Rede von Wolfgang Mischnick - FDP

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Rede von Wolfgang Mischnick anlässlich der Verleihung der Reinhold-MaiaerMedaille am 2. Dezember 2001 in Stuttgart
Herzlichen Dank für die Verleihung der Reinhold-Maier-Medaille. Ich habe dem
spontan und freudig zugestimmt, nicht zuletzt deshalb, weil ein Schwabe mich zur
Politik gebracht hat. Als ich mich im August 1945 in Dresden bei der LDP anmeldete,
verwickelte mich der damalige Generalsekretär der sächsischen LDP in ein
mehrstündiges Gespräch, das mit seinem Angebot endete, hauptamtlich für die
Partei tätig zu werden. Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass die sowjetische
Besatzungsmacht mich nicht zum Studium zulasse konterte er meine Überlegung, in
die Verwaltung zu gehen, mit dem Hinweis: "Die Politik schreibt vor, was die
Verwaltung zu tun hat - es ist klüger, gleich Politik mit zu machen." Ich folgte seinem
Rat, das Ergebnis kennen Sie.
Dieser mein "politischer Entdecker" war Emst Mayer, der nach seiner Rückkehr nach
Württemberg Ende 1945 in der DVP Generalsekretär bzw. später
Geschäftsführender Landesvorsitzender wurde. Als er mir im November 1945 auf
einer Fahrt nach Görlitz und Zittau von seiner bevorstehenden Rückkehr in die
Heimat erzählte, forderte er mich auf, mich ihm anzuschließen, denn in der
sowjetischen Besatzungszone gäbe es doch keine demokratische Entwicklung. Ich
lehnte sein Angebot mit der Begründung ab, er wolle in seiner Heimat die Demokratie
aufbauen und ich in der meinen. Er bekam viel schneller Recht, als ich ahnen
konnte. Unter den heutigen Gästen befindet sich übrigens ein ganz "alter"
Parteifreund, Peter Rupp, dessen Vater Ernst Mayer damals über das Vogtland in die
amerikanische Besatzungszone gelotst hat. Mit Mayer, Dr. Vietzen und Dr. Tögel
gehörte übrigens auch mein ein Dreivierteljahr vor mir geflohener Mitarbeiter Gerhard
Winkler , der heute auch hier anwesend ist, 1947/48 dem Sekretariat der DVP an.
Die nach der Wende 1989 erfolgte parlamentarische Zusammenarbeit war eine
Fortsetzung der rund 40 Jahre vorher geknüpften Beziehungen.
Während ich Theodor Heuss bereits 1947 in Eisenach kennengelernt hatte, war
meine erste Begegnung mit Reinhold Maier wohl im August 1948 nach einer
Jungdemokraten-Sitzung in Reutlingen. Bei diesem Gespräch interessierte sich
Reinhold Maier für meinen persönlichen und politischen Werdegang. Wir kamen
auch auf meine Soldatenzeit zu sprechen, wobei wir schnell gemeinsame
Erfahrungen entdeckten. Reinhold Maier war im ersten Weltkrieg bei der
Fußartillerie , ich in der Wehrmacht bei den Infanteriegeschützen im Einsatz. Der
Weltkrieg- 1-Leutnant gab dem Weltkrieg11-Leutnant einen Rat seines damaligen
Hauptmanns mit auf den Weg. Der habe zu ihm gesagt: "Herr Leutnant, ehe Sie in
eine Stellung fahren, überlegen Sie immer, wie Sie wieder herauskommen!" Diese
Philosophie, so empfahl mir Maier, solle ich auch in der Politik immer beherzigen. Ich
habe diesen Rat nie vergessen und immer befolgt. Übrigens ist diese
Verhaltensweisheit auch nachlesbar in seiner Parteitagsrede 1957 in Berlin.
Reinhold Maiers pragmatisches Herangehen an schwierige politische Fragen hat
mich von Anfang an beeindruckt. Seine für jedermann nachvollziehbaren
Darlegungen notwendiger Beschlüsse wünschte ich mir heute öfter von den derzeit
Verantwortlichen. Politikverdrossenheit, wie es jetzt so schön heißt wäre sicherlich
geringer, wenn unabänderliche Entscheidungen klarer und überzeugender vermittelt
würden.
