Resuemee_der_sechsten_Sitzung

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(Vermutetes) Resümee der 6. Sitzung der Vorlesung „Sprachreflexion im Deutschunterricht“
(Wolfgang Boettcher; pk-ws-2009-v-sid-6)
Sprachreflexion/Grammatik und „Schreiben“
Die Integration sprachreflexiver Kompetenzen (und dabei deren Weiterentwicklung) in den Kompetenzbereich „Schreiben“ ist
– neben der Integration in „Umgang mit Texten“ – die zweite wichtige Aufgabe von Deutschunterricht. Die Schüler/innen
nutzen die zahlreichen grammatischen Reflexionen bei der Überarbeitung eigener Texte zur schrittweisen Differenzierung
ihres sprachreflexiven Wissens; und umgekehrt elaborieren sie ihre Schreibkompetenzen im Gefolge solcher
Sprachreflexionen. In diesem Ping-Pong von Können und Wissen entwickeln sie ein sprachreflexives und dabei auch
grammatisches Monitoring, mit dessen Hilfe sie – nebenbei wie auch im Einzelfall fokussiert – ihre Textproduktionsprozesse
begleiten.
Lehrplanvorgaben:
Im Kompetenzbereich „Schreiben“ findet sich im Aufgabenschwerpunkt „Texte schreiben“ folgende Vorgabe für die
Jahrgangsstufe 9/10 bzw. in G8 für Jahrgangsstufe 9:
7. Sie analysieren Texte und Textauszüge (literarische Texte, Sachtexte und medial vermittelte Texte) unter
Berücksichtigung formaler und sprachlicher Besonderheiten und interpretieren sie ansatzweise.
(...; formale und sprachlich-stilistische Gestaltungsmittel und ihre Wirkungsweise an Beispielen darstellen; ...)
Hinzu kommen im Kompetenzbereich „Reflexion über Sprache“ im Aufgabenschwerpunkt „Sprachliche Formen und
Strukturen in ihrer Funktion“ die folgenden sprachreflexiven Kompetenzen:
5/6:
5. Sie beschreiben die grundlegenden Strukturen des Satzes.
(Satzarten: Aussage-, Frage-, Aufforderungssatz; Satzglieder: Subjekt, Prädikat, Objekt, Adverbiale, Attribute;
Satzverbindungen: Satzreihe, Satzgefüge, Hauptsatz, Nebensatz)
7/8:
5. Sie untersuchen und beschreiben Satzbauformen, bezeichnen sie fachlich richtig und bilden komplexe
Satzgefüge.
(Satzglieder, Gliedsätze – Subjektsatz, Objektsatz, Adverbialsatz, Attributsatz – und Satzverbindungen)
9/10:
5. Sie festigen, differenzieren und erweitern ihre Kenntnisse im Bereich der Syntax und nutzen sie zur Analyse
und zum Schreiben von Texten.
(z. B. Wirkungen von Satzbau-Varianten, Gliedsatz-Varianten unterscheiden und ausprobieren)
Die Vorgaben für 5/6 sind in G8 identisch. Für 7/8 sind sie in G8 aber erheblich erweitert (unter Aufnahme der 9/10Kompetenzen von G9):
1. Die Schülerinnen und Schüler wenden erweiterte Strategien und Techniken des Textverstehens weitgehend
selbstständig an:
(Satzbauformen untersuchen und beschreiben, sie fachlich richtig bezeichnen; komplexe Satzgefüge bilden –
Satzglieder, Gliedsätze - Subjektsatz, Objektsatz, Adverbialsatz, Attributsatz – und Satzverbindungen Wirkungen von Satzbau-Varianten, Gliedsatz-Varianten unterscheiden und ausprobieren)
In G8 kommt dann für Jahrgangsstufe 9 hinzu:
4./5. Sie verfügen sicher über grammatische Kategorien und deren Leistungen in situativen und funktionalen
Zusammenhängen.
(Temporale Tiefenstruktur von Texten, Indirekte Rede, Fachvokabular bei der Sprachanalyse, syntaktische
Strukturen)
Fachdidaktische Perspektive:
aus Kopfermann:
„Der Dreischritt der Überarbeitung hätte immer zu sein:
Lokalisieren (Fähigkeit zur Distanz, Feststellen von Normabweichungen von der Umgangssprache resp. von
literarischen Mustern)
Diagnose (Erkennen der Fehler-Ursache; dazu ist hermeneutische Schulung nötig)
Therapie (handlungsorientiert, mit Operationen s.u.)
