptes lauten: Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess. Entwicklung kann in ganz verschiedenen Richtungen verlaufen, und Menschen unterscheiden sich untereinander sehr stark in diesen Richtungen. Der Einzelne ist in hohem Maß zu Veränderungen fähig. Entwicklung vollzieht sich in verschiedenen psychischen Bereichen. Entwicklung vollzieht sich in verschiedenen Lebenskontexten. Neben dem chronologischen Alter haben auch gesellschaftliche, ökologische und historische Bedingungen einen Einfluss auf die Entwicklung. Entwicklung ist ein interaktiver Prozess zwischen Individuum und Umwelt, in dem der Mensch selbst sehr aktiv ist. 24 Skript PSYPE 3 2.6 Theoretische Ordnungsversuche des Lebenslaufs und Erwachsenenalters. a. Das ontogenetische Modell der Entwicklung im Erwachsenenalter: in diesem Modell wird die Quelle für Veränderungen in den biologischen oder psychischen Prozessen des Individuums gesehen. Nach Vaillant (1980, 1993) hängt die „psychische Gesundheit“ eng mit einer erfolgreichen Bewältigung des Lebens zusammen. Menschen, die über reife Abwehrmechanismen verfügen, können Herausforderungen besser bewältigen als Menschen mit unreifen (neurotischen) Abwehrmechanismen. Gould (1979) sieht Entwicklung im Erwachsenenalter als schrittweise Transformation des Bewusstseins über sich selbst an. So werden aus der Kindheit stammende falsche Annahmen schrittweise ersetzt durch reife, dem Erwachsenen angemessenere Einschätzungen. Verschiedene Längsschnittuntersuchungen kommen zu unterschiedlichen Aussagen über die Veränderung von Persönlichkeitseigenschaften im Erwachsenenalter. Die „Berkeley-Studien“ (Eichhorn et al., 1981) verwendeten Ratingskalen und fanden zwischen Adoleszenz und mittlerem Erwachsenenalter einen Anstieg in: Selbstvertrauen, Offenheit für neue Erfahrungen, kognitives Interesse, Besorgtheit um andere Menschen. Dagegen fand die „Baltimore Longitudinal Study of Aging“ bei erwachsenen Männern im Verlauf von 20 Jahren keine Veränderung in Persönlichkeitsdimensionen wie Neurotizismus, Extraversion und Introversion. Hier wurden Persönlichkeitstests zur Messung verwendet. b. Das soziogenetische Modell der Entwicklung im Erwachsenenalter Die Sozialisationsforschung geht davon aus, dass die Mitglieder einer Gesellschaft durch soziale und kulturelle Einflüsse auf das Leben in dieser Gesellschaft vorbereitet werden. Dies würde in einer Vorbereitungsphase (Kindheit, Jugend) geschehen. Darauf folgten dann die Aktivitätsphase und die Ruhephase. Heute zeigt sich jedoch: die vorbereitende Sozialisation reicht immer weniger für ein ganzes Leben, die Sozialisation Erwachsener wird immer häufiger. 25 Skript PSYPE 3 Die Theorie der Altersschichtung sieht Altersnormen als wichtigen Einflussfaktor auf den Lebenslauf an. Sie legen fest, in welchem Alter jemand welche soziale Rolle übernehmen sollte. Von diesen Normen geht ein gewisser Druck aus, sie zu erfüllen. Die zeitliche Aufeinanderfolge dieser Rollen bildet die Normalbiographie. Sie kann Unterschiede aufweisen zwischen den Geschlechtern, zwischen sozialen Schichten, zwischen verschiedenen historischen Epochen. Die Übergänge zwischen den einzelnen Rollen stellen Krisensituationen dar, in denen erhöhte psychische Belastungen auf den Menschen zukommen. c. Ein interaktionistisches Modell (Individuum Umwelt) der Entwicklung im Erwachsenenalter stellen Levinsons Perioden des Erwachsenenalters dar. Levinson (1979, 1980) fand bei seinen Versuchspersonen individuelle Lebensstrukturen, ein Muster aus verschiedenen Beziehungen des Menschen zu sich selbst, zu Anderen, zu Außenwelt allgemein. Manche Elemente in diesem Muster sind dem Menschen wichtig, er investiert viel Zeit und Energie darin. Andere sind eher nebensächlich. Diese Lebensstruktur läuft anscheinend in einer geordneten Sequenz ab. Dabei wechseln sich strukturbildende Perioden (= Treffen von Entscheidungen, Aufbau einer Situation) mit Übergangsperioden (= Neueinschätzung der Situation, Suche nach Veränderungen, Veränderung) ab. Quellen: Faltermaier, T. Mayring, P., Saup, W. (2002) Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters. Stuttgart: W. Kohlhammer. S. 24 – 63. 3. Das frühe Erwachsenenalter 3.1 Der Übergang ins Erwachsenenalter Gesellschaften sind üblicherweise dadurch gekennzeichnet, dass Heranwachsende auf ihre zukünftigen Aufgaben als Erwachsene vorbereitet werden. Mit diesen Funktionen und Tätigkeiten können sie dann für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des jeweiligen Gesellschaftssystems sorgen. Je komplexer eine Gesellschaft, desto länger dauert die Phase des Lernens und der Ausbildung, desto 26 Skript PSYPE 3 länger also die Gesellschaftsmitglied. Übergangszeit Zeichnete zum sich der vollwertigen Übergang und in selbständigen vorindustriellen Gesellschaften durch rituelle Verfahren aus und war dadurch auch auf ein bestimmtes Alter festgelegt (Initiationsriten), zeigen die Prozesse in modernen Gesellschaften beträchtliche unterschiedlich langen individuelle Ausbildungszeiten, Unterschiede (auf Warteschleifen, Grund Phasen von der Arbeitslosigkeit, Zweitausbildungen, Nachqualifikationen usw. ) und können längst nicht mehr am kalendarischen Alter festgemacht werden. „Erwachsen zu sein ist somit immer einer gesellschaftlichen Bestimmung unterworfen“ (Faltermaier u.a. S. 86). Wer als erwachsen gilt, kann also kaum noch als allgemein verbindlich angesehen werden: Dennoch bleiben als Grundbedingung und Orientierungspunkt für den autonomen Erwachsenenstatus die äußere und innere Loslösung vom Elternhaus sowie der Aufbau einer eigenständigen Lebensform mit entsprechenden Entscheidungen für Beruf und Privatleben. (Levinson ,1979) 3.2 Zentrale Entwicklungsthemen des frühen Erwachsenenalters Nimmt man das frühe Erwachsenenalter als eine sensible Phase für die Bahnung des weiteren Lebenslaufs, stellen seine Akteure „wahrscheinlich die Altersgruppe mit dem größten innovativen Potenzial für die Entwicklung einer Gesellschaft dar“ (Faltermaier u.a., S. 88) In diesem Sinne macht der US-amerikanische Psychologe Bocknek (1986) den Versuch, psychische Tendenzen in dieser Lebensphase heraus zu arbeiten: Der junge Erwachsene erhält ein Gefühl der eigenen Stärke und Fähigkeiten, besonders auch in Bezug auf die neuen Erfahrungen in der Erwachsenenwelt. Er hat im Vergleich zur Jugendzeit eher ein Welt-Bewusstsein, d. h., er definiert sich nun in einem weiten Kontext von Beziehungen (seine unmittelbare und weitere Umwelt). Er zeichnet sich häufig durch eine aktivistische Orientierung aus, d. h., er will seine Ideen und Ziele verwirklichen, und zwar in geplanter und kontrollierter Art und Weise. Es beginnt eine Phase der Ausrichtung einer Perspektive auf die eigene Person. Die Möglichkeit einer Selbstsicht lässt gezielter an Schwächen arbeiten, ohne die gesamte Persönlichkeit infrage zu stellen. 27 Skript PSYPE 3 Je nach äußeren Bedingungen kann sich ein innovatives Potenzial zeigen, dass gesellschaftliche Auswirkungen haben kann. (Lust am Experiment, an unkonventionellen Dingen). Auch wenn es sich hier eher um idealtypische Charakterisierungen handelt, kann noch einmal festgehalten werden, dass die Komponenten Partnerschaft/ Familie und Beruf, wenn auch zeitlich verschoben und immer weniger endgültig, zentral bleiben, d.h. weiterhin als die wesentlichen Determinanten für die Stabilität eines Lebenslaufes gelten. (Clausen, 1986) Zu diesen beiden als zentral betrachteten Lebensthemen des jungen Erwachsenen gelten weiterhin auch die Identitätsentwicklung, soziale Beziehungen allgemein sowie die Entwicklung von Lebenszielen. 3.2.1 Identitätsentwicklung Hier stellt sich für den jungen Erwachsenen in besonderer Weise die Frage nach einem Ausgleich zwischen Gesellschaftsanpassung und Selbstverwirklichung. In einer komplexer gewordenen Lebenswelt müssen Berufswelt, Ausbildungslaufbahn, Freizeitaktivitäten, soziale Bindungen integriert werden. Für heutige Gesellschaften mit ihren multiplen Lebenswelten ergibt sich daraus leicht eine „PatchworkIdentität“, d.h. ein subjektiver Konstruktionsprozess, in dem immer wieder versucht wird, Passung herzustellen. 3.2.2 Soziale Beziehungen Wohl kaum in einer anderen Lebensphase werden so viele neue Beziehungen eingegangen: zu Freunden, Arbeitskollegen, den eigenen Kindern usw. Aber auch die Beziehungen zu den Eltern gehen von einem ehemals abhängigen zu einem gleichberechtigten Verhältnis über. Dabei ist das aktive Gestalten dieser sozialen Beziehungen von entscheidender Bedeutung und eine Besonderheit des Individualisierungsprozesses, ist doch der junge Erwachsene heute nicht mehr selbstverständlich in Familien- und Verwandtschaftsbezügen eingebunden. Soziale Beziehungen werden somit stärker nach eigenen Interessen und Bedürfnissen eingegangen. 3.2.3 Intimbeziehungen, Partnerschaft und Familie Die alles dominierende Thematik des frühen Erwachsenenalters ist jedoch die Herstellung einer tragenden Partnerschaft, meist als intime Beziehung. Dabei geht 28 Skript PSYPE 3 es immer weniger um das Modell Ehe und die traditionelle Familie. (siehe Einführung) Die mit den gesellschaftlichen Veränderungen verbundene „Freisetzung“ aus alten Rollen und Verpflichtungen hat gerade wo es um Geschlechtsrollen geht, für die Betroffenen ganz unterschiedliche Folgen. Besonders für Frauen ergibt sich im Alltag häufig ein Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit in dem Sinn, dass traditionelle weibliche Rollenmodelle neben neuen Frauenrollen weiter bestehen bleiben, während Familienrollen für Männer noch weit weniger Akzeptanz und Förderung erhalten. Partnerschaften entspringen heute mehr denn je dem Glauben an romantische Liebe und dem persönlichen Bedürfnis nach Geborgenheit und Nähe. Während Sicherheit und Geborgenheit früher im Vordergrund standen, ist es heute eher auch die gemeinsame Suche nach Lebenssinn und Identität (Beck & Beck-Gernsheim, 1990). Dabei müssen die Rollen und die Arbeitsteilung in der Partnerschaft immer wieder neu ausgehandelt werden. Jeweilige individuelle, aber auch dyadische (auf dem Zweiersystem aufgebaute) partnerschaftlichen Kompetenzen Beziehung und beeinflussen erfordern ein die Qualität hohes Maß einer an Problemlösefähigkeit, an Interaktions- und Kommunikationsfähigkeit, an emotionaler Intelligenz, körperlicher Attraktivität, somatischer und psychischer Belastungs- und Bewältigungsfähigkeit. Dass Paarbeziehungen immer weniger Stabilität aufweisen und inzwischen ,mehr als jede dritte Ehe wieder geschieden wird, hat ganz unterschiedliche gesellschaftliche, ökonomische und psychische Ursachen. Von den Betroffenen, besonders Kindern, erfordern Trennungen oft jahrelang emotionale Bewältigung und nicht selten auch große ökonomische Verluste. Hohes Selbstvertrauen, ein positives Selbstkonzept, eine wenig konservative Einstellung sind Faktoren für eine bessere Bewältigung einer Trennung. 3.2.3.1 Die Kinderfrage als Wendepunkt In modernen Gesellschaften sind Kinder längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Mehr als ein Viertel der Erwachsenen bleibt mittlerweile kinderlos, auch hier mit steigender Tendenz. Elternschaft wird durch die modernen Verhütungsmethoden planbar und sogar ungewollte Kinderlosigkeit kann mitunter medizinisch überwunden werden. Die Entscheidung für oder gegen Kinder kann nicht beliebig hinausgezögert werden (biologische Uhr) und somit stellt sie mit der Frage nach Kindern unumstößlich die Weichen für den weiteren Lebenslauf eines jungen Erwachsenen. 