Aufbruch ins Leben - (LAG) für Erziehungsberatung Schleswig

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Aufbruch ins Leben – Pubertät aus psychoanalytischer Sicht
Vortrag bei der LAG-Sitzung der Erziehungsberater in Schleswig-Holstein am 24.11.2011
Die öffentliche Diskussion über das Jugendalter ist davon geprägt, dass unsere Kinder
körperlich früh reif sind und die Heranwachsenden emotional spät reif.
Die Pubertät ist im Laufe des 20. Jahrhunderts immer früher eingetreten. In Europa und den
USA ist der Zeitpunkt der Menarche (erste Periodenblutung) innerhalb der letzten 120 Jahre
stetig gesunken etwa vom 17. bis zum 13. Lebensjahr (durchschnittlich trat die Menarche von
Generation zu Generation je etwa 10 Monate früher ein) (Flammer 2002, 76). Dies wird auf
verbesserte Aufwachs- und Lebensbedingungen v.a. eine vielfältigere und reichhaltigere
Ernährung, aber auch auf medizinische und hygienische Fortschritte zurückgeführt. Diese
reifungsbeschleunigenden Faktoren sind allerdings heute weitgehend ausgeschöpft (ebenda).
Von daher müssten wir eigentlich auf die Frage, ob der junge Mensch mit 18 Jahren
erwachsen ist, mit einem eindeutigen „Ja“ antworten können.
Aber das Erwachsensein hängt nicht nur von der körperlichen Entwicklung ab. Die
emotionale und geistige Reife gehört dazu. Sie wird mitbestimmt von den gesellschaftlichen
Bedingungen für die Sozialisation und der Beziehung zu den Eltern sowie von dem Selbstbild
des Jugendlichen. Dieses Selbstbild geht auf den Erwerb einer neuen Identität als
Erwachsener zu.
Ihre soziale Situation in Schule und Gesellschaft gibt den Heranwachsenden keine eindeutige
Stütze bei der Entwicklung eines Identität-Empfindens: sie können zwar einen Jahrgang in der
Schule abschließen und ein Zeugnis dafür bekommen, aber die gefühlte Zeit bis zum
Abschluss der Schule ist weit und sie fühlen sich auch mit den Zwischenergebnissen nicht als
fortgeschritten, weil sie von Lehrern und Eltern weiter angetrieben werden. Selbst bei
hochwertigen Hobbies ist die Anerkennung nur eine passagere. Wenn sie beim Sport einen
Preis gewinnen, ist dies ein für die bestimmte Altersklasse beschränkter. Wenn sie ein
Vorspiel als Musiker haben, werden sie gemeinsam mit solchen vorgestellt, die gerade einmal
gelernt haben, das Instrument richtig zu halten. Wenn sie in einer Band spielen, gibt es nur im
schulischen Rahmen oder in bestimmten Jugendwettbewerben die Möglichkeit aufzutreten,
nicht aber auf dem offenen Markt. Sie werden gefordert und gefördert, aber das verstärkt nur
das Gefühl, noch nicht richtig mitreden und –handeln zu können. In allem ist die Botschaft
der Gesellschaft: Ihr seid auf dem Weg, aber ihr seid noch nicht fertig.
 Shell Jugendstudie 2010: Für die meisten Jugendlichen sind die Freiräume bei Konsum
und Medien, Freizeit- und Sozialkontakten, Lebensstil und individuellem Gestalten des
Alltags so groß wie wahrscheinlich noch nie zuvor. Aber es sind dies z.T. Freiheiten,
deren Nutzung nicht dafür sorgt, dass man von der Gesellschaft als vollwertiges
„Mitglied“ wahrgenommen wird. (a.a.O. 38).
 Die Lebensphase Jugend ist zu einem Abschnitt der strukturellen Unsicherheit und
Zukunftsungewissheit geworden. (ebenda)
Beispiel: Praktikantenstatus junger Absolventen von Hochschulen
Ein Identitätsgefühl kann das nicht hervorrufen. So ist der Jugendliche, der sich aus den in
der Kindheit gesammelten Ich-Werten eine Ich-Identität zu erwerben versucht, von der
Gefahr der Ich-Diffusion bedroht (Erikson 1970, 109f).
Besonders die Zeit nach dem Schulabschluss kann da zu einer auslösenden Situation für
innere Konflikte mit der Gefahr von Angststörungen, Depression etc. werden: Die 19jährige
Abiturientin kommt in die Beratung, weil sie unter Panikattacken leidet. Sie möchte gern ihr
Studium in Berlin antreten, fürchtet sich aber schon vor den Gängen in der Stadt. Jeder Platz
erfüllt sie mit Angst, die sich in heftigen körperlichen Reaktionen niederschlägt. In der
Beratung wird deutlich, dass sie mit dem Verlust der während der Schulzeit erfahrenen
Sicherheit und Struktur, aber auch vor allem dem Verlust des ständigen Zusammenseins mit
den Freunden als Modellen für Verhalten und Perspektiven nicht zurechtkommt. Sie wird in
der Beratung unterstützt, sich selbst zu organisieren – auch gegenüber der Angst: also stehen
bleiben, das Angstobjekt in den Blick nehmen, zur Ruhe kommen, Strategien für das weitere
Vorgehen ersinnen. Das hilft ihr beim Übergang in eine neue, zunächst fremde Welt.
Der Begriff Pubertät steht eigentlich für die Zeit der Geschlechtsreife, wird aber volkstümlich
auch für ein bestimmtes phasenspezifisches Verhalten gebraucht. Ein Mädchen „hat“
zwischen 10 und 15 Jahren die Pubertät oder ein Junge „sitzt in der Pubertät“, wenn er
zwischen 11 und 16 Jahren ist, so sagt man.
Der innerseelische Prozess, den junge Menschen zwischen dem 10. und dem 25. Lebensjahr
durchleben, wird von Psychoanalytikern als „Adoleszenz“ folgendermaßen beschrieben.
1. In der Präadoleszenz (etwa 10. bis 12. Lebensjahr) bewirkt die hormonelle Umstellung eine wahllose Besetzung
aller Befriedigungsarten, die dem Kind in seinen früheren Lebensjahren gedient haben. Fast alle Erlebnisse (wie
Aggression, Angst, motorische Betätigungen) können sexuell stimulierend wirken. In den Äußerungen der Kinder
dieser Entwicklungsphase allerdings sind schmutzige Worte, anale Witze und Geräusche und die Neigung zu
Unsauberkeit auffällig.
Beispiel: Der elfjährige Daniel wird wegen eines plötzlichen Leistungsabfalls in der Beratungsstelle vorgestellt. Dabei
wird auch bekannt, dass er nach der Trennung der Eltern im Alter von 7 Jahren sich nur wenig vom leiblichen Vater
unterstützt fühlt und sich eher dem Stiefvater hingezogen fühlt, dem er gleichwohl nicht voll vertraut und dem er
manchmal auch seine Eifersucht zeigt. Er erzählt seinen Eltern nicht mehr alles. Er bemüht sich, bei den Peers und
auch bei größeren Jugendlichen zu renommieren. Er trägt Markenkleidung und eine schicke Gelfrisur. Er tut cool, als
er Kontakt zum Berater bekommt. Unter den Gleichaltrigen kommt er manchmal an, manchmal aber wird er erpresst,
Geld für die anderen zu besorgen. Dabei gibt es auch schon mal Prügel. Er zieht sich dann zeitweise zurück, verrät
aber die anderen nicht, vertraut sich auch dem Berater nicht voll an. Er will dort auf der Bühne des Skaterplatzes
bestehen, wo die etwas älteren Jugendlichen Bier trinken und kiffen und traut keinem Erwachsenen zu, seine
Probleme mit ihm lösen zu können. In der Untersuchung zeigt er seine Zerrissenheit zwischen dem Versuch, dem
Berater kindlich zu gefallen durch Fleiß und Freundlichkeit einerseits und seine pubertär wirkenden Ansprüche auf
Anerkennung seiner Coolness und Eigenständigkeit andererseits.
