Learning by Viewing? Eine qualitative Studie zu den Auswirkungen einer Geschichtsspielfilmanalyse auf Vorstellungen und narrative Kompetenz von Schülerinnen und Schülern (Arbeitstitel) 1. Problembereich 2 1.1. Historisches Erzählen 2 1.2. Narrative Kompetenz 3 1.3. Niveaus 4 1.4. Förderung der narrativen Kompetenz durch geschichtliche Spielfilme 4 2. Forschungsstand 7 3. Erkenntnisinteresse 11 4. Forschungsdesign 13 5. Übersicht über die einzelnen Erhebungsschritte 15 5.1. Narrationen der Schülerinnen und Schüler (Prä) 15 5.2. Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler (Prä) 16 5.3. Sichtung des Films, erlebte Emotionen 17 5.4. Analyse des Films 17 5.4.1. Historische Hintergrundnarration 17 5.4.2. Emotionale Narration 18 5.4.3. Ästhetisch-visuelle Narration 19 5.4.4. Wirkung des Filmes 19 5.5. Narrationen der Schülerinnen und Schüler (Post) 20 5.6. Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler (Post) 20 6. Vorläufige Gliederung 21 7. Vorläufige Literaturliste 23 Anhang: Übersicht über die Unterrichtseinheit und Unterrichtsmaterialien 1. Problembereich 1.1 Historisches Erzählen1 Es gibt keinen Bereich unserer Alltagspraxis, in dem nicht erzählt wird. Allen Erzählungen ist die gleiche Grundstruktur gemeinsam, so dass auf den ersten Blick keine Unterschiede zwischen dem Erzählen allgemein und dem historischen Erzählen bestehen. Historische Erzählungen sind jedoch weit mehr als bloße Reihungen. Die in die Erzählung aufgenommenen Sachverhalte (und das sind üblicherweise viel weniger als alle möglichen Dinge, die sich ,ereignet‘ haben) werden nämlich nicht nur aneinandergefügt, sondern aufeinander: So erhält das Geschehene als Geschichte Struktur und Gestalt und die Gestalt Bedeutung (Barricelli spricht hierbei auch von einer synthetisierenden Form der Wahrnehmungsorganisation). Indem die Erzählung reale Einzelvorkommnisse durch Narrativierung in eine bedeutungsvolle Reihung bringe, erklärt sie dieselben auch. Zwischen der reinen Beschreibung eines Ereignisses und einer narrativen Darstellung, die ein erkenntnisproduzierendes Verfahren darstellt, besteht demnach ein signifikanter Unterschied. Das Aufzählen bzw. die Addition von Ereignissen ist noch kein Erzählen, da die einzelnen Ereignisse beim Erzählen in einem Sinnzusammenhang stehen und insofern auf Sinnbildung über Zeiterfahrung hindeuten.2 Historische Erzählungen verfügen demnach über ein fachspezifisches Erklärungspotenzial. Das Spezifikum historischer Erzählung ist also in der Sinnbildung zu sehen. Darüber hinaus gibt es weitere konstitutive Merkmale der historischen Erzählung bzw. historischer Narrativität, die eine historische Erzählung von der literarisch-belletristischen bzw. fiktiven (alltäglichen oder künstlerischen) Erzählpraxis unterscheidet.3 Zu diesen Merkmalen gehört die Retrospektivität, d.h. dass das Vergangene von seinem Ausgang her bzw. aus der Gegenwart (des fragenden Historikers oder der fragenden Historikerin) heraus ‚erkannt’ wird. Hinzu kommt die Selektivität, nach der das Geschehen aus einer einzelnen oder wenigen bestimmten Perspektiven heraus betrachtet wird. Einzelheiten, die nicht im Interesse dieser Perspektive liegen, werden ausgeblendet. Weiterhin wird das Geschehen als lineare bzw. chronologische Abfolge beschrieben (Sequenzialität). Zur Darstellung gehören die Raffung sowie (seltener) Dehnung, Sprünge, Vor- und Rückgriffe. Ein weiteres 1 Die Ausführungen dieses Abschnitts beruhen soweit nicht anders gekennzeichnet auf: Barricelli: Historisches Erzählen: Was es ist, soll und kann, in: Hartung, Olaf/ Steininger, Ivo/ Fuchs, Thorsten (Hg.): Lernen und Erzählen interdisziplinär, Wiesbaden 2011, S. 61-82. 2 Vgl. Pandel, Hans-Jürgen: Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht (Methoden historischen Lernens), Schwalbach/Ts. 2010, S. 16 und S. 25. Der Ausdruck „Sinnbildung über Zeiterfahrung“ geht zurück auf Jörn Rüsen, der seine Theorie erstmals 1982 darstellte, vgl. Rüsen, Jörn: Geschichtsdidaktische Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historik, in: Quandt, Siegfried/ Süssmuth, Hans (Hg.): Historisches Erzählen. Formen und Funktionen, Göttingen 1982., S. 129-170. 3 Diese gehen zurück auf geschichtstheoretische Überlegungen von White, Hayden: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt M. 1990; White, Hayden: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1991 sowie Pandel 2010, S. 75-78. 2 Merkmal ist die Konstruktivität bzw. Imagination. Geschichten sind im Gegensatz zur sich vollziehenden Wirklichkeit etwas nachträglich Gemachtes. Somit bleibt, was Historikerinnen und Historiker tun, immer Konstruktion. Historische Texte sind und bleiben demnach lediglich Interpretationen und stellen niemals ein Abbild oder eine ‚Schilderung‘ der vergangenen Wirklichkeit dar. Dies betrifft sogar die historischen Fakten: Wann immer eine Historikerin oder ein Historiker auf einen Vergangenheitspartikel stößt, hat sie oder er bereits eine Erzählung im Kopf, in deren Zusammenhang jenes einzubauen ist oder in die es eben nicht passt, weshalb es ausgesondert wird. Geschichtliche Narrationen sind jedoch keineswegs beliebig, sondern unterliegen dem Rationalitätsanspruch der Geschichte. Jörn Rüsen führte in diesem Zusammenhang das Kriterium der „Triftigkeit“ (allgemeiner: Plausibilität) ein, das jede Erzählung erfüllen sollte, um Geltung im gesellschaftlichen Umgang mit erzählter Vergangenheit zu erlangen. Triftigkeit bildet sich ihm zufolge auf drei Ebenen ab, der empirischen, normativen und narrativen, was verkürzt mit Quellentreue, Transparenz der Darstellungsabsichten und Einhaltung eines kulturell überkommenen Geschichtenschemas wiedergegeben werden kann.4 1.2 Narrative Kompetenz Wenn die Domänenspezifik von Geschichte darin besteht, durch historisches Erzählen auf eine bestimmte Weise Sinn über Zeiterfahrungen zu bilden, muss es das Hauptziel des historischen Lernens sein, genau diese Fähigkeit zu vermitteln. Nicht umsonst wird Narrativität auch als Ausdruck eines reflektierten Geschichtsbewusstseins (dessen Aufbau Ziel des schulischen Geschichtsunterrichts ist), verstanden5: Historisches Lernen ist im Kern Bildung von Geschichtsbewusstsein durch Erzählen. Lernende benötigen demnach narrative Kompetenz, um historisches Lernen zu beherrschen. Narrative Kompetenz bezeichnet dabei zunächst „das Vermögen, Geschichten bilden, erzählen und verstehen zu können.“6 Aus diesem Grund sollte es auch „die vornehmste Aufgabe des Geschichtsunterrichts sein, nicht (nur) Ereignisse zu erörtern, sondern Erzählzusammenhänge zu vermitteln und Schüler in die Lage zu versetzen, Geschichte zu erzählen […].“7 Darüber hinaus zählt zur narrativen Kompetenz aber auch der Umgang mit erzählter Geschichte8 sowie die reflektierte Kenntnis der Bauformen von Erzählungen, Geschichtenschemata und Sinnbildungstypen und die 4 Vgl. Rüsen, Jörn: Historisches Erzählen, in: Bergmann, Klaus u.a. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, 5. Aufl., Seelze 1997, S. 57-63. 