29 Skript PSYPE 3 Eine Befragung von jungen Paaren ergab, dass extrinsische (man verbindet Kinder mit einer bestimmten Lebensform; Kinder werden vor allem in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Partnerbeziehung oder der eigenen Persönlichkeit gesehen) Werte intrinsischen (etwa die Freude am Zusammenleben mit Kindern) vorgezogen werden. Der Kinderwunsch wird nur ganz selten eindeutig formuliert, er umfasst immer auch konflikthafte, ambivalente Anteile: Man will durch ein Kind Neues lernen, einen Lebenssinn erhalten oder diesen erweitern, gleichzeitig kommen jedoch auch die Bedenken, der Aufgabe und Verantwortung nicht gewachsen zu sein. In die Überlegungen der jungen Erwachsenen fließen schließlich auch die Stabilität und Sicherheit ihrer beruflichen und materiellen Situation mit ein. 3.2.3.2 Frühe Elternschaft als kritische Lebensphase Das Leben zu dritt verlangt das Erlernen neuer Interaktionsformen und ist teilweise hohen psychischen Belastungen ausgesetzt. Allgemein hinterlässt Elternschaft in der Persönlichkeit von Männern und Frauen deutliche Spuren. Was sich aus ihr für die persönliche Entwicklung ergibt, hängt stark von materiellen (ökonomische Situation), lebensweltlichen (bei Trennung der Eltern oder in Fortsetzungsfamilien) und sozialethnischen (Herkunft der Eltern) Faktoren ab. Erschwerende Bedingungen ergeben sich vor allem bei einer chronischen Erkrankung oder Behinderung des Kindes. Auch die Rolle der Großeltern beeinflusst das Erleben und Verhalten der Eltern in nachhaltiger Weise. Erziehungsarbeit ist, was die Auswirkungen und Folgen auf die betroffenen Eltern angeht, in ihrer Nachhaltigkeit mit der Berufsarbeit zu vergleichen. Väter und Mütter wachsen in ihrer Persönlichkeit an den Kindern, sie erleben jedoch auch Verluste und Einschränkungen durch beispielsweise die Berufsaufgabe eines Elternteils, in den meisten Fällen immer noch der jungen Mutter. Es stellt sich für sie oftmals dann eine soziale Nivellierung ein, da sie große Teile ihrer Identität an der Berufswelt festmachten, die aber nun verschwunden ist. Und die Wertschätzung des Hausfrauund Mutterdaseins rangiert in den unteren Rängen. Die Einstellung zu einer neuen Arbeitsteilung in der Familie haben sich zwar grundlegend geändert, doch bleibt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht nur in Deutschland weiterhin ungünstig. Von der „neuen Väterlichkeit“ erhoffen sich nun die Frauen Entlastung und die Männer mehr emotionale Arbeit, doch in den sozialstrukturellen Daten wird sie nicht sichtbar: Nur eine verschwindend geringe Anzahl junger Männer ergreift die Möglichkeit des Erziehungsurlaubs. 30 Skript PSYPE 3 In ihrer „Arbeitsplatzbeschreibung für Mütter, Väter und andere“ hat Barbara Sichtermann (1987) Anforderungen und Belastungen im Alltag mit kleinen Kindern zusammengestellt: immer für das Kind da sein; immer auf dem Sprung sein, körperliche Anstrengung und veränderte Zeiterfahrung (nämlich am Zeitrhythmus des Kindes), soziale Unterstützung und Erwartungen (Unterstützung und das Verständnis der anderen). Insgesamt wird die Betreuung eines Kindes als sehr ambivalent erlebt: Die Tätigkeit des Aufziehens ist einerseits sehr verantwortungsvoll und auch befriedigend (mit meist gutem Feedback der Kinder), auf der anderen Seite erfordert sie eine ständige Aufmerksamkeit mit ganz wenigen Unterbrechungen. Die Eltern können dies nur auffangen, indem sie ein hohes Maß an Flexibilität und Gelassenheit im Umgang mit den alltäglichen kleineren und größeren Katastrophen entwickeln. Neue Herausforderungen mit dem Heranwachsen der Kinder Mit dem Heranwachsen der Kinder verläuft die Entwicklung der Kinder immer mehr außerhalb des Einflussbereichs der Eltern: Das schafft neue Anforderungen und neue Sorgen, beispielsweise, wenn die Kinder in Kinderkrippe und Kindergarten anderen Personen zur Betreuung übergeben werden und wenn sie den schulischen Anforderungen nachkommen müssen. Eltern müssen sich jetzt mit den Anforderungen der Erziehungsinstitutionen auseinandersetzen. Neu ist, dass es Wissensbestände gibt, in denen Erwachsene erstmalig von ihren Kindern lernen können und oft sogar müssen. Das schafft sicher neue Formen des Umgangs wie überhaupt Erziehung in für Eltern und Kinder unsicheren Zeiten weit mehr emotionale Begleitung und Beratung verlangt. Quellen: Faltermaier, T. Mayring, P., Saup, W. (2002) Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters. Stuttgart: W. Kohlhammer. S. 85- 135. 31 Skript PSYPE 3 4 Das Kleinkind in der Familie: Ergebnisse der Kleinkindforschung und pädagogische Betreuung 4.1 Frühe Kindheit: eine Phase hoher Lernfähigkeit Säuglinge besitzen bei der Geburt bereits ca. 100 Milliarden Nervenzellen und ca. 50 Billionen Synapsen (Verdrahtungen zwischen den Nervenzellen). Daraus entstehen in den ersten Lebensmonaten ca. 1000 Billionen Synapsen, d.h. die Verschachtelungen verzwanzigfachen sich. Wenn Umweltreize fehlen, verkümmert die Synapsenbildung oder wird ganz eingestellt. Babys z.B., die früher häufig wegen Augenentzündungen bei der Geburt blind waren, blieben dies, auch wenn man sie einige Monate später operierte, d.h. die Synapsenbildung war nicht mehr möglich, weil die „sensible Phase“ überschritten war. Die Gehirnentwicklung ist also auf den Gebrauch der Sinne angewiesen, damit es zu Verstärkungen und Verdichtungen kommt. Die Gene liefern nur das Baumaterial, Synapsenbahnen - manche Forscher sprechen sogar von „Straßen“ und „Autobahnen“ – bilden sich erst durch Umweltanregungen. Hirnforscher schätzen, dass 30 bis 50 % der Verschachtelungen durch Nichtgebrauch in den ersten Lebensmonaten wieder verloren gehen. Wir gehen also davon aus, dass in den ersten Lebensmonaten die Architektur und das Grundgerüst für Fühlen, Wahrnehmen, Denken und Handeln entsteht. Die große Bedeutung sozialer Umweltanregungen zeigen Untersuchungen bei Heimkindern: diejenigen, die von Beginn an durch eine konkrete Person „bemuttert“ wurden, entwickelten sich weit gesünder und erreichten fast normale Schulabschlüsse im Gegensatz zu den Kindern ohne „Mutter“. Diese waren weit häufiger krank und blieben weit häufiger auch ohne Schulabschluss. Ein weiteres Beispiel für den Einfluss von Umwelt/ Kultur ist auch die Tatsache, dass Menschen, die z.B. mit der chinesischen Sprache aufwachsen, kein „r“ sprechen lernen, während sich in anderen Sprachräumen durch erwachsene Vorbilder die rLautbildung entwickelt. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass in den ersten Lebensjahren die „geistig-seelische Grundkonstitution“ entsteht und es daher sehr berechtigt ist, wenn die Frühpädagogik dem frühen „Lernen“ einen hohen Stellenwert einräumt. 32 Skript PSYPE 3 4.2 Die Bedeutung von Sozialkontakten für die kindliche Entwicklung In den ersten Lebensmonaten kommt es im Zusammenhang mit der Gehirnentwicklung entscheidend auf die soziale Interaktion des Kindes mit den Eltern oder anderen Bezugspersonen an. Dabei zeigen zahlreichen Untersuchungen zufolge die meisten Eltern im Kontakt mit dem Säugling intuitiv richtiges Verhalten. Der zentrale Begriff für das richtige Verhalten ist die Sensitivität oder Feinfühligkeit: die Pflegeperson erkennt Signale zur Kontaktaufnahme, gibt positive Rückmeldung, ist zuverlässig da und ihr Verhalten ist freundlich. Das heißt, sie lässt Geborgenheit spüren, vermittelt Urvertrauen, ist einfühlend und unterstützend, zeigt emotionale Wärme und Liebe. Ein wichtiges Vehikel der sozialen Interaktion ist das Spiel. Es hat den Vorteil, dass es auch bei vielen Wiederholungen den Kindern Freude macht und dadurch lernen ermöglicht. Dies bestätigen hochdifferenzierte Untersuchen zu dem Zusammenhang von Eltern- Kind- Spiel (motorische Spiele, Verse usw.) und kindlicher Entwicklung. Wenn Eltern nicht fähig sind, die soziale Interaktion mit ihrem Kind angemessen zu gestalten, können u.a. folgende psychologische, soziale und pädagogische Missstände angeführt werden: Das Kind ist unerwünscht/ wird abgelehnt Krisen in der Partnerschaft wirken sich auf das Familienklima aus Unwissenheit über Erziehung Psychische Störungen der Mutter/ Vater Armut Überschüttung mit Materiellem Etwas vereinfachend unterscheidet Keller (1997) zwischen zwei Erziehungsstilen: Die Erziehungssituation ist harmonisch, unterstützend, die Eltern sind sensibel und reagieren angemessen; dies führt zu günstiger kindlicher Entwicklung und zu sicherer Bindung. Die Erziehungssituation ist instabil, zurückweisend, die Eltern sind unsensibel, reagieren unangemessen. Die Folge beim Kind sind häufig Entwicklungsdefizite, Verhaltensstörungen und unsichere Bindung. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass frühe Sozialkontakte für einen „Sockel“ vielfältiger Entwicklungsmöglichkeiten sorgen. Die Kinder lernen ihre Umwelt besser kennen, sie entdecken im sozialen Austausch, dass sie selbst etwas bewirken können (Verursacher), sie erwerben Bewältigungsstrategien im sozialen 33 Skript PSYPE 3 und emotionalen Bereich und lernen soziale Regeln. Aufgrund der Notwendigkeit der sozialen Dimension spricht man deshalb auch von der sozial-kognitiven Entwicklung als einem Prozess der „Co-Konstruktion“. 4.3 Neue Sicht auf die Wahrnehmung und Differenzierungsfähigkeit Kinder arbeiten von Anfang an mit ihrem Wahrnehmungspotenzial, um Sinnesreize zu unterscheiden und zu ordnen. Sie verfügen bereits im Neugeborenenalter über die Grundfähigkeit, Denkprozesse zu entwickeln. Was ihnen fehlt, ist die Erfahrung. Sie streben danach, mit allen Sinnen Erfahrungen zu machen und diese so zu sortieren, dass sie einen Sinn machen. Kleine Kinder denken körper- und handlungsbezogen. Dafür brauchen sie Bewegungsraum und freie Bewegungsentwicklung, sie brauchen vielfältiges Material zum Erkunden, allein und mit anderen. Nur so kann „Tun aus eigenem Willen heraus“ (Schäfer 1999) geschehen. Die Selbstwertentwicklung wird entscheidend vorangetrieben, wenn sich der soziale Bewegungsradius auf Gleichaltrige ausdehnt. Forschungsergebnisse zu Gleichaltrigen-Beziehungen im ersten und zweiten Lebensjahr belegen eindrucksvoll, wie wichtig die eigene soziale Welt der Kinder untereinander ist, vor allem das „Aushandeln“. Die typischen Peer-Verhaltensweisen sind bei Kleinkindern Vokalisieren, Anlachen, Berühren, später Gestikulieren (Hay u.a. 1983). Das Interesse aneinander führt zu: Erkunden des Körpers des Anderen, Kontakte über Gegenstände, Interesse an der Tätigkeit des Anderen, Erkennen der Gefühle des Anderen (z.B. Reaktion auf sein Weinen). Je älter die Kinder werden, desto komplexer wird ihre Kommunikation, in der sie versuchen, ihre Idee dem anderen verständlich zu machen. Hubert Montagner, ein französischer Kleinkindforscher in Vincent (1995) gibt einen Hinweis auf wesentliche Aspekte der kognitiven Entwicklung, die durch den Austausch unter Kindern angeregt wird: „Für ein Kind ist es wichtig, festzustellen, dass dieselben Spiele oder Spielsachen für die anderen einen anderen Sinn und andere Eigenschaften haben können. Auf diese Weise lernt das Kind, Dinge oder Vorgänge in ihrer Vielgestaltigkeit wahrzunehmen .und in sein Weltbild zu integrieren. Dazu braucht es Orte und Möglichkeit, Freundschaften mit anderen Kindern aufzubauen. Freunde „animieren und ergänzen sich gegenseitig“ (Schneider/ Wüstenberg 1993), sie riskieren mehr in Auseinandersetzungen als nicht 34 Skript PSYPE 3 befreundete Kinder und lernen dadurch Konfliktfähigkeit. Vor allem aber wollen auch kleine Kinder schon handlungsfähig sein. Ihre ersten entscheidenden Erfahrungen sind Körpererfahrungen. Charakteristisch für die ersten Jahre ist daher, dass Kinder Körperwesen und Bewegungswesen sind mit ganz spezifischen Bedürfnissen: Entwicklung von Selbstvertrauen durch Selbstwirksamkeit Raum zur freien Bewegungsentwicklung und Entwicklung von Bewegungssicherheit Recht auf körperliche Integrität Beziehungsvolle Pflege: Erlebnis individuell gestalteter Situationen Beachtung und Begleitung ihrer Interessen und Gefühle Wenn dies gelingt, kann das zart entwickelte Selbstwertgefühl in den erweiterten sozialen Kontexten später immer weiter bestätigt bzw. auch revidiert werden. 