Kinder mit Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung Ein Kind mit „nur“ Problemen? Prüfungsleistung im Fach Psychologie Im Fachbereich Sozialwesen an der Fachhochschule Fulda vorgelegt von Silke Mailand Erster Prüfer: Prof. Dr. Christian Schulte-Cloos Zweiter Prüfer: Prof. Dr. Michael Wolf Fulda, Januar 2000 Inhaltsverzeichnis ____________________________________________________________________________ Inhaltsverzeichnis 1. Einführung in die Thematik 1 2. Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung 3 2.1 Was ist Aufmerksamkeit? 3 2.2 Erscheinungsbild einer Aufmerksamkeitsstörung 4 2.3 Diagnose 5 2.4 Ursachen von Aufmerksamkeitsstörung 9 2.5 Zusammenfassung 12 3. Sekundärprobleme 14 3.1 Lernstörungen 14 3.2 Teilleistungsstörungen 14 3.3 Soziale Schwierigkeiten 15 3.4 Zusammenfassung 16 4. Familie 18 4.1 Eltern-Kind-Beziehung 19 4.2 Alltägliches Zusammenleben 21 4.2.1 Klare Anweisungen 23 4.2.2 Schwierige Situationen 23 4.2.3 Lob und Anerkennung 24 4.2.4 Hausaufgaben 25 4.3 Eigenen Freiraum schaffen 26 4.4 Fähigkeiten und Talente 27 4.5 Zusammenfassung 27 Inhaltsverzeichnis ____________________________________________________________________________ 5. Therapie 29 5.1 Verhaltenstherapie 30 5.2 Medikamentöse Behandlung 33 5.3 Motorische Übungsbehandlung (Psychomotorik) 34 5.4 Zusammenfassung 35 6. Schlußbetrachtung – Ein Kind mit „nur“ Problemen? 37 7. Literaturverzeichnis 39 Erklärung 40 Einführung in die Thematik 1 ____________________________________________________________________________ 1. Einführung in die Thematik In unserer heutigen Gesellschaft sind viele Kinder lebhaft, zappelig, impulsiv, aufgedreht, unruhig, unaufmerksam, unkonzentriert, etc. Sie können nicht die Zeit abwarten, bis sie an der Reihe sind, platzen mit Antworten heraus und scheinen geradezu „kleine Tyrannen“ zu sein. Sie wissen nicht wohin mit ihrer Energie und haben einen extremen Bewegungsdrang. Sind diese Kinder dann schon hyperaktiv (überaktiv)? Ab wann sind sie hyperaktiv? Gibt es zu wenig Möglichkeiten für diese Kinder, sich einmal richtig auszutoben? Leben sie in einer Stadt, die kaum noch Spielmöglichkeiten bietet? Nutzen sie dann nicht nur die Gelegenheit, ihre überschüssige Energie zu verpulvern? Oder ist es eine Folge der heutigen Konsumwelt? Wissen die Kinder nicht mehr, sich sinnvoll und ausgeglichen zu beschäftigen? Was ist mit der Gesellschaft? Stellt diese zu hohe Anforderungen an die Kinder? Können die Kinder in der heutigen Zeit noch Kinder sein? Wenn man mit Kindern arbeitet, sieht man häufig die oben beschriebenen Verhaltensweisen. Dabei stellt man sich solche Fragen, Warum...?, Weshalb...?, Was...?, Wie...?, und versucht, eine Lösung zu finden. Auch wir Sozialpädagogen/innen arbeiten in den verschiedensten Aufgabenfeldern mit solchen Kindern. Natürlich ist es dabei wichtig, jedes Kind individuell zu betrachten. Viele Kinder sind einfach nur lebhaft, doch einige brauchen sicherlich Hilfe. Darum ist es wichtig, eine gezielte Diagnose zu stellen. Wie bekomme ich diese? Was sind die Kriterien einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung? Die Diagnose sollte nicht zu voreilig gestellt werden, sondern ist sorgfältig zu überdenken. Schließlich möchte man das Kind vor einer unnötigen Stigmatisierung bewahren. Ist die Diagnose erst einmal gestellt, kann sie nicht so schnell wieder rückgängig gemacht werden. Das Thema weckte mein Interesse immer mehr und ich begab mich auf die Suche nach Literatur. Dabei stellte ich fest, daß sich in diesem viel Bereich gewandelt hat. Aus dem Grund der Aktualität werde ich meine Arbeit hauptsächlich auf zwei Bücher stützen: zu einem auf Lauth u.a. 1999: Einführung in die Thematik 2 ____________________________________________________________________________ „Rastlose Kinder, ratlose Eltern“ und zum anderen auf Neuhaus 1999: „Das hyperaktive Kind und seine Probleme“, denn so kann ich sicherstellen, daß ich auf die letzen veröffentlichten Erkenntnissen aufbaue. Beide Bücher sind erst 1999 korrigiert worden und beschreiben diese Störung mit den verbundenen Konsequenzen für das Verhalten der Kinder sehr ausführlich. In meiner Arbeit gehe ich nur auf die Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität ein und verwende der Einfachheit halber, den Begriff Aufmerksamkeitsstörung. In meinen zweiten Kapitel gehe ich kurz darauf ein, was Aufmerksamkeit ist, wie sich eine Aufmerksamkeitsstörung bemerkbar macht, auf die Diagnose und die Ursachen dieser Störung ein. Natürlich entstehen durch das Verhalten des Kindes auch Sekundärprobleme, die sogenannten Begleiterscheinungen. Diese und ihre Auswirkungen, die häufig ausgeprägter als die eigentliche Störung sind, spreche ich im dritten Kapitel an. Das Zusammenleben mit einem aufmerksamkeitsgestörten Kind verläuft nicht immer harmonisch. Die Eltern sind oft genervt und wissen nicht mehr weiter. Darum möchte ich im vierten Kapitel Möglichkeiten und Chancen für ein harmonischeres Zusammenleben in der Familie vorstellen. Im fünften Kapitel greife ich die Therapiemöglichkeiten auf. Wie kann ich das Verhalten des Kindes verändern? Wer hilft mir dabei? Das Verhalten des Kindes zieht häufig Probleme mit sich. Diese prägen das Kind und sein näheres Umfeld. Hat dieses Kind denn auch positive Eigenschaften? Oder ist es ein Kind mit „nur“ Problemen? Diese Frage bildet den Schluß meiner Arbeit. Darauf gehe ich, mit Hilfe meiner Kapitel und Zusammenfassungen, in der Schlußbetrachtung näher ein. „Kein Mensch mit einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit/ohne Hyperaktivität gleicht dem anderen.“ (Neuhaus 1999, S.70) Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung 3 ____________________________________________________________________________ 2. Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung Immer wieder wird in unserer Gesellschaft von Aufmerksamkeit gesprochen, doch was ist Aufmerksamkeit? In meiner Arbeit stelle ich eine Definition von Aufmerksamkeit vor. Damit möchte ich den Zugang zu Aufmerksamkeitsstörungen verdeutlichen und erleichtern. Außerdem gehe ich in diesem Kapitel auf das allgemeine Erscheinungsbild, die Diagnose und die Ursachen von Aufmerksamkeitsstörungen ein, um einen allgemeinen Überblick über mein Thema zu verschaffen. 2.1 Was ist Aufmerksamkeit? Im Verlauf unserer Entwicklung lernen wir, aufmerksam zu sein. Aufmerksamkeit wird als eine komplexe Leistung gesehen. „Für vieles, was wir im alltäglichen Leben tun, ist Aufmerksamkeit notwendig, also eine gewisse Form von Wachheit und die Fähigkeit, länger bei einer Sache zu bleiben sowie störende Dinge außer Acht zu lassen.“ (Lauth u.a. 1999, S.22) Aufmerksamkeit ist demnach die Fähigkeit, eine Aufgabe mit ausreichender Stetigkeit und Präzision zu verfolgen und andere Dinge bzw. Aktivitäten außer Acht zu lassen (vgl. Lauth und Schlottke 1999, S.12). Dabei ist Aufmerksamkeit von dem Interesse und dem eigenen Können abhängig. Um aufmerksam sein zu können, arbeiten verschiedene Instanzen des Gehirns zusammen. Vor allem sind es die Bereiche, die für Überprüfungen, Planungen und „Energiezufuhr“ sowie das Abrufen von Vorerfahrungen und Wissen zuständig sind (vgl. Lauth u. a. 1999, S.22 ff.). Aufmerksamkeit wird beim konkreten Tun hergestellt. Dafür ist notwendig, daß: ein Ziel bestimmt und im Auge gehalten wird, andere Dinge sowie Störreize ausgeblendet werden, die eigene Tätigkeit überwacht und gegebenenfalls korrigiert wird, man geistig wach ist, die Vorerfahrungen und auch Kenntnisse benutzt und zukünftig geplant werden, eigene Fähigkeiten, Fertigkeiten und Handlungsstrategien eingesetzt werden (vgl. Lauth u.a. 1999, S.23 und Petermann 1997, S.278). Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung 4 ____________________________________________________________________________ Selbstdisziplin und bestimmte Fähigkeiten haben folglich sehr viel mit Aufmerksamkeit zu tun. Im Leben lernt man soviel Selbstdisziplin, daß man es meistens schafft, Kräfte zu mobilisieren und bei einer Sache zu bleiben, um die es gerade geht. Die meisten Kinder erlernen dies in ihrer Entwicklung von ganz allein. Das Kind mit einer Aufmerksamkeitsstörung kann das aber nicht (vgl. Lauth u.a. 1999, S.24 f.) – mit weitreichenden Konsequenzen für das Verhalten. 2.2 Erscheinungsbild der Aufmerksamkeitsstörung „Aufmerksamkeitsgestörte Kinder erscheinen zum Teil „wie aufgezogen“, ständig „auf dem Sprung“, ihre Schwierigkeit, eine Zeitlang still zu sitzen, eskaliert oft in wachsender Bewegungsunruhe, was in vielfältiger Weise zu Konflikten führt.“ (Lauth und Schlottke 1999, S.1) Die typischen Erscheinungsmerkmale im Verhalten aufmerksamkeitsgestörter Kinder sind Hyperaktivität, Impulsivität und übermäßige Unaufmerksamkeit. Unaufmerksamkeit ist gekennzeichnet durch: Die Kinder haben Schwierigkeiten, Einzelheiten zu beachten und die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder Spielen lange genug aufrechtzuerhalten. Häufig beenden die Kinder Hausaufgaben oder andere Dinge nicht, da sie die Erklärungen, Instruktionen nicht vollständig verfolgen können. Die Kinder haben Probleme, ihre Aktivitäten und Aufgaben zu organisieren. Oft verlieren die Kinder Gegenstände, die notwendig sind, um Aufgaben oder Aktivitäten zu lösen bzw. zu spielen. Des öfteren vergessen die Kinder, was sie tun wollten und verlieren beim Lösen von Aufgaben das Ziel aus den Augen. Aufmerksamkeitsgestörte Kinder erscheinen darum schnell als unzuverlässig, vergeßlich und unordentlich (vgl. Neuhaus 1999, S.56 sowie Lauth und Schlottke 1999, S.1). Mit Hilfe des Begriffes Hyperaktivität wird die motorische Unruhe dieser Kinder beschrieben: sie tollen übermäßig herum, zappeln und rutschen auf dem Stuhl hin und her, laufen in der Klasse umher, können sich kaum ruhig beschäftigen und erscheinen ungesteuert und „wie aufgezogen“. Übermäßiger Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung 5 ____________________________________________________________________________ Rededrang und eskalierende Unruhe zeichnen diese Kinder dabei aus. In dem Begriff Impulsivität spiegelt sich das vorschnelle und unbedachte Verhalten der Kinder. Sie reagieren oft voreilig, unterbrechen oder stören andere, indem sie nicht abwarten können. Dabei verstoßen sie auch häufig gegen soziale Regeln. Ferner neigen diese Kinder zu unbedachten und gefährlichen Aktivitäten (vgl. Lauth und Schlottke 1999, S.2). Neben diesen Symptombereichen kommt es ebenfalls häufig zu Schwierigkeiten bei der Erziehung, in der Schule und im Umgang mit Gleichaltrigen sowie zur Einschränkung des Selbstwertgefühls1. Nach Lauth und Schlottke (1999, S.3) klagen Eltern über allgemeine Erziehungsschwierigkeiten (z.B. Ungehorsam, Wutausbrüche, Trotzverhalten, Geschwisterrivalitäten) wie auch über unbedachtes und gefahrvolles Verhalten. In der Schule zeigen sich in mehreren Bereichen Minderleistungen gegenüber unauffälligen Schülern: Sie haben eher Probleme beim Rechen, Lesen und beim Lösen von komplexeren Aufgaben und erhalten schlechtere Noten. Von Gleichaltrigen werden aufmerksamkeitsgestörte Kinder zumeist gemieden. Sie interpretieren die Absichten ihrer Mitschüler falsch und machen unabsichtlich Fehler. Darum ist es schwer, für sie Freundschaften zu schließen (vgl. Davison und Neale 1996, S.495). Oft sind sie isoliert. Die eigenen Erfahrungen und die Reaktionen anderer Personen verstärken den Prozeß und machen das aufmerksamkeitsgestörte Kind un-sicherer und schränken sein Selbstwertgefühl weiter ein (vgl. Lauth und Schlottke 1999, S.3). 