5 Vgl. Barricelli, Michele/ Gautschi, Peter/ Körber, Andreas: Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle, in: Barricelli, Michele/ Lücke, Martin (Hg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts (Forum Historisches Lernen), Bd. 1, Schwalbach/Ts. 2012, S. 207-235, hier S. 211. 6 Barricelli, Michele: Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht (Forum Historisches Lernen), Schwalbach/Ts. 2005, S. 78. 7 Pandel 2010, S. 10. 8 Vgl. ebd., S. 127. 3 Unterscheidung unterschiedlicher narrativer Formate.9 Zur narrativen Kompetenz gehört demnach stets auch die Beurteilung von Narrationen.10 So sollte der Erzählplan auf narrative Triftigkeit und narrative Plausibilität, die Angemessenheit der Sinnbildungsmuster für die Ereignisse und mögliche Gründe für die Abweichung der Erzählweise von anderen geprüft werden. 1.3 Niveaus Nach Pandel lassen sich hinsichtlich historischer Narrationen drei Realisierungsniveaus unterscheiden.11 Auf einem basalen Niveau können die Schülerinnen und Schüler Fakten und Fiktion auseinanderhalten. wahrheitsfähige von erfundenen Geschichte unterscheiden, eine durchgehende Handlung entwickeln und darüber hinaus Handlungssubjekte festlegen und durchhalten sowie das Präteritum als Tempus des historischen Erzählens nutzen. Auf einem mittleren Niveau werden darüber hinaus Zeitindizes verwendet (von Jahreszahl bis vorher, nachher, kurz danach) und Widersprüche festgestellt. Ferner können die Schülerinnen und Schüler mit kollektiven Handlungssubjekten umgehen. Das elaborierte Niveau zeigt sich in der Angabe von Faktualitätsgraden, einer korrekten Zitierweise, der Vorwegnahme von Einwänden und dem Verweis auf Deutungskonkurrenzen bzw. der Verwendung diskursiver Elemente. Hierfür plädiert auch Barricelli, nach dessen Einschätzung die beste historische Erzählung jene ist, welche die meisten Perspektiven, Stimmen, Deutungen, Sinngebungen miteinander verwickelt – und dies dann dem Leser nachvollziehbar präsentiert. Sie beruht auf profunder Quellenkenntnis, lebendiger Erzählfähigkeit, konsequenter Haltung. Und auf der Einsicht in die Vorläufigkeit aller historischen Erkenntnis. Eine gute historische Erzählung weist also Deutungsvorbehalte im Vorhinein aus, markiert Sollbruchstellen und legt ihre eigene Verbesserungsbedürftigkeit offen. 1.4 Förderung der narrativen Kompetenz durch geschichtliche Spielfilme Geschichtliche Spielfilme12 erzählen ebenfalls. Hans-Jürgen Pandel sagt hierzu: „[Der Spielfilm] verwandelt […] narrative Aussagen in direkte Rede. Historienfilme zeigen zwar 9 Vgl. Barricelli u.a. 2012, S. 273. Vgl. Pandel 2010., S. 158. 11 Vgl. ebd., S. 132 f. Empirisch abgesichert sind diese allerdings nicht. Ebenso wenig wird näher erläutert, wie Pandel zu diesen Niveaus gelangt ist. In der Dissertation werden Pandels Überlegungen mit denen Barricellis sowie mit ersten Ergebnissen zu den Leistungen von Abiturienten, die von Bernd Schönemann, Holger Thünemann und Meik Zülsdorf-Kersting vorgelegt haben, ergänzt. Schönemann, Bernd/ Thünemann, Holger/ Zülsdorf-Kersting, Meik: Was können Abiturienten? Zugleich ein Beitrag zur Debatte über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte (Geschichtskultu rund historisches Lernen 4), 2. Aufl., Berlin 2011. 12 Ohne an dieser Stelle näher auf die Charakteristika der einzelnen Filmgattungen eingehen zu wollen, werden die Ausdrücke ‚Geschichtsspielfilme’ und ‚geschichtliche Spielfilme’ sowie ‚Historienfilme’ synonym für fiktionale Filme verwendet, deren Handlung zeitlich rückwärtsgewandt ist. 10 4 (auch) Handlungen, aber der größte Teil besteht aus Dialogen. Der moderne Historienfilm erzählt ‚herodoteisch’ und ist somit ein oralisierendes Medium. Es sind didaktische Zweifel angebracht, ob der Historienfilm wirklich ein solch erstklassiges Medium ist, wie bisher behauptet wird. Es vermittelt war beeindruckende Vorstellungen, aber er fördert nur bedingt narrative Strukturen. Wenn Schüler Filminhalte ‚erzählen’, geben sie den Film in kurgefassten [sic!] Dialogen wieder: ‚Da sagte er, da sagte sie’.“13 Pandel verweist in diesem Zitat auf zwei der wichtigsten Eigenschaften von (Spiel-)Filmen: ihnen liegen narrative Aussagen zugrunde, die sie mündlich wiedergeben, und sie vermitteln Vorstellungen. Gleichzeitig spricht er ihnen aber das Potenzial ab, narrative Strukturen bei ihren Zuschauern anzubahnen. Bedauerlicherweise liefert Pandel hierfür keine empirischen Belege. Weiterhin ist nicht klar, welche konkreten Arbeitsaufträge die von ihm im Zitat angesprochenen Schüler erhalten haben. Vermutlich wurde der Film lediglich gemeinsam angesehen bzw. eine eher allgemeine Analyse durchgeführt, die nicht auf die Narrativität im Film einging und somit auch keine narrativen Strukturen bei den Schülerinnen und Schülern förderte. Meines Erachtens sind die „Zweifel am didaktischen Potenzial“ historischer Spielfilme damit jedoch keineswegs belegt und führen umgekehrt vielmehr zu der Frage, ob sich Geschichtsspielfilme nicht doch produktiv zur Förderung der narrativen Kompetenz von Schülerinnen und Schülern nutzen lassen, da Spielfilme selbst doch auch mit narrativen Strukturen arbeiten. Zudem gilt, dass Erzählungen „nicht nur [beschreiben], was passiert (ist), sondern klären, plausibilisieren und erklären zugleich, warum etwas geschah, wie es möglich war, dass etwas so kommen musste oder zumindest so kommen konnte. Immer noch gemeinsam ist ihnen, dass die Fragen nach dem Warum oder Wie möglich nur mit Hilfe von Konstruktionen (bzw. Fiktion) zu beantworten sind, denn die gebildeten Zusammenhänge sind eben nicht dem Ausgangsmaterial inhärent.“14 Insofern bedient sich also nicht nur der Spielfilm der Fiktion, um zu erzählen, auch der Schüler, der Historiker etc. – jeder, der Geschichte erzählen will – muss zwangsläufig auf dieses Mittel zurückgreifen, so dass sich eine wichtige Überschneidung zwischen Spielfilmen und angestrebter narrativer Kompetenz ergibt. Diese These wird in jüngerer geschichtsdidaktischer Literatur ebenfalls vertreten: „Über die Auseinandersetzung mit filmischen Geschichtsnarrationen können Schülerinnen und Schüler Einblicke in die unterschiedlichen Narrationsformen mit ihren je eigenen Rahmen- und Produktionsbedingungen Konstruktion, gewinnen, populärwissenschaftlicher so Grundzüge wissenschaftsförmiger Veranschaulichung sowie (Re-) emotionalisierender Spielfilmerzählung erkennen und hieraus Schlüsse über den Grad möglicher Triftigkeit der Darstellungen gewinnen. Darüber hinaus lassen sich an und mit filmischen Erzählformen 13 14 Pandel 2010, S. 61. Barricelli 2005., S. 79. 5 aktive Narrationskompetenzen erlangen und einüben […].