4.4 Sprachentwicklung und Spracherwerb Die Sprachentwicklung ist eng mit der geistigen und sozialen Entwicklung von Kindern verbunden. Den Ursprung des Spracherwerbs sieht die Forschung im sogenannten „Triangulären Blickkontakt“ begründet: mit etwa 10 bis 12 Monaten merken Kinder, dass Wörter sich auf bestimmte Gegenstände beziehen. Sie lassen den Blick zwischen einer Person und einem Objekt hin und her schweifen und stellen so eine Verbindung her zwischen dem Wort (die Mutter sagt „Tisch“ und zeigt darauf) und dem Gegenstand. Am Ende des 2. Lebensjahres beherrscht ein normal entwickeltes Kind etwa 50 Wörter und ist in der Lage, Zwei-Wortsätze zu bilden. Diese für den Spracherwerb „sensible Phase“ setzt sich mit dem sogenannten „Fragealter“ (3. Und 4. Lebensjahr) und einer stetigen Erweiterung des Wortschatzes fort und ist mit etwa 5 Jahren abgeschlossen. In diesem Alter haben Kinder besonders grosse Freude an Sprachspielen, können z. B. beim spielen Geheimsprachen entwickeln und zeigen Interesse an fremden Sprachen. Zwei- und Vielsprachigkeit Das Aufwachsen in einer globalisierten Welt bedeutet für viele Kinder in unterschiedlichen sprachlichen Kontexten aufzuwachsen und darin Kompetenzen zu erlangen. 35 Skript PSYPE 3 Dabei bietet Luxemburg mit der Verwendung von mindestens vier Sprachen ein sehr komplexes Bild im Hinblick auf die Sprachensituation. Nachdem die Forschung Zwei- und Mehrsprachigkeit lange als eher nachteilig (seelische Instabilität, schlechte Schulleistungen u.a.) für die Entwicklung der betroffenen Kinder betrachtete, kamen in den 60er Jahren zwei Studien, eine kanadische (Peal, Lambert, 1962) und eine englische (C. Baker 1964), zu dem Ergebnis, dass Bilingualität die geistige Flexibilität der Kinder eher erhöht, dass sie in ihren Leistungen einfallsreicher und kreativer sind, dass sie über mehr Beziehungsstrukturen und breitere kulturelle Erfahrungen verfügen. Inzwischen geht man in der Forschung davon aus, dass die Fähigkeit zur Mehrsprachigkeit schon zur genetischen Ausstattung gehört, d.h. dass das eigenständige Erschließen unterschiedlicher Sprachcodes (= die Unterscheidung und Zuordnung jeweils zusammengehöriger Laute) im Grunde jedem Kind möglich ist und eben nicht nur den besonders begabten unter ihnen. Allerdings ist die Entwicklung dieser Fähigkeiten von einer Reihe von Bedingungen abhängig. Dazu zählen eine gute emotionale Beziehung zwischen dem Kind und den Personen, die die Sprache vermitteln (Eltern, Erzieher, Lehrer) sowie eine kontinuierliche und kindgemäße Vermittlung Methoden der Sprachförderung Innerhalb der Familie gelingt Bilingualität dann, wenn der jeweilige Elternteil konsequent „seine“ Sprache spricht. Beide Sprachen werden also völlig natürlich eingesetzt, wobei die Orientierung auf die Inhalte der Sprache gerichtet sind, nicht auf die Sprache selbst. Dieses „Eintauchen“ in die Sprache entspricht in seiner Unbewusstheit der Funktionsweise der menschlichen Sprachlernfähigkeiten und wurde in Europa als „Immersionsmethode“(lat.: immersus = eintauchen) von dem Sprachwissenschaftler Henning Wode, Universität Kiel, bekannt gemacht. Inzwischen gilt „Immersion“ auch als erfolgreiche Methode in pädagogischen Einrichtungen. (Kindergarten, Grundschule usw.), besonders wenn das „Sprachbad“ auch mit Elementen aus der Dramapädagogik erweitert wird. Spracherwerb heißt das, dass Sprachinhalte, aber auch Für den sogenannte 36 Skript PSYPE 3 „Sprachnotsituationen“ mit nonverbalen Kommunikationstechniken (Gestik, Mimik, Bilder usw.) veranschaulicht, d.h. „gespielt“ werden und so die Aufnahme unterstützen. Sprachkompetenz und soziale Bedingungen Wenn die Immersionsmethode davon ausgeht, dass Sprache und Person am Anfang eine Einheit darstellen, ist es selbstverständlich, dass gestörte Beziehungen und ungeeignete Methoden, besonders wenn sie Angst und Zwang erzeugen, sich für das Kind auch negativ auswirken können: es kann, im schlimmsten Fall, zu einer partiellen Sprachverweigerung kommen, aber auch, je nach Situation, zu einer doppelten bzw. mehrfachen „Halbsprachigkeit“. Dieser Gefahr sind vor allem Kinder aus Einwanderungsfamilien ausgesetzt: im Falle von mangelnder Fürsorge auf Grund von schwierigen Lebensbedingungen verbleiben sie in ihrer Muttersprache häufig auf recht niedrigem Niveau, gerade auch dann, wenn ihre Sprache nur im privaten Gebrauch Funktion und Bedeutung hat. Was den Umgang mit den drei Landessprachen angeht, kann Migration dazu führen, dass Kompetenzen von Eltern nicht erworben werden können (z.B. aufgrund von spezifischen Arbeitsbedingungen) oder ihre Notwendigkeit nicht erkennen und dieser Mangel sich für Kinder dann sehr nachteilig auswirkt. Zumindest tendenziell sind sie später einer größeren Gefahr ausgesetzt , nur sehr niedrige oder keine Bildungsabschlüsse zu erreichen. Da in Luxemburg inzwischen fast die Hälfte aller pro Jahr schulpflichtigen Kinder aus Einwanderungsfamilien kommen, ist deren sprachliche Förderung zur Erhöhung von Chancengleichheit eines der wichtigsten Ziele. Vor Eintritt in die Schule luxemburgisch zu lernen als „langue d’intégration“ ist daher eine der wichtigsten Aufgaben der frühkindlichen Erziehung. Die erfolgreiche Vermittlung, die die Versäumnisse der Eltern zumindest teilweise kompensieren kann, setzt dann voraus, dass Erzieherinnen und Erzieher in der für Sprachkompetenz so wichtigen Phase, das (hier nur angedeutete) methodische Wissen auch haben und umsetzen können. 37 Skript PSYPE 3 Quellen: Bildungsstandards Sprachen: Leitfaden für den kompetenzorientierten Sprachunterricht an Luxemburger Schulen. Luxembourg, Ministère de l’Education Nationale, 2008 Briedigkeit, E., Fried, L., Sprachförderkompetenz, Cornelsen Sriptor, 2009 Müller, J.E., Lernen braucht Bewegung. Exkurs zu einer Lehrerfortbildung. Eigenverlag 2007 Müller, Th., Dramapädagogik und Deutsch als Fremdsprache. Vdm Verlag Dr. Müller, 2008 Zollinger, B., Die Entdeckung der Sprache, Haupt Verlag München, 2007 4.5 Fremdbetreuung Ein Blick in die Kindererziehung zeigt, dass es nicht immer die Mutter war, die das Kleinkind betreut hat. Historisch gesehen war diese Betreuung für Deutschland sogar eher selten, d.h. es wurden häufig Geschwister, Verwandte, Großeltern usw. eingesetzt. Kulturvergleichende Studien belegen für die Kontinente Südamerika und Afrika beide Modelle, d.h. in 50% der Zeit wurden Kleinkinder von anderen Personen als der Mutter betreut. So lautet ein afrikanisches Sprichwort: „Um ein Kind richtig aufzuziehen, braucht man ein ganzes Dorf.“ Kinderkrippen zur Betreuung von Kleinkindern, wie sie in Europa im Rahmen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert entstanden, waren zunächst nur Bewahranstalten für Kinder von Armen, Arbeiterinnen, ledigen Müttern und Prostituierten. Heute sind Krippen für viele Familien und Kinder ein wichtiger und notwendiger Teil ihres Lebens. Da, wo ein negatives Image heute noch besteht, ist die Rede von „Rabenmüttern“ und emotional gestörten Heimkindern. Dabei bezieht man sich auf traditionelle Familienrollen und auf das sog. Bindungskonzept von John Bowlby (1984). Dieses besagt, dass das Kind eine emotionale Bindung an eine Bezugsperson brauche, vorzugsweise die Mutter, um Schutz und Sicherheit zu erwerben. Beweise dafür wurden in zahlreichen Studien gefunden (z.B. „Fremde Situations-Test“), aber auch in der frühen Krippenforschung, die zu bestätigen versuchte, dass Krippenkinder weniger Bindungssicherheit und häufiger soziales Problemverhalten zeigen. Inzwischen weiß man, dass es eine Reihe methodischer Mängel bei diesen Studien gab (soziale Auslese, zu starker Wechsel von 38 Skript PSYPE 3 Betreuungspersonen, zu früher Krippenbesuch u.a.) und in neueren Untersuchungen Bindungsstörungen durch Fremdbetreuung nicht feststellbar sind. Viel stärker als die Tagesbetreuung an sich wirken sich der Erziehungsstil der Eltern, ihre Persönlichkeit und die Lebenssituation insgesamt aus. Vor allem wenn Mütter durch Rollenunsicherheit auffallen, haben Kinder mehr Bindungs- und Verhaltensstörungen. Zusammenfassend kann daher gesagt werden, dass neueren Forschungsergebnissen zufolge bei Krippenbetreuung kein Anlass für Bedenken besteht, wenn ein Kind genügend Zeit zur Eingewöhnung bekommt. Ist dies der Fall, unterscheiden sich fremd betreute Kleinkinder nicht hinsichtlich Ängstlichkeit, Selbstvertrauen usw. von Familienkindern. Grundsätzlich sind „Wirkungen“ der Fremdbetreuung immer im Zusammenhang mit den „Wirkungen“ der Familie zu sehen, d.h. es besteht eine Wechselwirkung, bei der sich positive und negative Einflüsse gegenseitig verstärken, schwächen oder ausgleichen. Generell scheint die Familie eine stärkere Wirkung auf die kognitive Entwicklung und die Fremdbetreuung auf die soziale Entwicklung zu haben. Die Risiko- und Resilienzforschung hat ergeben, dass Kinder, die in der Familie keine wünschenswerte Beziehungsqualität erfahren, dies ausgleichen können durch eine verlässliche Beziehung mit anderen Bezugspersonen. Was die Qualität der Betreuung angeht, orientiert sie sich vor allem an der Qualität der Fachkräfte, erst dann ist die Gruppengröße, das Spielmaterial, der Raum und die Gestaltung des Tagesablaufs von Bedeutung. Gerade weil inzwischen die Möglichkeit und Notwendigkeit des „Lernens“ in der frühen Kindheit sowohl von der Hirnforschung wie von der Pädagogik gefordert wird, erscheint bessere Fremdbetreuung notwendiger denn je. Dies gilt vor allem für Kinder aus sozial schwachen Familien und Migrantenfamilien. Gerade für sie bedeutet der ausschließliche Aufenthalt in der Familie nicht automatisch eine bessere Förderung ihrer Entwicklung, eher könnten in der Krippe durch konkrete Maßnahmen Erziehungs- und Bildungsdefizite ausgeglichen werden. Dabei können sich gute Einrichtungen auch volkswirtschaftlich rechnen: wenn die Eltern arbeiten können, Steuern zahlen und investieren, haben auch ihre ausreichend geförderten Kinder bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und langfristig höhere Lebenseinkünfte. Es ist also im Endeffekt billiger, früh zu investieren als spät zu reparieren. 39 Skript PSYPE 3 Exkurs: Was müssen ErzieherInnen tun, um bieten zu können, was Kinder brauchen? Die Umgebung vorbereiten für selbständige Betätigungsmöglichkeiten der Kinder Für Lernanlässe sorgen Wissen, wie Eltern ihr Kind wahrnehmen und was es gewohnt ist Beobachten und Dokumentieren, was Kinder tun Herausfinden, was sie emotional beschäftigt und bewegt Ihre Gefühle wahrnehmen und benennen Lernprozesse wahrnehmen und nicht unterbrechen Fähigkeiten der Kinder in ihren Aktivitäten erkennen Impulse geben und Angebote machen zum Selbständig werden der Kinder Was brauchen ErzieherInnen für diese Aufgabe? Grundkenntnisse über die Entwicklungsbedingungen von Kindern Verfahren und Zeit für Beobachtung, Situationsanalyse und Dokumentation Ressourcen- und kompetenzorientierte Beobachtung und Beurteilung Neugier und Forschergeist Zeit für kollegialen Austausch Beratung und Fortbildungsmöglichkeiten Quellen: Baacke, Dieter, Die 0-5Jährigen. Einführung in die Probleme der frühen Kindheit. Beltz, Weinheim 1999 Einsiedler, W., Kleinkindforschung und Kleinkindbetreuung, in: www.familienhandbuch.de (3.10. 2007) Keller, J.: Handbuch der Kleinkindforschung, Bern 1989 Schäfer, G.E., Bildungsprozesse im Kindesalter. Weinheim, München 1995 40 Skript PSYPE 3 Sonderheft: Kindergarten heute spezial: Kleine unter Großen (S.30-40), Friedrich Verlage, 2007 Textor, M., Bildung, Erziehung, Betreuung, siehe Abdruck unter: www.kindergartenpädagogik.de (25.9. 