Bei diesem Jungen in der Präadoloszenz wird die Wirkung der Gleichaltrigen-Gruppe (Peer-Group) auf den
Zusammenhalt mit der Familie, das Vertrauen gegenüber der Erwachsenenwelt und die Bewältigung von
Verlassenheitsängsten deutlich. Daniel ist hin und her gerissen. Die psychoanalytische Theorie der Adoleszenz
versucht deutlich zu machen, was in ihm geschehen ist: Das infantile Ich des Jugendlichen wird schon erschüttert
durch die körperliche Reifung und den damit verbundenen Triebschub. Die körperlichen Veränderungen (vor allem
auch im genitalen Bereich) müssen in ein neues Körperbild integriert werden. Zunächst kommt es noch zu einem
Wiederaufleben inniger Beziehungen zu den Eltern als Versuch, mit alten Mitteln eine neue Realität zu bewältigen.
Aber dies ist nun der Beginn einer Auseinandersetzung mit den inneren Beziehungsbildern. Die enge kindliche
Verbindung zu den Eltern und besonders zum gegengeschlechtlichen Elternteil muss gelockert werden. Damit werden
auch die Identifizierungen mit den Eltern einer Überprüfung unterzogen und relativiert – mit Folgen für die Normen
und Werte des Kindes. Sowohl äußerlich als auch innerlich geschieht also eine revolutionäre Umformung. In diesem
Prozess spielt die Peer-Group eine herausragende Rolle, denn sie bietet neue Beziehungen, neue Normen und somit
Identifizierungsmöglichkeiten außerhalb der Familie und vermittelt einen Halt im Loslösungsprozess von den Eltern.
Die Neuorientierung erlaubt dem Adoleszenten, Fähigkeiten und Interessen (Skaten etc.) zu entwickeln, die ihm in der
Peer-Group Zustimmung und Prestige verschaffen. Es findet hier auch eine Entlastung für Schuld- und
Insuffizienzgefühle statt, weil es zu einer Sozialisierung der Schuld kommt. Das Kind wälzt die Schuld auf die Gruppe
bzw. auf deren Führer als Anstifter von Vergehen ab. Dieses Phänomen der geteilten oder projizierten Schuldgefühle
ist in diesem Stadium einer der Gründe für die wachsende Bedeutung der Gruppen- oder Bandenzugehörigkeit (Blos,
74). Die Vorziehung der gleichgeschlechtlichen Peer-Group ermöglicht den Jungen, die Angst vor dem Versagen zu
bewältigen, denn die Jungengruppe wirkt stabilisierend für ihre Identität. Den Mädchen erlaubt sie, aktiv zu werden,
statt passiv zu verharren. Sie zeigen häufig ein intensives Agieren und jungenhaftes Verhalten.
2. in der Frühadoleszenz (etwa 13 bis 14 Jahre) beginnt eine Abwendung von den frühen Bindungen und die
Hinwendung zu attraktiven Beziehungsobjekten außerhalb der Familie. Zunächst werden die Beziehungspartner noch
nach einem narzisstischen Schema ausgesucht, die Freundschaft mit Gleichaltrigen wird bevorzugt. Beziehungen in
diesem Alter sind latent oder manifest homosexuell: Der Freund übernimmt Teile des Ich-Ideals. So kann die
Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen Ich-Ideal und Selbsterleben und eine folgende Kränkung und Minderung
der Selbstwertschätzung vermieden werden. Diese besonderen und häufig emotional hoch besetzten Freundschaften
enden deshalb auch aufgrund unvermeidlicher Frustrationen, in denen der Freund auf gewöhnliche Proportionen
schrumpft (in der Literatur Thomas Mann: "Tonio Kröger" oder Herrmann Hesse: "Demian“). Bei den
frühadoleszenten Mädchen werden Schwärmereien, idealisierte und erotische Beziehungen festgestellt, die sich aber
eher auf ältere Männer und Frauen beziehen. Auch hier sind narzisstische Züge der Objektwahl ausschlaggebend. Die
angeschwärmten Objekte zeichnen sich durch Ähnlichkeit oder auffallende Unähnlichkeit mit den Eltern aus. In der
Frühadoleszenz werden die Eltern einer vermehrten Überprüfung unterzogen. Eine äußere und innere Loslösung setzt
ein. Ein Wechsel von Hinwendung an die primären Bezugspersonen und einer abrupten Ablehnung kommt vor. Die
innerpsychische Lösung von elterlichen Werten und Idealen labilisiert das Ich, das nun ohne die Direktiven des
Gewissens ist. Das Idealisieren oder Schwärmen für den gleichgeschlechtlichen Freund zeigt die alternative
Identifizierung in Form von homoerotischen Beziehungen (93). Die von Blos beobachtete zarte Zuwendung und
Unterwerfungsbereitschaft des Jungen zu seinem Vater stellt eine Konfliktsituation für ihn dar. Dieser Konflikt kann
nur gelöst werden entweder in totaler Opposition oder in zielgehemmter Befriedigung gemeinsamer Interessen und
echter Kameradschaft (Blos, 98). Leuzinger-Bohleber (1986, 88) meint, dass auch diese Prozesse eine
psychodynamische Quelle für eine Unterwerfungsbereitschaft unter „neue Führer“ oder die Peer-Group bilden.
3. In der eigentlichen oder mittleren Adoleszenz (etwa 15 bis 17 Jahre) führt die Abnahme der Bedeutung der Eltern
zunächst dazu, dass das eigene Selbst narzisstisch überhöht wird. Die Folge sind eine Überschätzung des Ichs, eine
Minderung der Realitätsprüfung, Empfindlichkeit und Selbstbezogenheit, überscharfe Wahrnehmung. Diese
Selbstüberschätzung und mit ihr eine verstärkte autoerotische Betätigung lassen nach, wenn der Jugendliche die
Beziehung zum anderen Geschlecht als neuem Liebesobjekt wagt. In der eigentlichen Adoleszenz erfolgt eine
Hinwendung zu heterosexuellen Beziehungsobjekten. Es kommt zur Erprobung neuer Rollen und zur Entwicklung
neuer Selbstbilder und Objektbeziehungen. Die Identitätsfrage als die hauptsächliche und teilweise quälende Frage der
Adoleszenz kommt in den Vordergrund. Die Peer-Group als Alternative zum Elternhaus wird zunehmend vorgezogen
und ermöglicht durch neue Identifizierungen, sich von der Primärfamilie wegzubewegen. Dadurch ist auch der Blick
auf gesellschaftliche Zustände hellsichtig, aber auch holzschnittartig. (ebenda).