Solche Operationen der Therapie können sein:
Weglassprobe
Umstellprobe
Ersatzprobe
Ergänzung (Satzglieder) und Verlängerung (Satzverknüpfungen)
Transformationen (Aktiv ins Passiv, Praesens ins Praeteritum,
Indikativ in Konjunktiv; vgl. die `Stilübungen´ von Queneau)“
Ich halte es für sinnvoll, vor Kopfermanns fachdidaktischen Dreischritt den lernbiographischen Dreischritt zu setzen:
ich erhalte Feedback von anderen (u.a. Lehrperson)
ich gebe anderen Feedback zu deren Texten
ich kann mir selber in der Überarbeitung eigener Texte helfen
Schülerinnen/Schüler können (eigene) Texte zunehmend bewusst überarbeiten, wenn sie (viele) reflektierte Erfahrungen haben
mit spezifischen Problemen von Textstrukturen und Gestaltungsalternativen.
Beispiele für solche Quellen von Textproduktionsproblemen waren:
(1) Differenz zwischen mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch:
Satzoberflächen werden gestaltet durch morphologische Markierungen (z.B. Flexionsmerkmale wie Kasus usw.), durch
Reihenfolge und durch Prosodie (insbesondere Tonhöhe, Akzent); dabei sind prosodische Mittel wirkungsstärker als
Reihenfolge-Effekte. Prosodische Mittel fallen für schriftliche Sprachverwendung aus. Dadurch können Verständnisprobleme
entstehen:
absichtliche wie in Witzen
Mutter zu Hans:
„Man bohrt nicht mit dem Zeigefinger in der Nase!“
„Welchen Finger nimmt man denn?“
oder versehentliche wie in folgendem
Entschuldigungsschreiben:
„Mein Sohn kann heute nicht zur Schule kommen.
Das Schwein wird geschlachtet“
(2) Reihenfolgeentscheidungen unter den Bedingungen von Thema-Rhema-Abfolgen und markierter/unmarkierter
Satzgliedfolge:
Für Sprachen wie das Deutsche gilt als `normale´ (= ohne besondere Bedingungen verständliche) Reihenfolge die von S-P-OReihenfolge (= Subjekt – Prädikat – Objekt). Das bedeutet – wenn man das folgende Stellungs-Muster
Denn

sie

hat
 ihrem Freund ein Buch 
Vorvorfeld  Vorfeld  linke Klammer 
Mittelfeld
geschenkt
 gestern Abend
 rechte Klammer 
Nachfeld
zugrundelegt:
Sätze werden in Texten entlang einer „Thema“-„Rhema“-Folge verkettet: Das Thema enthält den – bereits
eingeführten/vertrauten – Hintergrund, es steht normalerweise im Vorfeld; das Rhema enthält die vor diesem Hintergrund
neue, relevante Information, es steht normalerweise rechts im Satz: im Mittelfeld oder gar im Nachfeld (auf diese Weise kann
es nach Kenntnis des Hintergrunds rezipiert werden, und zugleich ist es für das Kurzzeitgedächtnis das `Frischeste´). Märchen
fangen z.B. nicht so an:
Ein König hatte einmal drei Töchter, deren jüngste einen Prinzen liebte, der einen wundersamen Falken besaß. …
sondern so:
Es war einmal ein König. Der hatte drei Töchter. Die jüngste von ihnen liebte einen Prinzen. Der besaß einen wundersamen
Falken. …
(= Im 1. Satz – in dem ja noch nichts eingeführt ist – wird daher das Thema im Vorfeld semantisch leer durch „Es“ vertreten,
das Rhema ist „ein König“, es steht im Mittelfeld. Dieses Rhema wird im 2. Satz zum Thema und steht – pronominal
wiederaufgenommen – im Vorfeld („Der ...“). Usw.)