2.3 Diagnose Im Vergleich zu dem sonstigen Entwicklungsstand eines Kindes wird mit Aufmerksamkeitsstörung eine übermäßige Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität2 benannt. Hinzu kommt, daß die Symptome seit mindestens sechs Monaten vorliegen und vor dem 7. Lebensjahr auftreten. Die Diagnose selbst kann nur von professionellen Fachkräften, z.B. spezialisierte Kinderärzte, Kinder- und Jugendpsychiater, Verhaltenstherapeuten, gestellt werden. Laut dem DSM IV3 wird das Störungsbild als Nähere Ausführungen siehe Kapitel 3. „Sekundärprobleme“ siehe vorheriges Kapitel 2.2 „Erscheinungsbild der Aufmerksamkeitsstörung“ 3 DSM IV: Diagnostic and Statistical Manual = diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen; deutsch: 1996 1 2 Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung 6 ____________________________________________________________________________ „Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung“ bezeichnet. Das ICD-101 spricht von dem verwandten Begriff „Hyperkinetische Störung“ (vgl. Lauth und Schlottke 1999, S.3 ff.). Unabhängig von der Benennung des Störungsbildes ist in den beiden Diagnoseschemata, DSM IV und ICD-10, eine Übereinstimmung der wesentlichen Symptome zu erkennen. Die Diagnose muß sich letztlich an einem dieser beiden orientieren. Ich werde meine weiteren Ausführungen zur Diagnose am DSM IV darstellen. Das DSM IV ist zur Zeit das aktuellere Diagnoseverfahren. Es geht davon aus, daß die typischen Schwierigkeiten dieser Kinder auf verminderte Aufmerksamkeitsprozesse zurückzuführen sind. Dabei unterscheidet es zwischen Aufmerksamkeitsstörungen Aufmerksamkeitsstörungen ohne mit Hyperaktivität Hyperaktivität2. Die und motorischen Auffälligkeiten (Hyperaktivität) müssen dadurch nicht immer vorherrschen. Das Hauptsymptom ist demnach die Unaufmerksamkeit (vgl. Lauth und Schlottke 1999, S.3). Außerdem läßt der Begriff Aufmerksamkeitsstörung eine offenere Sichtweise zu. Damit erleichtert er auch den therapeutischen Zugang und ermöglicht konstruktivere Interventionen. Interventionen, die: stärker den Aufbau von Verhaltensmöglichkeiten (z.B. Selbstreflexion, Selbststeuerung, Kompetenzen, Vorausplanung) und Anregung von Entwicklungsprozessen zum Ziel haben und weniger den Abbau von Erziehungsschwierigkeiten, „störend-negativem“ Verhalten Regelverletzungen, (z.B. Hyperaktivität) ausgerichtet sind (vgl. ebd., S.5). Nach meiner Meinung begünstigt demzufolge die Bezeichnung Aufmerksamkeitsstörung eine positivere Zielsetzung und differenzierte Therapieplanung. Es können mehr die Fähigkeiten und Kompetenzen dieser Kinder gefördert werden. Auf diesem Wege kann man einer Selektion und Stigmatisierung entgegen wirken. Die Diagnosekriterien laut DSM IV mit der Bezeichnung Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung lauten: 1 ICD: International Classification of Diseases = Diagnoseschlüssel und Glossar psychiatrischer Krankheiten; deutsch 1992 2 In meiner Prüfungsleistung beziehe ich mich nur auf Kinder, die eine Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität haben. Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung 7 ____________________________________________________________________________ „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung A. Entweder Punkt (1) oder Punkt (2) müssen zutreffen: (1) Sechs (oder mehr) der folgenden Symptome von Unaufmerksamkeit sind während der letzten sechs Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorhanden gewesen: Unaufmerksamkeit: a) Beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten, b) Hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim Spielen aufrechtzuerhalten, c) Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn/sie ansprechen, d) Führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund oppositionelles Verhalten oder Verständnisschwierigkeiten), e) Hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren, f) Vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die längerandauernde geistige Anstrengungen erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben), g) Verliert häufig Gegenstände, die für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt werden (z.B. Spielsachen, Hausaufgaben, Stifte, Bücher oder Werkzeug), h) Läßt sich oft durch äußere Reize ablenken, i) Ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergeßlich; (2) Sechs (oder mehr) der folgenden Symptome der Hyperaktivität und Impulsivität sind während der letzten sechs Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorhanden gewesen: Hyperaktivität: Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung 8 ____________________________________________________________________________ a) Zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum, b) Steht in der Klasse oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird, häufig auf, c) Läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben), d) Hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen, e) Ist häufig „auf Achse“ oder handelt oftmals, als wäre er/sie „getrieben“, f) Redet häufig übermäßig viel; Impulsivität: g) Platzt häufig mit den Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist, h) Kann nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist, i) Unterbricht und stört andere häufig (platzt z.B. in Gespräche oder in Spiele anderer hinein). B. Einige Symptome der Hyperaktivität-Impulsivität oder Unaufmerksamkeit, die Beeinträchtigungen verursachen, treten bereits vor dem Alter von sieben Jahren auf. C. Beeinträchtigungen durch diese Symptome zeigen sich in zwei oder mehr Bereichen (z.B. in der Schule bzw. am Arbeitsplatz und zu Hause). D. Es müssen deutliche Beeinträchtigungen in Hinweise sozialen, auf klinisch schulischen oder bedeutsame beruflichen Funktionsbereichen vorhanden sein. E. Die Symptome treten nicht ausschließlich im Verlauf einer Tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen Psychotischen Störung auf und können auch nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt werden (z.B. Affektive Störung, Angststörung, Dissoziative Störung oder eine Persönlichkeitsstörung).“ Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung 9 ____________________________________________________________________________ (Saß u.a. 1998, S.62 ff.) Das Vorliegen einer Aufmerksamkeitsstörung ist dagegen auszuschließen, wenn: die Störungsdauer weniger als sechs Monate beträgt, nicht mindestens sechs der beschriebenen Verhaltenssymptome festzustellen sind, sich die Beeinträchtigungen nur in einem Bereich bemerkbar machen, tiefgreifende Entwicklungsstörungen vorliegen, keine eindeutigen Hinweise auf eine Beeinträchtigung der sozialen, schulischen oder beruflichen Leistungsfähigkeit zu erkennen sind und Symptome, die durch andere psychische Störungen besser erklärt werden, vorhanden sind (vgl. Lauth und Schlottke 1999, S.5). 2.4 Ursachen von einer Aufmerksamkeitsstörung Wie entstehen Aufmerksamkeitsstörungen? Diese Frage stellen sich oft die betroffenen Eltern solcher Kinder. Leider ist dabei nicht, mit einfachen Antworten zu rechen. Es gibt nicht nur die eine Ursache für die Entstehung einer Aufmerksamkeitsstörung. Es müssen mehrere Bedingungen zusammentreffen. „Eine Aufmerksamkeitsstörung entwickelt sich aus einem biologischen Grundrisiko heraus. Sie wird durch Einflüsse aus der Umgebung (Familie, Schule, Gleichaltrige) aufrechterhalten und häufig weiter verschärft.“ (Lauth u.a. 1999, S.47) Bereits Heinrich Hoffmann beschrieb 1845 zum ersten Mal viele Einzelsymptome der Aufmerksamkeitsstörung in seinem Buch „Struwwelpeter“. Damit ist diese Störung nicht neu. Sie gewinnt nur immer mehr an Aktualität. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wurde viel geforscht und die verschiedensten Hypothesen aufgestellt. „In damaliger Zeit wurden diese Kinder als ungezogen, unmoralisch, emotional ausufernd, leidenschaftlich und im schlimmsten Fall sogar als idiotisch betrachtet. Sozial wurden sie heftig zurückgewiesen.“ (Neuhaus 1999, S.47) Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung 10 ____________________________________________________________________________ Über viele Jahre hinweg wurde auffälliges Verhalten vorwiegend schlechter Erziehung zugeschrieben und empfohlen, strafend entgegenzuwirken. Damit lag die volle Verantwortung bei den Eltern. Im Laufe der Jahre wurde dann nach biologischen Erklärungen für diese Störung gesucht. Dabei entstand das Konzept „der minimalen Hirnschädigung“ (MCD1). Dieses Konzept beruhte auf der Erkenntnis, daß kaum erkennbare Beeinträchtigungen des Gehirns vorlagen (vgl. Lauth u.a. 1999, S53 ff.). Lange Zeit wurde der Begriff MCD mit dem Hyperkinetischen Syndrom gleichgesetzt. Doch auch diese Erklärung der MCD erwies sich als immer unbefriedigender, da nicht alle aufmerksamkeitsgestörten Kinder eine minimale cerebrale Dysfunktion aufwiesen. Leider wird der Begriff heute noch verwendet, obwohl zu Beginn der 90er Jahre eindeutig darauf hingewiesen wurde, daß er inzwischen überholt ist (vgl. Lauth u.a. 1999, S.54; Neuhaus 1999, S.49 und Passolt 1993, S.15). Unterschiedliche Erklärungsansätze folgten in der Forschung. Neuerer Untersuchungen zeigen, daß die Hyperaktivität und Impulsivität mit Minderleistungen in der Frontalhirnregion zusammenhängen. Das Frontalhirn stellt ein hochkompliziertes Steuerungsorgan dar. Mit seiner Hilfe ist das Gehirn in der Lage, komplexere Leistungen wie Lernen, Planen, Problemlösungen zu koordinieren (vgl. Lauth u.a. 1999, S.52). „Hier erfolgt die Planungen der handlungsabfolge, die Impulssteuerung, die Zeiteinschätzung, aber auch komplexe, flexible Abwägeüberlegungen von einer Handlung mit Zugriff auf Erinnerungsinhalte. Funktioniert das nicht, kann das Gehirn „spontane“ Antworten auf empfangene Reize nicht stoppen. Verhalten kann nur schlecht geplant werden; fortfolgendes und kontinuierliches Arbeiten ist dann schwierig und Konsequenzen einer Handlung können nur schlecht vorweggenommen werden.