4. In der Spätadoleszenz (etwa 18 bis 20 Jahre) kommt es – wenn es gut geht - zu einer Konsolidierung im Sinne von
zunehmender Sicherheit im Umgang mit den persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften und zu einer einheitlichen
Identität, verbunden mit einer stabilen Selbstdarstellung. In dieser Phase wird eine konstante Festlegung auf
Beziehungspartner und eine sichere sexuelle Einstellung (vorzugsweise mit dem Interesse an genitaler Befriedigung)
erreicht. Bei relativer Reife kann es noch zu Krisensituationen kommen, wenn die Integrationsfähigkeit des Ichs
versagt. Narzisstische Tendenzen werden aufgegeben, eine prosoziale Einstellung zu Gleichaltrigen und auch zu den
Erwachsenen bildet sich. Die sexuelle Identität nimmt endgültige Form an. Die eigene Struktur wird akzeptiert, es
kommt zu einem Gefühl der Identität. In der Spätadoleszenz werden schulische Fortschritte wieder mit Blick auf die
Zukunft wertgeschätzt und entsprechende Erfolge festigen den psychischen Haushalt. Auch die Sicherheit in neuen
Beziehungen trägt dazu bei, dass diese Periode eine Phase der Konsolidierung darstellt. Wie dieser Fortschritt in der
Persönlichkeitsentwicklung im Einzelnen gelingt, bleibt oft im Dunkeln. Sowohl das Ziel als auch die gesellschaftliche
Erwartung ist es, dass nach vielen Experimenten nun identifikatorische Festlegungen erfolgen: Berufswahl,
Partnerschaft, politische und religiöse Einstellungen werden festgelegt. Die Identität wird erfahrbar. Der
eingeschlagene Weg ist nicht ohne Zweifel und Schmerzen und es kommt vor, dass durch konflikthafte institutionelle
oder gesellschaftliche Erfahrungen ein neuerlicher Regressionsprozeß in Gang gesetzt wird, der zur Spaltung in Gut
und Böse, Schwarz und Weiß, von Omnipotenz und archaischer Wut führt (vgl. Leuzinger-Bohleber 1986, 90).
5. Die Postadoleszenz (21. bis 25 Jahre) stellt eine Übergangsperiode zwischen der Adoleszenz und dem
Erwachsensein dar. In ihr stellt sich die Aufgabe, die in der Spätadoleszenz gefundenen Lebensaufgaben umzusetzen.
Dazu gehört die Ausformung sozialer Rollen, die Ausprägung einer endgültigen Geschlechtsidentität, die Berufswahl
bzw. der Abschluss einer Ausbildung. Die emotionale Entwicklung geht allerdings weiter und zeigt sich in einer
Neigung zum Experimentieren z.B. im Bereich der Sexualität und in den Lebensformen. In diesem Lebensabschnitt
treten aber auch Geisteskrankheiten in ein manifestes Stadium und die Neigung zu Unfällen und Suiziden findet sich
gehäuft. Die Integrationsforderungen an den jungen Erwachsenen scheinen diesen also noch zu überfordern. In der
Postadoleszenz tauchen häufig Rettungsphantasien auf, die diese Labilität in der Integration aufzeigen: Statt die
Lebensaufgabe zu bewältigen, hofft der Jugendliche, dass andere, die Umstände, das Schicksal, dies erreichen. Ein
weiterer wichtiger Aspekt ist das Bemühen, mit den Eltern ins Reine zu kommen, eine Aussöhnung mit den elterlichen
Interessen und Haltungen bzw. dem gleichgeschlechtlichen Eltern-Imago zu erreichen.
Peter Blos hat Wert darauf gelegt, dass diese Phaseneinteilung nicht zu der Ansicht führt, dass sich die Adoleszenz in
gleichmäßigem Tempo oder in gerader Linie vollzieht. Kritisch ist für die psychoanalytische Theorie der Adoleszenz
angemerkt worden, dass der Eindruck, es handle sich bei der adoleszenten Entwicklung um eine "normative Krise"
(Erikson) durch die überwiegende Sicht von psychisch auffälligen Jugendlichen in den 60er Jahren, also in einer Zeit,
die durch negative Identitätsbildung gekennzeichnet war (Flammer 2002, 159), gewonnen wurde. Die produktive
Anpassungsleistung normal entwickelter Jugendlicher konnte so nicht hinreichend berücksichtigt werden. Allerdings
hat Erikson darauf hingewiesen, dass ein wichtiger Aspekt der Identitätsbildung bei Jugendlichen die
Übereinstimmung der persönlichen Werte und Möglichkeiten mit den sozialen Gegebenheiten ist. Dies stimmt mit der
Beobachtung überein, dass Jugendliche sich dessen sehr bewusst sind, dass sie nach außen ganz anders wirken, als sie
sich innerlich fühlen (Broughton nach Flammer 165). Auch die interaktionistischen Aspekte des Übergangs, also die
Beeinflussung des Jugendlichen durch die Dynamik familiärer Beziehungsstrukturen wurden nicht genügend
berücksichtigt (vgl. Seiffge-Krenke 1986, 25f.). Die positive Einschätzung der emotionalen Bedeutung von Eltern ist jedenfalls für die heutige Situation - zu betonen (vgl. A. Hessel etal. 1999). Es sollte sowieso der Blick von
pathologischen Entwicklungsbeeinflussungen zu den Ressourcen der Jugendlichen gelenkt werden. Dann werden
Auffälligkeiten auch als Entwicklungsreize gesehen (Rotthaus in Eckey etal., 13). Die Beeinflussung der
Adoleszenzentwicklung durch gesellschaftliche Entwicklungen (mediale Beeinflussung, genetische Veränderungen in
Richtung einer früheren Pubertät, Veränderungen in Schule und Berufsausbildung) muss berücksichtigt werden.
Fend (2005) hat darauf hingewiesen, dass die Phasentheorie in der modernen Entwicklungspsychologie zu Unrecht
vernachlässigt wird. Er gibt aber zu bedenken, dass die Konzentration auf Entwicklung als kontinuierlicher
Funktionsreifung wichtig ist. Die endogenen Vorgaben des Entwicklungsgeschehens machen deutlich, dass die
menschliche Entwicklung ein Werk der Natur ist (Fend, 101). Dabei werden die puberalen körperlichen Prozesse als
entwicklungsbestimmend gesehen und andererseits wird auf die Veränderungen im Bereich der kognitiven
Entwicklung hingewiesen.
Die biologische Entwicklung wird durch drei sichtbare Erscheinungen bestimmt durch:
1. Wachstum (Größe, Gewicht, Körperproportionen),
2. Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale (Brustentwicklung, Schambehaarung, Stimmveränderung,
Bartwachstum, Körperbehaarung)
3. Entwicklung primärer Geschlechtsmerkmale (Penis und Hoden bzw. Gebärmutter) und sexuelle Reifung im
Sinne der Menarche und Spermarche.
(vgl. Fend, 102).
Nicht weniger bedeutsam ist die Entwicklung von kognitiven Funktionen im Jugendalter. Die Veränderungen im
Denken schaffen neue Voraussetzungen für Lernen und für die aktive Bewältigung von Entwicklungsaufgaben (113).
In der Adoleszenz erreicht das Gehirn das Endstadium seiner Reifung (zwischen 14. und 18. Lebensjahr). Die
Fähigkeit des numerischen Denkens steigt, die Sprache wird differenzierter, das Gedächtnis erreicht den Höhepunkt
seiner Leistungsfähigkeit, abstrakte Begriffsbildung wird immer besser, logische Verknüpfungen werden genauer
gesehen und das räumliche Vorstellungsvermögen verfeinert sich. Die biologischen Voraussetzungen für einen raschen
Wissens- und Fähigkeitserwerb sind im Jugendalter günstig (Fend, 118).