07) 5. Beruf und Erwerbsarbeit im frühen Erwachsenenalter Entscheidendes Kriterium für eine gelungene Erwachsenensozialisation ist die stärkere Handlungsrelevanz hinsichtlich erworbener Fähigkeiten, Werthaltungen und Einstellungen. Mit dem Eintritt in die Berufswelt wird wesentlich darüber bestimmt, welche neue soziale Position man bezieht und wie man sich selbst definiert. Genau wie in Partnerschaften muss mit Flexibilisierungen gerechnet werden, es gibt also weder die lebenslange Ganztagsarbeit noch bleiben Partnerschaften und Familien lebenslänglich zusammen. Dies führt immer wieder zu Prozessen der Nachsozialisation. Neue Anforderungen gibt es aber auch im Freizeitbereich. Mit der wachsenden Freizeit- und Konsumindustrie stellt sich das Individuum selbst in der Freizeit einer Konkurrenz (Anforderungen bezüglich Mode, Sport, Kultur). Eine besonders wichtige Anforderung an junge Erwachsene hat der Bereich der Öffentlichkeit und Politik. Hier können neue Kompetenzen wie der Umgang mit Macht, Fähigkeiten zur Selbstorganisation, Umgang mit Medien, Aushandeln von Kompromissen usw. erwachsen 5.1 Auseinandersetzung mit Übergängen und kritischen Ereignissen, Entwicklung von Lebenszielen Mit dem Eintritt in die Arbeitswelt und Familie sind von jungen Erwachsenen zwei der wichtigsten Statuspassagen zu bewältigen. Obwohl diese Übergänge altersnormiert sind, ist die Altersvarianz mittlerweile sehr groß, wenn auch nicht gesellschaftlich immer toleriert. Neben diesen normativen Ereignissen werden jedoch auch eine ganze Reihe nicht normativer Ereignisse immer häufiger. (Normative Ereignisse treten in einem bestimmten Alter in einer Population mit großer Wahrscheinlichkeit auf, nicht normative Auftretenswahrscheinlichkeit.) Ereignisse Erste dagegen Trübungen und haben eine Enttäuschungen geringe in der 41 Skript PSYPE 3 Partnerschaft, bei der Arbeit können im Extremfall eine Lebensperspektive knicken, aber durch die großen Herausforderungen auch einen Wachstumsprozess einleiten. Gerade dann sind realistische Lebensziele und der Versuch, sein Leben danach auszurichten, eine wesentlichste Aufgabe des frühen Erwachsenenalters. Diese Ziele haben eine gewisse innere Verpflichtung zur Voraussetzung und meist äußere Entscheidungen zur Folge. Es stellt sich allerdings Zweifel darüber ein, ob überhaupt noch in längerfristigen Perspektiven gedacht und geplant werden kann, ob überhaupt hinter der Alltagsbewältigung noch utopische Lebensentwürfe entwickelt werden können. 5.2 Entwicklungschancen und -hindernisse im Beruf Zu einem großen Teil vollzieht sich die Persönlichkeitsentwicklung in und durch Arbeit, und zwar betrifft dies alle Formen der Arbeit. Kernfrage der Entwicklungspsychologie im Berufsleben ist daher, wie Arbeitsbedingungen und individuelle Voraussetzungen zusammenspielen. Dabei sind die Möglichkeiten für berufliche Entwicklungsprozesse in entscheidender Weise abhängig von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Arbeit. Der gesellschaftliche Wandel schlägt sich in den Arbeitserfahrungen und damit in den Entwicklungsverläufen junger Erwachsener verschiedener Generationen unterschiedlich nieder. Berufe erfordern heute, und zwar in allen Bereichen, häufigere Neuorientierungen, ständige Lernprozesse, Wartezeiten, vor allem aber auch Mobilität. Diese neuen Rahmenbedingungen bedeuten im Leben eines jungen Erwachsenen eine ständige Unsicherheit bezüglich seiner beruflichen, aber auch privaten Lebensplanung. Was die Berufswahl betrifft, so sind auch hier die Bedingungen und Entwicklungen immer weniger zu durchschauen. Dabei stellt sich die Frage nach dem „Beruf fürs Leben“ fast gar nicht mehr, sondern vielmehr, durch eine Ausbildung eine Basisqualifikation zu erlangen, die dann anhand lebenslangen Lernens eine Chance gibt, in zukunftsträchtigen Bereichen eine Arbeit zu finden. Chancen, einen Ausbildungsplatz zu finden, haben längst nicht mehr alle und diese Entwicklung setzt sich beim Arbeitsplatz fort. Nahtlose Übergänge sind immer weniger selbstverständlich, Gründe sind arbeitsmarktpolitische Veränderungen, mangelnde Voraussetzungen, Geschlecht, Alter, Standort usw. Für diejenigen, die Arbeit haben, schafft sie eine notwendige Strukturierung des Alltags und ist als Gegenpol weniger emotional besetzt als das Familienleben. Ein 42 Skript PSYPE 3 wesentlicher Zusammenhang Persönlichkeitsentwicklung lässt sich ableiten. zwischen Sowohl Arbeitserfahrungen die Arbeits- wie und die Entwicklungspsychologie widmen sich diesem Thema, d.h. der Frage, wie Arbeitsbedingungen beschaffen sein müssen, um die personale Entwicklung fördern zu können und wie psychosoziale Probleme und gesundheitliche Beeinträchtigungen vermieden werden können (vgl. Ulich, 1994). Als Beispiel gelten in besonders hohem Maße hier selbstständige und gestalterische Tätigkeiten. Kohn und Schooler (1983) sehen zwischen Arbeitsbedingungen und Persönlichkeitsentfaltung einen Prozess wechselseitiger Beeinflussung. Besonders die Möglichkeit der Selbstbestimmung im Arbeitsprozess stellt sich Persönlichkeitsentwicklung dabei heraus. als Des höchst bedeutsam Weiteren können für die komplexe Arbeitsbedingungen, wenig Routinearbeiten als Indikatoren für eine positive Beeinflussung der Persönlichkeitsentwicklung angesehen werden. Umgekehrt führen weniger Selbstbestimmung zu mehr Stress und zu Einschränkungen der Persönlichkeitsentwicklung. Die Art der Arbeit fördert bzw. behindert dabei Menschen in unterschiedlichen Bereichen ihrer Persönlichkeitsentwicklung: Je nachdem, ob es sich um einen technischen, kreativen oder sozialen Beruf handelt, ergeben sich dementsprechend Erweiterungsfelder in den Persönlichkeitsbereichen, z. B. im logischen Denken, in organisatorischen Fähigkeiten oder in sozialen Kompetenzen. Dabei ist zu beobachten, dass die Arbeitserfahrungen sich stärker auf andere Lebensbereiche auswirken als umgekehrt: Väter, die Selbstbestimmung in der Arbeit erfahren, legen auch in der Erziehung ihrer Kinder Wert darauf, ihnen Eigeninitiative beizubringen. Väter, die jedoch bei der Arbeit einer strengeren Kontrolle unterworfen sind, werden ihre Kinder auch strenger erziehen und lassen diesen weniger Freiraum zur persönlichen Entfaltung. Bei den sozialen Berufen lässt sich oft der Konflikt zwischen dem beruflichen Ideal und der dann als ungünstig empfundenen Berufsrealität beschreiben; somit ergeben sich hier zwar wichtige Erweiterungen der Persönlichkeitsentfaltung, aber hohe psychische Belastungen und Überforderungen führen zum oft beklagten Burnout-Syndrom. 5.3 Frauenerwerbsarbeit – Haus- und Familienarbeit Heute ist eine lebenslange Berufstätigkeit für Frauen eine selbstverständliche Perspektive. Je höher gebildet, desto selbstverständlicher (und früher) kehren sie nach der Geburt an ihren Arbeitsplatz zurück, so dass auch ein endgültiger Rückzug bei der Geburt von Kindern für sie kaum noch infrage kommt. Obwohl in den 43 Skript PSYPE 3 schulischen Qualifikationen Frauen längst mit Männern gleichgezogen oder sie überholt haben, ergreifen Frauen immer noch häufiger traditionell weibliche Berufe und solche mit weniger Aufstiegschancen.. Diese Einengung der Berufswahl ist zumindest z.T. mit der Option zur Familiengründung zu verstehen., d.h. mit dem doppelten Lebensentwurf von Frauen. (Studie von Keddi et al., 1999) Deutlich sichtbar ist, dass die Kinderzahl korreliert mit der Qualifizierung der Frau: je höher gebildet, desto niedriger (und später) die Kinderzahl. Immer noch gabeln sich die beruflichen Wege, wenn Kinder da sind. Während Männer großteils weiterhin ihrer Karriere nachgehen, unterbrechen Frauen immer noch häufiger ihre Berufstätigkeit – mit den Folgen, dass sie den hinzugewonnenen „Freiraum“ sowie einige Aspekte der „Beziehungsarbeit“ durchaus positiv erleben können, die finanzielle, soziale und psychische Abhängigkeit ihrer neuen Tätigkeit jedoch häufig auch als geistige Unterforderung und emotionale Überforderung erleben. Frauen, die auch mit Kind durchgängig berufstätig bleiben, werden hingegen vor enorme Anforderungen eines gut funktionierenden Alltagsmanagements gestellt, doch können sie die Belastungen durch die Vielfalt und Unterschiedlichkeit ihrer Erfahrungen besser verkraften als „Nurhausfrauen“. Das gesellschaftliche Umfeld spielt eine enorm große Rolle für Vereinbarkeit von Beruf und Familie und ist im europäischen Vergleich in Deutschland immer noch traditionell negativ geprägt. („Rabenmutter“) 5.4 Arbeitslosigkeit Arbeitslosigkeit bedeutet für die Betroffenen eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer Lebenssituation und hohe psychische Belastungen. Geht der Arbeitsplatz verloren, werden Lebensentwürfe infrage gestellt und Identitäten bedroht: Ein Verlust an Selbstvertrauen, steigende Depressivität, Apathie und Passivität, aber auch gesundheitliche Beeinträchtigungen sind empirisch belegte Folgen (vgl. Hartley u. Mohr, 1989). In der differenzierenden Erwerbslosigkeitsforschung ist man sich aber auch bewusst, dass der Umgang mit Arbeitslosigkeit sehr individuell ist und stark abhängig ist von den jeweiligen Bedingungen. Bewältigungsprozesse können eine schädigende Eigendynamik entwickeln und die betroffenen Menschen in verschiedene Teufelskreise führen (Strehmel und Halsig 1988). Solche Teufelskreise zeigen sich aktional, kognitiv, emotional, motivational und sozial. Die Dauer dieses Zustandes entscheidet über die langfristigen Konsequenzen . So zeigten Lehrer, die 44 Skript PSYPE 3 sechs Jahre ohne Arbeit waren, in einer Längsschnittuntersuchung lange Phasen der Unsicherheit und Diskontinuität. 6. Das mittlere Erwachsenenalter 6.1 Die „Entdeckung“ des mittleren Erwachsenenalters Bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts galt das mittlere Erwachsenenalter - nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt- als eine eher undifferenzierte Lebensphase, deren Verlauf man für überwiegend konstant hielt. Gegen Ende des 20sten und mit Beginn des 21sten Jahrhunderts änderte sich diese Sichtweise und führte dazu, auch das mittlere Erwachsenenalter als eigenständige und ausdifferenzierte Lebensphase zu betrachten. Gründe für diesen Wandel sind vor allem zwei Entwicklungen zuzuschreiben: a) Gerontologische Untersuchungen zur Intelligenzentwicklung im Alter zeigten in Längsschnittuntersuchungen vor allem interindividuelle Leistungsunterschiede. Damit war ein Zusammenhang mit Entwicklungen in früheren Lebensphasen eindeutig und Forschungen im Zusammenhang mit dem mittleren Erwachsenenalter notwendig geworden. b) etwa ab der 70er Jahre wurde in der angloamerikanischen, vor allem populärwissenschaftlichen Literatur die sogenannte „midlife crisis“, debattiert. Auf diese Postulierung reagierte die Entwicklungspsychologie mit systematischen, empirischen Forschungen. Zu a) Vor allem Untersuchungen zum kognitiven Verhalten älterer Menschen führten zu der empirisch gut abgesicherten kontinuierliche (kumulative) Annahme, dass in und diskontinuierliche allen Altersabschnitten (innovative, aber auch destruktive) Prozesse am Werk sind. Sie unterstützten damit das Konzept der lebenslangen Entwicklung und konnten für die Intelligenz zeigen, dass sie sich kumulativ (= auf Vergangenem aufbauend, erweiternd und festigend ) entwickelt, also z.B. von beruflichen und anderen Professionalisierungen des mittleren Erwachsenenalters profitiert, aber auch durch wachsende Belastungen wie z.B. 45 Skript PSYPE 3 Arbeitslosigkeit und/oder Krankheit (= destruktiv) in dieser Lebensphase beeinträchtigt werden kann. Zu b) Für die „Entdecker“ der „midlife crisis“ führt das Zusammentreffen körperlicher Veränderungen (Abnahme der Hormonproduktion) und typischen biographischen Veränderungen (Arbeit, Auszug der Kinder, Tod der Eltern, Krankheiten u.a.) unweigerlich zu psycho-physischen und –sozialen Krisen (Brim, 1976) die bei den Betroffenen dann generelle Sinnfragen auslösen und bisherige Annahmen als Illusionen und Lebenslügen entlarven (können). (Gould 1968) Auf der Grundlage neuerer Untersuchungsergebnisse ist dieses Postulat, d.h. die Annahme einer universellen (vor allem männlichen) Krisenzeit, nicht zu halten. Betrachtet man die ersten Ergebnisse zusätzlich auch noch unter der Hypothese des Kohorteneffekts, dass nämlich die Probanden überwiegend Jahrgänge um 1930 waren und daher ganz spezifische historische Erfahrungen (Weltwirtschaftskrise) hatten, ergibt sich ein weiterer Grund für die Verweigerung genereller Krisenannahme. Wissenschaftshistorisch sind die frühen Forschungen jedoch bedeutsam, da mit ihnen die mittleren Lebensjahre erstmalig thematisiert wurden und daher als entsprechend bahn brechend gelten. Wenn, also, wie dargestellt, beim mittleren Erwachsenenalter nicht von einer generellen Krisenhaftigkeit die Rede sein kann, muss von einer differenziellen Perspektive ausgegangen werden, d.h. von einer Perspektive, die untersucht, „bei welchen Personen es unter welchen Bedingungen zu welchen krisenhaften Veränderungen kommt.