“ (Neuhaus 1999, S.50) Personen mit dieser Beeinträchtigung zeigen die Grundmerkmale einer Aufmerksamkeitsstörung: Überaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit. Sie können nicht aufhören, Botschaften und Reize zu empfangen. Dadurch haben sie Schwierigkeiten, sich nur auf eine Sache zu konzentrieren. Eng verbunden mit dem Problem der Minderleistung des Frontalhirns ist ein 1 MCD = minimale cerebrale Dysfunktion Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung 11 ____________________________________________________________________________ zweites Problem: die Aktivierung des Gehirns. In Bruchteilen von Sekunden werden in unserem Gehirn vielfältige Botschaften oder Reize von einer Nervenzelle zur nächsten weitergeleitet. Dieses sollte auf dem schnellsten Wege erfolgen, doch wie schnell und umfassend die Information weitergegeben wird, hängt von der Aktivierung des Gehirns ab. Nach Lauth u.a. (1999, S.54 ff.) können aufmerksamkeitsgestörte Kinder ihre Aktivierung nicht schnell genug an veränderte Situationen anpassen. Ihr Gehirn ist oft überoder unterregt. „Es stellt sich also weniger genau auf die Dinge ein, die zu tun sind. Dies hat zur Folge, daß die anstehenden Aufgaben auch weniger gut gelingen: Informationen werden weniger rasch und genau im Gehirn weitergeschaltet; das Kind kann sich weniger gut auf die Anforderungen seiner Umgebung einstellen, also entweder neue Kräfte mobilisieren oder seine Energien ein Stück „herunterfahren“.“ (Lauth u.a. 1999, S.55) Aufmerksamkeitsgestörte Kinder können die Aktivierung des Gehirns nicht recht beeinflussen. Erwachsene besitzen genügend Selbstdisziplin, um sich zur Ordnung zu rufen1. Dieses Problem wird mit einem Mangel an Botenstoffen in Verbindung gebracht. Botenstoffe (Neurotransmitter) leiten Informationen in unserem Gehirn von einer Nervenzelle zur nächsten. Bei der Erklärung von Aufmerksamkeitsstörungen wird vermutet, daß die Botenstoffe Dopamin2 und/oder Noradrenalin1 fehlen. Dieser Mangel bewirkt auch, daß die Kinder Vorerfahrungen, Hinweise, Anweisungen, Lob und Tadel nicht richtig nutzen können (vgl. Lauth u.a. 1999, S.55 ff. und Neuhaus 1999, S.51 ff.) Allerdings sind diese Hypothesen schwer zu beweisen, dennoch haben sie zur Zeit den höchsten Wahrscheinlichkeitsgrad. „Die Vielzahl von Erklärungsmöglichkeiten zu den Aufmerksamkeitsund Hyperaktivitätsstörungen, die sich zum Teil auch widersprechen, läßt den Schluß zu, daß das Wissen über die Ätiologie dieses Erscheinungsbildes noch sehr unvollständig ist.“ (Myschker 1993, S.342) Um dieser Vielschichtigkeit der möglichen Erklärungen besser begegnen zu können, wird in den neueren Hypothesen ein interdisziplinärer Erklärungsansatz favorisiert. Wenn die unterschiedlichen Zusammenhänge beachtet werden, muß eine Aufmerksamkeitsstörung immer in der umwelt- und lebensbedingten Situation betrachtet werden (vgl. Tietze-Fritz 1997, S.191 f.). 1 2 siehe Kapitel 2.1 „Was ist Aufmerksamkeit?“ Dopamin ist zuständig für die Kontrolle von Impulsen und motorischen Auffälligkeiten. Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung 12 ____________________________________________________________________________ Lauth u.a. (1999, S.51) haben in ihrem Buch „Rastlose Kinder, ratlose Eltern“ ein Schaubild dargestellt. Dieses verdeutlicht den Zusammenhang zwischen verschiedenen Bedingungen, die bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeitsstörungen zusammenwirken. Zum besseren Verständnis übernehme ich dieses Schaubild in meine Arbeit: Abb.1: Modell zur Entstehung von Aufmerksamkeitsstörungen: Das Kind verhält sich aufmerksamkeitsgestört Sekundäre Folgen Minderleistungen im Frontallappen geringere Verhaltenssteuerung geringere Aktivierung mangelnde Verhaltensorganisation unaufmerksam, kann nicht an Aufgaben dranbleiben impulsiv, kopflos, drauflos, sprunghaft überaktiv/aufgedreht Aggressivität Angst Traurigkeit Lernstörung Soziale probleme Soziale Umgebung Lösungsversuche des Kindes Schwierigkeiten des Kindes Mißerfolge/Ablehnung Enttäuschung Biologisches Grundrisiko Familie, Gleichaltrige, Lehrer und sonstige Bezugspersonen 2.5 Zusammenfassung In diesem Kapitel war es mir wichtig, zuerst einmal darzustellen, was man unter einer Aufmerksamkeitsstörung versteht. Häufig hört man, daß viele Kinder in unserer Gesellschaft unkonzentriert und unaufmerksam sind. Doch was bedeutet aufmerksam bzw. unaufmerksam? Aufmerksamkeit wird als die Fähigkeit bezeichnet, sich mit ausreichender Präzision und Genauigkeit einer Sache nachzugehen, diese im Auge zu behalten und zu einem positiven Ende zu führen. Selbstdisziplin ist dabei sehr wichtig. Aufmerksamkeitsgestörte Kinder haben diese nicht und können ihr Verhalten nur schwer kontrollieren. 1 Noradrenalin wird für die Aktivierungssteuerung , die eine optimale Reaktion ermöglicht, benötigt. Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung 13 ____________________________________________________________________________ Sie kennzeichnen sich durch übermäßige Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Außerdem Erziehungsschwierigkeiten. Die klagen die Diagnose Eltern sollte über von allgemeine professionellen Fachkräften gestellt und sich an einem Diagnoseschemata, DSM IV oder ICD 10, orientieren. Zum Schutz der Kinder muß jedes Kind individuell betrachtet werden, um unnötigen Stigmatisierungen vorzubeugen. Immerhin ist es eine Diagnose im psychischen Sinne. Das DSM IV stellt die Aufmerksamkeit in den Vordergrund und geht davon aus, daß die Hyperaktivität nicht unbedingt vorkommen muß. Diesen Ansatz finde ich wichtig, denn damit ist der therapeutische Zugang erleichtert. Die Therapie kann besser an den Aufbau von neuen Verhaltensweisen ansetzen und orientiert sich nicht am „störendnegativen“ Verhalten. Eine differenzierte Therapieplanung ist möglich. Außerdem werden die Fähigkeiten und Kompetenzen des Kindes unterstützt. Wie kommt es überhaupt zu einer solchen Aufmerksamkeitsstörung? Funktioniert das Gehirn nicht richtig oder sind es nur Folgen einer unachtsamen und lockeren Erziehung? So pauschal läßt sich das nicht beantworten. Es gibt nicht die eine Ursache. Neuere Forschungen gehen davon aus, daß im Gehirn eines aufmerksamkeitsgestörten Kindes ein Mangel an speziellen Botenstoffen vorliegt. Dadurch können Reize und Informationen nicht ausreichend weitergeleitet werden. Ebenso wird vermutet, daß eine Minderleistung im Frontalhirn die Ursache sein könnte. Dieser Bereich des Gehirns stellt ein Steuerungsorgan dar. Dennoch muß bei einer Aufmerksamkeitsstörung auch die umwelt- und lebensbedingte Situation gesehen werden. Die soziale Umgebung steht in Wechselwirkung mit den biologischen Ursachen. Die Familie, Freunde, Verwandte, Lehrer beeinflussen das Verhalten des Kindes ebenso. Sie ermahnen und tadeln es für ihr schlechtes Benehmen. Das Kind fühlt sich unverstanden und es kommt zu Enttäuschungen und Ablehnung. Dadurch verstärkt sich das negative Verhalten immer mehr. Es entsteht ein Teufelskreis. Je mehr sich das Kind bemüht den Anforderungen der Eltern, Lehrer, Gesellschaft nachzukommen, desto stärker verstrickt es sich in seinem „störend-negativen“ Verhalten. Sollten wir darum nicht einmal unsere Anforderungen an heutige Kinder überdenken? Sind wir nicht stärker gefordert, den Kindern den Weg in die Zukunft zu erleichtern und zu ebnen, sie in ihren Wünschen und Träumen zu unterstützen und ihre Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung 14 ____________________________________________________________________________ Fähigkeiten weiter auszubauen, damit sie sich auf dieser Welt sicher und geborgen fühlen? Sollten wir ihnen nicht eine gesicherte Zukunft ohne Ablehnung, Angst und Traurigkeit geben? Für mich ist jedenfalls eines klar, Kinder sind unsere Zukunft. Darum sollten wir sie, nach bestem Ermessen, in ihren Fähigkeiten und Kompetenzen fördern und unterstützen, um ihr Selbstwertgefühl aufzubauen, denn dieses brauchen sie für ihr späteres Leben. Sekundärprobleme 15 ____________________________________________________________________________ 3 Sekundärprobleme Neben den Hauptsymptomen einer Aufmerksamkeitsstörung treten eine Vielzahl weiterer Komplikationen auf, die sogenannten Sekundärprobleme. In diesem Kapitel möchte ich näher auf diese Probleme eingehen, da sie ein aufmerksamkeitsgestörtes Kind stark beeinflussen und prägen. „Mit diesen Folgen (sekundären Merkmalen) werden Aufmerksamkeitsstörungen zunehmend komplizierter: Über die ursprünglichen zwei Grundsymptome hinaus sind Kind und Familie mit einer Vielzahl weiter-er Probleme konfrontiert. Insofern ist es berechtigt, daß sich Eltern, Verwandte und Lehrer um die weitere Entwicklung sorgen.“ (Lauth u.a. 1999, S.26) 3.1 Lernstörungen Etwa 60% der aufmerksamkeitsgestörten Kinder haben größere Lernschwierigkeiten. Zum Lernen ist eine Mindestaufmerksamkeitsspanne erforderlich. Diese kann häufig bei einem aufmerksamkeitsgestörten Kind nicht gewährleistet werden1. Hinzu kommt, daß das vorschnell und unruhige Verhalten des Kindes es daran hindert, genügend in der Schule mitzubekommen. Im allgemeinen haben sie Schwierigkeiten in allen Fächern. Es treten verstärkt Probleme beim Lesen, Schreiben und Rechnen auf. Jede Form der Abstraktionsleistung (Unterscheiden, Bewerten, Zuordnen, etc.) bereitet Schwierigkeiten. Außerdem tauchen auch Probleme mit den Lehrern auf. Das aufmerksamkeitsgestörte Kind stößt häufig auf Unverständnis, wird ermahnt und bestraft. Das führt zu Mißerfolgen und Ablehnung. Das Kind verliert schnell die Freude an der Schule (vgl. Lauth u.a. 1999, S.26 ff. und Vernooij 1992, S.23). 3.2 Teilleistungsstörungen Wenn bei aufmerksamkeitsgestörten Kindern von Teilleistungsstörungen gesprochen wird, dann bezieht sich das auf Leistungen der Wahrnehmung und der Orientierung sowie der Koordination. Nach Vernooij (1992, S.23 f.) ist insbesondere die optische und akustische Wahrnehmung beeinträchtigt. Was ist denn überhaupt Wahrnehmung? 1 Siehe Kapitel 2. „Aufmerksamkeitsstörung“ Sekundärprobleme 16 ____________________________________________________________________________ „Wahrnehmung umfasst die Fähigkeit, insbesondere die visuelle und auditive Sinneseindrücke differenziert aufzunehmen, zwischen ähnlichen Eindrücken zu unterscheiden, und diese verschiedenen Sinneswahrnehmungen so zu verarbeiten, dass sie in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden können, auf dem Hintergrund der realen Situation.“ (Vernooij 1992, S.23) Einem aufmerksamkeitsgestörtem Kind gelingt dieses nicht, wenn, dann nur verlangsamt und/oder fehlerhaft. Ihre Sinnesorgane sind meistens intakt, dennoch fällt es ihnen schwer Figur und Hintergrund zu unterscheiden, Formen richtig zu erkennen und sich in Räumen zu orientieren. Außerdem sagt Vernooij (1992, S.24) haben diese Kinder Schwierigkeiten mit der Koordination in unterschiedlichster Ausprägung, sei es in der Fein- und Grobmotorik sowie mit dem Gleichgewicht. 