Mit einer Grundhaltung Reinhold Maiers hatte ich allerdings eine Zeit lang meine
Probleme. Sein Bekenntnis zum Föderalismus stieß bei mir auf Skepsis, weil ich
dahinter einen Rückfall in die Kleinstaaterei vergangener Zeiten befürchtete. Sein
konsequenter Einsatz für die Bildung des Südweststaates, wie es damals hieß,
belehrte mich eines Besseren. Er wollte die Eigenständigkeit der Länder in der
Bundesrepublik aus eigener Kraft gesichert wissen und nicht durch Subventionen
des Bundes. Dies veranlasste mich immer wieder, für eine Neugliederung des
Bundesgebietes einzutreten, weil ich nur dadurch auf Dauer gesichert sah, was an
Balance in der politischen Willensbildung in Deutschland nach dem Grundgesetz
gewollt war. Deshalb brachte ich mit unserer Bundestagsfraktion 1967 einen
Gesetzentwurf zur Zusammenlegung der Länder Hessen, Rheinland/Pfalz und
Saarland ein. Er scheiterte, weil die kleinkarierten Interessen von CDU/CSU und
SPD stärker waren als eine langfristige Lösung der nicht zuletzt durch
Besatzungsrecht mehr oder weniger zufällig entstandenen Länder. Auch die
überzeugende Arbeit der sogenannten Emst-Kommission fand keine Gnade bei den
großen Parteien. Es wird höchste Zeit, sich dieses Thema erneut zu stellen. In einem
immer mehr zusammenwachsenden Europa werden die Regionen eine größere
Rolle spielen, deshalb wäre jede Partei gut beraten, dieses Problem so mutig
anzugehen, wie es Reinhold Maler in weiser Voraussicht vor 50 Jahren getan hat.
Der überzeugte Föderalist Reinhold Maier war aber nie von separatistischen
Gedanken befallen im Gegensatz zu einigen Politikern der ersten Nachkriegsjahre.
Als Ministerpräsident - ich denke an die Konferenz der Ministerpräsidenten in
München 1947 - und als Parteivorsitzender hat er nicht nur die deutsche Einheit
angemahnt, sondern alle außenpolitischen Entscheidungen der Bundesrepublik unter
diesem Gesichtspunkt bewertet. Allerdings ging es ihm immer um Einheit in Freiheit
und nicht um Einheit auf Kosten der Freiheit. Sein Bekenntnis zur Freiheit ist
eindrucksvoll in seiner Parteitagsrede 1957 in Berlin dokumentiert. Er sagte unter
anderem: "Es gibt nicht einzelne Freiheiten, keine unter- und abgeteilten Freiheiten,
sondern nur eine ganze Freiheit. Und diese fließt aus einer einzigen Quelle. Das ist
die geistige Freiheit. Das Volk, das sie sich erwirbt, hält den Wirrnissen der
Gegenwart, den Stürmen der Zeit stand. Freiheit genießt keiner für sich allein, nur für
sich.
Formvollendet hat Friedrich Schiller ausgesprochen, was uns erfüllt, als er sagte:
"Wir wollen die Freiheit unter dem Gesetz." Unsere Freiheit ist nie Willkür, nie
Maßlosigkeit und Zügellosigkeit. Sie ist deren schärfster Gegner. Der Freiheitsbegriff
hat sich an den Exzessen von Herrschbegierde und Gewalt entzündet. In ständiger
Abwehr und im Gegenangriff hat er Lebenskraft behalten und dazu gewonnen. Die
Freiheit ist das überlegene Prinzip." Und Herbert Wehners Ausspruch ist und bleibt
gültig: " Über Freiheit kann jeder reden, aber nur in der Freiheit!
Unsere Verfassung bestimmt Leitprinzipien, nach denen sich in unserem
Gemeinwesen die politische Einheit aus der Vielzahl der Kräfte bilden muss und soll.
Sie ist die rechtliche Grundordnung, die dem politischen Prozess nicht nur einen
Rahmen geben, sondern ihm auch die Richtung weisen soll.
Die Formen unseres staatlichen Zusammenlebens sind mehr als technische
Regelungen, sie sind Ausdruck des freiheitlichen Geistes unseres Staates. Freiheit
ohne Form ist Anarchie. Deshalb sind demokratische Formen ein Teil der Freiheit
selbst. Es gilt heute oft als modern, Formen zu verachten. Nun bin ich weit davon
entfernt, jede althergebrachte Form als schützenswert zu betrachten. Unser
Grundgesetz ermöglicht eine politische Kultur der garantierten und geschützten
Vielfalt, aber nicht der
Verachtung der im Zusammenleben notwendigen Regeln. Unser Grundgesetz ist ein
Dokument des Artenschutzes für Individuen und für die Individualität. Das richtige
Verhalten des Bürgers zum Staat, also zu seinen Organen wie Parlamenten,
Regierungen und Parteien, sollte kritische Sympathie sein - gleich weit entfernt von
Staatsvergötzung wie von totaler Ablehnung. Vor diesem Hintergrund wünsche ich
mir, dass wir alle unseren Beitrag dazu leisten, unseren freiheitlichen Rechtsstaat
weiter zu festigen, nicht aber ihn ständig aus nörglerischer Eigensucht in Frage zu
stellen. Politische Bildung ist deshalb besonders wichtig. Wer beklagt, dass sich
junge Menschen rechtsradikalen oder linksradikalen Parteien hingeben, muss mit
dafür sorgen, dass politische Bildung in Schulen, bei der Bundeswehr und in allen
Lebensbereichen nicht nur verlangt, sondern auch unterstützt wird.