Bedeutung der Peer-Group
Die Gemeinschaft der Gleichaltrigen (Peer-Group) hilft dem Jugendlichen, die geschilderte Veränderung in der
Adoleszenz zu verarbeiten. Sie ist Stütze bei der Ablösung, Orientierungspunkt, Austragungsort für Konflikte,
Katalysator und Brücke auf dem Weg von der Familie in neue soziale Bezugssysteme. Einerseits kann sie
Entwicklungsmotor oder Durchlauferhitzer sein (Streeck-Fischer 1992, 128). Andererseits bietet sie auch Gefahren,
kann entwicklungshemmende, -schädigende, destabilisierende oder desorganisierende Wirkung haben (Haar, 1981,
348).
Zusammenfassend kann man die Gleichaltrigengruppe in ihrer Bedeutung so sehen:
Die Gruppe als eine Zwischenstation auf dem Weg von der Familie in die Gesellschaft.
Die Gruppe als Heimat, die Geborgenheit und Zugehörigkeit bietet.
Die Gruppe als System von Normen, die Orientierung geben.
Die Gruppe als Gegenpol zur elterlichen Herrschaft.
Die Gruppe als Bollwerk gegen Autorität jeder Art.
Die Gruppe als wichtiges Übungsfeld
Die Gruppe als Stabilisator der Übergangsperiode
(vgl. Ausubel, zitiert nach Streeck-Fischer 1992, 127)
Neben den individuellen Reifungsanreizen sind die gesellschaftlichen Bedingungen für den
sensiblen Jugendlichen eine starke Beeinflussung der Persönlichkeitsentwicklung. Innerhalb
der letzten zweihundert Jahre hat sich die Prägung der Jugendgeneration verändert. Die
vorindustriellen Lebensläufe waren noch ganz durch die Bindung an die Scholle
gekennzeichnet. Die Schulbildung war abhängig von der in der Landwirtschaft nötigen
Mitarbeit der Jugendlichen, so dass sich der Schulbesuch auf wenige Stunden in den
Jahreszeiten reduzierte. Bereits mit 10 Jahren wurden Kinder als Arbeitskräfte herangezogen.
Sie lernten in der eigenen Familie oder in den Diensten einer anderen Familie ihren Beruf und
ihr Leben war bestimmt durch Schicksalsschläge, Krankheiten und Tod, wie auch durch
Missernten und wirtschaftliche Abhängigkeiten. Das Leben war nicht planbar, sondern ein
Schicksal, dem der Jugendliche ausgeliefert war. In der industriellen Gesellschaft von der
Mitte des 19. Jahrhunderts an dagegen herrschte die Armut wegen der Abhängigkeit der
Arbeiter von der Industrie und den Industriellen. Körperkraft und Gesundheit entschieden
über die Lebenschancen der Jugendlichen. Die Schulbildung und die Lehrlingsausbildung
wurden wichtiger. Mit 14 Jahren begann die Lebensarbeitszeit jedenfalls bei den Jungen. Die
Arbeit – beispielsweise in den Bergwerken und Fabriken fand in unwürdigen Verhältnissen
statt. Das Elend der Kinder und Jugendlichen im Zeitalter der Industrialisierung hatte Folgen
wie Armut, Verwahrlosung, Delinquenz und kurze Lebenserwartung. Während wir heute
vielfältige Anteile der Identitätsentwicklung sehen können, war die Situation der Jugend im
neunzehnten und im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert vorwiegend durch Arbeit (und
durch Arbeitslosigkeit) bestimmt. Jugend als eigene Gemeinschaft wird durch die
Jugendbewegung Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erlebt, gesehen und dokumentiert.
Aber erst nach dem zweiten Weltkrieg, im goldenen Zeitalter, kommt es zu einem
entscheidenden Wertewandel von der Pflichtethik zur Selbstverwirklichungsethik. Das
bedeutete auch den Verlust der Selbstverständlichkeit von Tugenden wie Fleiß,
Ordnungsliebe, Disziplin und Verantwortungsbewusstsein zugunsten von hedonistischen (an
sinnlicher und geistigem Genuss interessierten) Orientierungen und von Ansprüchen an
Selbstverwirklichung und Selbständigkeit (Klages nach Fend, 165).
Die Bedeutung von Schule und Arbeitsplatz soll hier besonders hervorgehoben werden:
Leistungsdruck, fehlende innere Stabilität, hohes Selbstideal, fehlende Bodenhaftung, unklare
Lebensperspektive, finanzielle Unsicherheit.
Problemfall: Die 18jährige Jugendliche bewirbt sich als kaufmännische Angestellte in einem
Kfz-Betrieb. Der Vorgesetzte ist von ihrem charmanten Auftreten und ihren guten Schulnoten
beeindruckt. Aber bald kommt es zu Problemen, weil die junge Frau nicht pünktlich zum
Dienst erscheint und sich wegen Krankheit mehrmals für einige Tage abmeldet – und das in
der Probezeit. In der Beratung wird deutlich, dass Konflikte mit dem Freund dahinterstecken,
die sie sehr beschäftigen und belasten. Es wird aber auch deutlich, dass sie nicht in der Lage
ist, sich selbst Aufträge zur Arbeit zu holen, wenn sie nicht mit Anweisungen beschäftigt wird.
In der Beratung zeigt sie ihre grundsätzliche Ambivalenz gegenüber der Arbeitsstelle, es ist
ihr häufig langeweilig, sie findet die Mitarbeiter blöd. Sie neigt dazu, das Ende der
Beschäftigung als Lösung für ihr Gefühlschaos. Diese Haltung wird auch am Arbeitsplatz
deutlich. Der Vorgesetzte meint, „sie passt nicht in diesen Betrieb.“
Eine andere 17jährige bekommt einen Praktikumsplatz in der Klinik. Nach zwei Wochen wird
sie wieder hinausgesetzt. Die Klinik hält sie nicht für belastungsfähig. Die Jugendliche
berichtet in der Beratung, dass die Stationsschwester sie „auf dem Kieker“ hatte und ihr
vorgeworfen hat, dass sie bei der Übergabe am Morgen nicht aufgepasst hat und deshalb
einige Aufgaben „vergessen“ hat. Die Jugendliche hat sich daraufhin gewehrt und in einer
selbstbewusst wirkenden Art darauf hingewiesen, dass sie erst seit kurzem im Dienst sei und
von der Stationsschwester unzureichend eingeführt worden sei. Sie macht sich über das Ende
des Praktikums nicht zu viele Gedanken: ihr Hund, ihr Pferd und ihr Freund sind ihr
wichtiger. Die Mutter, die den Kontakt mit dem Berater hergestellt hat, macht sich Sorgen,
weil die Tochter ausgezogen ist und bei ihrem Freund lebt.
Die Familie und die Beziehung der jungen Menschen zu ihren Eltern beeinflusst ebenso
die Persönlichkeitsentwicklung und ist maßgeblich mit verantwortlich für das Gefühl des
Jugendlichen, nun erwachsen zu sein.