“15 Diese, auch in der Literatur verbreitete und empirisch noch zu überprüfende These geht auf theoretische Zusammenhänge zurück, die z.T. auch vorliegenden Kompetenzmodellen für das Fach Geschichte zugrunde liegen. Der Berliner Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I nähert sich dem narrativistischen Paradigma dabei am stärksten. Das Ziel des Geschichtsunterrichts wird in der Entwicklung historischer Narrativität, d. h. der Fähigkeit zum selbstständigen historischen Denken und Urteilen gesehen. Dieses Denken und Urteilen zeigt sich in der Fähigkeit zur Analyse und Darstellung vergangener Sachverhalte, zur Deutung von Zusammenhängen und Zeitverläufen, zum historischen Diskurs sowie zu Folgerungen für Gegenwart und Zukunft.16 Um dieses Ziel zu erreichen, rekonstruieren die Schülerinnen und Schüler einerseits z. B. aus Quellen, Bildern, Karikaturen, Karten, Statistiken oder geschichtskulturellen Deutungen eigene, Sinn bildende Erzählungen und dekonstruieren umgekehrt aus Narrationen, wie z. B. Schulbuchtexten oder geschichtskulturellen Medien Deutungen der Vergangenheit. Beide (!) Vorgehensweisen führen zur Entwicklung, Überprüfung und Darstellung von eingeständigen historischen Sachanalysen bzw. Sachurteilen. Dass ein enger Zusammenhang von Re- und Dekonstruktion vorliegen zeigen auch die Überlegungen zum historischen Lernprozess von Jan Hodel17, die von Ulf Kerber in folgendes Schema überführt wurden: Näpel, Oliver: Film und Geschichte: „Histotainment“ im Geschichtsunterricht, in: Barricelli, Michele/ Lücke, Martin (Hg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts (Forum Historisches Lernen), Bd. 2, Schwalbach/Ts. 2012, S. 146-171, hier S. 155. 16Vgl. http://www.berlin.de/imperia/md/content/senbildung/schulorganisation/lehrplaene/sek1_geschichte.pdf?start&ts=1150101699&file=sek1_geschicht e.pdf, Zugriff 21.6.2013, S. 9 17 Vgl. Hodel, Jan: Historische Narrationen im digitalen Zeitalter, in: Danker, Uwe/ Schwabe, Astrid (Hg.): Historisches Lernen im Internet, Schwalbach 2008, S. 182-195. 15 6 2. Forschungsstand Die bisherige Forschung ist sich einig, dass geschichtliche Spielfilme (und auch Dokumentationen) eine große Rolle bei der Geschichtsvermittlung spielen.18 Allerdings beklagt die bisherige fachwissenschaftliche Auseinandersetzung in der Regel auch Recherchefehler bzw. Defizite in der Darstellung – gemessen am historiografischen Forschungsstand – und problematisiert Authentizitätsstrategien der filmischen Darstellung.19 Ein anderer Zugang zu geschichtlichen Spielfilmen fokussiert stärker die geschichtskulturelle Leitfunktion20 der Medien und widmet sich der erinnerungskulturellen Verarbeitung zeitgeschichtlich relevanter Themen.21 An dieser Diskussion sind jedoch nur selten Geschichtsdidaktiker beteiligt, sondern verstärkt Fachwissenschaftler, Medienhistoriker, Film-, Fernseh- und Medienwissenschaftler vertreten. Von den wenigen geschichtsdidaktischen Vertretern wird darüber hinaus meist die Senderseite in den Blick genommen und einzelne Produkt- bzw. Programmanalysen vorgenommen, die in der Regel inhaltlich ausgerichtet sind.22 Während die Bedeutung und Funktion des Geschichtsfernsehens und damit auch der geschichtlichen Spielfilme allgemein für das kulturelle Gedächtnis23 gut beschrieben werden kann, stellt die Frage, wie die Sendungen von den Konsumenten wahrgenommen werden, ebenso eine Leerstelle in der Forschung dar wie die sich anschließende Frage, wie und ob 18 siehe bspw. Bösch, Frank: Der Nationalsozialismus im Dokumentarfilm: Geschichtsschreibung im Fernsehen, 1950-1990, in: Ders./ Goschler, Constantin (Hg.): Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 2009, S. 52; Borries, Bodo von: Geschichte im Fernsehen – und Geschichtsfernsehen in der Schule, in: Geschichtsdidaktik 8, 1983, S. 221-238; Drews, Albert: Zeitgeschichte als TV-Event. Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehen (Loccumer Protokolle 31/07), Loccum 2008. 19 Dieses Vorgehen beleuchten insbesondere Crivellari, Fabio: Das Unbehagen der Geschichtswissenschaft vor der Popularisierung, in: Thomas/ Wirtz, Rainer (Hg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz 2008, S. 161-185; Crivellari, Fabio: Lernort Sofa. Vom Nutzen und Nachteil des Geschichtsfilms für die Bildung, in: Drews, Albert: Zeitgeschichte als TV-Event. Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehen (Loccumer Protokolle 31/07), Loccum 2008, S. 145-165 und Wirtz, Rainer: Alles authentisch: So war’s. Geschichte im Fernsehen oder TV-History, in: Fischer, Thomas/ Wirtz, Rainer (Hg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz 2008, S. 9-32. 20 Siehe hierzu: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Korte, Barbara/ Paletschek, Sylvia: Geschichte in populären Medien und Genres. Vom historischen Roman zum Computerspiel, in: Dies. (Hg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld 2009, S. 36; Quandt, Siegfried: Fernsehen als Leitmedium der Geschichtskultur, in: Mütter, Bernd u.a. (Hg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik, Weinheim 2000, S. 235-239; Schwab, Ulrike: Massenmedium Fernsehen und öffentliches Geschichtsbewusstsein – ein Problemaufriss, in: Dies.: Audiovisuelle Geschichte. Drei Forschungszugänge, Halle 2006, S. 17-29. bspw. Handro, Saskia: „Wie es euch gefällt!“ Geschichte im Fernsehen, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 6, 2007, S. 213-231. Zur Kritik siehe Riederer, Günter: Film und Geschichtswissenschaft. Zum aktuellen Verhältnis einer schwierigen Beziehung, in: Paul, Gerhard (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 96-113. 23 Vgl. Assmann, Jan: Gedächtnis, in: Jordan, Stefan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 97-101; Assmann 1999; Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002. 22 7 sie überhaupt nachhaltig das Geschichtsbewusstsein24 formen und sich auf Narrationen von Geschichte auswirken. In diesem Spannungsfeld von subjektivem Geschichtsbewusstsein und öffentlicher Erinnerungskultur sind in jüngerer Zeit nur wenige explorative Studien bspw. von Astrid Erll 25 und Sabine Moller26 angesiedelt medienkulturwissenschaftlichen worden, die Gedächtnisforschung auch bzw. Ansätze der Methoden der Medienwirkungsforschung27 einbeziehen. Hierbei wird nach einem konstruktivistischen Verständnis (im Gegensatz zu einem deterministischen Wissensmodell) davon ausgegangen, dass der Zuschauer selbst die Bedeutung einer Filmaufnahme generiert28 und somit in seiner Bedeutungszuschreibung frei ist, auch wenn das Medium nicht unendlich viele bzw. beliebige Lesarten zulässt. Für die Deutung sind daher film- und kulturelle Konventionen wie auch das Geschichtsbewusstsein von Bedeutung. Spielfilme stellen in diesem Zusammenhang einerseits die „Entäußerung des Geschichtsbewusstseins“29, gleichzeitig aber auch einen Teil der Geschichtskultur30 dar. Sabine Moller schreibt hierzu: „Das Geschichtsbewusstsein umfasst aber auch individuelle Sinnbildungsprozesse, die zwar immer kollektiv geprägt, in ihrer subjektiven Kombination bzw. Ausprägung jedoch letztlich einzigartig sind. Auf individueller Ebene lässt sich das, was Geschichtsbewusstsein als Tätigkeit ist, nämlich historische Sinnbildung bzw. historisches Lernen, in verschiedene mentale Operationen bzw. Kompetenzen übersetzen. Zentral ist dabei aus geschichtsdidaktischer Perspektive die historische Deutungsbzw. Methodenkompetenz. Diese lässt sich im Kern als die Fähigkeit beschreiben, Geschichten aus Quellen und anderen Informationen zu (re-) konstruieren sowie Darstellungen von Vergangenem zu dekonstruieren, d.h. die diesen Geschichten zugrunde liegenden Deutungsmuster aufzuschließen.