In der folgenden Satzkette erfüllt der mittlere Satz zwar die S-P-O-Regel, nicht aber die Thema-Rhema-Folge:
1. Müllers bauen ein neues Haus. Mein Freund baut dieses Haus. Er hatte vorher die Dorfkirche gebaut.
In Variante 2 wird die normale Thema-Rhema-Folge realisiert, aber nur mithilfe einer O-P-S-Reihenfolge (und die ist
„markiert“, also auffällig):
2. Müllers bauen ein neues Haus. Dieses Haus baut mein Freund. Er …
In Variante 3 wird nun – mithilfe einer Passivkonstruktion – beiden Regeln Genüge getan:
3. Müllers bauen ein neues Haus. Dieses Haus wird von meinem Freund gebaut. Er …
Auch (relativ) versierte Schreiber an der Uni haben ähnliche Probleme.
(3) Pronominalisierung als Mittel/Indikator von Textkohäsion:
In der Regel wird eine Größe (z.B. „Baum“) in einem Text zunächst nominal und mit unbestimmtem Artikel („… ein Baum
…“), dann mit bestimmtem Artikel („… der Baum …“) (oder gleich pronominal: „… er …“) eingeführt, dann pronominal und
weiter dann im Wechsel zusätzlicher Möglichkeiten („… der grüne Riese …“ / …), jedenfalls nie mehr mit unbestimmtem
Artikel.
Der folgende Anfang einer Kriminalstory operiert mit dieser Regel und bricht sie absichtsvoll:
„Er hatte es ja geahnt: Sie waren nicht zu der vereinbarten Stelle gekommen. Sie hatten ihn wieder einmal reingelegt. Er
würde von seinem Vorgesetzten eine saftige Rüge einstecken müssen.
Paul Portmann hatte gleich ein merkwürdiges Gefühl, als die Erpresser ihm diesen Deal vorschlugen. ...“
Die pronominale Version (die erst im zweiten Absatz nominal `gefüllt´ und damit identifiziert wird) suggeriert, man sei als
Leser in ein bereits laufendes Geschehen hineingeraten. Dieser Effekt ist eines der Stil-Instrumente einer auf Spannung
verpflichteten Textsorte.
(4) Äquivalenzen:
Das grammatische System der Sprache stellt fast immer mehr als eine Formulierungsmöglichkeit zur Verfügung; solche
Wahlen lassen sich – je professioneller man schreibt – bewusst nutzen.
Es geht dabei um Äquivalenzen zwischen der Darstellung des Sachverhalts ganz oder vorrangig mithilfe von Komposita oder
mithilfe von Attributen oder mithilfe von zusammengesetzten Sätzen oder mithilfe einer Folge einfacher Sätze:
Beispiele solcher Äquivalenzen waren
(a)
Kausalitäts-Darstellungen (= innerhalb der Adverbialbeziehungen):
innerhalb eines einfachen Satzes:
Wegen völliger Erschöpfung blieb er daheim
innerhalb eines zusammengesetzten Satzes:
A
Er blieb daheim, weil er völlig erschöpft war.
B
Er war völlig erschöpft, weshalb er (denn auch) lieber daheim blieb.
C
Er war völlig erschöpft, deshalb blieb er daheim.
implizite Variante, also ohne Kausalmarker:
Er war völlig erschöpft, er blieb daheim.
D
Er blieb daheim, er war nämlich völlig erschöpft.
implizit, also ohne Kausalmarker:
Er blieb daheim, er war völlig erschöpft.
innerhalb einer Satzfolge:
(C)
Er war völlig erschöpft. Deshalb blieb er daheim.
(A)
Er blieb daheim. Weil er völlig erschöpft war.
(D)
Er blieb daheim. Er war völlig erschöpft.
(b)
Diese 1+4 Darstellungsoptionen unterscheiden sich hinsichtlich des Informationsflusses und zudem stilistisch.
Inhaltsbeziehungen:
als Satzfolge:
Er besuchte sie gestern. Das freute sie. Das überraschte ihn. Darüber wunderte sie sich.
als einfacher Satz:
Über seine Überraschung über ihre Freude über seinen gestrigen Besuch wunderte sie sich.
als zusammengesetzter Satz:
Sie wunderte sich darüber, dass es ihn überraschte, dass sie sich darüber freute, dass er sie gestern besuchte.