“ (Faltermaier u.a., 2002, S. 141) Eine sehr umfangreiche Studie dieser Art haben Farrell und Rosenberg, 1982 durchgeführt und ganz unterschiedliche „paths of development“ für diesen Lebensabschnitt heraus gearbeitet, die sowohl hohe Zufriedenheit wie Enttäuschung und Verbitterung mit der aktuellen Lebenssituation zeigen. Eine weitere Studie von Boylan und Hawkes 1988, die nur das Arbeitsleben fokussierte, konnte zeigen, dass die ausschließliche Berufsorientierung bei über der Hälfte der Probanden aus unterschiedlichen Gründen zwar abnahm, dies aber nicht automatisch zu einer generellen Unzufriedenheit führte. 46 Skript PSYPE 3 Insgesamt ist den Untersuchungen zu entnehmen, dass sie sich überwiegend auf die männliche Normalbiographie beziehen, die wenigen Frauenstudien (Jakobson 1995) kommen aber zu durchaus vergleichbaren Ergebnissen. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass „Entwicklungsprozesse im mittleren Erwachsenenalter nur kohortenspezifisch, geschlechtsspezifisch und lebensbereichsspezifisch beschreibbar sind (und) dass von interindividuell unterschiedlichen Wegen der Entwicklung auszugehen ist.“ (Faltermaier 2002, S. 142/143) 6.2 Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsthemen Was für die Entwicklungsprozesse gilt, gilt erst recht für die Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsthemen. Sie müssen unter heutigen Bedingungen weit offener formuliert werden, um den unterschiedlichen sozialen und kulturellen Milieus weiterhin gerecht zu werden. Dennoch können die Bereiche, für die Havighurst 1972 Entwicklungsaufgaben definiert hat, beibehalten werden und Menschen im mittleren Alter eine aktive Gestaltungsrolle geben: Gesellschaft (Übernahme politischer Verantwortung) Arbeit und Freizeit (Arbeitslosigkeit/ Pensionierung, neue Aufgaben und Beschäftigungen Partnerschaft und Familie (Trennung, Neue Partnerschaft, Auszug der Kinder, Großeltern) Umgang mit dem Körper (Umgang mit Veränderungen, Gesundheitsvorsorge, Krankheit) In jedem dieser Bereiche können Herausforderungen entstehen, die eine Reorganisation der Lebenspläne und/oder Veränderung der Person ergeben. Dies ist mit der Ausweitung der Lebenszeit und der Zunahme von realen und potentiellen Möglichkeiten weder einfacher noch weniger geworden. 6.2.1 Kritische Lebensereignisse Für das mittlere Erwachsenenalter sind bestimmte normative Lebensereignisse typisch: Ausbildungsabschlüsse der Kinder, Auszug („empty nest“), Pensionierung , Großelternschaft, hormonelle Veränderungen. Obwohl erwartbar, müssen diese Übergänge individuell bewältigt werden, was umso eher gelingt, wenn Menschen für ihr zukünftiges Leben über Alternativen verfügen. 47 Skript PSYPE 3 Non-normative Lebensereignisse kommen meist unerwartet und sind nicht an den Lebenslauf gebunden. Zu ihnen gehören z.B. Arbeitslosigkeit, Scheidung, chronische Krankheiten. (siehe Kapitel 2) In Längsschnittstudien ( z. B. Vaillant, 1980) konnte nachgewiesen werden, dass sich Problembewältigungskompetenzen mit steigendem Alter sogar verbessern (können) und emotionale Gesundheit nicht unbedingt abhängig ist von der Menge der Probleme, sondern dass sich das Individuum an eigenen Theorien (sogenannten „Ethnotheorien“) orientiert. Diese beinhalten das soziale Wissen, das sich jemand im Laufe seines Lebens (Erfahrung) erworben hat und im Zusammentreffen mit spezifischen Kontexten für die Betroffenen entweder entwicklungsfördernd oder –hemmend sein können. 6.2.2 Gesundheit Gesundheit kann eine Voraussetzung sein für die persönliche Entwicklung. Ist sie eingeschränkt, so können dadurch Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt werden, aber es kann dadurch auch ein Anstoß erfolgen zur Anpassung und zur aktiven Bewältigung. Eine gute Gesundheit im Sinn von Wohlbefinden, Leistungsfähigkeit und psychisch - physischer Funktionsfähigkeit kann positiv zur Entwicklung beitragen. Die Bedeutung des Themas Gesundheit ist in verschiedenen Phasen des Erwachsenenalters unterschiedlich. Zu allen Zeiten können Unfälle oder schwere Erkrankungen das Thema Gesundheit sehr wichtig machen. In früheren Entwicklungsphasen sind körperliche Ereignisse wie etwa Schwangerschaft oder Menopause normal. Mit zunehmendem Alter werden bestimmte körperliche Veränderungen (Falten, graue Haare) und Kranksein eher zum normativen Ereignis. Von allen diesen Ereignissen können Anstöße für die Entwicklung ausgehen. So kann dadurch die Beschäftigung mit dem Thema Gesundheit oder Krankheit intensiviert werden, mit dem Ergebnis einer persönlichen Theorie über Gesundheit. Darüber hinaus kann aber auch ein Anstoß erfolgen zu einer Veränderung von Werten, Überzeugungen und Schwerpunkten im eigenen Leben. 48 Skript PSYPE 3 Quellen: Faltermaier, T. Mayring, P., Saup, W. (2002) Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters. Stuttgart: W. Kohlhammer. S. 136- 162. 7. Veränderungen und kritische Ereignisse im familiären Bereich 7.1 Misshandlung, Vernachlässigung und Missbrauch 7.1.1 Die Definitionen und damit verbundene Schwierigkeiten Kindesmisshandlung ist eine gewaltsame psychische oder physische Beeinträchtigung von Kindern durch Eltern oder Erziehungsberechtigte. Diese Beeinträchtigungen können durch elterliche Handlungen (wie bei körperlicher Misshandlung, sexuellem Missbrauch) oder Unterlassungen (wie bei emotionaler und physischer Vernachlässigung) zustande kommen. Neben dieser allgemeinen Definition sollten allerdings weitere Unterscheidungen beachtet werden. So kann Misshandlung in einem eher engen Sinn verstanden werden , wenn ein Kind dadurch körperlich verletzt wird. Solche Schädigungen sind allerdings häufig nicht eindeutig nachweisbar. Und so wird dieser enge Begriff vor allem bei strafrechtlichen Entscheidungen verwendet, um eine falsche Verurteilung der Erziehungspersonen zu vermeiden. Der weitere Misshandlungsbegriff umfasst auch solche Grenzverletzungen und Übergriffe, die weniger als Normabweichung gelten, wie häufiges Schimpfen, Schlagen, Liebesentzug als Strafe, Exhibitionismus oder sexualisierte Küsse. Dieser ist nicht strafrechtlich relevant, bietet aber wichtige Hinweise auf eine mögliche Gefährdung einer Familie und nötige Prävention. In der Praxis lässt sich häufig beobachten, dass sich verschiedene Beschwerden und Leiden von Kindern erklären lassen, wenn man die Erziehungspraktiken der Eltern hinterfragt und auch solche Misshandlungen im weiteren Sinn mit berücksichtigt. 49 Skript PSYPE 3 7.1.2 Vernachlässigung Kinder werden vernachlässigt, wenn sie von ihren Eltern oder Betreuungspersonen unzureichend ernährt, gepflegt, gefördert, gesundheitlich versorgt, beaufsichtigt und /oder vor Gefahren geschützt werden. Vernachlässigung ist die am häufigsten auftretende Form der Misshandlung. Ihre Ursachen sind in der Lebenssituation der Eltern zu suchen, in Armut oder sozialer Randständigkeit, in psychischer Erkrankung, geistiger Behinderung Alkohol- oder Drogenproblemen der Eltern. Die Auswirkungen zeigen sich oft schon im Säuglingsalter, wo sie dann als Gedeihstörung diagnostiziert wird. Später zeigen sich dann kognitive, emotionale und soziale Entwicklungsverzögerungen. Wie schon die Ursachen zeigen, können pädagogische Interventionen erst bei einer Änderung der familiären Belastung wirken, entweder durch ambulante Hilfen oder durch die Unterbringung des Kindes. 7.1.3 Misshandlung – psychisch und körperlich Unter psychischen Misshandlungen versteht man alle Handlungen oder Unterlassungen von Eltern oder Betreuungspersonen, die Kinder ängstigen, überfordern, ihnen das Gefühl der Wertlosigkeit vermitteln. Dazu zählen nicht nur sadistische Formen „seelischer Grausamkeit“, sondern auch scheinbar harmlosere Varianten elterlichen Verhaltens wie z. B. die offensichtliche Bevorzugung eines Geschwisterkindes, Einschüchterung, häufiges Beschimpfen, fehlende Anerkennung. Auch die Kinder ständig zum Sündenbock zu machen, sie zu isolieren oder mit lang anhaltendem Liebesentzug zu bestrafen, sind Formen psychischer Misshandlung. Körperliche Misshandlungen sind Schläge oder andere gewaltsame Handlungen (Stöße, Schütteln, Verbrennungen, Stiche usw.), die beim Kind zu Verletzungen führen können. 50 Skript PSYPE 3 Die hier dargestellte Form psychischer Gewalt ist nicht unumstritten. Denn sie grenzt eng an häufige und tolerierte Erziehungspraktiken. (Die aus den Lerntheorien heraus entwickelte Erziehung mit Kontingenzen z. B. benutzt teilweise systematische den Entzug von Aufmerksamkeit als Bestrafung). Aber es gibt deutliche Hinweise darauf, dass sowohl emotionaler Stress als auch eine emotionale Vernachlässigung bei Kindern zu Störungen ihrer motorischen, kognitiven und emotionalen Entwicklung führen können und als Spätfolgen Verhaltensstörungen wie Störungen des Sozialverhaltens, Ticks und Autoaggressionen nach sich ziehen. Obwohl innerhalb der gesamten Gesellschaft die Tendenz zu einer gewaltfreien Erziehung eher wächst und selbst solche Eltern, die selbst mit körperlichen Strafen erzogen wurden, diese zumindest bei Befragungen ablehnen, ist die Zahl der misshandelten Kinder seit langem konstant (in Deutschland etwa 10%). Misshandlung beruht häufig auf Persönlichkeitsproblemen der Eltern (Depression, psychische Labilität), ausgelöst von eigenen Erfahrungen mit Strafen und Ablehnung in der Kindheit. Dadurch kann es in vielen Fällen zu einer mehrgenerationalen Weitergabe von Gewalt kommen. Soziologische Erklärungen für das Phänomen der Misshandlung betonen die Billigung, die innerhalb einer Gesellschaft für Gewalt in der Erziehung besteht, Lebensbelastungen der Eltern und Familien und den Mangel an sozialen Unterstützung für Familien in Krisensituationen. Ein wichtiges Erklärungsmodell aber nimmt die Wechselwirkung zwischen Verhaltensproblemen des Kindes und darauf bezogenen wirkungslosen Erziehungsversuchen als Ausgangspunkt für Misshandlung, wenn die Hilflosigkeit der Erziehungsperson sich immer mehr steigert und eine gewisse Gewaltgefährdung schon besteht. Die Auswirkungen von Misshandlung zeigen sich in Entwicklungsverzögerungen sowohl kognitiv als auch sprachlich Geringer Kompetenz, Belastbarkeit und Ausdauer in Leistungssituationen Sozialen Problemen und Aggressivität Langfristige Folgen wie Drogenmissbrauch, emotionale Störungen, Suizidgefährdung, Essstörungen. 