Familien haben sich in allen westlichen Gesellschaften in den vergangenen Generationen
verändert. Sie sind heute häufig klein und umfassen nur noch drei oder zwei Personen,
nämlich ein Elternteil und ein Kind. Sie sind häufiger von Trennungen und Scheidungen
betroffen und setzen sich durch neue Verbindungen zu einer neuen Familienlandschaft
zusammen. Trotzdem stellt der 7. Familienbericht der Sachverständigenkommission der
Bundesregierung 2006 fest, dass die Familien für die weitaus größte Zahl aller Jugendlichen
auch heute den wichtigsten sozialen „Heimathafen“ bildet und die Jugendlichen selbst
bewerten die Familie als sehr bedeutend für ihr persönliches Glück (76% (2006: 72%)
meinen, dass man eine Familie braucht, um glücklich leben zu können) (16. Shell
Jugendstudie Jugend 2010, 17ff., 15. Shell J.St. 2006, 49ff.). Während bis zu den 50er Jahren
des vergangenen Jahrhunderts Unterordnung und Gehorsam bei den Eltern an erster Stelle
stand und die Ablösung der Kinder von ihren Eltern konfliktreich geschah, haben die Eltern
zunehmend die Stärkung der Entscheidungsfähigkeit der Kinder zum Ziel und die Ablösung
geschieht in Absprache mit dem Elternhaus (Hurrelmann 2005, a.a.O. 58). Diese positive
Entwicklung hat allerdings auch Nachteile für das Gefühl des jungen Menschen, erwachsen
zu sein und eine neue Identität entwickelt zu haben. Noch nie sind Jugendliche so lange wie
heute in der Herkunftsfamilie geblieben (Nave-Herz/Sander 1998, a.a.O. 64). So leben 73%
der westdeutschen im Gegensatz zu 69 % der ostdeutschen Jugendlichen noch bei ihren
Eltern. Während fast alle Jugendlichen unter 18 Jahren noch im „Hotel Mama“ wohnen, so
erhöht sich ab diesem Alter der Anteil der Jugendlichen, die allein, in Wohngemeinschaften
oder mit ihrem Partner zusammenleben. Der letztere Grund der Trennung von den Eltern
bezieht sich eher auf die Mädchen, die noch früher aus dem Elternhaus ausziehen, um mit
ihrem (häufig älter als 25 Jahre alten) Lebenspartner zusammenzuleben. Unter den
Nesthockern dominieren quantitativ die jungen Männer. (76% der männlichen Jugendlichen
im Alter von 12 bis 25 Jahren und 67% der weiblichen Jugendlichen leben noch bei ihren
Eltern) (a.a.O. 64).
Der 22jährige hat nach dem Abitur ein paar Bewerbungen geschrieben, dann aber resigniert
und sich hinter seinen PC verzogen. Die alleinerziehende Mutter versucht ihn zu bewegen,
aber er wehrt sich gegen ihr Drängen. Er wird ständig dicker, weil er sich nicht bewegt und
viel zu viel isst. In einer längeren Beratung der Mutter wird die räumliche Verselbständigung
des jungen Mannes geplant. Er macht der Mutter das Herz schwer, weil er sagt, dass sie ihn
loswerden wolle, während sie doch sieht, dass er keine Fortschritte macht, solange er in ihrer
Wohnung hockt und sie für ihn mit sorgt. Der Einzug in eine Wohnung gelingt und nun schafft
es der junge Mann auch, sich für eine Anstellung als Pflegehelfer zu interessieren und eine
entsprechende Ausbildung zu beginnen.
Je höher die soziale Schicht ist, desto zufriedener äußern sich Jugendliche gegenüber ihren Eltern. 16. Shell
Jugendstudie 2010: „Die Mehrheit möchte einmal eine eigene Familie und Kinder haben, die sie dann genauso
oder doch so ähnlich erziehen wollen, wie sie selbst erzogen worden sind.“ (43) Gegen den Trend sinkt diese
Zustimmung allerdings bei Jugendlichen aus der Unterschicht von 46 auf 40% (18). Aber: Die jungen Frauen
und noch mehr die jungen Männer verschieben den Auszug aus dem Elternhaus und zögern die selbständige
Gründung eines eigenen Familienhaushaltes hinaus (44). Gleichwohl geben junge Erwachsene, die ausgezogen
sind an, dass sie nun besser mit ihren Eltern auskommen. Bei den 18-21jährigen lebt fast jeder Zweite (47 %) in
einer Partnerschaft, bei den 22-25jährigen eine Mehrheit (59 %) (63).
Situation der Eltern: Empty Nest und neue Freiräume: Für die Eltern ist allerdings der Auszug
der Jugendlichen eine schwierige Situation. Sie haben eben noch Sorgen gehabt, dass sie ewig
an das „Riesenbaby“ gebunden sein werden, nun aber merken sie, dass sie ihren Liebling auch
gebraucht haben und kommen angesichts des leeren Nestes in Schwierigkeiten mit der
eigenen Lebensperspektive. Es gibt neue Freiräume, aber wie kann man sie nutzen. Über
lange Zeit war ja diese persönliche Frage der Versorgung des großen Kindes untergeordnet.
Identitätsentwicklung als Krise und Chance
Mit der Einbeziehung solcher Beeinflussungen wird die Pubertät nicht mehr als eine innere
psycho-somatische Veränderung gesehen, sondern als Entwicklung der Persönlichkeit (Haar,
2010). Sigmund Freud hat sie als Antrieb für den Kulturfortschritt gesehen und dabei die
Auseinandersetzung der Generationen im Blick gehabt. Ernest Jones (1922) weist auf die
Wiederholung von Entwicklungsschritten der frühen Kindheit (1.-5. Lebensjahr) auf einem
neuen Niveau hin, Anna Freud (1958) zeigt die Pubertät als inneren und äußeren Kampf, als
Phase notwendiger Disharmonie und gleichzeitig als Zeit der Heilung schwerer innerer
Konflikte (vgl. Bohleber, 11f.). Eissler (1958) sieht, dass die Adoleszenz die in der Latenz
erworbenen Strukturen wieder verflüssigt und dem Kind die Möglichkeit gibt, infantile
Konfliktlösungen zu revidieren. Erik Erikson (1953; 1956; 1968) dagegen verschiebt das
Forschungsziel von der Libidotheorie, also dem Schicksal der sexuellen Triebe auf die
Bildung der Ich-Identität.
Identitätsgefühle sind das Ziel gerade von Jugendlichen, aber aufgrund ihrer
entwicklungsspezifischen Unsicherheit und Labilität besonders schwer zu erreichen. Identität
ist ja die Übereinstimmung von inneren und äußeren Ansprüchen an die eigene
Persönlichkeit. Sie gibt das Empfinden, in sich selbst zu ruhen. Sie verleiht die Sicherheit, der
zu sein, für den einer sich selbst hält, aber auch von anderen eingeschätzt wird. Dabei kommt
es nicht nur auf die seelische Ausgeglichenheit an, sondern auch auf das stimmige
Körpergefühl und die kognitive Einschätzung des Selbst. In Kürze hat das Erik H. Erikson
(1970) ausgedrückt: Zur Identität gehöre „das Gefühl, Herr seines Körpers zu sein, zu wissen,
dass man ‚auf einem rechten Weg’ ist, und eine innere Gewissheit, der Anerkennung derer,
auf die es ankommt, sicher sein zu dürfen“. Neben einem inneren Sich-Selbst-Gleichsein
gehört zur Identität auch das Gefühl einer Übereinstimmung mit der gruppenspezifischen
Eigenart der Peers, der Gleichaltrigen.