3.3 Soziale Schwierigkeiten Gerade im sozialen Bereich treten dramatische Folgen auf. aufmerksamkeitsgestörte Kinder ecken mit ihrem Verhalten häufig an: rasten häufig aus, steigern sich in Wutanfälle, schreien, kreischen, werfen sich auf den Boden und trommeln oder trampeln wild um sich, akzeptieren beim Spielen keine Spielregeln, reagieren unbeherrscht, stoßen und schlagen andere Kinder. Durch dieses aggressive, rebellische und verstockte Verhalten werden sie schnell zum Störenfried und Außenseiter. Sie verwickeln sich in Machtkämpfe mit Erwachsene und anderen Kindern. „Positive soziale Kontakte entstehen kaum; Kommunikation und Kooperation mit Gleichaltrigen finden nicht statt bzw. sind erheblich beeinträchtigt.“ (Vernooij 1992, S.24) Nach Lauth u.a. (1999, S.30) stellen sich bei aufmerksamkeitsgestörten Kindern gezielt Aggressionen ein. Sie nehmen sehr gut wahr, daß sie von ihrer Umwelt abgelehnt werden. Sie stoßen auf Unverständnis und auf Bestrafung. Dabei lernen sie, sich durch Aggressivität Aufmerksamkeit und Achtung zu verschaffen. Auf diese Weise können sie Spannungen und Ängste abbauen und ihr geringes Selbstwertgefühl überspielen. Um weitere Anerkennung zu finden, spielen aufmerksamkeitsgestörte Kinder gerne „den Clown“, am liebsten vor größerem Publikum. Sie lachen und kichern, hüpfen umher und führen kleine Kunststücke vor. Für Gespräche oder Sekundärprobleme 17 ____________________________________________________________________________ Aufforderungen sind sie dann nicht zugänglich. Meistens enden diese Situationen mit Streit und Tränen. „Solche Mißerfolgserlebnisse sind im Alltag des Kindes fortwährend angesagt.“ (Lauth u.a. 1999, S.32) Zugleich wird das Kind in der Schule vom Lehrer ermahnt, es solle endlich aufpassen und sitzenbleiben. Es spürt den Ärger und die Ablehnung des Lehrers. Die Abneigung gegen die Schule und allem, was mit ihr zu tun hat, wird größer. Das Kind meidet die Situationen, bei denen es sich länger und sorgfältiger konzentrieren muß, z.B. Lesen, Hausaufgaben, Bastelarbeiten. Morgens will es nicht mehr aufstehen, schwindelt seine Eltern hinsichtlich des Stundenplanes und der Hausaufgaben an und macht abfällige Bemerkungen über Situationen, in denen Leistung gefordert ist. Statt dessen liebt es Bewegung und rasche Abwechslung, z.B. Fußball, draußen toben, Eishockey, etc. (vgl. Lauth u.a. 1999, S.32 f.). Ebenfalls neigt das aufmerksamkeitsgestörte Kind zu plötzlichen und unerwarteten Stimmungsschwankungen. „Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt. Für kaum ein Kind ist dieser Satz so zutreffend wie für ein aufmerksamkeitsgestörtes Kind.“ (Lauth u.a. 1999, S.31) Die kleinsten Anlässe bringen ein aufmerksamkeitsgestörtes Kind aus dem Gleichgewicht und haben meistens negative Folgen: Trotzreaktionen, Wutanfälle, hysterische Lach- oder Weinanfälle. Tadel, zurückgewiesen werden, beim Spiel verlieren, etc. sind häufig Auslöser dieser Reaktionen. Hinzu kommt das wenig gefestigte und negative Selbstbild dieser Kinder. Es verstärkt die Stimmungsschwankungen (vgl. ebd.). 3.4 Zusammenfassung Das Verhalten eines aufmerksamkeitsgestörten Kindes hat weitreichende Konsequenzen für ihre weitere Entwicklung. Es entstehen Sekundärprobleme, wie Lernstörungen, Teilleistungsstörungen und soziale Schwierigkeiten. Besonders die sozialen Schwierigkeiten prägen das Kind. Häufig nimmt es die Außenseiterrolle ein. Von Gleichaltrigen wird es gemieden, da es beim gemeinsamen Spiel nicht sehr kooperativ ist. Sie finden kaum Freunde. Doch gerade Freunde sind im Leben eines jeden Menschen wichtig, denn sonst vereinsamt jeder. Sekundärprobleme 18 ____________________________________________________________________________ Gerade aufmerksamkeitsgestörte Kinder sind auf der ständigen Suche nach Anerkennung und Liebe. Sie erfahren sehr viel Ablehnung und Mißerfolge, die ihr Selbstwertgefühl stark eingrenzen. Ebenso fühlen sich diese Kinder von ihren Eltern und Lehrern unverstanden. In der Schule haben sie häufig Probleme, den Unterricht zu verfolgen und die Anforderungen zu erfüllen. Vom Lehrer werden sie ermahnt und getadelt. Dennoch haben aufmerksamkeitsgestörte Kinder einen hohen Anspruch an sich selbst, den sie natürlich gerne nachkommen möchten. Allerdings erfahren sie dabei meistens keine Unterstützung, da die Lehrer und auch die Eltern überfordert sind. Das Kind verliert schnell die Freude an der Schule und allem, was mit Leistung zu tun hat. Dabei ist doch gerade in unserer Gesellschaft ein enormer Leistungsdruck vorhanden. Wie sollen diese Kinder dem nur Stand halten, wenn sie noch nicht einmal den normalen Schulstreß bewältigen? Wichtig ist, daß versucht wird, das Kind in die Gesellschaft zu integrieren und nicht zu separieren. Es braucht Anerkennung und Freunde sowie Eltern, die es unterstützen und mit seinen Fehlern lieben. von ihren Eltern und Lehrern Familie 19 ____________________________________________________________________________ 4. Familie Im alltäglichen Leben von aufmerksamkeitsgestörten Kindern entstehen oft Probleme mit den Eltern und Geschwistern. Es kommt immer wieder zu Konfrontationen, die das Kind reizen und die Situation scheint zu eskalieren. Hausaufgaben und der tägliche Ablauf können für das Kind zu einer Qual werden. „Die Ausbrüche des Kindes und seine heftigen Reaktionen zerren an den Nerven. Die tagtäglichen kleinen und größeren Schwierigkeiten machen mürbe. Die Familie ist gereizt und das Zusammenleben oft wenig harmonisch.“ (Lauth u.a. 1999, S.66) Eltern sind häufig mit dem aufmerksamkeitsgestörten Kind überfordert. Das aufmerksamkeitsgestörte Kind fordert ständig, und die Eltern finden kaum Zeit, sich auszuruhen, um Energie zu tanken (vgl. Steinhausen 1995, S.178). Die Eltern nehmen fast nur noch die negativen Ereignisse zur Kenntnis und können gar nicht mehr so genau unterscheiden, worauf es eigentlich ankommt. Sie wissen bald nicht mehr, was sie durchgehen lassen können und worauf sie reagieren müssen. Verdruß und schlechte Laune breiten sich in der Familie aus. Das aufmerksamkeitsgestörte Kind findet dann nur noch Beachtung, wenn es Probleme macht. Dieser Kreislauf muß unterbrochen werden (vgl. Lauth u.a. 1999, S.80). „Da das Kind nicht darum gebeten hat, auf die Welt zu kommen, und da es seine Zukunft noch vor sich hat, sollte die oberste Prämisse sein, daß Eltern lernen, mit ihrem Kind umzugehen, damit es sich zurechtfinden und Selbstsicherheit entwickeln kann – mit der direkten Auswirkung, daß dann das Leben für die Eltern wesentlich angenehmer und streßfreier wird. Ziel muß sein, dem Kind zu helfen, sich in die Gesellschaft zu integrieren und nicht, sich zu separieren. (Neuhaus 1999, S.147) Es ist schwierig für die Eltern, den richtigen Weg zu finden und damit dem Kind die nötige Hilfe zu geben, die es gerade braucht. Darum möchte ich in diesem Kapitel die Probleme und Möglichkeiten zur Hilfe näher beschreiben, die das Zusammenleben der Eltern mit einem aufmerksamkeitsgestörtem Kind erleichtern. Dabei soll mir ein weiteres Schaubild helfen. Dieses habe ich aus Lauth u.a. (1999, S.98) übernommen. Ich stelle es hier zu Beginn kurz vor. In den folgenden Unterpunkten dieses Kapitels gehe ich dann näher darauf ein und erläutere es. Familie 20 ____________________________________________________________________________ Abb.2: Was Eltern im Alltag tun können/allgemeiner Überblick Rückhalt Elterninitiativen/Elternselbsthilfegruppen/Hilfen zur Erziehung annehmen Eltern achten Auch mal an sich selber denken! auf sich Umgang mit dem Kind Klare Anweisungen geben Schwierige Situationen vermeiden Durch Lob und Anerkennung lenken Krisenherd Hausaufgaben entschärfen Familie Einen Rahmen schaffen Routinen Verbindlichkeit Hinter dem Kind stehen Eine stabile innere Einstellung gewinnen Beziehung Beziehung verbessern 4.1 Eltern-Kind-Beziehung „Die Beziehung zwischen einem aufmerksamkeitsgestörten Kind und seinen Eltern ist häufig nicht nur angespannt, sondern erheblich belastet. .... Machtkämpfe, Wutausbrüche und das Trotzen des Kindes sowie die genervten Reaktionen der Eltern kennzeichnen auch die Beziehung.“ (Lauth 1999, S.69) Die meisten Eltern haben ein Bild von einem Musterkind in ihren Köpfen. Sie wollen z.B., daß ein Kind ruhig und gelassen beim Essen sitzt. Dadurch achten sie mehr auf das Fehlverhalten, tadeln und ermahnen das Kind. Das Kind Familie 21 ____________________________________________________________________________ versucht den Wünschen der Eltern zu entsprechen. Allerdings ist dieses für ein aufmerksamkeitsgestörtes Kind sehr schwer. Der Druck der Eltern verstärkt sich. Schafft es das Kind dann die Wünsche zu erfüllen, ist es für die Eltern selbstverständlich, und der Lob bleibt aus. Die positiven Ansätze im Verhalten des Kindes bleiben unbeachtet. Es liegt eindeutig auf der Hand, daß dieses Beziehungsmuster beiden schadet. Das Kind findet in seinen Eltern keine wirkliche Hilfe, da die Eltern auf das Fehlverhalten des Kindes fixiert sind. Die Beziehung zwischen beiden ist angespannt und gereizt (vgl. ebd., S.69 f.). Um diese Beziehung zu ändern, muß eine tragfähige und vertrauensvolle Grundlage geschaffen werden. Die Eltern sollten mehr „Zeit“ mit dem aufmerksamkeitsgestörten Kind verbringen. Neben den selbstverständlichen Tätigkeiten, wie z.B. das Kind baden, Zubettbringen usw., sollten Zeiten vereinbart werden, in denen sich die Eltern nur mit dem aufmerksamkeitsgestörten Kind beschäftigen. Das Kind bestimmt, was in dieser Zeit gespielt wird oder worüber es sprechen möchte. Die Eltern sollten dabei vermeiden, das Kind auszuhorchen und zu belehren. Diese gemeinsame Zeit ist für jeden Tag verbindlich und ausschließlich für das aufmerksamkeitsgestörte Kind zu widmen. Geschwisterkinder sollten nicht dabei sein. Auf diese Weise wird für beide Parteien eine entspannte und positive Atmosphäre geschaffen. Eltern können die guten Eigenschaften und Fähigkeiten ihrer Kinder neu entdecken (vgl. ebd., S.70 f.). „Vielen Eltern sind die positiven Seiten ihres Kindes gar nicht mehr bewußt. Das ändert sich jetzt insofern, als die Eltern sehen, daß das Kind auch anders sein kann. Es ist eben nicht nur schwierig und störend, sondern auch anschmiegsam, interessiert und liebenswert.“ (Lauth u.a. 1999, S.71) Das Kind macht auch die Erfahrung, daß es ohne Vorbehalte angenommen und geschätzt wird. Die Eltern schenken ihm, ohne daß es störend auffällt, Aufmerksamkeit. Dadurch verändert sich das Verhalten des Kindes – zum Positiven! Ganz wichtig für aufmerksamkeitsgestörte Kinder ist das Gefühl. Daß jemand hinter ihnen der, der sie unterstützt. Sie brauchen jemanden, der ihnen Mut macht, der an sie glaubt und ihnen in schwierigen Situationen hilft. „Jemanden, der ihnen sagt, daß sie nicht ungeschickt, nervig, tolpatschig, dumm oder störend sind. Dies dürfte eine der wichtigsten Botschaften sein, die wir aufmerksamkeitsgestörten Kindern vermitteln können.