51 Skript PSYPE 3 7.1.4 Sexueller Missbrauch Unter sexuellem Missbrauch verstehen Kempe und Kempe (1980) die Beteiligung noch nicht ausgereifter Kinder und Jugendlicher an sexuellen Aktivitäten, denen sie nicht verantwortlich zustimmen können, weil sie deren Tragweite noch nicht erfassen. Dabei benutzen zumeist männliche Erwachsene Kinder zur eigenen sexuellen Stimulation und missbrauchen das vorhandene Macht- oder Kompetenzgefälle zum Schaden des Kindes. Feministische Definitionen machen demgegenüber die Instrumentalisierung von Mädchen und Frauen zur sexuellen Befriedigung von Männern zum zentralen Bestimmungsstück (z.B. Kavemann & Lohstöter, 1984). Hier wird das subjektive Erleben der Opfer zum Kriterium dafür gemacht, was sexueller Missbrauch ist und was nicht – und dann können als Missbrauch auch scheinbar „harmlose“ Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Mädchen (z.B. anzügliche Blicke, Verletzungen der Intimsphäre usw.) gelten. Das Erleben solcher Übergriffe ist nicht mehr an Altersgrenzen und Konzepte von „Kindheit“ gebunden. Entscheidend ist vielmehr, dass diese Übergriffe gegen den Willen eines Mädchens bzw. einer Frau erfolgen. Eine andere Möglichkeit zur Definition besteht in der Operationalisierung durch die vorgenommenen Handlungen, so dass auch eine Einordnung der Missbrauchserfahrungen in verschiedene Kategorien von leichtere bis intensivste möglich wird. Diese Missbrauchshandlungen reichen dann von Exhibitionismus, anzüglichen Bemerkungen, Voyeurismus, Berühren der Brust, sexualisierten Küssen über Berühren der Genitalien und gegenseitige Masturbation bis zur schwersten Form der versuchten oder vollzogenen oralen, analen oder vaginalen Vergewaltigung. Unter den Opfern des sexuellen Missbrauchs finden sich in der Mehrzahl Mädchen, aber auch Jungen werden nach neueren Untersuchungen häufig Opfer. Unterschiedliche Studien belegen Zahlenverhältnisse 2:1 bis 4:1 zwischen Mädchen und Jungen. Schichtunterschiede bei den weiblichen Opfern konnten nicht eindeutig nachgewiesen werden. Dagegen liegt das Missbrauchsrisiko bei geistig und/oder körperlich behinderten Mädchen besonders hoch. Auch Kinder aus mehrfach belasteten Familien (Alkohol- und Drogenmissbrauch, Partnerschaftskonflikte, 52 Skript PSYPE 3 Gewalt, Vernachlässigung, übermäßige Strenge, schlechte Eltern- Kind –Beziehung) unterliegen einem erhöhtem Risiko. Die Gefährdung ist nicht auf ein bestimmtes Alter begrenzt, aber besonders viele Fälle sind aus der Altersgruppe zwischen 10 und 13 Jahren bekannt. Die Täter und Täterinnen beim sexuellen Missbrauch sind bei weiblichen Opfern zu fast 98% männlich, bei den männlichen Opfern fand man aber auch 21% weibliche Täter (Fergusson & Mullen, 1999). Leibliche Eltern sind dabei als Tätergruppe vergleichsweise selten. Die überwiegend größten Gruppen waren in allen wichtigen neueren Studien Bekannte, Angehörige und Fremdtäter. Deswegen stellt auch nur ein geringer Prozentsatz aller Erfahrungen von sexuellem Missbrauch eine Wiederholung dar. Die Täterforschung ist bis heute nicht so weit fortgeschritten, um genau zu erklären, warum Menschen sexuellen Missbrauch begehen und warum fast ausschließlich Männer ihn begehen. Auch bei der Diagnostik zeigen sich deutliche Schwierigkeiten, da es kein Syndrom des sexuellen Missbrauchs gibt, also keine eindeutigen Signale, dass ein Kind dieses schlimme Erlebnis erfahren hat. Keine eindeutigen Interpretationen lassen sich ziehen aus dem vielleicht frühreifen Wissen des Kindes über Sexualität, aus dem Spiel mit anatomisch korrekten Puppen oder aus Kinderzeichnungen. Die sicherste Quelle sind spontane Berichte der Kinder, die allerdings in den Details ungenau sein können. Aber spontane Falschaussagen kommen, wenigstens bei jüngeren Kindern, selten vor. Die längerfristigen Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs zeigen sich beim Vergleich mit Kontrollgruppen: Aggressivität, sexualisiertes Verhalten, internalisierendes Verhalten sind die häufigsten Auffälligkeiten. Allerdings hängt eine dauerhafte Symptombelastung sehr davon ab, ob das Umfeld der Opfer zusätzliche Belastungen oder statt dessen Schutzfaktoren für die Bewältigung bereithält. 53 Skript PSYPE 3 7.1.5 Prävention, Anforderungen, Schwierigkeiten bei der Förderung betroffener Kinder Da besonders solche Eltern in Gefahr sind zu misshandeln, deren Ressourcen nicht zur Bewältigung aktueller Krisen und Erziehungsprobleme ausreichen, kommt der Prävention innerhalb der Familien eine hohe Bedeutung zu. Langfristige und regelmäßige Kontakte zu den Familien, ein ressourcenorientierter Ansatz und die aktive Beteiligung der Familien haben sich dabei gut bewährt. Misshandelte Kinder geben dann die selbst erfahrene Gewalt nicht an ihre eigenen Kinder weiter, wenn sie tragfähige Beziehungen aufbauen können, in denen sie ihre schlimmen Erfahrungen bewältigen. Außerdem scheinen Erfolgserlebnisse, z.B. in der Schule, und eine gute Begabung zu den Schutzfaktoren vor der Weitergabe von Gewalt zu gehören. Wenn also im sozialen Umfeld nicht vorhanden, sollten diesen Kindern Beziehungsangebote gemacht werden (ambulante oder stationäre Hilfen) und die gesamte Förderung ihrer Entwicklung forciert werden. Prinzipiell aber gibt es Gründe für eine Familienarbeit in Tageseinrichtungen, im Kindergarten und in der Heimerziehung: sie diesen als wichtige Informanten über die bisherige Entwicklungsgeschichte Erziehungsplanung). Sie haben des ein Kindes Recht (Basis auf für die Informationen weitere über die Entwicklungsfortschritte ihres Kindes. Die gemeinsamen Erziehungsbemühungen müssen aufeinander abgestimmt werden. Im Fall der Heimunterbringung können vergangene traumatische Erlebnisse vom Kind manchmal besser durch eine Konfrontation mit der Familie (real oder in der Phantasie) bewältigt werden. Eine solche Konfrontation kann zudem das Kind vor einer nachträglichen Idealisierung der Eltern bewahren. Die Zusammenarbeit mit den Eltern, bei denen der Verdacht auf Misshandlung besteht oder diese sicher nachgewiesen ist, stellt jedoch hohe Anforderungen an die fachliche Kompetenz der Erzieher. Bei der Intervention des sexuellen Missbrauchs kommt der Prävention ebenfalls eine große Bedeutung zu. Sie kann sowohl opferorientiert als auch täterorientiert ansetzen. Die ersten Möglichkeit umfasst neben der Betreuung gefährdeter Kinder und Familien auch die Sensibilisierung für eventuelle Gefahren durch schulische 54 Skript PSYPE 3 Aufklärung. Täterorientierte Prävention müsste männliche Missbrauchsopfer im Blick haben, die ihre Erfahrungen als Täter weitergeben könnten, und schon einmal als Täter aufgefallene Personen. Quellen: Engfer, A. (2002). Misshandlung, Vernachlässigung und Missbrauch von Kindern. In: R. Oerter & L. Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie (S. 800 - 817). PVU. 7.2 Deprivation: Trennung und Verlust Das Erlebnis der Deprivation kann hervorgerufen werden durch den Tod einer wichtigen Bezugsperson, durch die Trennung oder Scheidung der Eltern und damit der weitgehenden Trennung des Kindes von einem Elternteil oder durch die Trennung des Kindes von beiden Eltern infolge von Klinikaufenthalten oder Heimunterbringung. 7.2.1 Trennung/Scheidung der Eltern und Einfluss auf die Entwicklung der Kinder Im Vergleich zu Kindern aus Kernfamilien weisen Scheidungskinder ein höheres Risiko für Verhaltensstörungen auf. In der Reihenfolge der größten Häufigkeit zeigen sich vor allem Fehlverhalten, Aggressivität, Delinquenz, dann schlechtere schulische Leistungen und soziale Probleme. Die Unterschiede im Selbstkonzept und im psychischen Befinden jedoch sind nicht stark ausgeprägt. Allerdings zeigen sich typische Reaktionsmuster und Entwicklungsverläufe von Scheidungskindern nach der Trennung der Eltern. Eine deutsche und eine großangelegte amerikanische Längsschnittstudie zeigen übereinstimmend eine hohe Belastungsreaktion der Kinder kurz nach der Trennung in Form von emotionalen und Verhaltensproblemen. Nach zwei bis drei Jahren jedoch unterschieden sich die Kinder der Stichproben nicht mehr von den Normwerten der Gleichaltrigen. 55 Skript PSYPE 3 Im Vergleich zu Kindern in Kernfamilien sind Scheidungskinder verschiedenen Stressoren ausgesetzt, die ihre unterschiedliche Entwicklung erklären können. Zu diesen zählen das Fehlen einer wichtigen Bezugsperson. Um diese Hypothese zu untersuchen wurden Vergleiche gezogen zwischen Kindern, die häufigen Kontakt zu ihrem getrennt lebenden Vater hatten, und solchen, bei denen dieser Kontakt fehlte. Es zeigte sich, dass nicht die Häufigkeit der Kontakte sondern die Qualität der Beziehung die entscheidende entwicklungsfördernde Rolle dabei spielte. Auch ein Stiefelternteil kann den fehlenden Elternteil offenbar nicht in jedem Fall ersetzen, wie genaue Vergleiche der Entwicklungsbedingungen in verschiedenen Familienformen zeigen. Ein weiterer Stressor sind die eigene Befindlichkeit und die Erziehungskompetenz des sorgeberechtigten Elternteils. Das Zusammenleben mit einem emotional labilen, depressiven, streng oder inkonsequent erziehenden Elternteil kann zu einer schweren Belastung für ein Kind werden. Sie hält oft über viele Jahre hinweg bis ins späte Jugendalter hinein an. Die Konflikte zwischen den Eltern nach der Scheidung, meist eine Fortsetzung der schon vorher oft massiven und traumatisierenden Auseinandersetzungen, sind ebenfalls für die Kinder sehr belastend. Durch die negativen Äußerungen der Eltern über den anderen Elternteil werden die Bindungen des Kindes gestört, der Aufbau von Identifikation wird schwieriger. Wenn Eltern ihre Kinder zudem als Alliierte im Streit mit dem ehemaligen Partner missbrauchen, kann dadurch die Entwicklung des Kindes in verschiedenen Bereichen (Ich- Entwicklung, soziale Kompetenzen, Leistungsverhalten) belastet werden. Für den alleinerziehenden Elternteil – meistens die Mutter- ist die Scheidung oft mit ökonomischen Problemen verbunden. Die damit verbundenen Einschränkungen betreffen auch die Scheidungskinder. Eine ungünstige Wohnsituation kann insgesamt die Entwicklungschancen eines Jugendlichen beeinflussen. Die Nutzung von Freizeitangeboten und die Kontakte zu Gleichaltrigen hängen teilweise mit finanziellen Mitteln zusammen, schulischer Erfolg ist bei Kindern aus sozioökonomisch höherem Familienniveau größer. Insgesamt sprechen viele Untersuchungen dafür, dass das Auftreten multipler Stressoren einen besonders starken Einfluss ausübt auf die Entwicklung der Scheidungskinder. Demgegenüber kennt man heute auch eine Reihe von Faktoren, die eine Bewältigung der elterlichen Trennung erleichtern. So bilden ein einfaches kindliches Temperament, soziale Aufgeschlossenheit und Attraktivität gute 56 Skript PSYPE 3 Voraussetzungen für eine Bewältigung. Besonders wichtig aber ist, dass ein Kind keine Schuldgefühle bezüglich der Trennung der Eltern entwickelt. Schuldgefühle sind gerade bei jüngeren Kindern, die noch nicht über die entsprechenden kognitiven Fähigkeiten verfügen, oft der Fall. Die soziale Unterstützung durch andere Familienangehörige, Freunde Lehrer usw. kann ebenfalls helfen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei aber den Geschwistern und den Großeltern zu, die ja schon in vielen Fällen zu den engen Bezugspersonen des Kindes gehören. Juristische Regelungen können ebenfalls teilweise zu einer Normalisierung der Lebenssituation des Kindes beitragen, wenn durch sie das Kindeswohl wirklich wirksam gesichert werden kann. 7.2.2 Tod eines Elternteils und Einfluss auf die Entwicklung des Kindes Welche Bedeutung und welche Folgen der Tod eines Elternteils für ein Kind haben, hängt einerseits ab vom Alter und Entwicklungsstand des Kindes. Kleine Kinder verstehen oft das eingetretene Ereignis nicht und zeigen erst sehr verzögert ihre Trauer über den Verlust. Hier besteht dann später ein erhöhtes Risiko für Verhaltensauffälligkeiten oder psychiatrische Erkrankungen. Bei vielen kleineren Kindern findet man aber auch eine typische Abfolge von anfänglichem Protest über eine Phase der Hoffnungslosigkeit und des Rückzugs bis zu einer Phase der Erholung. Auch die Verfügbarkeit von Schutzfaktoren oder die Anwesenheit von Stressoren modifiziert Bedeutung und Folgen des Elternverlustes für ein Kind: Die Umstände des Todes Die Beziehung zum verstorbenen Elternteil Die Beziehung zum hinterbliebenen Elternteil Der Umgang der Familie mit dem Tod Die Reaktion der Umgebung und ihre soziale Unterstützung Zusätzliche Verluste (Umzug usw.) Merkmale des Kindes. 