Idealerweise steht also am Ende der Adoleszenz:
Identität des jungen Erwachsenen:
die Sicherheit, ein sexuelles Wesen mit einem bestimmten Geschlecht zu sein, mit der eigenen Körperlichkeit einverstanden zu sein,
das Bewusstsein, ein einzigartiges Wesen zu sein, das auch außerhalb des Systems Familie leben kann,
die Fähigkeit zur Gestaltung von stabilen Beziehungen und die Möglichkeit, Freunde, Kollegen, Nachbarn als soziales Netzwerk sehen zu
können,
der Beginn einer beruflichen Entwicklung und eines realistischen Lebensplans verbunden mit dem Gefühl von Kontinuität und
Zukunftschancen und das Empfinden, materiell abgesichert zu sein,
die persönliche Orientierung an Normen und Werten, der Glaube an etwas,
die Anerkennung dieser persönlichen Qualitäten durch die Gesellschaft.
Die Identitätssuche des jungen Menschen ist als Versuch einer Ausgleichung von inneren
Vorstellungen über das Selbst und äußeren Anforderungen und Modellen eine mächtige
Triebkraft in der Adoleszenz. Aber gerade die gesellschaftlichen Wandlungen zeigen, dass der
Jugendliche in einer modernen Gesellschaft mit immer neuen Situationen, Frustrationen
(Lehrstellenmangel) und Zukunftsaussichten (Perspektivelosigkeit) und Wertewandel
kämpfen muss. Insofern ist von dem Einzelnen eine permanente Identitätsarbeit im Sinne von
Vermittlung unterschiedlicher Ansprüche und eine Bereitschaft zur Vermischung
unterschiedlicher Lebenskonzepte gefordert (vgl. Ziemer, S. 201).
Dabei müssen Brüche in der Biographie, in der Ich-Ideal-Konzeption und im Lebensentwurf
hingenommen werden. (Henning Luther, Identität und Fragment, in: ders.: Religion und
Alltag, Stuttgart 1992, 160-182).
Die Selbstdeutung, also die Fähigkeit seinem Leben selbst eine Gestaltung zu geben, spielt in
der Persönlichkeitsentwicklung des Jugendlichen eine wichtige Rolle. Das beginnt u.U. mit
dem Blick des in die Pubertät geratenden Jugendlichen in den Spiegel und dem Erleben, dass
er sich dem Spiegelbild gegenüber fremd fühlt. Von diesem Zeitpunkt an, der das Ende der
Kindheit und der unreflektierten Bindung an die Eltern darstellt und die Auseinandersetzung
mit dem ganz eigenen Bild, von diesem Zeitpunkt an steht die Frage nach dem Selbst im
Gegenüber eine Rolle: Was macht mich aus, wie kann ich mir selbst angenehm werden, mit
mir einverstanden sein, den Blick der Gleichaltrigen aushalten, wie kann ich mich in der Welt
verstehen und verständlich machen. In diesem Prozess gibt es Gefühle von Ambivalenz
gegenüber der regressiv gewünschten, aber auch progressiv abgewehrten Bindung an die
Eltern, von Skrupeln und Schuldgefühlen, von dem Empfinden nicht richtig zu sein („nicht
Fisch und nicht Fleisch“), eigentlich adoptiert und nicht das Kind der Eltern zu sein, von
narzisstischer Idealisierung und Entwertung des Selbst. Diese Selbstentfremdung gipfelt in
einer Entfernung von der (religiösen) Überzeugung, als Geschöpf gewollt und am richtigen
Platz zu sein.
Eltern, Berater und Seelsorger können durch ihre annehmende Haltung, mehr noch als durch
verbale Klärung, dem Jugendlichen vermitteln, dass er mit all seiner Unvollkommenheit doch
ein liebenswertes und annahmewürdiges Wesen ist.
Bei dem 17jährigen Felix, der für sein Alter ein ausgebuffter Geschäftsmann ist, fiel mir das
zunächst schwer. Felix konsumiert regelmäßig Haschisch und verkauft es auch an seine
„Freunde“. Freunde sind es – wie er dem Berater erklärt –, weil sie sich im Rausch gut mit
ihm unterhalten. Aber er hat die Regie in der Beziehung und nutzt sein Wissen und den Stoff,
den er anbietet, eiskalt aus, um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen und ihre Naivität
auszunutzen. Er ist der coole King und sie sind „Freunde“ und Opfer zugleich. Als Berater
empfinde ich eine Mischung aus Verachtung und Faszination für den jungen, sportlich
gebauten Mann mit seinem lässigen Verhalten und seinem offenen und kaltblütigen Reden.
Auf der einen Seite neige ich dazu diese Art von Doppelmoral und Machtkalkül zu verurteilen
und auf der anderen Seite fasziniert mich das, was mein Klient macht: Der scheint keine
Angst und keine Skrupel zu kennen und wagt sich nicht nur an Haschisch heran, sondern
probiert auch mal Ekstasy und nimmt eine Nase Kokain. Aber er balanciert es scheinbar
geschickt so, dass er nicht den harten Drogen verfällt. Es macht irgendwie auch Spaß ihm
zuzuhören, wenn er seine Überlegenheit und Gerissenheit gegenüber den naiven
Gleichaltrigen schildert. Ich werde als Berater zum Mitwisser und auch irgendwie zum
Mitverantwortlichen gemacht, aber ich habe auch ein mulmiges Gefühl dabei. In einer der
nächsten Stunden erzählt der Jugendliche über seine seelischen Probleme mit Drogen und
Beziehungen. Er kann bei den Mädchen im Ort nicht mehr ankommen, weil alle wissen, dass
er dealt. Mit denen von außerhalb bekommt er keinen Kontakt, weil er mit Alkohol lallt, „
prollig“ wirkt, abgelehnt wird und mit Pepp oder Teilchen u.a. (Rauschgift also) cool und
überlegen wirkt, aber die Frauen das arrogant und selbstbezogen finden und er selbst in dem
Moment auch keinen Kontakt mehr braucht. Wenn er aber im Rausch Liebe machen will, ist
er impotent und wenn er ohne Rausch ein Mädchen anspricht, fühlt er sich ungelenk, stottert
und wirkt wie ein Verlierer. Ich werde also hinter die narzisstische Maske geführt und
entdecke den nach Beziehung hungernden Menschen. Wäre ich mit Verachtung auf Abstand
geblieben, so hätte ich nicht mitempfinden können, wie sehr der junge Mann die Maske
brauchte. Wäre ich in meiner Faszination stecken geblieben, hätte ich keine Offenheit und
kein Interesse an dem Menschen und seinen Beziehungswünschen zeigen können.
Wenn also dieser 17jährige Drogendealer zwischen gefühlsisoliertem Geschäftssinn und
moralischer Skrupulosität hin und her schwankt, hilft ein nicht moralisierender, aber auf die
Unsicherheit als Zeichen von Menschlichkeit eingehender Berater, das Ich zu stützen, wieder
an sich zu glauben und vielleicht auch darauf zu vertrauen, dass es einen Gott gibt, der einen
annimmt, auch wenn das Geschäft ein Irrtum und ein Fehler ist und bleibt. Gott nimmt nicht
die Sünde an, sondern den Sünder.
Glaube an Gott oder Vertrauen auf Gott kann zur Entlastung beitragen, wenn der Jugendliche
eigentlich meint, selbst alles im Griff haben zu müssen und sich selbst begründen zu können.