“31 24 Der Begriff geht zurück auf Jeismann, Karl-Ernst: Geschichtsbewusstsein, in: Bergmann, Klaus u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, Bd. 1, Düsseldorf 1980, S. 42-46 und kann verstanden werden als ein „Mischprodukt […] aus Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen“, das als individuelles Konstrukt eng mit der Geschichtskultur zusammenhängt, die als Außenseite des gesellschaftlichen Geschichtsbewusstseins verstanden werden kann und zu der unter anderem auch historische Spielfilme zählen. Siehe hierzu Schönemann, Bernd: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft, in: Günther-Arndt, Hilke (Hg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2003, S. 11-22. 25 Vgl. Erll, Astrid/ Nünning, Ansgar (Hg.): Cultural memory studies. An international and interdisciplinary handbook (Media and cultural memory 8), Berlin 2008. 26 Vgl. Moller, Sabine: Spielfilme als Blaupausen des Geschichtsbewusstsein. Good Bye Lenin! aus deutscher und amerikanischer Perspektive, in: Popp, Schülerinnen und Schüleranne u.a. (Hg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2), Göttingen 2010, S. 239-253. 27 Vgl. Schenk, Michael: Medienwirkungsforschung, Tübingen 2007. 28 Vgl. Sobchack, Vivian: The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience, Princeton 1992, S. 27. 29 Moller 2010, S. 241. 30 Vgl. Rüsen, Jörn: Geschichtskultur, in: Bergmann, Klaus u.a. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, 5. überarb. Aufl., Seelze 1997, S. 38-41. 31 Moller 2010, S. 241. Zum Begriff der historischen Sinnbildung siehe Rüsen, Jörn: Historische Sinnbildung als geschichtsdidaktisches Problem, in: Ders.: Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen, Köln 2006, S. 135-142; Schreiber, Waltraud u.a.: Historisches Denkens. Ein Kompetenz-Strukturmodell, Neuried 2006. 8 Als Erweiterung zu dieser Position ist es meines Erachtens entscheidend, dass die historische Sinnbildung nur im Erzählen deutlich wird und sich daher die Frage stellt, inwiefern sich ‚fertige’ Darstellungen von Vergangenem hierauf auswirken. Bisherige Studien zeigen eher ein ernüchterndes Bild. Selbst Schülerinnen und Schüler eines Leistungskurses Geschichte sind kaum in der Lage, historisch zu erzählen. Allerdings wird in vielen Aufgaben auch weniger das „Niveau der historischen Erzählung“ geprüft als vielmehr die inhaltliche Vollständigkeit der Darstellung.32 Dies deutet auf zweierlei hin: Zum einen scheinen wichtige geschichtliche Denkleistungen bei den Schülerinnen und Schülern nicht vollzogen zu werden, zum anderen scheinen diese aber auch nicht systematisch gefördert zu werden, so dass zu fragen ist, wie man die Narrativität im Geschichtsunterricht insgesamt stärken kann. Für den Themenkomplex der Narrativität stellen insbesondere die Arbeiten von Michele Barricelli, Jörn Rüsen sowie Hans-Jürgen Pandel den theoretischen Rahmen dar. Neben den erwähnten Studien zum subjektiven Geschichtsbewusstsein und zur öffentlichen Erinnerungskultur wurden zwar auch erste Forschungen zur Rezeption geschichtlicher Sendungen unternommen, doch sind diese meist auf die Messung des über den Film vermittelten Faktenwissens ausgelegt.33 Im Sinne Mollers wäre allerdings eine Methodik nötig, die nicht die Inhalte, sondern die Interpretation von Inhalten in ihren jeweiligen Kontexten in den Vordergrund stellt.34 Altersgruppendifferentielle Untersuchungen der Mediennutzung sowie Wirkungsanalysen und somit die Betrachtung der Rezipientenseite stellen somit nach wie vor ein zentrales Desiderat35 geschichtswissenschaftlicher wie geschichtsdidaktischer Forschungen dar: Bisherige Rezeptions- und Wirkungsanalysestudien fokussieren entweder Dokumentationen36, das über verschiedene Filmformate vermittelte Faktenwissen37 – und 32 Vgl. Schönemann u.a. 2010. so z.B. Neitzel, Sönke: Geschichtsbild und Fernsehen. Ansätze einer Wirkungsforschung, in: GWU 9, 2010, S. 488-502. 34 Ähnlich argumentiert auch Gerhard Paul. Er fordert demgegenüber eine Untersuchung der Erzählweise und Darstellungsform sowie deren Beitrag zur Konstitution eines spezifischen Geschichtsbildes bzw. zur Entstehung und Verfestigung einer bestimmten Vorstellung von Geschichte. Darüber hinaus schlägt er vor, die soziale Kommunikation der Rezipienten einzubeziehen, da ein Film immer einen Diskursraum darstellt, und sich insgesamt den Konzepten und Methoden der Medienwirkungsforschung zu öffnen, Paul 2010, S. 199. Hingewiesen wird in diesem Zusammenhang auf Meyen Michael/ Pfaff, Senta: Rezeption von Geschichte. Eine qualitative Studie zu Nutzungsmotiven, Zuschauer-Erwartungen und zur Bewertung einzelner Darstellungsformen, in: Media Perspektiven 2006, S. 102-106. 35 Vgl. Handro 2007, S. 227. 36 bspw. Meyen 2006; Neuss, Norbert: „Ich hab mal was gelernt…“ Was Kinder schreiben und erzählen, wenn es um das „Lernen beim Fernsehen“ geht, in: Televizion 17, 2004, S. 29-32; Schröter, Christian/ Zöllner, Oliver: Geschichte verstehen. Qualitative Fernsehforschung zur Rezeption der Geschichtsreihe „100 Deutsche Jahre“, in: Klingler, Walter (Hg.): Fernsehforschung in Deutschland, Baden-Baden 1998, S. 385-398. 37 wie bpsw. Neitzel 2010. 33 9 bleiben insofern dem Diskurs über die Vermittlung ‚falscher’ Geschichtsbilder verhaftet – oder konzentrieren sich auf allgemeine erinnerungskulturelle Zusammenhänge. Darüber hinaus wird in der Forschung ebenso wenig die besondere Ästhetik der medialen Produkte berücksichtigt.38 Gerhard Paul fordert daher, die Bildforschung stärker zu beachten und auf Spielfilme anzuwenden, was bislang unterblieben ist. Dahinter steht eine konstruktivistische Sicht auf die Bildwahrnehmung39, nach der „Bilder auch als Aktivposten […] [gesehen] und […] [behandelt werden], die selbst wiederum Geschichte und Geschichtsbilder generieren, denen ein eigenständiger Beitrag bei der Wissenskonstruktion wie bei Konstitution von Geschichtsbewusstsein [zufällt].“40 Demzufolge müssten in Anlehnung an Gerhard Paul41 Bilder, Bildsequenzen, Ästhetik sowie deren Beitrag zur Konstitution eines spezifischen Geschichtsbildes genauso untersucht werden wie der Beitrag der Erzählweise bzw. der Darstellungsform für die Entstehung und Verfestigung einer bestimmten Vorstellung von Geschichte. Die Frage, inwiefern filmische Bilder die Vorstellungen ihrer Rezipienten ersetzen und inwiefern sie narrative Strukturen beeinflussen, fördern oder hemmen, ist jedoch weitgehend ungeklärt.42 Andreas Sommer, der mit seiner Dissertation eine qualitative Studie zur Kohärenz zwischen Geschichtsbild und historischem Spielfilm bei Geschichtsstudierenden vorgelegt hat, kommt zu dem Schluss, dass geschichtliche Spielfilme ernstzunehmende Konstituenten von Geschichtsbildern sind und auch die Perspektiven bzw. Wertungen eines historischen Ereignisse eines Spielfilms von den Rezipienten häufig übernommen werden.43 Dabei verweist er auf die besondere Bedeutung der inneren Vorstellungsbilder, die sich aus 38 Vgl. Kritik in Riederer 2006, S. 96-113. Vgl. Lüdtke, Alf: Kein Entkommen? Bilder-Codes und eigen-sinniges Fotografieren. Eine Nachlese, in: Hartewig, Karen/ Lüdtke, Alf (Hg.): Die DDR im Bild. Zum Gebrauch der Fotografie im anderen deutschen Staat, Göttingen 2004, S. 227; siehe hier auch: Hamann, Christoph: Visual History und Geschichtsdidaktik. Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung, Herbolzheim 2007; Hannig, Jürgen: Wie Bilder „Geschichte machen“. Dokumentarphotographie und Karikatur, in: Geschichte lernen 1, 1988, S. 49-53; Heßler, Martina: Bilder zwischen Kunst und Wissenschaft. Neue Herausforderungen für die Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft 31, 2005, S: 266-292. 40 Paul, Gerhard: Einführung. Sektion 3: Zeitgeschichte in Film und Fernsehen, in: Popp, Schülerinnen und Schüleranne u.a. (Hg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2), Göttingen 2010, S. 193-200, hier S. 195-196. Vgl. hierzu auch: Bredekamp, Horst: Schlussvortrag. BILD – AKT – GESCHICHTE, in: Geschichtsbilder. 46. Deutscher Historikertag vom 19.-22. September 2006 in Konstanz. Berichtsband, Konstanz 2007, S. 289-309; Bredekamp, Horst: Bildakte als Zeugnis und Urteil, in: Flacke, Monika (Hg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Mainz 2004, S. 29-66; zur sinngebenden Rolle der Ästhetik Boehm, Gottfried: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007; Müller, Axel: Wie Bilder Sinn erzeugen. Plädoyer für eine andere Bildgeschichte, in: Majetschak, Stefan (Hg.): Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild, München 2005, S. 77-96. 41 Vgl. Paul 2010, S. 199. 42 Nach Jeismann sind Geschichtsbilder als Metaphern für die Vorstellungen und Deutungen der Vergangenheit zu verstehen. Sie beziehen sich auf konkrete Inhalte und zeigen sich durch Narrative. Diese knappe Definition zeigt bereits, dass Vorstellungen bzw. Geschichtsbilder und Narrativität eng zusammen hängen. 43 Vgl. Sommer, Andreas: Geschichtsbilder und Spielfilme. Eine qualitative Studie zur Kohärenz zwischen Geschichtsbild und historischem Spielfilm bei Geschichtsstudierenden (Geschichtskultur und historisches Lernen 5), Berlin 2010, S. 257. 39 10 konkreten Filmszenen bzw. figuralen Darstellungen speisen können, und die analog zu ähnlichen mentalen Vorgängen bei Leseprozessen vor das geistige Auge der Zuschauer treten. In diesem Zusammenhang vermutet er demnach, dass geschichtliche Spielfilme innere Vorstellungsbilder generieren können, die ihrerseits Prozesse der historischen Imagination terminieren, was sich auch in ersten Ergebnissen seiner Studie zeigt: der fiktionalen Visualität kommt laut Sommer bei der Tradierung von Vergangenheit generell eine entscheidende Bedeutung zu.44 Bei diesen Überlegungen unberücksichtigt blieb bislang die Frage nach den Emotionen, die geschichtliche Spielfilme einerseits darstellen, andererseits aber auch bei den Rezipienten auslösen. Zusammen mit der (fiktional-)narrativen Grundstruktur und der visuellästhetischen Gestaltung machen sie das dritte Charakteristikum von geschichtlichen Spielfilmen aus. Auch für das historische Lernen spielt Emotionalität eine – wenn auch noch immer weitgehend unerforschte – Rolle, so wurde Emotionalität auf der ersten Tagung zu diesem Thema 1992 als spezifisch geschichtsdidaktische Kategorie definiert und auf einer erneuten Tagung 2011 diskutiert, „wie Emotionen auch für einen theoretisch innovativen Zugriff auf die Konzeption historischen Lernens genutzt werden“ 45 können. 3. Erkenntnisinteresse Deutlich wird, dass die Themenkomplexe geschichtlicher Spielfilm, Geschichtsbild, Emotionen sowie historisches Lernen bzw. narrative Kompetenz bislang unabhängig voneinander betrachtet wurden. Eine Untersuchung ihrer jeweiligen Beziehungen bzw. Wechselwirkungen zueinander scheint jedoch schlüssig, da Visualität, Emotion und Narrativität wichtige Charakteristika von Spielfilmen darstellen und gleichzeitig eine wichtige Rolle für das historische Lernen spielen. Zudem bestehen, wie in Kapitel 1.4 dargelegt, theoretische Zusammenhänge zwischen Re- und De-Konstruktion. Daher lässt sich vermuten, dass sowohl die Dekonstruktion von Darstellungen (wie sie in Form von geschichtlichen Spielfilmen vorliegen) als auch die Rekonstruktion von Quellen auf das Anfertigen eigener Narrationen auswirken. Bisher ist es im Geschichtsunterricht jedoch gängige Praxis, hauptsächlich basierend auf Quellenarbeit Narrationen anzufertigen. Dass sich auch der Einsatz von Darstellungen hierauf auswirken könnte, ist in der geschichtsdidaktischen Forschung bislang nicht näher untersucht worden und wird insofern auch in der Unterrichtspraxis nicht aufgegriffen. Demzufolge muss der Zusammenhang von Dekonstruktion und Narrationen näher erforscht werden. Anhand geschichtlicher Spielfilme ist dieses besonders gut möglich, da sie eine mögliche Form der Sinnbildung/Narration und ihnen als Leitmedium der Erinnerungskultur 44 Vgl. Sommer 2010, S. 258 und S. 267. Rockmann, Karola: Konferenz Emotionen und historisches Lernen revisited, in: HSozuKult, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=16549, Zugriff 08.10.2011. 45 11 eine besondere Relevanz zukommen. Insbesondere TV-Spielfilme dürften zudem auch bei Jugendlichen eine große Reichweite haben (und insgesamt eine größere als KinoSpielfilme). Für Spielfilme ist nicht nur relevant, dass sie Geschichte erzählen (läuft meistens als historische Hintergrundnarration), sondern Geschichte audiovisuell darstellen und emotionalisieren. Man könnte also drei bzw. vier Ebenen der filmischen Narration differenzieren: o historische Hintergrundnarration (erzählt werden Ereignisse, Phänomene oder Lebenswege historischer Personen anhand spezifischer Narrativitätsmerkmale); o emotionale Narration (wobei Fiktionalisierungsstrategien und tatsächlich erlebte Emotionen der Zuschauer unterschieden werden müssen) und o audiovisuell-ästhetische Narration (dahinter steht eine konstruktivistische Sicht auf die Bildwahrnehmung, nach der „Bilder auch als Aktivposten […] [gesehen] und […] [behandelt werden], die selbst wiederum Geschichte und Geschichtsbilder generieren, denen ein eigenständiger Beitrag bei der Wissenskonstruktion [zufällt].