“ (Lauth u.a. 1999, S.73) Familie 22 ____________________________________________________________________________ Besonders Eltern sollten ihrem Kind eine solche konsequente Unterstützung geben, um die Beziehung zum Kind zu stärken. Außerdem woran soll so ein Kind glauben, wenn es nicht einmal die Eltern tun? 4.2 Alltägliches Zusammenleben „Strukturieren ist wohl eines der wichtigsten Dinge im Zusammenleben mit einem aufmerksamkeitsgestörten Kind. Es bedeutet: Klarheit schaffen, Regelungen treffen, Abläufe planen, Routinen einrichten. Das sind Dinge, die sowohl für das Kind als auch für die Eltern von Vorteil sind, weil ein fester Rahmen das Zusammenleben erleichtert und mögliche Schwierigkeiten verringert.“ (Lauth u.a. 1999, S.75) Aufmerksamkeitsgestörte Kinder brauchen eindeutig festgelegte Regeln und Strukturen, um sich im Alltag zurechtzufinden. Unvorhergesehene Dinge, Zeitdruck, Hektik und Streß bringen das Kind in Schwierigkeiten, und es passiert, daß die Probleme eskalieren. Solche Routinen und Festlegungen geben dem Kind einen Rahmen, an dem es sich orientieren kann. Je mehr Routinen entwickelt und in den Alltag einbezogen werden, desto weniger Probleme tauchen auf. Außerdem helfen solche Routinen auch den Eltern. Sie können besser planen und ein Konzept aufstellen. Diese Routinen müssen so festgelegt sein, daß sie das Kind eindeutig versteht (vgl. Neuhaus 1999, S.122). Nach Lauth u.a. (1999, S.76) sind solche handfesten Festlegungen wichtig für: Aufstehen und Ankleiden (z.B. das Kind zu einer bestimmten Zeit wecken, waschen, Kleidung bereitlegen, frühstücken) Mittagessen (z.B. zu festgelegter Zeit essen, davor geplanten Ablauf einhalten, wie Hände waschen, Ranzen ins Kinderzimmer usw.) Hausaufgaben1 Zubettgehen (z.B. gemeinsam essen, erzählen, ins Bad gehen, Geschichte vorlesen) Strukturierung des Tagesablaufs (z.B. Essenszeiten festlegen, wann kommen Freunde zum Besuch, wann spielt das Kind alleine). Speziell in den Familien, in denen das aufmerksamkeitsgestörte Kind noch Geschwister hat, kommt es vermehrt zu Klagen über Streitereien. Häufig fühlt sich das Kind gereizt und gestört, dann kommt es zu Überreaktionen. Das Geschwisterkind lernt schnell, das aufmerksamkeitsgestörte Kind aus der Familie 23 ____________________________________________________________________________ Reserve zu locken und daraus Profit zu schlagen. Die gestreßten Eltern sehen zunehmend das aufmerksamkeitsgestörte Kind als Täter an. Bei vermehrten Schuldzuweisungen und Bestrafungen entwickelt das aufmerksamkeitsgestörte Kind einen regelrechten Haß auf das Geschwisterkind. „Geschwisterharmonie ist in einer Familie mit einem ADS-Kind nicht zu erwarten.“ (Neuhaus 1999, S.131; ADS = Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) Die Kinder sollten von Anfang an getrennte Bereiche haben. Sie können zwar miteinander spielen, allerdings gelingt dieses nur für kurze Zeit. Alle Kinder in der Familie brauchen genügend Zeit allein mit ihren Eltern. Es muß darauf geachtet werden, daß kein Kind zu kurz kommt (vgl. ebd., S.132 und Lauth u.a. 1999, S.78 f.). Um das soziale Zusammenleben zu erleichtern, sollten für alle Mitglieder der Familie verbindliche Regeln und Vereinbarungen bestehen. Beispiele sind für solche festen Regeln: Geschwister nicht verletzen, Ehrlich zueinander sein, Nur erlaubte Fernsehsendungen zu sehen, Im Auto nicht streiten, Nacheinander reden, etc. Diese Regeln sollten einfach formuliert sein und müssen mit dem Kind besprochen werden. Wenn das Kind eine Regel nicht einhält, führt das zu verabredeten Konsequenzen (z.B. keine Gutenachtgeschichte). Natürlich braucht das Kind die Hilfe der Eltern bei der Einhaltung der Regeln. Das Kind muß immer wieder an die Regeln erinnert werden. Dabei helfen auch gleichbleibende Abläufe (Rituale). Sie erinnern an bestimmte Verhaltenserwartungen (vgl. Lauth u.a. 1999, S.83 ff.). Wenn die Eltern etwas sagen und das Kind an etwas erinnern, muß es erkennen, wann es die Eltern ernst meinen. Dieses vermitteln die Stimmlage und der Tonfall. Einmal warnen reicht zumeist, um das Kind an die bestehenden Absprachen zu erinnern. Konsequenzen, die beim Verstoß einer Regel folgen, sind vorher zu überlegen und mit dem Kind zu besprechen. Natürliche Konsequenzen sind sehr sinnvoll und förderlich. Das Kind wird dann daran beteiligt, den entstandenen Schaden zu beheben (vgl. ebd.; S.81 f.). 1 Auf das leidige Thema Hausaufgaben gehe ich im Kapitel 4.2.4 noch näher ein. Familie 24 ____________________________________________________________________________ „Je kürzer, deutlicher, knappe auf situationsangepaßtes Verhalten reagiert wird (nicht etwa mit Lachen auf kasperndes Verhalten am Mittagstisch), je eindeutiger auch in der Familienkommunikation geregelt ist, wer wann redet (unter Umständen auch mal mit Unterbrechung des ADS-Kindes und der Ermahnung, daß es warten muß, bis der andere ausgesprochen hat), desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß eine einigermaßen angenehme Familienatmosphäre entsteht.“ (Neuhaus 1999, S.133 4.2.1 Klare Anweisungen Um unnötigen Ärger, Komplikationen und Mißverständnisse zu vermeiden, ist es ratsam, immer klare Anweisungen an das aufmerksamkeitsgestörte Kind zu geben. Sie sind knapp und enthalten nur die wichtigsten Informationen. Bei solchen Anweisungen oder Aufforderungen sollten die Eltern knappe und klare Worte verwenden, Emotionen außer Acht lassen und versuchen, sachlich zu bleiben, keine Fragen formulieren, sondern das Kind direkt ansprechen, Vergangenes ruhen lassen. Nicht alles, was die Kinder hören, verstehen sie auch. Darum ist es bei komplizierteren Dingen wichtig, daß sich die Eltern versichern, daß das Kind die Aufforderung verstanden hat. Dazu wiederholt das Kind, was zu tun ist (vgl. Lauth u.a. 1999, S.90 f.). 4.2.2 Schwierige Situationen Es gibt die verschiedensten Situationen, in denen Probleme im Verhalten des aufmerksamkeitsgestörten Kindes auftauchen. verursachen häufig Schwierigkeiten: Hausaufgaben in der Öffentlichkeit Mutter telefoniert Besuch kommt gemeinsames Spiel mit anderen Kindern häusliche Pflichten erledigen waschen und baden Zubettgehen Mutter ist beschäftigt Folgende Situationen Familie 25 ____________________________________________________________________________ Mahlzeiten andere besuchen (vgl. Lauth u.a. 1999, S.85 f. und Steinhausen 1995, S.178 f.). Die Eltern kennen ihre Kinder am Besten. Sie dürften wohl wissen, wann es eher Probleme gibt und wann nicht. Nun heißt es: Strategien entwickeln. Wenn man die schwierigen Situationen kennt, sollten sie vermieden oder so gestaltet werden, daß die Schwierigkeiten geringer werden. Die Eltern müssen nun aktiv werden und die Bedingungen herstellen, die gut für das Kind sind. „Die Strategie heißt also: Agieren statt reagieren! (Lauth u.a. 1999, S.86) D.h. die Eltern sind dem Kind im planenden Denken voraus und lassen sich nicht von auftauchenden Schwierigkeiten überrollen. Solche Situationen sind von vornherein, anders zu gestalten. Damit die Probleme erst gar nicht auftauchen, müssen die Eltern Vorkehrungen, wie z.B. das Kind auf Besuch vorbereiten, den Einkauf planen, über „erwünschtes“ Verhalten sprechen, etc., treffen (vgl. ebd., S.87 ff.). „Agieren statt reagieren nützt aber auch dem aufmerksamkeitsgestörten Kind: Es wird nicht nur weniger Mißerfolge haben und seltener in Schwierigkeiten geraten, sondern auch mit den anderen besser zurechtkommen, erfolgreicher sein und mehr Selbstvertrauen fassen.“ (Lauth u.a. 1999, S.67) „Agieren statt reagieren“ ist demnach eine sehr wichtige Strategie Sie erleichtert beiden Parteien das Zusammenleben. Außerdem kann das Selbstwertgefühl des Kindes gefördert werden, was von großer Bedeutung ist. 4.2.3 Lob und Anerkennung Aufmerksamkeitsgestörte Kinder lernen anders. Oft brauchen sie länger, bis sie sich an Spielregeln halten oder bestimmte Situationen, die Probleme verursachen, unterlassen. „Sie brauchen einfach mehr Rückmeldungen, mehr Bestätigungen und deutlichere Konsequenzen für ihr Verhalten als andere Kinder. Bei ihnen ist es deshalb notwendig, Lob und Anerkennung gezielt einzusetzen.“ (Lauth u.a. 1999, S.91) Es ist also wichtig, aufmerksamkeitsgestörte Kinder so oft wie möglich für richtiges verhalten zu loben. Auf diesem Weg lernt das Kind, was erwartet wird und sich den Situationen entsprechend anzupassen. Außerdem findet es Aufmerksamkeit, auch wenn es nicht störend auffällt. Dieses ist sehr wichtig Familie 26 ____________________________________________________________________________ für das Kind. Denn plötzlich werden seine Stärken in den Vordergrund gerückt. Es gewinnt an Selbstsicherheit und Selbstvertrauen. Das Kind kann beispielsweise gelobt werden, daß es abwartet, wenn jemand redet, mit den Geschwistern spielt, aufhört herumzukaspern, sich einige Zeit allein beschäftigt, in der Küche hilft, erzählt, was es den Tag über so erlebt hat, eine Anweisung ausführt und sich an eine Regel hält, seine Hausaufgaben ohne lange Diskussionen erledigt, etc. (vgl. Lauth u.a. 1999, S.91 f.). Um Lob und Anerkennung zielbewußt einzusetzen, kann ein Belohnungssystem eingeführt werden. Es wird genau vereinbart, welches Verhalten und welche Reaktionen von dem Kind erwartet wird. Verhält es sich dementsprechend, bekommt es Wertmarken, die es sammeln kann und später gegen ein kleines Geschenk eintauscht. Durch ein solches Belohnungssystem bekommt das Kind direkte Rückmeldung über sein Verhalten. Es muß aber an konkrete Vorgänge gebunden sein, wie z.B. selbständig waschen, Spielsachen aufräumen, usw. Das Verhalten des Kindes verändert sich schnell (vgl. ebd., S.93). 