Glaube an Gott kann Entlastung der anstrengenden Suche nach Identität (Klessmann S. 254)
sein.
Das bedeutet auch, dass der von Erik H. Erikson geprägte Begriff der „Identität“ von einer theologischen oder
besser religiösen Einstellung her in Frage gestellt wird. Dazu stimmt nun wiederum die Analyse unserer Zeit
durch Philosophen und Soziologen. Ausgehend von dem Philosophen Michel de Mantaigne der im 16.
Jahrhundert lehrte, wird von den Theoretikern der Postmoderne gesagt, „daß der Mensch von sich selbst nichts
Ganzes, Einheitliches und Festes auszusagen habe. Er sei aus lauter Flicken und Fetzen zusammengestückt und
es finde sich ebensoviel Verschiedenheit zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und anderen.“ (zitiert
nach Rolf Schieder, Seelsorge in der Postmoderne, WzM, 46. Jg., S. 26-43)
Diese Beschreibung, die mich an die Zerrissenheit von Felix und an die anarchische Ungebundenheit und
Kompromißlosigkeit von anderen Jugendlichen erinnert, wird von Vertretern der Postmoderne nicht mehr als
Dissoziation, Persönlichkeitsstörung, Identitätsproblematik oder Mangel an Charakterstärke diagnostiziert,
sondern als innere Vielfalt gesehen. Man entdeckt die Chancen des Zerfalls einer eindeutigen Identität neu. Es
wird ein neuer Identitäts-Begriff geprägt, nämlich der der „Patchwork-Identität“, wie Heiner Keupp (H. Keupp,
Die verlorene Einheit, oder: Ohne Angst verschieden sein können, in: Universitas 9 (1992), 867) sie genannt hat.
Die von uns diagnostizierten Defizite werden von ihm als „Zugewinn kreativer Lebensmöglichkeiten“
bezeichnet. Den Patchwork-Identitäten wird dabei durchaus eine innere Kohärenz zugesprochen, die sich aus
einem – wenn auch unbestimmten - Gefühl speise. Diese Patchwork-Kohärenz sei eine Kohärenz ohne
„Identitätszwang“, ein kreativer Prozess von Selbstorganisation. Auf diese Weise wird der Mensch sich selbst
zum Kunstwerk. An die Stelle des Zwangs zur Identität ist der ästhetische Imperativ getreten: Gestalte dein
Leben als ein Kunstwerk, als ein Kunstwerk, das im Werden ist. Rolf Schieder (aaO, S. 34), dessen Schilderung
ich hier übernommen habe, gibt allerdings gegenüber dieser positivistischen Sicht zu bedenken, dass es sich hier
nicht um einen Akt der Befreiung handelt, sondern um eine Transformation gesellschaftlichen Zwangs: Äußere
Pluralisierung erzwingt innere Pluralisierung (er zitiert W. Welsch, Subjektsein heute. Überlegungen zur
Transformation des Subjekts, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 39 (1991), 347-365.355).
Die Shell Jugendstudie 2010 bestätigt, dass Jugendliche im Rahmen einer zunehmenden Individualisierung eher
Wahlbiografien an Stelle von Normalbiografien aufweisen. (a.a.O. 44).
Wir sind gezwungen, Verunsicherung und Mangel an Eindeutigkeit auszuhalten. Freizügigkeit und
Größenvorstellungen sind dann nicht mehr pathologisch zu verstehen, sondern als tatsächliche Vielfalt von
Möglichkeiten. So wird uns das Leben auch in der Werbung angepriesen: „Die Freiheit nehm ich mir“ (mit Visa)
und „Nichts ist unmöglich“ (mit Toyata).
Beratung und Psychotherapie können dem Individuum gegenüber dieser Vielfalt an Möglichkeiten Hilfe zum
Selbst-Sein-Können leisten wie Schieder (aaO, 42) sagt. Eindeutige Pathologisierungen aber verbieten sich bei
dieser Art von Hilfe und das Verstehenlernen hat seine Grenzen.
Wer als Berater und Seelsorger mit einem Jugendlichen wie Felix zu tun hat, muss auch sich
selbst im Blick haben:
Das Leben des Klienten wird in der intensiven Beziehung zwischen ihm und dem Berater
zugänglich und wirft seinen Schatten auf den Erwachsenen,
er muss sich mit den Größenvorstellungen seines Klienten auseinandersetzen
muss
- er muss sich mit der Angst seines Klienten auseinandersetzen muss und sich
bemühen, nicht zu sehr verstrickt und eingebunden und als Krücke missbraucht
zu werden.
er muss sich mit den Machtbedürfnissen des jungen Menschen befassen muss und
darf nicht in den Machtkampf einsteigen,
er muss sich mit den verschlingenden Bindungswünschen des Klienten vertraut
machen (die im Untergrund sind), ohne sich schroff abzugrenzen oder sich
einwickeln zu lassen.
Dazu braucht er selbst Sicherheit, Gelassenheit und Selbstbewusstsein, aber auch Einfühlung
in Angst, Hunger und Herrschaftsbegehren, um abgegrenzt zu bleiben und weder zu
kontrollierend (beherrschend) noch zu unsicher zu sein. Hilfreich für den jungen Menschen ist
dann eben, wenn der Erwachsene nach einer ständigen Ergänzung der eigenen Persönlichkeit
bei sich arbeitet, statt in eine Kollusion (also ein die eigenen Defizite ausgleichendes
Zusammenspiel) mit dem Heranwachsenden zu verfallen.
-
Gute Erfahrungen habe ich als Therapeut und Berater mit Fremdbeispielen als Deutungshilfen
gemacht. Jugendliche sind auf der Suche nach Modellen, an denen sie ihre eigene Haltung
und ihre Einstellung messen können. Wenn der Berater oder die Beraterin erzählt, was er von
anderen Menschen gehört hat oder welche Erfahrungen er gemacht hat, deutet er auch die
Situation des jungen Menschen, ohne direkt auf eine Veränderung hinzusteuern. Er macht ein
Angebot an möglichen Verhaltensweisen oder Denkweisen, mit dem der Jugendliche autonom
umgehen kann. Dieser kann das Modell verwerfen oder als interessante Variante für sich
prüfen. So ist es möglich, den Jugendlichen für Verhaltensmöglichkeiten in
zwischenmenschlichen Beziehungen zu sensibilisieren. Vergleichbar mit der von mir
beschriebenen psychologischen Beratung von Jugendlichen erscheint mir das von U.Streeck
und A.Streeck-Fischer dargestellte Verfahren einer psychoanalytisch-interaktionellen
Therapie ( U.Streeck/A.Streeck-Fischer 2009, 609). Sie haben auch anschaulich dargestellt,
wie die Bearbeitung der Beziehungserfahrungen in einer ich-stützenden, kritischreflektierenden und empathisch-haltenden Therapie aussehen kann. Ein Auszug aus einer von
ihnen aufgezeichneten Therapiesequenz kann das zeigen.
Der Jugendliche berichtet über Beziehungen, an denen er beteiligt war. Er spricht
beispielsweise darüber, wie er sich einer anderen Person gegenüber verhalten hat oder zu
verhalten beabsichtigt oder wie er wahrgenommen, erlebt und verstanden hat, dass sich eine
andere Person ihm gegenüber verhalten hat.