“ 46 wie bei Konstitution von Geschichtsbewusstsein Demzufolge müssten in Anlehnung an Gerhard Paul47 Bilder, Bildsequenzen, Ästhetik sowie deren Beitrag zur Konstitution eines spezifischen Geschichtsbildes untersucht werden); o Wahrnehmung und Rezeption (geschichtskulturelle Diskussion in der Öffentlichkeit, aber auch die individuelle Beurteilung durch den einzelnen Betrachter). Im Dissertationsprojekt wird daher die Frage nach den Auswirkungen des Spielfilmeinsatzes (damit ist immer auch eine Analyse verbunden) auf die Vorstellungen von Schülerinnen und Schüler einerseits sowie narrative Kompetenz andererseits: Inwiefern beeinflusst die Dekonstruktion einer filmischen Narration mit ihren besonderen Spezifika der emotionalen sowie visuell-ästhetischen Gestaltung die Vorstellungen und Narrativität der Schülerinnen und Schüler? Die Fragen nach den Auswirkungen auf die Vorstellungen (synonym auch: Geschichtsbilder) der Schülerinnen und Schüler sowie ihre narrative Kompetenz scheinen besonders gut kombiniert werden zu können, da sich beides überschneidet: Geschichtsbilder können nur narrativ dargestellt werden. Gleichzeitig geben sie Auskunft über die Bewertung einer historischen Situation durch ein Individuum bzw. über die Orientierungsangebote, die für die Gegenwart 46 47 und Zukunft gesehen werden. Paul 2010, S. 195-196. Vgl. ebd., S. 199. 12 Beides (Bewertung und Orientierungsmöglichkeiten) zählt wiederum auch zu den Anforderungen, die u.a. an Narrationen von Schülerinnen und Schülern gestellt werden. Geschichtsbilder sind somit Narrationen – und Narrationen Ausdruck von Geschichtsbildern. Geschichtsspielfilme könnten zur Förderung des Umgangs mit Narrationen geeignet sein, da sie z.T. kontroverse Geschichtsbilder anbieten und aufgrund ihrer spezifischen narrativen Elemente (Personifizierung, Emotionalisierung, Verstärkung durch visuell-ästhetische Gestaltung) den Eindruck erwecken, der Zuschauer könne das Gesehene (oder auch das Vergangene) direkt miterleben. Bei anderen Gattungen, wie bspw. der Dokumentation, bleibt der Zuschauer hingegen immer ein Betrachter von außen, der die Geschichte zwar (bspw. von Zeitzeugen oder einem Kommentator) hört – aber eben nicht sieht oder ‚erlebt’. Dies könnte der Grund dafür sein, dass insbesondere Geschichtsspielfilme außerordentlich wirkmächtige (Geschichts-)‚Bilder’ entfalten können – eine These, die bereits seit mehreren Jahrzehnten von der Geschichtsdidaktik (vor allem von Bodo von Borries) vertreten wird. 4. Forschungsdesign Zur Überprüfung dieser These wird ein Unterrichtsarrangement entwickelt, bei dem die zugrunde liegende narrative Struktur wie auch die emotionale und visuell-ästhetische Gestaltung eines geschichtlichen Spielfilms und seine Wirkung de-konstruiert werden. Die Wahl des Spielfilms fiel auf den ZDF-Zweiteiler „Schicksalsjahre“ aus dem Jahr 2011 mit Maria Furtwängler in der Hauptrolle, in der die Ereignisse von 1933 bis 1957 erzählt werden. „Schicksalsjahre“ kann gewissermaßen als Paradebeispiel für gegenwärtige TV- Geschichtsspielfilme angesehen werden: Die Handlung beruht auf wahren, historisch verbürgten Vorfällen (in diesem Fall sogar die Hauptfiguren selbst). Im Mittelpunkt steht eine Frau, die in scheinbar aussichtslosen Momenten Stärke zeigt, in denen starke Männer schwach werden. Der typische Wendepunkt von Glück zu Unglück (die „Katastrophe“) wird in diesem Fall durch den Kriegsbeginn markiert – inmitten all der Schrecklichkeiten erscheint die Hauptfigur aber auch als Retterfigur und erfüllt den Wunsch nach „Inseln der Positivität“.48 „Schicksalsjahre" entspricht somit der typischen Mischung von Katastrophenfilm und gleichzeitiger Helden-/Rettergeschichte. Zudem wurde der Zweiteiler von teamWorx als führender Produktionsfirma des „deutschen Geschichtskatastrophenfilms" produziert, behandelt ein zeitgeschichtliches Thema und wendet sich (wie auch die geschichtswissenschaftliche Diskussion seit einigen Jahren) dem Leid des Tätervolkes zu. Der Zweiteiler ist insgesamt hoch emotionalisierend und in seiner Deutung fast schon platt – mehrfach wird im „verdammten Scheiß-Krieg“ der Grund für sämtliche Schicksalsschläge gesehen. Insofern handelt es sich um einen Typus von Geschichtsspielfilm, der viele (auch 48 André, Michael: Archetypen des Grauens. Über die Sentimentalisierung und Dramatisierung von Geschichte im Fernsehen, in: Cippitelli, Claudia/ Schwanebeck, Axel/ André, Michael (Hg.): Fernsehen macht Geschichte. Vergangenheit als TV-Ereignis, Baden-Baden 2009, S. 43–56. 13 jugendliche) Zuschauer anspricht und daher pars pro toto für eine ganze Gruppe an TVProduktionen steht. Aus diesem Grund sind hoffentlich auch einige generalisierende Aussagen über die Wirkung eines Einsatzes bzw. einer Analyse von TV-Geschichtsfilmen möglich. Da es sich allerdings um einen Zweiteiler handelt, der mit knapp 200 Minuten Spielzeit sehr lang wäre, wird der Zweiteiler geschnitten und gekürzt. Gezeigt wird der erste Teil sowie die Schlusssequenz des zweiten Teils, da hierbei auf die besonders emotionale Rahmenhandlung eingegangen und die zentrale Botschaft sehr deutlich wird. Ferner wurde ein Geschichtsspielfilm zu den Themenkomplexen Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit gewählt, da die Schülerinnen und Schüler aufgrund der medialen Repräsentation hiermit wahrscheinlich häufiger als mit anderen Themen in Berührung kommen und dadurch auch von Vorkenntnissen und Einstellungen auszugehen ist, die nicht (nur) im Geschichtsunterricht erworben wurden. Durchgeführt werden soll die Studie in zwei zehnten Klassen, da die Schülerinnen und Schüler dieser Klassen kurz vor ihrem Abschluss stehen und gemäß der curricularen Vorgaben eigentlich in der Lage sein müssten, eine Erzählung anzufertigen. Zudem ist bis zur bzw. in der zehnten Klasse der zugrunde liegende Themenkomplex behandelt worden, der als bekannt vorausgesetzt wird. Um eventuelle schulformspezifische Besonderheiten erfassen können, wird die Studie jeweils in einer zehnten Realschul- und Gymnasialklasse durchgeführt sowie weiterhin in einem Seminarfach zum Thema „Geschichte im Spielfilm“, da davon ausgegangen wird, dass die Schülerinnen und Schüler des Seminarfaches der Analyse eines Spielfilms großes Interesse entgegen bringen und sich detaillierter damit befassen als andere Schülerinnen und Schüler. Das Ziel der Studie besteht einerseits in der Theorieweiterentwicklung, insbesondere der Erforschung der Zusammenhänge von Vorstellungen, Emotion und Narrativität. So ist zu vermuten, dass die Schülerinnen und Schüler hinsichtlich ihrer Vorstellungen und Narrationen durch die Spielfilmanalyse beeinflusst werden, unklar ist jedoch, von welcher Ebene sie sich hierbei am meisten leiten lassen (historische Hintergrundnarration, emotionale oder visuelle Ebene, Wirkung) und ob diese Einflüsse reflektiert und bewusst wahrgenommen werden oder nicht. Das zweite Ziel besteht vor allem in der Verbesserung des Spielfilmeinsatzes im Geschichtsunterricht. Das für die Studie entwickelte Unterrichtsmaterial (siehe Anhang) überführt gängige geschichtsdidaktische, theoretische Überlegungen in unterrichtspraktische Anregungen und ist insofern selbst nicht als besonders innovativ anzusehen. Unklar ist jedoch, welchen Effekt diese Vorschläge in der Unterrichtsrealität bewirken. 