(c)
Relativbeziehungen:
als zusammengesetzter Satz:
Der Hut, der im Schrank, der neben der Tür, die zum Garten, der auf der Rückseite des Hauses liegt, führt, steht, hängt,
stinkt!
als Satzfolge:
Auf der Rückseite des Hauses liegt ein Garten. Zu diesem Garten führt eine Tür. Neben dieser Tür steht ein Schrank. In
diesem Schrank hängt ein Hut. Dieser Hut stinkt.
als Mischung aus zusammengesetztem Satz und Satzfolge:
Neben der Tür, die zum Garten auf der Rückseite des Hauses führt, steht ein Schrank. Darin hängt ein Hut, der stinkt!
(d)
Äquivalenzen zwischen Wortbildung und Attribut:
1.
2.
3.
4.
5.
Die Diskussion der Punkte der Tagesordnung der Konferenz der Außenminister dauerte lange.
Die Diskussion der Punkte der Tagesordnung der Außenministerkonferenz dauerte lange.
Die Diskussion der Punkte der Außenministerkonferenztagesordnung dauerte lange.
Die Diskussion der Außenministerkonferenztagesordnungspunkte dauerte lange.
Die Außenministerkonferenztagesordnungspunktediskussion dauerte lange.
(5) Markierung von Redewiedergabe:
Der Kompetenzlehrplan G8 führt für die Jahrgangsstufe 9 u. a. die Kompetenz an, „korrekt zitiert belegen“. Es gibt alternative
Möglichkeiten, einen Import zu kennzeichnen.
Bei dem Import von Meinungen anderer muss klar sein:
Ist die importierte Aussage sauber und erkennbar referiert und
ist ihre Quelle deutlich gemacht?
Formulierungsvarianten:
Quelle-fokussierend (= und dadurch grundsätzlich die syntaktische Komplexität um 1 Stufe erhöhend):
Maier sagt/behauptet: Die Menschen sind alle schlecht
Maier behauptet, dass die Menschen alle schlecht sind
Maier behauptet, dass die Menschen alle schlecht seien
Maier behauptet, die Menschen seien alle schlecht
Die Menschen sind alle schlecht, das behauptet (jedenfalls) Maier.
Die Menschen sind alle schlecht, was (jedenfalls) Maier behauptet.
Import-fokussierend:
ohne syntaktische Komplexitätserhöhung:
Die Menschen sind Maier zufolge alle schlecht
Die Menschen sind laut Maier alle schlecht
Nach Maier sind die Menschen alle schlecht
Die Menschen seien alle schlecht.
mit syntaktischer Komplexitätserhöhung:
Die Menschen sind, wie Maier behauptet, alle schlecht
Die Menschen sind/seien, so behauptet Maier, alle schlecht
Die Menschen seien - so Maier - alle schlecht
Maier behauptet in seinem Beitrag, dass Grammatikkenntnisse in der Phase der Textüberarbeitung hilfreich sind.
Ein interessantes Beispiel aus einer Leistungsnachweis-Arbeit einer Germanistik-Studentin:
„[...] Ob Konflikte sich entfalten können und dürfen, hänge, nach Schank, zunächst von der Einstellung gegenüber
Konflikten überhaupt ab [...]
In meiner Sicht sind hier zwei Wiedergabe-Möglichkeiten gekreuzt:
„[...] hängt(,) nach Schank(,) [...]“ oder
„[...] hänge – so Schank – [...]“(hier ist „so Schank“ die Quellenangabe, nicht eine zweite Distanzierungsmarke)
So aber, wie es im Ausgangs-Original steht, ist es in meiner Bewertung nicht korrekt; es suggeriert mir, als berichte die Autorin über
das, was ein dritter Mensch über Schanks Aussagen referiert.
Lesehinweise:
Schardt, F.: Textgrammatik und Schreiberziehung. In: Der Deutschunterricht 1/1980, 49-66
Heringer, H. J.: Einige Thesen zu Grammatik und Textproduktion und ein Vorschlag. In: Mitteilungen des Deutschen
Germanistenverbandes 1/2001, 54-58
Heringer, H. J.: Wie die Grammatik beim Schreiben hilft. In: Deutschunterricht 4/2000, 21-28
Kopfermann, Th.: Grammatik(unterricht) und Textproduktion – Sprachwerkstatt. In: Mitteilungen des Deutschen
Germanistenverbandes 1/2001, 60-67
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