4.2.4 Hausaufgaben Hausaufgaben sind für ein aufmerksamkeitsgestörtes Kind eine Qual. Es ist schwer, über eine längere Zeit ruhig zu sitzen, konzentriert zu arbeiten und sich eher mit „langweiligen“ Dingen zu beschäftigen. Das Erledigen der Hausaufgaben muß mit dem Kind richtig eingeübt werden. Denn häufig sind sie ein wichtiger Streitgrund, der die Beziehung zwischen den Eltern und dem Kind sehr belasten (vgl. Lauth u.a. 1999, S.93 f. und Neuhaus 1999, S.133 f.). Was können Eltern tun, um diese Situation zu entschärfen? Das Kind muß wissen, wo und wann es seine Hausaufgaben zu machen hat. Die Hausaufgaben sind am Besten, direkt nach dem Essen zu erledigen. Die Gestaltung des Arbeitsplatzes sollte so eingerichtet sein, daß das Kind ruhig und ungestört arbeiten kann. Es ist wichtig, alles vorher genau zu vereinbaren. Familie 27 ____________________________________________________________________________ Erledigen der Hausaufgaben bildet eine feste Arbeitseinheit, in der das Kind nicht herumlaufen, spielen oder telefonieren darf. Ablenkungen sind vom Kind fernzuhalten. Dadurch entstehen feste Gewohnheiten, an die sich das Kind orientiert (vgl. ebd., S.94 und ebd., S.134). Sind die Aufgaben komplexer und schwieriger, so daß längere Arbeitseinheiten nötig sind, empfiehlt es sich, die Hausaufgaben in unterschiedliche Zeitabschnitte zu unterteilen. Natürlich muß kontrolliert werde, was das Kind in dieser Zeit geschafft hat. Für Fortschritte sollte es gelobt werden. Außerdem braucht das Kind oft geeignete Hilfen. Darum sollten die Aufgaben besprochen werden, um sicher zugehen, das es verstanden hat, was zu tun ist. Dabei entwickelt das Kind schon häufig einen Plan, der zur Lösung führt. Deutliches Gliedern oder Unterteilen erleichtert die Herangehensweise an schwierigere Aufgaben (vgl. ebd., S95 und ebd., S.134 ff.). 4.3 Eigenen Freiraum schaffen Eltern aufmerksamkeitsgestörter Kinder sind weitaus gestreßter und damit auch gereizter als andere Eltern. Sie haben weniger Vertrauen in ihre erzieherischen Fähigkeiten, sind oft depressiv, streiten um Kleinigkeiten und haben Schuldgefühle. Das Zusammenleben mit einem aufmerksamkeitsgestörten Kind ist sehr schwierig. „Schwierig deshalb, weil die Kinder besondere Anforderungen stellen und mehr Zeit und Kraft beanspruchen als andere Kinder“ Lauth u.a. 1999, S.99) Aus diesem Grund ist es wichtig, daß die Eltern auch mal an sich denken und sich ihren eigenen Freiraum schaffen. Eigene Interessen müssen bestehen bleiben und nachgegangen werden, um Hilfen und Entlastung zu bekommen. Dadurch haben die Eltern wieder mehr Kraft, sich auf das aufmerksamkeitsgestörte Kind einzulassen (vgl. ebd.). Die Eltern finden „ihre innere Ausgeglichenheit“, die im Umgang mit dem Kind sehr wichtig ist. Sie sind ausgeruhter und besonnener, reagieren nicht so gereizt und entlasten die Situation. Auf diese Weise wird eine positivere Atmosphäre geschaffen, die beim Aufbau einer Beziehung zum Kind förderlich ist. Familie 28 ____________________________________________________________________________ Elterninitiativen/Elternselbsthilfegruppen können behilflich sein. Hier besteht die Möglichkeit, Erfahrungen auszutauschen und neue Ideen für den Umgang mit dem aufmerksamkeitsgestörten Kind zu bekommen (vgl. ebd., S.101 f.). 4.4 Fähigkeiten und Talente der Kinder Eigentlich sind die Fähigkeiten und Talente im Leben eines aufmerksamkeitsgestörten Kindes sehr wichtig. Allerdings werden sie in der Literatur nur sehr kurz behandelt. Ich möchte dennoch auf sie eingehen, da ich der Meinung bin, daß auch diese Kinder besondere Eigenschaften haben. Sie geraten nur sehr schnell in den Hintergrund und werden einfach nicht mehr beachtet. Es ist aber bedeutsam, sich ihrer zu erinnern, um dem Kind zu zeigen, daß auch sie bezaubernd und einzigartig sind. Dieses sollte dem Kind immer wieder gesagt bzw. gezeigt werden, wie z.B. durch loben, ich habe dich lieb, schön, daß es dich gibt, ich glaube an dich, etc. „Eltern kennen in der Regel die guten Eigenschaften ihrer Kinder schon, brauchen aber oft Hilfe, diese auch entsprechend wertzuschätzen und einzusehen.“ (Neuhaus 1999, S.107) Meistens geraten die positiven Seiten und Stärken der Kinder in Vergessenheit. Sie neigen zu Spontaneität und haben einen speziellen Sinn für Situationskomik. Dabei sind sie voller Ideen, flexibel, risiko- und entdeckungsfreudig. Das sind die besten Voraussetzungen für einen kreativen Beruf. Im Grunde sind sie auch anhänglich, wenn sie erst einmal Vertrauen gefaßt haben. Ihr kratzbürstiger Charme und ihr Ideenreichtum sind Züge, die sie unverwechselbar und liebenswert machen (vgl. Lauth u.a. 1999, S.35 f.). Aufmerksamkeitsgestörte Kinder sind sehr offen und für fast alles zugänglich. Mit fordernden Aufgaben steigt die Spannung und Motivation. Eigenständiges Erledigen, besonders bei positivem Ausgang, fördern das Selbstwertgefühl. „Wichtig ist, die „Leistungsinseln der Kompetenz“ nicht nur zu erkennen, sondern auch auszubauen und den Kindern die Möglichkeit zu geben, sich darin auch auszuleben, zur Verbesserung ihres Selbstwertgefühls.“ (Neuhaus 1999, S.108) Hat das Kind technische, musische, sportliche Begabungen, sollten sie weiter unterstützt werden. Sie sind zwar nicht für den Schulerfolg relevant, bauen aber das Selbstvertrauen auf. Außerdem kann man auf diese Weise der Entstehung von Sekundärproblemen effektiv entgegenwirken (vgl. ebd., S.108 f.). Familie 29 ____________________________________________________________________________ 4.5 Zusammenfassung Die Beziehung zwischen einem aufmerksamkeitsgestörten Kind und seinen Eltern ist häufig gereizt. Die Eltern kritisieren das Verhalten des Kindes und sehen es häufig als Sündenbock. Es ist wichtig eine tragfähige und vertrauensvolle Basis zu schaffen. Sie ist die Grundlage für jede weitere gemeinsame Auseinandersetzung und für ein harmonisches Zusammenleben. Die Eltern müssen lernen, ihr Kind mit den jeweiligen Fähigkeiten und Talenten zu unterstützen und hinter ihm zu stehen. Macht das Kind eine Bruchlandung, braucht es jemanden, der ihm beim Aufstehen behilflich ist. Um einen angenehmen Alltag einkehren zu lassen, ist es wichtig, daß er strukturiert wird und verbindliche Regeln aufgestellt werden. Diese Regeln gelten für jedes Familienmitglied. Die Eltern versuchen, dem Kind einen festen Rahmen zu geben, indem es sich frei bewegen kann. Routinen und feste Rituale helfen ihm dabei. Durch Lob und Anerkennung kann man das Kind lenken. Seine positiven Eigenschaften werden verstärkt. Im Leben der Eltern ist die wichtigste Strategie, von denen sie mehrere entwickeln müssen, um ein harmonisches Miteinander zu bekommen, „Agieren statt reagieren“. Das bedeutet: Sie müssen im Voraus planen und denken, um Situationen vermeiden zu können, die dem Kind Probleme machen. Dadurch entspannt sich die Situation zwischen beiden Parteien. Häufig fühlen sich die Eltern auch überfordert mit der Erziehung ihres Kindes. Sie sind erschöpft und wissen nicht mehr, woher sie für die nächste Auseinandersetzung die Kraft nehmen sollen. Aus diesem Grund ist es wichtig, daß die Eltern selbst innerlich ausgeglichen sind, um ihrem Kind die nötige Stabilität zu geben. Sie müssen auch mal an sich denken und ihren eigenen Interessen nachgehen. Natürlich ist alles leichter gesagt als getan. Bestimmt stoßen die Eltern auch auf Unverständnis, wenn sie von ihren Problemen mit dem Kind erzählen. Werden die Eltern nicht für das Fehlverhalten der Kinder zur Verantwortung gezogen? Wenn man alle Regeln, die den Eltern in den Büchern empfohlen werden, befolgt, ist es dann nicht ein Kinderspiel mit einem aufmerksamkeitsgestörten Kind? Warum tauchen dann immer noch so viele Probleme auf, die zu eskalieren scheinen? Ganz einfach: Man kann kein Kind nach einem Buch erziehen, sondern jedes Kind muß seinen Fähigkeiten Familie 30 ____________________________________________________________________________ entsprechend gefördert und angenommen werden. Jedes Kind ist einzigartig. Die Eltern sind gefordert, je nach Kind, die für ihn bestmöglichen Strategien und Hilfen zu entwickeln. Auch die Eltern brauchen dabei die Unterstützung der Gesellschaft, denn wie sollen sie sie sonst ihren Kindern geben, wenn sie selbst nicht angenommen werden und am Pranger stehen. Therapie 31 ____________________________________________________________________________ 5. Therapie Es gibt ein reichhaltiges Angebot, was die Therapiemöglichkeiten betrifft. Darum möchte ich zuerst einige Therapien kurz vorstellen, bevor ich auf drei verschiedene Therapieformen, auf die Verhaltenstherapie, die Behandlung mit Medikamenten und die motorische Übungsbehandlung näher eingehe und sie erläutere. Natürlich setzen die vielfältigen Therapien bei unterschiedlichen Schwerpunkten an und haben deshalb verschiedene Wirkungsweisen und Erfolge. Die folgenden Therapien beziehen sich hauptsächlich auf die Kernsymp-tome der Aufmerksamkeitsstörung und deren unmittelbare Folgen. Dabei gelten sie als erfolgreich. Verhaltenstherapie: Das Kind soll lernen, sein Verhalten zu kontrollieren, zu regulieren und zu steuern. Nach Möglichkeit werden die Familie und wichtige Personen aus dem näheren Umfeld des Kindes mit in die Therapie einbezogen. Momentan ist diese Therapie eine der erfolgreichsten. Familientherapie mit verhaltensorientierter Ausrichtung: Hier wird die gesamte Familie behandelt. Dabei stehen problematische Beziehungsmuster im Mittelpunkt. Medikamention mit anregenden Mitteln: Medikamente verringern die Kernsymptome der Aufmerksamkeitsstörung, doch ein Erfolg ist nur so lange gewährleistet, wie das Medikament eingenommen wird. Darum empfiehlt sich hier eine Kombination mit einer anderen Therapie. Entspannungstraining für das Kind: Diese Möglichkeit wirkt sich oft positiv auf das Kind aus, sollte aber mit einer verhaltensorientierten Therapie ergänzt werden (vgl. Lauth u.a. 1999, S.112 ff.). Einen eher mäßigen Erfolg versprechen die nun folgenden Therapiemöglichkeiten, denn diese Therapien setzen nicht am Störungsbild an, sondern konzentrieren sich mehr auf allgemeine Begleiterscheinungen. Diät-Therapie: Bei dieser Therapie sollen unterschiedliche Substanzen, z.B. Hafer, nicht in der Nahrung des Kindes enthalten sein. Allerdings erweist sich diese Therapieform langfristig meist als wenig wirksam. Motorische Übungsbehandlung: Diese Therapie ist besonders geeignet, um Mängel in der Fein- und Grobmotorik sowie bei der Bewegungssteuerung auszugleichen. Dennoch sollte sie nicht als alleinige Therapieform Therapie 32 ____________________________________________________________________________ angewandt werden, da sie nicht die Kernsymptome anspricht. Zur Ergänzung mit einer anderen Therapie ist sie gut geeignet. Psychoanalytische Behandlung: Diese Therapie geht davon aus, daß die Aufmerksamkeitsstörung ein Ausdruck tiefgehender Probleme ist. Sie ist aber sehr umstritten und kaum wirksam. Heilpädagogische Behandlung: Es werden allgemeine Grundfertigkeiten, die die Informationsverarbeitung fördern, eingeübt. Gelingt es in der Behandlung an den spezifischen Schwächen anzusetzen, kann diese Therapie durchaus zum Erfolg führen. Die Bach-Blüten-Therapie, Festhaltetherapie und Kinesiologie sind Therapieformen, die eher fraglich betrachtet werden sollten. Diese Therapien beruhen auf einer bestimmten Ideologie. Es wird sogar vermutet, daß sie sich negativ auf das Kind auswirken können (vgl. ebd.). 5.1 Verhaltenstherapie „In der Verhaltenstherapie lernt das Kind hauptsächlich, sein Verhalten besser zu steuern, sich vor vorschnellen Aktionen zu schützen und genau zu überlegen, „was angesagt ist“, auch wenn es darum geht, mit anderen Kindern besser zurechtzukommen. Die Eltern und die übrige Familie lernen, diese Ziele durch konstruktives Verhalten zu fördern.