14 Daneben soll mit der Studie nicht behauptet werden, dass sich die Narrationsfähigkeit allein durch die Dekonstruktion von Geschichtsspielfilmen fördern ließe. Stattdessen soll eine Verbindung Spielfilmanalyse und Förderung der Narrationsfähigkeit verbessert werden, um auch mit dem Spielfilmeinsatz Kernideen des Faches zu fördern. Eingebettet wird das Unterrichtsarrangement (die Filmanalyse) in eine Wirkungsstudie mit klassischem Prä-Post-Design: Narrationen der Schülerinnen (sc und Schüler (schriftlich) Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler (Interviews) Sichtung des Films; erlebte Emotionen erheben Analyse der 4 Ebenen: historische/emotionale /visuelle Narration/Deutung Narrationen der Schülerinnen und Schüler (schriftlich) Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler (Interviews) 5. Übersicht über die einzelnen Erhebungsschritte 5.1 Narrationen der Schülerinnen und Schüler (Prä) Die Erhebung der schriftlichen Schülernarrationen erfolgt zuerst, um diese nicht durch die Interviews (zu den Vorstellungen zum Thema) zu beeinflussen. Die Schülerinnen und Schüler erhalten folgende Aufgabe: „Wie beeinflusste der Zweite Weltkrieg das Leben in Deutschland (während und nach dem Krieg)?“ Eventuell kann die Frage mit dem mit Zusatz versehen werden: „Fertige eine Geschichtsdarstellung (bzw. erzählung) an.“ Diese Aufgabenstellung ist zwar sehr komplex, jedoch sollten Schülerinnen und Schüler kurz vor ihrem Schulabschluss in der Lage sein, solche Aufgabenstellungen zu bewältigen. Außerdem sollen keine weiteren Hilfestellungen gegeben werden, um die Narration nicht zu beeinflussen bzw. zu verfälschen. Die Auswertung orientiert sich an den theoretischen Ausführungen zur Narrativität und umfasst folgende Aspekte: - Allgemeine Erzählfähigkeit, Kohärenz Merkmale der historischen Erzählung Sachurteil Werturteil Schlussfolgerungen für eigenes Handeln narrative Grundmuster Sinnbildungsmuster Triftigkeit Graduierung der Narration 15 5.2 Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler (Prä) Nach einer ersten groben Auswertung der Narrationen werden ca. 12 Schülerinnen und Schüler ausgewählt (deren Narrationen möglichst unterschiedlich waren) und zu einem leitfadengestützten Einzelinterview gebeten, um ihre Vorstellungen zu Zweiten Weltkrieg, Nachkriegszeit etc. zu erheben. Die thematischen Aspekte ergeben sich aus dem Film „Schicksalsjahre“. Der Erhebungsschritt ist nötig, um festzustellen zu können, welches ‚Bild’ (Interpretation, Beurteilung, Denkmuster, Erklärungsmuster) die Schülerinnen und Schüler gewissermaßen als Ausgangslage vor dem Filmeinsatz von einem speziellen Thema haben und inwiefern sich dieses durch die Filmanalyse verändert. Um an die ‚Bilder im Kopf’ heranzukommen, sollten die Schülerinnen und Schüler zu Beginn des Interviews eine (skizzenhafte) Zeichnung zu einem zentralen Bild (Schlüsselbild) anfertigen, das sie mit den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs verbinden. Die Zeichnung soll dann als Gesprächsimpuls dienen. Weitere Impulse können folgende thematische Aspekte sein: - Wie stellen sich Schülerinnen und Schüler Details vor? Landschaften/Städte/Häuser/Gegenstände/Kleidung/Aussehen der Personen? - Lebensverhältnisse während/nach dem Zweiten Weltkrieg für verschiedene Gruppen (Soldaten, Mütter, Kinder, Menschen in Ostpreußen, Menschen in Berlin) - Gefangenschaft, Trümmerfrauen… - Ernährungslage - Arbeit/Versorgung der Familie - Einstellung zum Krieg - Belastungen für Familien: Vermisstenmeldungen, Gefallenenmeldungen - Kriegsheimkehrer - Leben in Ostpreußen - Flucht und Vertreibung - Leben unter alliierter (russischer) Besatzung - welche Gedanken und Gefühle er mit dem Thema bzw. Einzelaspekten des Themas verbindet: Was berührt ihn besonders, was stößt ihn ab, was langweilt ihn etc.? (eigene Emotionen zum Thema wahrnehmen) - wie schwer/leicht fällt es den Schülerinnen und Schüler, ihre Vorstellungen in einer Narration zu strukturieren? - Spielfilme und deren Aussagekraft 16 5.3 Sichtung des Films, erlebte Emotionen Bevor der Film gemeinsam angesehen wird, sollten bereits die ersten vorbereitenden Aufgabenstellungen bearbeitet werden: Phase Arbeitsschritte Verdeutlichen der eigenen Erwartungen Leitfragen Erwartungen an Film äußern Fragen an historischen Stoff artikulieren Relevanz des Themas reflektieren Fixierung des ersten spontane Eindrücke des Eindrucks und erster Gesehenen notieren Hypothesen besonders emotionale Szenen des Films benennen erste Hypothesen zum vermittelten Geschichtsbild äußern Schwerpunkte festlegen Welche grobe Handlung bzw. welche Schwerpunkte erwarten die Schülerinnen und Schüler? Welche Probleme interessieren die Schülerinnen und Schüler am erzählten historischen Stoff? Welche Bedeutung hat der historische Stoff für ihre Gegenwart/Zukunft? Ist die Erzählung für Schüler wichtig? Haben Sie einen Bezug dazu? Welchen ersten Eindruck hinterlässt der Film? Was ist aufgefallen? Welche Szenen wurden sehr emotional erlebt? Wie deutet der Film die historischen Ereignisse? Welche Szenen sind besonders wichtig für den gesamten Film? Welche Szenen/Sequenzen wollen die Schülerinnen und Schüler genauer untersuchen? Um feststellen zu können, ob die Schülerinnen und Schüler sich bezüglich ihrer Vorstellungen und/oder Narrationen eventuell durch besonders emotionale Szenen leiten lassen und hierbei geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen, soll zudem die Emotionalisierung der Schülerinnen und Schüler erfasst werden. Hierzu werden sie im Anschluss an den Spielfilm dazu aufgefordert, die Szenen zu beschreiben, die sich besonders traurig, lustig oder dramatisch fanden. Zwar können diese Angaben aufgrund ihrer Retrospektivität bereits verzerrt sein, allerdings wird davon ausgegangen, dass die Schülerinnen und Schüler die Szenen beschrieben, die sich ihnen tatsächlich besonders gut eingeprägt haben. 5.4 Analyse des Films 5.4.1 Phase Dekonstruktion a) Analyse der filmimmanenten Erzählstrukturen Historische Hintergrundnarration Arbeitsschritte Leitfragen Retrospektivität bestimmen Temporalität untersuchen Sequenzialität erörtern Perspektive analysieren Kohärenz und Widersprüche betrachten Zum Einstieg: Merkmale historischer Narrativität erarbeiten Welcher Anfang, welches Ende wird gesetzt? Wird die chronologische Reihenfolge beachtet? Nach welcher Zeitverlaufsvorstellung werden die Ereignisse angeordnet (Fortschrittsgeschichte, Untergangsgeschichte etc)? Gehören zur Darstellung Raffung, (seltener) Dehnung, Sprünge, Vor- und Rückgriffe? Aus welcher Perspektive wird erzählt? Welche Perspektiven wären außerdem denkbar? Für welche würden sich die Schülerinnen und Schüler entscheiden, warum? 17 Dekonstruktion Selektivität untersuchen b) Analyse der Authentizitätsbemühungen Vergangenheitsparti ermitteln kel mit konkurrierenden Darstellungen & Quellen vergleichen Quellennähe/-ferne bestimmen Konstruktivität analysieren Partialität prüfen Dekonstruktion c)Erzählmuster/ Sinnbildungsmuster bestimmen 5.4.2 Phase Dekonstruktion d) Figurenanalyse Narratives Grundmuster bestimmen Welche historischen Ereignisse wurden (nicht) ausgewählt? Auf welche historischen Ereignisse wird Bezug genommen, wodurch? (Einblendung, Nennung, Reden, Hinweise in Gesprächen etc.) Welche Leerstellen werden wie gefüllt? Mit welcher Intention könnte dies geschehen sein? Welche Authentizitätsbemühungen werden vorgenommen (z.B. schwarz/weiß, Verwendung von Filmdokumenten etc.)