Naumann und Heuss haben sich wiederholt der Frage gestellt, ob Politik im
Besonderen lehr- und lernbar sei. Naumann zufolge besteht Politik aus zweierlei: aus
der Fähigkeit, die öffentlichen Belange mit Gemeinsinn zu bedenken und aus dem
Willen, sich an ihrer Gestaltung zu beteiligen. Naumann schrieb dazu: "Wenn Politik
etwa dasselbe sein soll wie Staatsbürgerkunde, so ist sie lehrbar und kann jedem
einigermaßen begabten Menschen beigebracht werden. Sie ist dann so etwas wie
Heimatkunde des öffentlichen Lebens, eine Mitteilung von Grundbegriffen über
Verfassung, Gesetzgebung, Verwaltung, Staatshaushalt,
Sozialversicherung und ähnliche Dinge. Andererseits ist Politik eine Kunst und als
solche schwerlich erlernbar."
Theodor Heuss war da optimistischer. Er meinte, die Leidenschaft und der Wille zur
Politik werde nicht primär durch Bildungsinstitutionen gestiftet und gestärkt, sondern
vielmehr durch die Politik selbst. Alle Bemühungen um politische Bildung müssten
scheitern, wenn nicht die Politiker selbst sich der erzieherischen Wirkung bewusst
seien, die im Guten wie im Schlechten von ihrem Handeln ausgeht. Welch ein
aktueller Appell, denkt man an die Debatte über
Politikverdrossenheit durch undurchsichtiges Verhalten gewählter Volksvertreter!
Meinungen können sich ändern, aber nur durch sachgerechte Überprüfung der
Fakten und nicht durch Auswürfeln, was opportun sein könnte. Die Sucht, jedes
Mikrophon zu nutzen" ohne vorher nachzudenken, schadet der Politik und ihren
Repräsentanten.
Als ich 1945 in meine zerstörte Heimatstadt Dresden zurückkehrte, war ich erfüllt von
der
Überzeugung: nie wieder eine deutsche Armee. Ich glaubte den Beteuerungen der
Siegermächte, die Zeit eines allgemeinen Friedens sei angebrochen. Schnell musste
ich
jedoch einsehen, dass der Wunsch nach Frieden nicht genügt. Die weltpolitischen
Machtkonstellationen verlangten neue Anstrengungen zur Verteidigungsfähigkeit.
Wer selbst einen Krieg durchlitten und an sich erlitten hat, der weiß, dass alles getan
werden muss, um eine solche Katastrophe in Zukunft zu verhindern. Mit dem
Bekenntnis "Nie wieder Krieg" ist es in dieser Welt leider nicht getan. Wir haben zwar
den sogenannten Kalten Krieg erlebt, aber uns Deutschen, uns Mitteleuropäem ist
seit über 50 Jahren der heiße Krieg erspart geblieben. Damit das so bleibt, muss
man auch heute noch Streitkräfte haben, um für alle Eventualitäten gewappnet zu
sein. Natürlich haben sich die Bedingungen für die Bundeswehr, für das Bündnis
NATO durch die politischen Entwicklungen geändert. Aber die Ereignisse auf dem
Balkan sowie außerhalb Europas zeigen, dass Wachsamkeit und Einsatzbereitschaft
nach wie vor notwendig sind.
Unter Frieden verstehe ich heute nicht nur die mehr oder weniger zufällige
"Abwesenheit von Krieg", wie es von den Römem formuliert wurde. Frieden zwischen
den Völkern muss von jedem einzelnen täglich gelebt und belebt werden. Dazu
gehört zum Beispiel, dass wir den Kontakt mit den Menschen anderer Kulturkreise
und Denkformen suchen, Vorurteile abbauen und gegenseitigem Verstehen
schaffen. Friedfertigkeit ist vor allem eine inner Haltung, die sich im täglichen Leben,
in der Familie und am Arbeitsplatz schult und bewährt..
"Homo homini lupus" - "der Mensch ist des Menschen Wolf" - ich möchte nicht so
weit gehen, diesen Ausspruch als allgemein gültig anzusehen, aber es ist leider
richtig, dass die Menschheit auch ein gewisses
Aggressionspotential mit sich herumträgt, das vor der Vernichtung der eigenen Art
letztlich nicht zurück- schreckt. Humanismus und Christentum haben die Politik eines
Hitlers oder Stalins oder auch eines Bin Laden nicht verhindern können. Wer
diktatorische oder gar terroristische Regime gewähren lässt, vermehrt das Übel. Wer
beklagt, in Deutschland habe es zu wenig Widerstand gegen die Nazi-Diktatur
gegeben, stellt sich selbst ins Abseits, wenn er sich heute gegen hartes, auch
militärisches Vorgehen gegen terroristische Aktionen wehrt. Terror gewähren zu
lassen vervielfältigt die Zahl der Opfer. Freiheit als Grundlage des menschlichen
Zusammenlebens setzt die Bereitschaft voraus, diese Freiheit gegen jede Art von
Beschränkungen zu verteidigen. Freiheit ohne Pflichten gibt es nicht!
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