57 Skript PSYPE 3 Unter allen betroffenen Kindern lassen sich drei große Reaktionsmuster feststellen. Manche zeigen gleich deutlich ihre Trauer und entwickeln anfängliche Symptome wie Konzentrations- und Selbstwertprobleme. Nach einer Zeit der Trauer verbessert sich ihre Situation. Andere zeigen sehr starke Reaktionen beim Verlust, die dann in lang andauernde Verhaltensstörungen übergehen. Eine dritte Gruppe von Kindern reagiert anfangs nicht, sondern erst mit einer Verzögerung von Monaten oder Jahren, wobei dann ein höheres Risiko für Spätfolgen besteht. Wie aber letztlich ein Kind den Tod eines Elternteiles überwindet, hängt auch sehr stark von der Befindlichkeit und Fürsorge des verbleibenden Elternteiles ab. Leidet dieser selbst sehr unter psychischen Beeinträchtigungen nach dem Tod des Partners, kommen zusätzliche finanzielle Belastungen dazu oder war das Verhältnis zwischen dem Kind und diesem Elternteil schon vor dem Tod des anderen nicht sehr gut, so lassen sich daraus eher ungünstige Prognosen ableiten. 7.2.3 Intervention Für Scheidungskinder kann eine Einzelberatung oder Einzeltherapie angebracht sein, die dann nach der Wahl der Therapierichtung als Spieltherapie, als tiefenpsychologisch orientierte Kindertherapie oder als verhaltenstherapeutisch orientierte Therapie auftritt. Entsprechend liegen dann die Effekte auch eher im Bereich emotionaler Veränderungen, in der Bearbeitung unbewusster Inhalte oder in Veräderungen auf der Verhaltensebene. All dies kann hilfreich sein für ein Kind und einen Jugendlichen, der unter dem Auseinanderbrechen seiner Familie leidet und versucht, dieses Erlebnis mit falschen Mitteln, z.B. Aggressivität, zu verarbeiten. Gruppentherapien, in denen mehrere Scheidungskinder zusammengefasst sind, bieten den großen Vorteil, dass hier ein Austausch von Erfahrungen stattfinden kann. Wenn von Gruppenmitgliedern Gefühle benannt werden, dient das auch zur Klärung der Gefühle bei anderen. So können auch Fehlwahrnehmungen hinsichtlich der Scheidung der Eltern leichter korrigiert werden, z.B. über den eigenen Anteil am Geschehen. Und durch das Vorbild anderer können auch andere Bewältigungsstrategien angeregt werden, auf die ein Kind allein vielleicht nicht so leicht käme. 58 Skript PSYPE 3 In der Mediation zwischen den in der Trennung begriffenen oder schon getrennten Eltern wird versucht, eine Form der Kooperation bei der Trennung herzustellen. Indirekt können dadurch auch Schäden für die betroffenen Kinder vermieden werden. So sind wichtige Themen in der Mediation immer wieder, wie man das gemeinsame Sorgerecht konkret umsetzen kann und wie eine Besuchsregelung zur Zufriedenheit aller Beteiligten aussehen sollte. Immer wieder muss auch thematisiert werden, was die Eltern tun müssen, um Loyalitätskonflikte bei den Kindern zu vermeiden. Schon so um einfache „Kleinigkeiten“ wie die Frage, was ein Elternteil nicht über den anderen in Gegenwart der Kinder äußern sollte oder wie eine möglichst entspannte Atmosphäre zu schaffen ist, wenn der Vater am Sonntag nach einem Besuchswochenende das Kind wieder zur Mutter zurückbringt, muss in der Mediation oft zäh gerungen werden. Quellen: Walper, S. (2002). Verlust der Eltern durch Trennung, Scheidung oder Tod. In: R. Oerter & L. Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie (S. 818 - 832). PVU. 7.3 Normative Veränderungen im familiären Bereich Wenn Biographien stärker individuell gestaltbar sind, bringt das für die Betroffenen mehr persönliche Freiheiten, aber auch einen Verlust an Stabilität. So kann sich abnehmende Verbindlichkeit normativer Regelungen gerade im familiären Bereich bemerkbar machen. (z. B. kontinuierlich steigende Scheidungsrate in L. ) Der Familienzyklus wird also häufiger unterbrochen durch Trennung und Scheidung, Phasen des Alleinlebens und Gründung neuer Partnerschaften. In diesem Zusammenhang haben die amerikanischen Forscherinnen C. Ryff und M. Seltzer in ihren Untersuchungen 1996 auch für Familien im mittleren Erwachsenenalter zwei zentrale Merkmale herausgearbeitet: 1. Diversität (Vielfalt) des Elternseins und 2. Interdependenz (gegenseitige Abhängigkeit) der Entwicklungen von Eltern und Kindern. 59 Skript PSYPE 3 Unabhängig davon bleibt eine Veränderung in der mittleren Lebensphase weiterhin bemerkenswert: der Auszug der Kinder („empty nest“ ) verbunden mit dem Übergang in eine nachelterliche Partnerschaft. 7.3.1 „empty nest syndrom“ und nachelterliche Partnerschaft. Der Ende der 60er Jahre in USA entstandene Begriff „empty nest syndrom“ orientierte sich an dem traditionellen Rollenmodell der Mutter und Hausfrau und verband mit dem Auszug der Kinder unweigerlich negative Folgen für die weibliche Identität. Diese wurden beschrieben als Verlust des Lebenssinns, des Selbstwertgefühls usw., was bei den Betroffenen dann in depressive Zustände führt. In nachfolgenden Untersuchungen im Rahmen differenzieller Forschungen konnte jedoch gezeigt werden, dass die Entstehung des beschriebenen Syndroms auf keinen Fall zwingend ist, sondern der Umgang damit in hohem Maße kontextsensitiv ist und sich dementsprechend äußerst unterschiedlich darstellt. (siehe Fahrenberg 1986 in: Faltermaier (2002) Abb. 5.2, S. 155) Was die nachelterliche Phase angeht, ergibt sich für sie vor allem die Aufgabe der Neustrukturierung des Alltags und der Paarbeziehung. Diese Phase kann, was das Familienleben angeht, sehr spät sein, was das Berufsleben angeht, schon weit früher sein. So haben längere Ausbildungszeiten und wirtschaftliche Veränderungen das „empty nest“ häufig bis in das sechste Lebensjahrzehnt verschoben und dadurch ein neues Phänomen entstehen lassen, das als „Nesthockersyndrom“ beschrieben wird und eher bei Söhnen beobachtet wird. 7.3.2 Pflege der alten Eltern Die zunehmende Lebenserwartung der letzten Jahrzehnte führte auch zu einer Ausdehnung der gemeinsamen Lebenszeit der Generationen, so dass immer mehr Menschen noch im 5. und 6. Lebensjahrzehnt zumindest ein Elternteil besitzen. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, in diesen Jahren auch Pflegearbeit für hochbetagte Familienangehörige zu übernehmen. Da traditionelle Familienorientierung und internalisierte weibliche Normen und Moralvorstellungen die Pflegebereitschaft von Frauen erhöht, ist Familienpflege in den meisten Fällen (über 80%) immer noch Frauenpflege. Sie stellt, besonders bei pflegeintensiven Fällen, eine große psychische Belastung dar, wobei im mittleren Erwachsenenalter auch die Pflegenden schon unter chronischen Krankheiten leiden können. 60 Skript PSYPE 3 Mit der Zunahme weiblicher Berufstätigkeit und allmählicher Auflösung von Geschlechter-stereotypen (pflegende Männer!) sowie einer insgesamt stärkeren Individualisierung wird es in Zukunft zu einer Erweiterung der Pflegeformen kommen, d.h. der Umfang der Familienpflege als reiner Frauenpflege wird abnehmen. Diese Entwicklung zeigt sich schon heute bei Menschen mit höherer Bildung und besserer ökonomischen Ausstattung. Aber auch wenn nicht selbst gepflegt wird, sind die psychischen Belastungen der Angehörigen hoch, besonders wenn die Pflegebedürftigkeit durch eine dementielle Erkrankung der alten Eltern hervorgerufen wird. Allen Untersuchungen zufolge gehören solche Befunde zu den sehr negativ erlebten Transitionen dieser Lebensperiode. 8. Veränderungen im beruflichen Bereich Berufsarbeit gilt immer noch als ein zentraler Ort zur Verwirklichung eigener Fähigkeiten. Je nach Tätigkeit verbinden sich mit ihr Macht, Ansehen und Einfluss. Sie wird außerdem in einem sozialen Umfeld geleistet, das dem Individuum soziale Kontakte sichert. Das Besondere dieser Lebensphase heute ist, dass es für eine beträchtliche Anzahl von Menschen bereits zur Ausgrenzung aus der Berufsarbeit gekommen ist. (In Luxemburg sind noch etwa 30% der Fünfzig- bis Vierundsechzigjährigen berufstätig) Für die meisten ist dies kein erwünschter Zustand, sondern einer, der zum einen durch die Veränderung der Arbeit überhaupt entstanden ist, zum anderen durch den globalen Arbeitsmarkt erzwungen wird. Ältere Arbeitnehmer müssen sich jedoch auch dem Vorwurf abnehmender Leistungsfähigkeit stellen. Trotz Gegenbeweisen gelten sie in vielen Bereichen als leistungsschwächer, unflexibler, störanfälliger usw. Begründet wird dies generell mit Annahmen zum kalendarischen Alter. Ein solches Vorgehen ist nicht nur eine Diskriminierung des Alters, sondern auch eine Einschränkung individueller Handlungsautonomie. Sie führt zum Verlust von Humankapital, d.h. die Kompetenzen und Ressourcen von Menschen in dieser Lebensphase werden gesellschaftlich nicht genutzt. Nur ganz wenige Berufsgruppen, z.B. Politiker, Wissenschaftler, sind hier ausgenommen. 61 Skript PSYPE 3 Lebensveränderungen im Zusammenhang mit (Erwerbs)arbeit sind also im mittleren Erwachsenenalter, gemessen an der hohen Bedeutung von Arbeit, für viele Menschen eher „eine Phase der kritischen Bilanzierung, der Konfrontation mit Grenzen, mit Stigmatisierungen und der Auseinandersetzung mit möglichen Abbauprozessen (...)“ Faltermaier 2006, S.158) Dass das Arbeitsende, auch das verfrühte, besonders bei physisch und psychisch belastenden Berufen auch die ersehnte „späte Freiheit“ bringt, ist selbstverständlich, solange die Finanzierung zufrieden stellend ist. Damit wird für eine Entwicklungspsychologie der Lebensspanne mit dem Konstrukt „mittleres Erwachsenenalter“ ersichtlich, dass eine gesellschaftlich-historische Perspektive unbedingt notwendig ist und eine Orientierung am chronologischen Alter heute kaum noch Fragen beantworten kann. Quellen: Faltermaier, T. Mayring, P., Saup, W. (2002) Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters. Stuttgart: W. Kohlhammer. S. 136- 162. 9. Entwicklungsförderung und Interventionen bei Erwachsenen 9.1 Arbeitslosigkeit Die Situation in Luxemburg und Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit. Luxemburg hat mit 4,8% Arbeitslosen immer noch die niedrigsten Zahlen innerhalb Europas, allerdings kontinuierlich steigend, wobei sich ein immer stärkerer Fachkräftemangel besonders von Menschen ab 45 Jahren abzeichnet. Dauert die Arbeitslosigkeit länger an, kann sie für die Betroffenen, neben dem verringerten Einkommen zu verhängnisvollen psychischen und sozialen Auswirkungen führen, die bei Älteren oft noch gravierender ausfallen als bei jungen Arbeitslosen. Besonders belastend wirken sich dabei die Einschränkungen sozialer Kontakte sowie die reduzierten Möglichkeiten zur Entwicklung und zum Einsatz 62 Skript PSYPE 3 der eigenen Fähigkeiten aus. Dauern solche Belastungen aufgrund von Langzeitarbeitslosigkeit an, können sich bei den Betroffenen zum Teil schwerwiegende Folgeerscheinungen entwickeln: Verlust der Zeitstruktur Gefühle von Wertlosigkeit Resignation, Verunsicherung, Selbstzweifel Isolation Kontaktschwierigkeiten Persönliche und familiäre Identitätskrisen Sozialer Abstieg Psychosomatische Beschwerden Aggression Alkoholismus und Drogenkonsum Die hohe Arbeitslosigkeit bringt aber nicht nur für die Betroffenen schwerwiegende Probleme, sondern auch für den Arbeitsmarkt, besonders hinsichtlich eines wachsenden Fachkräftemangels. Maßnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung dienen daher nicht nur der psychischen Entlastung der Einzelnen, sondern haben auch eine wichtige Arbeitsmarktfunktion. 