Korrespondenzadresse: OA Dr. Christian Kienbacher Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie 1090 Wien, Währinger Gürtel 18-20 Tel. 40400/3012 e-mail: [email protected] Wien, 18/05/2012 Offener Brief Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin! Sehr geehrte Frau Bundesministerin Schmied! Sehr geehrte Frau Bundesministerin Karl! Sehr geehrter Herr Bundesminister Mitterlehner! Sehr geehrter Herr Klubobmann Cap! Sehr geehrter Herr Klubobmann Kopf! Sehr geehrter Herr Klubobmann Strache! Sehr geehrter Herr Klubobmann Bucher! Sehr geehrte Frau Klubobfrau Glawischnig! Sehr geehrter Herr Landeshauptmann Voves! Sehr geehrte Damen und Herren! Aus gegebenem Anlass erlauben wir uns, folgende Sachverhalte zur gefälligen Kenntnisnahme in Erinnerung zu rufen: 1. Jeder körperliche Übergriff gegen ein Kind – völlig egal, mit welchen Euphemismen man ihn apostrophiert – stellt ein Durchbrechen der höchstpersönlichen physischen und psychischen Grenzen des Kindes dar. Neben dem Erleben von Schmerz erfährt das Kind eine abrupte Irritation seiner Integrität und des Vertrauens, als ein geschütztes und respektiertes Individuum in der Welt existieren zu können. Je jünger ein Kind ist und je fragiler seine sonstigen Lebensumstände sind, desto nachhaltiger werden die Folgen eines körperlichen Übergriffes sein. Präsident: P. Hochgatterer (Tulln) Vizepräsidenten: K. Purtscher (Graz), A. Karwautz (Wien) Sekretär: Ch. Kienbacher (Wien) Schatzmeister: W. Leixnering (Linz) Bankverbindung: Bank Austria, BLZ 12000, Kt.Nr. 84019 575 300 http://www.oegkjp.at 1 2. Erfolgt ein körperlicher Übergriff gegen ein Kind im Rahmen eines natürlichen oder institutionalisierten Autoritätsverhältnisses, so hat dieser Übergriff neben der höchstpersönlichen Verletzung des Kindes immer eine Infragestellung der sozialen Ordnung zur Folge. Ein Vater, der sein Kind prügelt, wird einerseits als eine schwache Person erlebt, die sich selbst nicht im Griff hat, andererseits aber auch als jemand, der die ihm von der Gesellschaft zugedachte Rolle des stabil Schutzgebenden zurückweist. Ein Lehrer, der ein Kind züchtigt, wird sowohl als armselig und überfordert wahrgenommen, als auch als Repräsentant eines sozialen Gefüges, das die Regeln, die es sich selbst gegeben hat, nicht ernst nimmt. 3. Die Konsequenzen der physischen und psychischen Misshandlung von Kindern dürfen in einer Gesellschaft, die sich selbst „aufgeklärt“ nennt, als bekannt vorausgesetzt werden. Zur Wiederholung: Misshandelte Kinder haben Angst. Misshandelte Kinder können infolge ihrer Ängste nicht mehr klar denken. Misshandelte Kinder verlieren das Vertrauen in die Welt. (Nur nebenbei: Wie weit die Sache geht, haben zuletzt Felitti et al. gezeigt, die in einer groß angelegten Untersuchung in den USA Misshandlungen und Vernachlässigung in der Kindheit als die wesentlichen statistischen Prädiktoren für schwere chronische körperliche Erkrankungen im späteren Leben nachweisen) 4. Misshandelte Kinder haben in der Konfrontation mit ihren Gefühlen von Angst, Alleingelassensein und Wertlosigkeit häufig keine andere Wahl, als sich zumindest zum Teil mit ihren Misshandlern zu identifizieren. Dieser Mechanismus setzt in der frühesten Kindheit ein, dient der Wahrung dessen, was wir Identität nennen, und führt, erfährt er im späteren Leben keine entsprechende Korrektur, letztlich zum leidvoll bekannten Phänomen der transgenerationalen Weitergabe physischer und psychischer Gewalt. Hätte eine Gesellschaft also – bösartiges realitätsfernes Gedankenspiel – ein Interesse an der Aufrechterhaltung von regelhaften Mustern der Gewalt, ein Interesse an der impliziten Infragestellung ihrer eigenen gesetzlichen Regelwerke, ein Interesse daran, dass ihre Kinder ihre intellektuellen Fähigkeiten nicht mehr ausschöpfen können, schließlich ein Interesse daran, dass die Menschen möglichst früh chronisch krank werden, so müsste sie lediglich dafür sorgen, dass hinkünftig die kleine Ohrfeige den Händedruck oder die verbale Willkommensformel bei der Begrüßung von Kindern ersetzt. Offenbar ist es in unserem Staat, der sich als Wohlfahrtsstaat bezeichnet, möglich, dass das Wohl der schwächsten seiner Schutzbefohlenen, nämlich der Kinder, Präsident: P. Hochgatterer (Tulln) Vizepräsidenten: K. Purtscher (Graz), A. Karwautz (Wien) Sekretär: Ch. Kienbacher (Wien) Schatzmeister: W. Leixnering (Linz) Bankverbindung: Bank Austria, BLZ 12000, Kt.Nr. 84019 575 300 http://www.oegkjp.at 2 durch Repräsentanten der staatlichen Ordnung selbst in Frage gestellt wird. Offenbar ist es möglich, dass österreichische Spitzenpolitiker auf eine Weise, die gleichermaßen dumm wie dreist mit der Gewaltbereitschaft einer vermeintlichen Mehrheit kokettiert, die Integrität von Kindern bedrohen. Offenbar ist dies alles möglich, ohne dass sich andere Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker in wahrnehmbarer Form dagegen erheben. Das hinterlässt uns Vertreterinnen und Vertreter der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie einigermaßen fassungslos. Kein Kind wird dadurch stärker, dass es geprügelt wird! Uns allen haben die Ohrfeigen, die wir in unserer eigenen Kindheit erhalten haben, geschadet, - was denn sonst?! Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung Prim. Dr. Paulus Hochgatterer e.h. Prim. Dr. Katharina Purtscher-Penz e.h. Univ.-Prof. Dr. Andreas Karwautz e.h. (Präsidium der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie) PS: Vor etwas mehr als zwanzig Jahren erschien im Orac-Verlag das Buch „Die gesunde Ohrfeige macht krank. Über die alltägliche Gewalt im Umgang mit Kindern“. Die beiden Autoren, die österreichischen Mediziner Hans Czermak und Günther Pernhaupt, sind inzwischen tot; das Buch ist nach wie vor ein Standardwerk. Präsident: P. Hochgatterer (Tulln) Vizepräsidenten: K. Purtscher (Graz), A. Karwautz (Wien) Sekretär: Ch. Kienbacher (Wien) Schatzmeister: W. Leixnering (Linz) Bankverbindung: Bank Austria, BLZ 12000, Kt.Nr. 84019 575 300 http://www.oegkjp.at 3