Der junge Patient, der unter anderem wegen diverser funktioneller Beschwerden und
andauernder Verhaltensstörungen mit einer Neigung zu gewalttätigen Impulsdurchbrüchen
zur psychotherapeutischen Behandlung zugewiesen wurde, berichtet, dass der Meister – der
Jugendliche arbeitet als Lehrling in einer großen Autowerkstatt – ihn zum wiederholten Mal
vor allen anderen „angebrüllt“ hat, weil ihm ein kleiner Fehler unterlaufen sei, und dass er
sich dadurch gedemütigt gefühlt hat. Während er davon spricht, scheint er zwischen
Resignation und ohnmächtiger Wut zu schwanken. Er hätte „dem Typen am liebsten einen
Schraubenschlüssel ins Kreuz geschmissen“. Therapeut: „Na, gut, dass Sie’s nicht getan
haben und ihr Verhalten haben kontrollieren können. War vermutlich nicht ganz leicht, die
Wut auszuhalten.“
Mit dieser Einlassung gibt der Therapeut in Identifikation mit dem Jugendlichen diesem
einfühlsam Halt für die überfordernden Wutimpulse (war vermutlich nicht ganz leicht, die
Wut auszuhalten) und stützt gleichzeitig sein Steuerungsinteresse (gut, dass Sie ihr Verhalten
kontrollieren können)
Im weiteren Verlauf der Therapie geht es darum, ob es für den Jugendlichen eventuell noch
andere Möglichkeiten geben könnte, mit derartigen Situationen mit seinem Vorgesetzten
umzugehen, ohne Gefahr zu laufen, entweder gewalttätig zu werden oder aber in Resignation
zu verfallen. Patient: Vielleicht sollte ich dem mal so richtig die Meinung sagen. Therapeut:
Hm. Was würden Sie dann sagen? Patient: Dass er ein verdammtes...ein Nazi ist. (Pause)
Therapeut: Ernsthaft? Patient: Fänd’ ich schon nicht schlecht. Therapeut: O.K., ja... Nur
frag’ ich mich, wie der das aufnehmen würde und was das dann möglicherweise für Folgen
hätte.
Mit der Rückfrage: “Ernsthaft?“ fordert der Therapeut zur Überprüfung des Impulses auf. Mit
dem Nachsatz: Nur frag’ ich mich, wie der das aufnehmen würde und was das dann
möglicherweise für Folgen hätte, gibt er dem Jugendlichen die Möglichkeit, sich in sein
Gegenüber hinein zu versetzen und eine prospektive Sicht der Handlungsfolgen zu versuchen.
Therapeut: Wenn ich versuche, mich an Ihre Stelle in dieser Situation zu versetzen, würde es
mich nach allem, was Sie über Ihren Lehrherrn berichtet haben, möglicherweise ziemlich in
den Fingern jucken, dem so etwas zu sagen, um ihm eins überbraten. Aber ich würde es nicht
machen, weil ich damit rechnen würde, dass das die Sache eher noch schlimmer für mich
machen würde.
Hier stellt sich der Therapeut als Realperson dem Jugendlichen vor und gibt eine alternative
Meinung ab.
Dieser Auszug aus dem Fallbeispiel von U. Streeck und A. Streeck-Fischer (610f.) zeigt gut
auf, dass der Therapeut sich in einer interaktionellen Übertragung mit dem Jugendlichen
befindet und ihn annehmend, haltend und reflektierend begleitet, ohne sein Verhalten oder
seine Gedanken zu bewerten. Er überprüft mit ihm die Beziehungserfahrungen und bemüht
sich um Zurückhaltung. Er vermeidet pädagogische Leitungsversuche oder Deutungen, die als
besserwisserisch oder manipulierend aufgefasst werden könnten. Er fragt nach, aber er
hinterfragt nicht auf kränkende Weise. Er zeigt sich an den Beziehungserfahrungen des
jungen Menschen interessiert.
Überhaupt kann Beratung in diesem Alter den jungen Menschen auf seine Rolle in
Beziehungen hinweisen und die Beziehungserfahrungen mit ihm überprüfen, Alternativen
aufzeigen, Kränkungen verarbeiten helfen und angemessene Reaktionen entwickeln helfen.
Die Erfahrung in dieser und in anderen Beratungen von Jugendlichen und jungen Menschen
lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Merkpunkte für die Beratung von Jugendlichen:
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Es ist wichtig, ein Arbeitsbündnis durch authentischen und die Realbeziehungsaspekte
berücksichtigenden Kontakt vorzubereiten.
Dabei zeigt BeraterIn ein Verhalten, dass die Aktivität des Jugendlichen stärkt.
Die Verabredung einer Probezeit kann dazu helfen.
Während für das Kind das Spiel und für den Erwachsenen die Verbalisierung
bevorzugte Ausdruckmittel sind, ist es für den Jugendlichen das Agieren. BeraterIn
kann hier den Ausdrucksgehalt und auch die Regressionsneigung des Jugendlichen
beobachten. Agieren ist die neben dem Sprechen bevorzugte Ausdrucksform
Jugendlicher.
Eine reguläre Form adoleszenten Verhaltens ist die Aggression als Kontaktmittel. Sie
überspielt die Schwierigkeiten der Identitätsfindung des Jugendlichen.
Die Infragestellung BeraterIn oder SeelsorgerIn durch den Jugendlichen ist Ausdruck
dessen Misstrauens und ist zeitweise schwer auszuhalten.
BeraterIn muss ständig damit rechnen, auf seine Vertrauenswürdigkeit hin getestet zu
werden.
Neben der Beachtung der Übertragungsphänomene ist die Bereitschaft von BeraterIn
wichtig, eine Realbeziehung zuzulassen, die dem Jugendlichen Orientierung gibt.
Dazu gehört die Fähigkeit, eine echte Anteilnahme an den Interessen der Jugendlichen
erkennen zu lassen.
Die Beratung ist von einem Wechsel von Öffnung und vertrauensvoller Kooperation
zu Protest und misstrauischer Abgrenzung geprägt. ("sandwiched").
Defensive Passivität dient als Abwehr dazu, infantile Bindungswünsche zu steuern.
Intellektualisierung wird zur Gefühlsabwehr gebraucht.
Probleme des Jugendlichen im Sinne einer Körperschemastörung (Irritation durch
schlaksige Körperbewegungen, veränderte Körperformen etc.) können durch die
empathische Einstellung von BeraterIn gemildert werden.
Idealisierung des Beraters bzw. der Beraterin ist die Folge von narzisstisch getönten
Übertragungsformen. Mit einer folgenden Entwertung muss gerechnet werden.
Die durch eine Übertragung sich verstärkenden Abhängigkeitsgefühle des
Jugendlichen bilden eine Gefahr für seine Ich-Autonomie und Ich-Identität und führen
zu Widerständen gegen die Beratung.
Die Inszenierung des Gegeneinanders von mütterlich/väterlichem Erwachsenem und
autonomem Jugendlichen führt aber zum Kernthema der Beratung Jugendlicher: ihrer
eigenen Ambivalenz gegenüber dem Erwachsenwerden.
Das Zuhören von BeraterIn und SeelsorgerIn kann eine Aufnahme von
Spannungszuständen des Jugendlichen sein, die diesen entlasten. Die gelassene
Haltung des Erwachsenen bedeutet dann für ihn, dass man solche Spannungen
aushalten kann.
Bindung in einer therapeutischen Beziehung ist die Grundlage von Weiterentwicklung
der Persönlichkeit und von Heilung.
Rüdiger Haar
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