“ (Lauth u.a., S.128) Das Kind steht im Mittelpunkt der Verhaltenstherapie. Es soll lernen: sein eigenes Verhalten zu steuern und zu kontrollieren, sich in sozialen Bezügen besser zurechtzufinden, über Aufgaben nachzudenken und beim Lösen genauer hinzuschauen und Informationen besser auszunehmen und umzusetzen. Dabei werden auch die Eltern in die Therapie einbezogen. Sie leben tagtäglich mit dem Kind zusammen und sollten darum erlernen, wie sie besser mit dem Kind umgehen, sein Verhalten positiv beeinflussen und möglichst wirkungsvoll unterstützen. Dazu muß der Alltag so umgestaltet werden, daß wenig Probleme und Konflikte auftreten, die das Kind verunsichern und ablenken können. Positives Verhalten sollte dabei im Auge behalten und gefördert werden. Anweisungen, die man an das Kind stellt, sollten klar, deutlich und einfach sein, damit das Kind sie versteht und befolgen kann. Dafür ist es notwendig, daß die Eltern genügend Informationen und Wissen über die Aufmerksamkeitsstörung vermittelt bekommen. Sie müssen diese Therapie 33 ____________________________________________________________________________ Aufmerksamkeitsstörung als eine Handlungsbeeinträchtigung verstehen und sehen (vgl. Lauth u.a. 1999, S.128 f. und S.135 f.). Doch wie sieht die Therapie aus? Zuerst werden die Schwierigkeiten des Kindes festgestellt, um für das Kind einen speziellen Behandlungsplan aufzustellen. Dieser besteht aus verschiedenen Therapiebausteinen, z.B. Behandlung der Grundstörung, Verbesserung des Arbeits- und Sozialverhaltens. Ein wichtiger Therapiebaustein ist dabei das Erlernen von Selbststererung. „Die Kinder sollen lernen, ihr Verhalten besser zu regulieren, was vor allem bei ausgeprägter Daueraufmerksamkeit, stark ausgeprägter Impulsivität und starker Bewegungsunruhe Ihres Kindes geboten ist.“ (Lauth u.a. 1999, S.131) Zunächst wird dem Kind, dem Alter entsprechend, Wissen und Informationen über Aufmerksamkeitsstörungen vermittelt. Es soll erkennen, worin seine Schwierigkeiten bestehen und wie es damit umgehen kann. Wichtig ist, das Kind zur aktiven Mitarbeit zu motivieren. Vor allem ist das Einüben von Grundfertigkeiten, wie genau hinzuschauen, genau zuzuhören, Wahrgenommenes wiederzugeben, etc. zu erlernen. Sie sind Voraussetzung für spätere kompliziertere Tätigkeiten. Empfehlenswert ist dabei der Einsatz eines Belohnungssystems. Dadurch erhält das Kind eine Rückmeldung, und erwünschtes Verhalten wird positiv beeinflußt. Weiter lernt es, erst zu überlegen und nachzudenken, bevor es etwas tut. Es gibt sich selbst Anweisungen und steuert sich damit allein. Dieses verzögerte und überlegte Vorgehen soll von dem Kind auch im Alltag angewendet werden. Dafür diskutieren der Therapeut und das Kind über gemachte Erfahrungen. Es ist darauf zu achten, daß das Kind die Schlußfolgerungen für sich selbst zieht, denn nur die Einsicht des Kindes kann eine Veränderung des Verhaltens erreichen (vgl. Lauth u.a. 1999, S.131 ff.). Ein zusätzlicher Therapiebaustein ist Lernen, geplant vorzugehen. Die Kinder sollen ihr Verhalten vorausplanen, einer Strategie zuordnen und folgen. Das Kind soll erkennen, wann und warum es sinnvoll ist, sich selbst die Frage „Was ist wichtig?“, „Worum geht es hier?“, etc., zu stellen, wenn es schwieriger und komplizierter wird. Dafür diskutiert der Therapeut mit dem Kind, und sie entwickeln gemeinsam die Therapieziele. Therapie 34 ____________________________________________________________________________ Das Kind soll lernen, sich Selbstanweisungen zu geben, um erfolgreiche Strategien zum Lösen von Problemen zu erreichen. Erlernte Vorgehensweisen werden auf komplexere Tätigkeiten übertragen. Entscheidend ist die Einsicht der Kinder, daß die erlernten Strategien auf Alltagssituationen übertragbar sind. Darum werden in den letzten Trainingseinheiten schulische Inhalte aufgegriffen (vgl. ebd.). Darüber hinaus haben aufmerksamkeitsgestörte Kinder häufig soziale Probleme. Deshalb ist das Lernen, wie man sich sozial angemessen verhält ein zusätzlicher Baustein der Verhaltenstherapie. „Um so wichtiger ist es, in der Therapie sehr genau auf ihre sozialen Schwierigkeiten einzugehen und nicht nur über die Schwierigkeiten zu sprechen, sondern dem Kind ganz konkrete Dinge beizubringen, etwa das Verhalten anderer Kinder angemessen deuten zu können, sich zu überlegen, was die anderen Kinder beabsichtigen, Wünsche angemessen zu äußern, mit berechtigter Kritik umzugehen, unberechtigte Vorwürfe oder Hänseleien zurückweisen zu können.“ (Lauth u.a. 1999, S.139) Um positives soziales Verhalten zu lernen, sollten nach Lauth u.a. (1999, S.141 ff.) folgende Themen berücksichtigt werden: Die Kinder erlernen soziale Ereignisse und ihre Mitmenschen entsprechend wahrzunehmen. Dabei ist auf die Körperhaltung, Gestik und Mimik zu achten. Die Kinder lernen, genauer hinzuschauen, Gefühle zu respektieren und ihren Blickwinkel zu verändern. Kommunikation ist die Voraussetzung für jedes Miteinander und um Freundschaften zu entwickeln. Das aufmerksamkeitsgestörte Kind lernt, mit anderen Personen ein Gespräch zu führen, das Thema im Auge zu behalten und angemessenes nonverbales Verhalten zu zeigen. Es wird außerdem geübt, wie das aufmerksamkeitsgestörte Kind erfolgreich Kontakt zu anderen Kindern herstellen kann. Die Kinder sollen die Fähigkeit entwickeln, ein Problem genau zu benennen, mögliche Lösungen zu finden und die Folgen der Lösungen abzuwägen, um damit Schwierigkeiten vorzubeugen. Kontrolle über das eigene Verhalten ist bei sozialen Schwierigkeiten sehr wichtig. Aus diesem Grund lernen die Kinder, Ärger zu kontrollieren und Alternativen zu entwickeln. Dafür ist es notwendig, die Signale, die ihnen der Körper im erregtem Zustand vermittelt, zu erkennen. Therapie 35 ____________________________________________________________________________ Positive Selbstbehauptung ist ein weiteres Ziel. Dadurch können Aggressionen abgebaut werden. Aufmerksamkeitsgestörte Kinder, die zu Aggressionen und Depressionen neigen, finde ebenfalls Hilfestellungen in der Verhaltenstherapie. Hier hilft häufig auch der Einsatz von Entspannungsübungen (vgl. Lauth u.a. 1999, S.143 ff.). 5.2 Medikamentöse Behandlung Häufig werden Aufmerksamkeitsstörungen mit Medikamenten behandelt. Das sind vorwiegend Psychostimulantien („Aufputschmittel“), die eine anregende Wirkung auf das Gehirn haben. Besonders die Gebiete, die für Planung und Steuerung des Verhaltens verantwortlich sind, werden beeinflußt. Dadurch wird das Gehirn besser aktiviert, und dem Kind fällt es leichter sich zu steuern und aufmerksam zu sein (vgl. Lauth u.a. 1999, S.146 f. und Neuhaus 1999, S.193 f.). Die Grundmerkmale der Aufmerksamkeitsstörung, also die Bewegungsunruhe und die Impulsivität sowie sie Ausdauer, sich länger mit einer Sache zu beschäftigen, werden durch die Medikamente gelindert. Allerdings sind diese Verbesserungen in diesen Bereichen nur so lange gegeben, wie das Medikament regelmäßig eingenommen wird. „Nicht so gut steht es allerdings um die Langzeitwirkung. Wird das Medikament abgesetzt, verhält sich das Kind meist wieder wie früher, das heißt, die zuvor beklagten Probleme und Schwierigkeiten kommen wieder zum Vorschein. So gesehen können derartige Medikamente die Aufmerksamkeitsstörung also nicht heilen, wohl aber die Grundmerkmale der Störung verringern.“ (Lauth u.a. 1999, S.147) Außerdem haben Psychostimulantien, wie alle anderen Medikamente auch, Nebenwirkungen. Häufig treten Appetitveränderungen, Schlafstörungen sowie Kopf- und Magenschmerzen auf. Direkt mit der Einnahme kommt es zu leichter Übelkeit oder auch zu Schwindelzuständen. Es gibt aber keine direkten Hinweise, daß eine regelmäßige Einnahme zu Suchtverhalten führt. Trotzdem besteht das Risiko, daß sich das Kind an die Medikamente gewöhnt und bei Problemen die Lösung in der Einnahme von dem Präparat sucht. In der Wirkzeit des Medikamentes hilft es dem Kind, sich zu konzentrieren, ruhig zu bleiben und sich angemessen verhalten zu können. Aber das Medikament löst nicht alle Probleme (vgl. Neuhaus 1999, S.197 ff.). Therapie 36 ____________________________________________________________________________ „Insgesamt gesehen sind Psychostimulantien eine nützliche Hilfe für den „Notfall“, dauerhafte und umfassende Verbesserungen lassen sich damit allein jedoch nicht erreichen. Medikamente sind außerdem ein gelegentlich notwendiger Therapiebaustein, der durch andere Maßnahmen, wie z.B. Lerntraining, Vermittlung sozialer Fertigkeiten und Elternberatung, ergänzt werden muß.“ (Lauth u.a. 1999, S.149) Medikamente können also helfen, dennoch eignen sie sich nicht als alleinige Therapieform, sondern sollten z.B. mit einer Verhaltenstherapie kombiniert werden. Beide Therapien müssen dabei gut aufeinander abgestimmt sein, damit das Kind lernt, wie es in schwierigen Situationen ohne Medikamente auskommt. D.h. die Dosierung des Medikamentes wird nach und nach verringert, dafür die psychologische Behandlung intensiviert (vgl. ebd., S.153). Wann ist es denn überhaupt notwendig und sinnvoll, eine Behandlung mit Medikamenten in Betracht zu ziehen? „Unter Umständen können andere therapeutische Methoden erst wirksam greifen, wenn das Kind durch Medikamention „erreichbar“ geworden ist.“ (Neuhaus 1999, S.192) Das Kind sollte sich in einer krisenhaften Situation befinden: Es sollte extrem unruhig und störend sein. Dabei sollte ein deutlicher Entwicklungsrückstand mit Teilleistungsschwächen, massive Sekundärprobleme der Aggressivität und Hilflosigkeit des Kindes und der Eltern vorliegen. Häufig hat das Kind sich schon aufgegeben. In diesen Fällen ist es sinnvoll und ratsam, über eine Behandlung mit Medikamenten nachzudenken (vgl. ebd. Und Lauth u.a. 1999, S.154 f.). 5.3 Motorische Übungsbehandlung (Psychomotorik) Der Begründer der Psychomotorik ist Ernst J. Kiphard. Er sieht den Ansatz der Psychomotorik in einem „System aus Bewegungsverhalten zusammen mit Wahrnehmungsgenauigkeit, intellektuellen Informationsverarbeitungsmechanismen, vor dem Hintergrund von Motivation und der Fähigkeit, den Eigenantrieb und auch die Emotion regulieren zu können.“ (Neuhaus 1999, S.218) Außerdem geht Kiphard davon aus, daß ein aufmerksamkeitsgestörtes Kind nicht ausreichend Erfahrungen im Bereich der taktilen Wahrnehmung und des Gleichgewichtsempfindens1 machen konnte. 