9.2 Schuldnerberatung: Beratung und psycho-soziale Hilfe für Menschen mit Schuldenproblemen „Jetzt kaufen, später zahlen“ – dieser und ähnliche Slogan begegnen uns in der Welt des Konsums überall und beschreiben das alltägliche Kauf- und Konsumverhalten vieler Menschen. Das Aufnehmen von Krediten gehört heute zum Alltag der Lebensführung, wobei die Rückzahlung des erhaltenen Betrages in festen, monatlichen Teilbeträgen normalerweise kein Problem darstellt. Eine immer größere Anzahl von Familien und Einzelpersonen schafft dies jedoch aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht mehr, d.h. das verfügbare Einkommen reicht für die finanziellen Verpflichtungen nicht mehr aus, so dass die Verschuldung in eine Überschuldung führt. Die immer noch häufigsten Ursachen, warum Menschen in schwierige geldliche Situationen geraten, sind entweder „kritische Lebensereignisse“ wie Arbeitslosigkeit, Trennung, Scheidung, Krankheit, aber auch dauerhaft niedriges Einkommen, fehlende Kenntnisse über Kredite und ihre möglichen Konsequenzen wie auch eine generelle Inkompetenz, mit Geld um zu 63 Skript PSYPE 3 gehen. Nicht selten leiden Betroffene aufgrund von Niederlagen auch an Minderwertigkeitsgefühlen privaten und beruflichen und versuchen sich mit Konsumartikeln wieder aufzuwerten. Sprunghaft gestiegen in den letzten Jahren sind die Schulden bei Tele-Anbietern (Handys) Überschuldung bezeichnet dann die Situation, in der ein Privathaushalt nach Abzug seiner Lebenshaltungskosten nicht mehr in der Lage ist, mit seinem restlich verfügbaren Einkommen seinen Ratenverpflichtungen nachzukommen. In der Regel führt eine solche Situation eine Vielzahl von psychosozialen Belastungen mit sich und hat in den meisten Fällen große Auswirkungen auf das gesamte Umfeld des Verschuldeten. Dies zeigt, dass bei Überschuldung nicht nur eine finanzielle Beratung notwendig ist, sondern eine umfassende Lebensberatung. Mit diesem Ziel, nämlich die verschiedenartigen, insbesondere sozialen Folgeprobleme von Überschuldung zu beseitigen, zu minimieren bzw. zu mildern begannen in den 70er Jahren die ersten Schuldnerberatungsstellen in Deutschland ihre Arbeit. Etwa ab den 90er Jahren wird diese Beratung in einem 4-Säulenmodell angeboten, d.h. es gibt finanzielle, rechtliche, hauswirtschaftliche und psychosoziale Angebote. Insgesamt wird ein systemischer Ansatz verfolgt, in dem der Mensch als Teil eines umfassenden sozialen Systems verstanden wird. Sein Umfeld wird also immer mit reflektiert und der Blick richtet sich auf die Ressourcen des Hilfesuchenden. Ein solcher Ansatz kann aufzeigen, dass strukturelle, objektive Probleme mit individuellen Geschehnissen im Leben des Schuldners zusammenfallen. Menschen kommen generell freiwillig zur Schuldnerberatung und haben dann bestimmte Spielregeln zu befolgen: sie müssen ihre finanzielle Situation offen legen, alle Unterlagen abgeben und mit Beginn der Regelung keine neuen Schulden machen. Vordringlichstes Ziel der Beratung ist es dann, zunächst einmal, die elementaren Lebensbedürfnisse der ratsuchenden Menschen und ihrer Angehörigen durch Ausschöpfung aller tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten (wieder) abzusichern. Mittelfristig wird dann eine psycho-soziale Stabilisierung, die Aktivierung des Selbsthilfepotenzials und langfristig die möglichst vollständige Schuldenbefreiung angestrebt. In Deutschland ermöglichen die Regelungen gerichtlicher Insolvenzverfahren „zahlungsüberpflichteten“ Menschen eine Schulden-Befreiung. („Zahlungsüberpflichtet“ sind Menschen, die nach der Pfändung und dem Erlös verwertbarer Vermögensgegenstände und den pfändbaren Anteilen 64 Skript PSYPE 3 ihres Einkommens der nächsten sechs Jahre ihre vorhandenen Schulden nicht tilgen können.) Dabei ist nach Ablauf einer sechsjährigen Treuhandzeit („Wohlverhaltensperiode“) eine Zahlungsentpflichtung durch Gerichtsbeschluss möglich. Überschuldung in Luxemburg „Die meisten Menschen wären glücklich, wenn sie sich das Leben leisten könnten, das sie sich leisten.“ Obwohl Luxemburg mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 54690 Dollar Weltspitze ist, waren 2004 nach Angaben des nationalen statistischen Amtes STATEC rund 11 Prozent der Bevölkerung dem Armutsrisiko ausgesetzt. Das sind ungefähr 48000 Menschen, die meisten von ihnen Nicht-Luxemburger. Bei mehr als 11000 von ihnen wurde im letzten Jahr das Gehalt gepfändet, 46000 erhielten Zahlungsaufforderungen vom Gericht. Diejenigen, die eine der seit 1990 staatlich koordinierten Schuldnerberatungen Action medico-sociale (Ligue luxembourgeoise de Prévention et d und Inter-Action, mittlerweile unter der gemeinsamen Bezeichnung Service d information et de conseil en matiére de surendettement) aufsuchten, hatten eine durchschnittliche Verschuldungshöhe von 30000 Euro. Zwei Drittel der Klienten sind Menschen, die für die normalen Banken nicht (mehr) als kreditwürdig gelten und dann mit privaten Kreditinstituten (häufig in Belgien) ihre Geschäfte tätigen, die ihnen nicht selten bis zu 15,5 Prozent Zinsen berechnen. Bei der Beratungsarbeit durch Sozialarbeiter und Juristen steht die Erarbeitung eines Entschuldungsplans im Mittelpunkt. Scheitert dieser Plan, d.h. können die Schulden innerhalb der vereinbarten Frist nicht zurückgezahlt werden, folgt der Gang zu einem der beiden Friedensgerichte (Justice de Paix), wo mit den Gläubigern weitere Zahlungsmodalitäten und Fristen festgelegt werden, die in den meisten Fällen noch tiefer in die Schuldenspirale führen. Die unter bestimmten Bedingungen gegebene Möglichkeit einer gerichtlichen Zahlungs-Entpflichtung, wie in Deutschland und Frankreich, gibt es in Luxemburg noch nicht, soll aber nach Aussagen des Familienministeriums in diesem Jahr, 2007, eingeführt werden. Dann wird auch Luxemburg über gesetzliche Regelungen zur Privat-Insolvenz verfügen und nach vergleichbaren Verfahren handeln. Bei den betroffenen Personen wird eine gerichtlich beschlossene „Restschuldbefreiung“ dann auch möglich sein, wenn alle Verpflichtungen über eine gewisse Anzahl von Jahren eingehalten werden und eine Treuhandstelle alle in dieser Zeit über die 65 Skript PSYPE 3 gesetzliche Zumutbarkeit hinausgehenden Einkommens- und Vermögensquellen im Sinne der Gläubiger verwaltet, d.h. nach Maßgabe entsprechender Vorschriften an die beteiligten Forderungspersonen verteilt. Mit diesem Verfahren soll erreicht werden, dass überschuldete Personen mit ihren Angehörigen nicht lebenslänglich zahlungs- und marktunfähig bleiben, sondern aus der sozialen Abstiegsspirale wieder herausfinden und insbesondere ihre Arbeitsmarktfähigkeit wieder hergestellt werden kann. Quellen: www.schuldnerberatung.de www.indeed-net.en/text/armutinluxemburg.html Vortrag bei der Caritas Luxemburg, Referent C. Schumacher, „Arbeit mit Überschuldung in Luxemburg“ Mai 2007 9.3 Obdachlosigkeit und psychische Störung Obdachlosigkeit scheint auf den ersten Blick ein konkret umschriebener Zustand zu sein, wenn auch zeit- und kulturabhängig. Das zeigt sich schon an den unterschiedlichen Begriffen. Sprach man in früheren Jahrhunderten von Vaganten, hießen sie Korrigenden während der Industrialisierung und man steckte sie in Arbeitshäuser. Anfang des 20. Jahrhunderts waren sie Landstreicher, Berber oder Vagabunden. Als man sich einige Jahrzehnte später auch für die psychischen Hintergründe dieser Menschen interessierte, hatte man gleich einen abwertenden Begriff bereit: unstete Psychopathen, die man dann ab 1933 als arbeitsscheue Nichtsesshafte in Konzentrationslager brachte und später zu Tausenden ermordete. Über die konkrete Lebenssituation wohnungsloser Männer und Frauen heute gibt es immer noch kaum ausreichende und gesicherte Daten. Das liegt unter anderem auch daran, dass es sehr schwierig ist , überhaupt an sie heranzukommen. Ein Phänomen, das zumindest einen Teil der „Obdachlosenmentalität“ erklären kann, scheint jedoch auch nach und nach von wissenschaftlichem Interesse: die psychischen Erkrankungen der Betroffenen. Dabei muss eine Erkenntnis, die sich zu Beginn der psychiatrischen Obdachlosenforschung vor über 100 Jahren ( Karl 66 Skript PSYPE 3 Willems, Zur Pathologie des Landstreichers, 1906) aufdrängte, noch heute bestätigt werden: ein beträchtlicher Teil dieser Menschen hatte eine sogenannte Dementia praecox, was man später als schizophrene Psychose bezeichnete. Demzufolge wurde auch schon damals, folgerichtig, nicht nur eine humane Unterbringung und Versorgung, sondern auch eine psychologische und psychiatrische Behandlung gefordert – ein Aspekt, der auch heute noch eine große Rolle spielt. Dennoch sind Störungen dieser Art nur schwer zu fassen, was sich auch in deutschen Studien zeigt. Diese streuen, was die Häufigkeit angeht, von 5% bis 100% seelisch Erkrankter. Grund ist, dass die Beschaffung von Unterkunft, Nahrung und Kleidung so primär ist, dass die Betroffenen für Gesundheitsfragen einfach keinen Raum mehr haben. Als Merkmale psychischer Gewalterfahrungen, Erkrankungen Angst- und gelten Kindheitstraumata, Persönlichkeitsstörungen, vor Depressionen allem und schizophrene Psychosen. Dazu kommt die hohe Alkohol- und Drogenabhängigkeit. Was die Lebenssituation obdachloser Frauen angeht, ist die Datenlage noch geringer als bei Männern. Dies liegt unter anderem daran, dass Frauen die vorhandenen Hilfesysteme weniger nutzen, d.h. eher zurückgezogen in einer so genannten „latenten Wohnungslosigkeit“ leben, aber auch daran, dass es weit weniger Sammelunterkünfte für Frauen gibt. Studien aus größeren Städten zeigen, dass Konflikte mit Eltern und Partnern sehr häufig ein Grund für den Wohnungsverlust sind. Frauen berichten so gut wie immer von körperlicher und sexueller Gewalt, wobei diese Erfahrungen und ihre Häufigkeit als das Hauptunterscheidungsmerkmal bei männlichen und weiblichen Obdachlosen gilt. Bei psychischen Krankheiten zeigen Frauen gegenüber Männern eher „Comorbidität“: sie haben häufiger mehrere psychische Krankheiten gleichzeitig oder aufeinander folgend, immer verbunden mit Suchtkrankheiten. Für etwa ein Drittel der erfassten Frauen hat dies zu mindestens einem Suizidversuch geführt. In Luxemburg leben etwa 300 Wohnungslose, um die sich unterschiedliche Einrichtungen kümmern („Streetwork“, „Stemm vun der Strooss“, Caritas u.a.). Hilfsangebote (Übernachtungsmöglichkeiten, Getränke und bezahlbare Mahlzeiten) sind vor allem das Foyer de Nuit Ulysse und téistuff. Dort sind die Regeln streng und Drogen tabu. Die Menschen haben im Foyer vorübergehend eine Adresse und werden unterstützt bei Behördengängen. Für viele gibt es inzwischen mittels eines „dispatching“ eine durch professionelle BeraterInnen ausgeführte Falldiagnose, die 67 Skript PSYPE 3 es ermöglicht, stärker zwischen der Problematik von Obdachlosen und der immer größeren Zahl von Drogenabhängigen zu unterscheiden. Da es, neben der generell ungelösten Wohnungsfrage für sozial Schwache, in Luxemburg immer noch kaum Drogenauffangstationen und Therapieplätze gibt, wächst die Zahl der Drogenabhängigen, die dann auf der Strasse leben, immer schneller. Quellen: Hackauf, H., Gesundheit und soziale Lage junger Menschen in Europa, LIT Verlag, Wiesbaden 2004 Paetow-Spinosa, S., Psychische Erkrankungen bei wohnungslosen Frauen, Landeskommission Berlin gegen Gewalt, Berlin 2008 Gespräche mit Mitarbeitern der „Caritas Accuiel et Solidarité asbl“ (Zeitraum April/Mai 2007) Gespräch mit einem streetworker und Mitarbeiterinnen von „Téistuff“ und „Foyer Ulysse“ http://www.wort.lu/wort/web/letzebuerg/artikel/76661/eine http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/obdachlosigkeit.html 68