? Welche konkurrierenden Filme/ Darstellungen gibt es? Wie stellen sie die vergangenen Ereignisse dar? Vergleich mit Schulbüchern, „Prüfungswissen kompakt“, Quellen etc. Bei welchen Szenen besteht eine Quellennähe/ ferne (zu welchen Quellen)? Welche Belege fehlen, woran zweifeln die Schülerinnen und Schüler? Ist die Narration empirisch triftig? Welche Erklärungen gibt die Narration? Welche Ursachen für die Ereignisse werden dargestellt, welche Auswirkungen? Ist die Erzählung narrativ triftig? Welches Erzählschemata liegt der Erzählung zugrunde? Emotionale Narration Arbeitsschritte Leitfragen Figureninventar anlegen Figurencharakteristik verfassen Symbolgehalt der Figuren entschlüsseln Emotionalisierungsstrategien untersuchen Aus welcher Perspektive wird erzählt? welche Elemente gehören zu dieser Perspektive? (z.B. männlich, englisch, anglikanisch, niederer Adel, Offizier); welche alternativen Perspektiven wären denkbar? Welche historischen Personen treten auf? Welche Figuren sind fiktiv? Welche Typen repräsentieren sie? Wie sehen die Figuren aus? welche Kostüme tragen sie? Ist im Film eine Sympathie/Antipathie für bestimmte Personen oder Gruppen erkennbar? Inwiefern wird durch die Figuren vergangenes Geschehen beurteilt? Welche Situationen sind besonders stimmungsgeladen/ dramatisch? Wie wird die Dramatik erzeugt? Welche Gefühle werden wie inszeniert? Erscheinen die Gefühle/Motive der Figuren plausibel bzw. als Norm gerechtfertigt? Was soll das beim Zuschauer bewirken? Welchen Stellenwert erhalten die historischen Ereignisse dadurch? 18 5.4.3 Phase Ästhetisch-visuelle Narration Arbeitsschritte Leitfragen Welche Szenen bzw. ‚Bilder’ sind besonders eindrücklich? Wie sind diese bilddramaturgisch aufgebaut? (ohne Ton, anhand von stills: Perspektive, Licht; Bildsequenzen/Montage immer: Welcher Eindruck entsteht dadurch? Inwiefern wird Vergangenes dadurch gedeutet?), verweisen sie auf sogenannte Schlüsselbilder? Für weitere Schlüsselszenen (in denen die Botschaft des Films besonders deutlich wird): Welche filmischen Gestaltungsmittel kommen besonders häufig bzw. zentriert vor? Welche Funktion erfüllen diese Gestaltungsmittel? Welche Deutung bezüglich der erzählten historischen Ereignisse lässt sich insgesamt ableiten? Dekonstruktion Schlüsselbilder bestimmen e) Analyse der Kamera, Setting/Ausstattung, Bilddramaturgie und Licht, Schauspiel, Ton, filmästhetischen Montage: häufige Mittel filmästhetische Mittel herausarbeiten Wirkung bestimmen Aussageabsicht der Szene ermitteln 5.4.4 Wirkung des Filmes (Rezeption, Wirkungsrealität, auch eigene Stellungnahme) Phase Dekonstruktion f) Wirkung und Bedeutung des Films untersuchen Arbeitsschritte Leitfragen Wertungen des Film explizieren Orientierungsangebote für gegenwärtige/ zeitgenössische Fragestellungen bestimmen Rezeption untersuchen Filmkritiken analysieren Gesamtinterpretation vermitteltes Geschichtsbild mit und Kritik verfassen eigenen Vorstellungen bzw. eigene vergleichen Narration verfassen vermitteltes Geschichtsbild beurteilen eigene Narration entwickeln 19 Welche Geltungsansprüche erhebt der Film? Welche Normen präsentiert er? Welche Wertungen sind explizit, welche implizit? Ist die Erzählung der zeitgenössischen Situation angemessen? (z.B. Deutsche als Opfer statt als Täter)? Ist der Film normativ triftig? (Transparenz der Deutungsabsichten) Von welchen Geltungsansprüchen distanzieren sich die Schüler? Warum? (unverständlich, falsch, unangemessen, unwichtig? Auf welche zeitgenössischen Fragen werden Antworten gegeben? Warum fand der Film so viele/ wenige Zuschauer? Eigene Vorstellungen/ Erwartungen (vor dem Film) aufgreifen und überprüfen: Was hat sich geändert? Was wurde erfüllt/nicht erfüllt? Ist die angebotene Interpretation/ Konstruktion/ Geschichtsbild triftig? Wie in geschichtswissenschaftlichem Diskurs zu verorten? „Abschließend sollten die Schülerinnen und Schüler zu einem Sachurteil über die Darstellung dieses Teils der Geschichte in den Medien im Vergleich zur Darstellung im Schulbuch oder anderen eher wissenschaftsförmigen Darstellungen kommen; sowie Ansätze entwickeln, eine ausgewogenere Geschichte zu konstruieren.“ Näpel 2012, S. 169; auch als mündliche Abschlussdiskussion denkbar) Diese zunächst theoretisch basierten Überlegungen wurden in eine Unterrichtseinheit zur Analyse des Spielfilmes Schicksalsjahre überführt. Die Übersicht hierüber sowie über die einzelnen Unterrichtsmaterialien können im Anhang eingesehen werden. Um die Unterrichtsergebnisse in geeigneter Weise dokumentieren zu können, werden die durchgeführten Unterrichtsstunden mit einem Tonbandgerät aufgezeichnet. Die Schülerinnen und Schüler werden anschließend anonymisiert und erhalten in eventuellen Auswertungen der Unterrichtssituationen Pseudonyme. Die Pseudonyme kommen selbstverständlich ebenfalls bei sämtlichen Schülerprodukten sowie Interviews zum Einsatz, so dass eine Anonymisierung gewährleistet ist. 5.5 Narrationen der Schülerinnen und Schüler (Post) Wiederholung der unter 5.1 beschriebenen Schritte 5.6 Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler (Post) Wiederholung der unter 5.2 beschriebenen Schritte 20 6. Vorläufige Gliederung 1. Einleitung 2. Forschungsstand 3. Historisches Lernen als Bildung von Geschichtsbewusstsein 4. Historisches Lernen als Bildung von Geschichtsbewusstsein durch Erzählen 4.1. Erzählen als allgemeines Kulturgut 4.2. Auch Clio kann dichten: Historisches Erzählen 4.3. Merkmale historischer Erzählungen 4.4. Narrative Kompetenz 4.4.1. Kompetenzmodelle 4.4.2. Kompetenzniveaus 4.4.3. Zusammenhang zu Re- und De-Konstruktion 5. Geschichtsbilder 5.1. Lernen über Bilder? 5.2. Vorstellungen 5.3. Deutungen 5.4. Conceptual Change 6. Emotionen und historisches Lernen 7. Geschichtsspielfilme 7.1. Definition 7.2. Erzählebenen 7.2.1. Historische Hintergrundnarration 7.2.2. Audio-Visuelle Narration 7.2.3. Emotionale Narration 7.2.3.1. Fiktionale Emotionen – Emotionalisierungsstrategien 7.2.3.2. Erlebte Emotionen der Zuschauer - Emotionalisierung 7.2.4. Wirkung und Rezeption 7.3. Auswirkungen auf das kollektive Gedächtnis 21 8. Studie – Vorbedingungen 8.1 Design 8.2 Konzeptionelle Ausrichtung und methodisches Vorgehen der Wirkungsstudie 8.3 Sample 8.3 Datenerhebung und -auswertung 8.4 Konzeption der Unterrichtseinheit 9. „Schicksalsjahre“ 9.1 Auswahl des Spielfilms 9.2 Analyse der narrativen Elemente 9.3 Analyse der ästhetisch-visuellen Dimension 9.4 Analyse der emotionalen Gestaltung 9.5 Analyse der Wirkung und Rezeption 9.6 Die Jahre 1938-1957 in Deutschland 10. Darstellung und Interpretation der Befunde 10.1 Oberschulklasse 10.2 Gymnasialklasse 10.3 Seminarfach 11. Konsequenzen für einen Spielfilmeinsatz im Geschichtsunterricht 12. Fazit 22 7. 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