1 vgl. Kapitel 3. „Sekundärprobleme“ Therapie 37 ____________________________________________________________________________ Heute wird diese Behandlung von Mototherapeuten und Diplom-Sportlehrern angeboten. Um gerade die Wahrnehmung zu fördern, wird in der Therapie viel mit diesen Kindern gewippt, geschaukelt, gesprungen und gerutscht. Es gelten eindeutig festgelegte Strukturen und Regeln. Das gibt den Kindern Sicherheit und sie lernen mit gezielten Bewegungen ihre Hyperaktivität zu kontrollieren. Sie erleben meistens eine Steigerung der Wahrnehmungsfähigkeit, der räumlich-zeitlichen Orientierung und der Körperkontrolle. Allerdings wird die Grundstörung nicht verbessert. Die Aufmerksamkeit und die Motivation, etwas an dem störenden Verhalten zu verbessern, wird nicht gegeben. Dennoch kann sich eine motorische Übungsbehandlung positiv auf das Kind auswirken. Hier kann es sich frei bewegen und mit anderen Kindern zusammen verschiedene Tätigkeiten ausprobieren. Als Bewegungsausgleich ist diese Therapieform in Kombination mit einer psychologischen Behandlung gut geeignet (vgl. ebd. und Lauth u.a. 1999, S166 f.). „Offensichtlich wird durch diese Behandlung aber die Bewegungsfreude angeregt, und das Kind kann sich mit anderen Kindern zusammen in unterschiedlichen (auch risikoreichen) Aktivitäten erproben. Psychomotorische Übungen sollten zwar nicht als ausschließliche bzw. alternative Therapie eingesetzt werden, die Einübung solcher Fertigkeiten kann jedoch durchaus förderlich sein, um dem Kind neue Bewegungserfahrungen zu ermöglichen und seine sozialen Kontakte zu erweitern.“ (Lauth u.a. 1999, S.167) 5.4 Zusammenfassung Es gibt eine Vielzahl von Therapiemöglichkeiten, wobei einige weniger bzw. mehr Erfolg aufweisen. Sie haben alle unterschiedliche Ansatzpunkte. In meiner Arbeit habe ich mich speziell für die Verhaltenstherapie, die medikamentöse Behandlung und die Psychomotorik entschieden. Zu einem aus dem Grund, daß der Rahmen meiner Arbeit nur begrenzt ist und allein aus den ganzen Therapiemöglichkeiten eine eigene Ausarbeitung machbar wäre und zum anderen sind diese drei Therapieformen die bekanntesten sowie auch die gängigsten. Ich gebe nur einen kurzen Einblick in die Verhaltenstherapie und die Psychomotorik. Wer sich ausführlicher dazu informieren möchte, dem empfehle ich folgende Bücher: Lauth und Schlottke, 1999: „Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern – Diagnostik und Therapie“ und Passolt 1993: „Hyperaktive Kinder: Psychomotorische Therapie“. Therapie 38 ____________________________________________________________________________ Die Verhaltenstherapie besteht aus unterschiedlichen Bausteinen. Es wird direkt bei dem Hauptsymptomen der Aufmerksamkeitsstörung angesetzt. Die Eltern werden mit in die Therapie einbezogen. Ziel ist es, das „störend-negati ve“ Verhalten der Kinder zu beeinflussen, und die Kinder dahin zu lenken, daß sie sich selbst kontrollieren und steuern können, wenn schwierige Situationen auf sie zukommen. Diesen Ansatz der Therapie finde ich nutzbringend, die Verhaltensweisen der Kinder angegriffen werden und nicht die Begleiterscheinungen. Es wird gezielt daraufhin gearbeitet, das die Kinder lernen, ihr Verhalten anzupassen und zu steuern. Außerdem wird bei den positiven Eigenschaften des Kindes angesetzt, um diese in den Vordergrund zu rücken. Dem Kind wird dadurch ein besseres Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen vermittelt. Häufig wird diese Therapieform mit der medikamentösen Behandlung kombiniert. Diese setzt zwar auch bei der Grundstörung an, sollte aber nicht als alleinige Therapie genutzt werden. Medikamente greifen direkt in die Informationsverarbeitung des Gehirnes ein. Auf diese Weise wird versucht, das Gehirn zu aktivieren und die Informationsweitergabe von Reizen zu erhöhen. Die Kinder sind zwar ruhiger und können sich länger mit einer Sache beschäftigen, allerdings nur so lange die Wirkdauer des Medikamentes vorliegt. Meiner Meinung nach kann das Kind Gefahr laufen, in den Medikamenten die Lösung seiner Probleme zu sehen. Darum sollte diese Form der Therapie genau überlegt sein. Die Psychomotorik ist ebenfalls eine Möglichkeit der Therapie. Sie ist förderlich, um die Motorik und das Gleichgewicht des Kindes zu verbessern. Hier sind die Kinder in der Lage, sich zu bewegen, sich in einer Gruppe zu orientieren und verschiedene Aktivitäten erproben. Dennoch ist die Psy-chomotorik als alleinige Therapie nicht sinnvoll. Sie setzt nicht direkt bei den Hauptsymptomen an, sondern eher die Bewegungsunruhe bei den Kindern. In Kombination mit einer psychologischen Therapie hat sie natürlich ihren Reiz. Die Kinder können Erfahrungen in der Gruppe sammeln und sich „austoben“. Außerdem fördert sie die soziale Integration. Schlußbetrachtung 39 ____________________________________________________________________________ 6. Schlußbetrachtung – Ein Kind mit „nur“ Problemen? An dieser Stelle nehme ich Stellung zu meinem Thema „Kinder mit Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung – Ein Kind mit „nur“ Problemen?“. Dabei gehe ich näher auf die schwierige Situation der Eltern und des Kindes sowie den Konsequenzen seines Verhaltens ein. Ein aufmerksamkeitsgestörtes Kind und seine Eltern haben eine problematische Stellung in unserer Gesellschaft. Das Kind fällt durch sein „störend-negatives“ Verhalten immer auf, und es paßt nicht in das Bild eines „Muster- und Vorzeigekindes“. Doch wer ist ein „Muster- und Vorzeigekind“? Welche Kriterien und Anforderungen muß ein Kind erfüllen, um eines zu sein? Wer stellt diese? Setzt sich die Gesellschaft damit nicht selbst unter Druck, um in einen bestimmten Rahmen zu passen und ihm zu entsprechen? Für die Eltern eines aufmerksamkeitsgestörten Kindes ist es eine doppelte Belastung. Zu einem der Druck, seinem Kind gegenüber verantwortlich zu sein und zum anderen der Druck der Gesellschaft, sich ständig vor ihr rechtfertigen zu müssen. Häufig wird das Erziehungsverhalten der Eltern von der Gesellschaft angegriffen, und sie sind gezwungen, sich mit deren Vorurteilen auseinanderzusetzen. Sollte die Gesellschaft nicht mehr Toleranz, Akzeptanz und Unterstützung zeigen? Erfolgt nicht zu schnell eine Etikettierung und Stigmatisierung der Familie? Hier ist der Einsatz von Sozialpädagogen/innen möglich. Sie könnten durch Öffentlichkeits- und Informationsarbeit dem entgegenwirken. Außerdem muß diese Familie stärker in die Gesellschaft sozial integriert und unterstützt werden. Die Situation der Eltern ist schon schwierig genug, dem Kind gegenüber die Verantwortung zu tragen, daß es ein gesundes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl entwickeln kann. Schließlich sind dieses Grundvoraussetzungen, um sich in dieser Gesellschaft zurechtzufinden und überleben zu können. Mit Hilfe des Elterntrainings in der Verhaltenstherapie ist es einfacher für die Eltern, das Kind von einer anderen Seite zu betrachten. Durch den Druck, der auf den Eltern lastet, vergessen sie häufig die positiven Fähigkeiten des Kindes. Doch auch diese Kinder sind mit ihrer Einzigartigkeit sehr liebenswert. Schlußbetrachtung 40 ____________________________________________________________________________ Die Kinder haben durchaus Talente. Leider geraten sie auch in der Literatur zu kurz. Darüber habe ich nur in zwei Büchern etwas gefunden, welsches nicht sehr umfangreich war. Das finde ich schade und halte es für besonders wichtig, darauf in der Zukunft zu achten, dem stärker nachzukommen. Es ist natürlich schwer für diese Kinder, ihr Verhalten zu verändern. Besonders, wenn auch in der Literatur überwiegend nur von ihren Makeln und Defiziten gesprochen wird. Die Kinder werden ständig getadelt, ermahnt und kritisiert. Ist das Leben für sie nicht schon schwer genug? Schließlich fällt es ihnen schwerer, sich in dieser Welt zurechtzufinden und ihren eigenen Weg zugehen. Durch die Vielzahl der Probleme und ihren Konsequenzen ist ihnen schon eine schwere Hürde auferlegt. Eine positive und sinnvolle Therapie ist deshalb empfehlenswert. Sie muß darauf ausgerichtet sein, das Kind zu bestärken und zu fördern. Häufig ist es ratsam, das Kind nicht nur in eine psychologische Behandlung zu geben, sondern auch den pädagogischen Aspekt zu beachten, wie z.B. eine Kombination von Verhaltenstherapie mit Psychomotorik oder Rhythmisch – Musikalische Früherziehung. Diesen Ansatz finde ich persönlich fördernd. In der Verhaltenstherapie kann das Kind lernen mit seinem Verhalten zu leben. Die pädagogische Seite hilft ihm, sich besser in sein Lebensumfeld zu integrieren und sozial angenommen zu fühlen. Spezielle Interessen sollten von den Eltern ernst genommen und unterstützt werden. Wichtig dabei ist, auf bestimmte Regeln und Forderungen, die mit dem Kind zu vereinbaren sind, zu achten. Alles in allem ist ein aufmerksamkeitsgestörtes Kind ein Kind wie jedes anderes. Es fällt ihm nur schwerer, sich in dieser Welt zu orientieren und braucht darum mehr Hilfe. Oft treibt es einen an den Rand der Verzweiflung, doch im darauffolgenden Moment ist es charmant und liebenswert. Literaturverzeichnis 41 ____________________________________________________________________________ 7. Literaturverzeichnis DAVISON, GERALD C., NEALE, JOHN M.: Klinische Psychologie, Beltz Verlag, Weinheim, 1996 LAUTH, GERHARD W., SCHLOTTKE, PETER F.: Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern – Diagnostik und Therapie, Beltz Verlag, Weinheim, 4. Aufl. 1999 LAUTH, GERHARD W., SCHLOTTKE, PETER F., NAUMANN, KERSTIN: Rastlose Kinder, ratlose Eltern – Hilfen bei Überaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2. Aufl. 1999 MYSCHKER, NORBERT: Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen – Erscheinungsformen, Ursachen, Hilfreiche Maßnahmen, Kohlhammer Verlag, Stuttgard, 1993 NEUHAUS, CORDULA: Das hyperaktive Ravensburger, Berlin, 5. Aufl. 1999 Kind und seine Probleme, PASSOLT, MICHAEL (Hrsg.):Hyperaktive Kinder: Psychomotorische Therapie, Reinhardt Verlag, München, 1993 PETERMANN, FRANZ (Hrsg.):Kinderverhaltenstherapie – Grundlagen und Anwendungen, Schneider Verlag, Hohengehren, 1997 SAß, HENNING, WITTCHEN, HANS-ULRICH, ZAUDIG, MICHAEL, HOUBEN, ISABEL: Diagnostische Kriterien – DSM IV, Hogrefe Verlag, Göttingen 1998 STEINHAUSEN, HANS-CHRISTOPH (Hrsg.): Hyperkinetische Störungen im Kindes- und Jugendalter, Kohlhammer Verlag, Stuttgard, 1995 TIETZE-FRITZ, PAULA: Integrative Förderung in der Früherziehung – Entwicklungsgefährdete Kinder und ihre psychomotorischen Fähigkeiten, borgmann, Dortmund, 1997 VERNOOIJ, MONIKA A.: Hampelliese – Zappelhans – Problemkinder mit Hyperkinetischem Syndrom - Unter besonderer Berücksichtigung des individualpsychologischen Aspektes, Haupt – Verlag, Bern, 1992 Erklärung 42 ____________________________________________________________________________ Erklärung Ich versichere, daß ich die Prüfungsleistung selbständig verfaßt und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Meine Prüfungsleistung hat in dieser Form noch keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegen. Fulda, den 31. Januar 2000 ________________________