Wohlstand an Zeit und Raum für Kinder?

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Erscheint in:
Dietrich Henckel und Matthias Eberling (Hrsg.):
Raumzeitpolitik. Leske+Budrich 2002
Wohlstand an Zeit und Raum für Kinder?
Helga Zeiher
1. Einleitung
Kinder, die kleinen Menschen, leben in einer Welt, die fast überall nach den Maßen und für
die Kräfte der großen, erwachsenen Menschen eingerichtet ist. Erwachsene sind die
Mächtigeren, weil Kinder von Natur aus zunächst auf deren Hilfe angewiesen sind. Die
anthropologisch gegebene Abhängigkeit wird in einer jeden Gesellschaft strukturell, kulturell
und normativ als Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnis zwischen den Generationen
ausgeformt, das immer auch konkrete Erscheinungsformen in Zeit und Raum hat. Herrschaft
kommt unter anderem in der Zuteilung von und Verfügung über Raum und Zeit zum
Ausdruck, im Setzen von Grenzen, Terminen und Tempi, in räumlichen Ausschließungen und
Einsperrungen, und nicht zuletzt in Konflikten um Zeiten und um Räume. Segregation und
Integration der Kinder lassen sich an räumlichen und zeitlichen Abtrennungen und Distanzen
sowie an der Zuweisung je eigener Räume und Zeitstrukturen ablesen. Was für zeitliche und
räumliche Verhältnissen bietet unsere Gesellschaft Kindern, und wie leben Kinder damit?
Wenn wir die historische Entwicklung in Deutschland im 20. Jahrhundert betrachten, dann
springt keineswegs das Bild einer Ausbeutung der Schwäche und Abhängigkeit der Kinder ins
Auge. Kindheit stellt sich vielmehr als ein Zusammenhang von Strukturen und Definitionen
dar, in dem Kinder mit großem Aufwand vor den Härten und Gefahren geschützt werden, die
ihnen in der modernen Gesellschaft drohen. Es war eines der großen und recht weitgehend
erfolgreichen Gesellschaftsprojekte der Moderne, alle Kinder aus der Arbeitswelt der
Erwachsenen herauszunehmen und ihre Erziehung, Bildung und Sozialisation in besonderen
Institutionen zu betreiben, im Bildungs- und Betreuungswesen sowie in der sich zunehmend
auf das Aufziehen von Kindern spezialisierenden Familie. Das geschieht in besonderen
Räumen und in besonderen Zeitstrukturen. Räumliche und zeitliche Trennungen der
Generationen liegen also im Sinne eines ausdrücklich dem Wohl des Kindes verpflichteten
Entwurfs. Die Konzepte von Kind und Kindheit, die im 20. Jahrhundert immer detaillierter
entfaltet wurden, entsprechen einerseits dieser entwicklungs- und lernbezogenen Separierung:
Kinder gelten primär als defizitär und abhängig und deshalb als schutz- und
versorgungsbedürftig und werden als Außenseiter der Gesellschaft behandelt. Andererseits
bestimmt der abendländische Entwurf des Individuums als mündiges, sein Handeln autonom
bestimmendes Subjekt die Vorstellungen vom Kind. Dieser Widerspruch zwischen Erziehung
und Autonomie wurde historisch zunächst innerhalb der pädagogischen Räume und der
persönlichen Erzieher-Kind-Beziehungen ausgetragen. Dort veränderte und verschärfte er sich
seit Ende der 60er Jahre, als einerseits pädagogische Steuerung und Kontrolle in alle
Lebensbereiche der Kinder eindrang, andererseits die persönlichen Verhältnisse zwischen
Kindern und Erwachsenen enthierarchisiert wurden. Erst in den beiden letzten Jahrzehnten
reicht das Autonomieprojekt zunehmend über die Grenzen der pädagogischen Räume hinaus.
Kinder werden heute als eigenständige Mitglieder der Gesellschaft, als Träger der
Grundrechte und von Ansprüchen auf Ressourcenteilhabe ernst genommen, das Bild des
defizitären, bedürftigen und gesellschaftsfernen Kindes wird als historisch gewordenes
relativiert, soziale Grenzen zwischen den Generationen verschieben sich und erodieren
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(Qvortrup u.a. 1994; Zeiher/Büchner/Zinnecker 1996). Die Frage nach Zeiten und Räumen
der Kinder ist in diesem Kontext zu stellen, im Spannungsfeld zwischen Abtrennung und
Integration, zwischen Schutz und Partizipation und zwischen Abhängigkeit und
Selbstbestimmung.
Kinder leben keineswegs nur in Umständen, die für sie intentional im Sinne des
Kindheitsentwurfs hergestellt sind. Die konzeptuellen und institutionellen Konstrukte des
gesellschaftlichen Kindheitsprojekts treffen vielmehr in den Alltagspraxen und in den Köpfen
der Kinder und ihrer Eltern, Erzieher und Lehrer mit vielfältigen anderen Konzepten und
praktischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten zusammen. Die Dynamik des
gesellschaftlichen Wandels der Kindheit entsteht aus solchem Zusammentreffen und aus den
Widersprüchen und Konflikten, die hierbei aufbrechen. Vieles davon erscheint in
Konkurrenzen um Zeit und um Raum, nicht zuletzt, weil die zeitlichen und räumlichen
Verhältnisse in Arbeitswelt und privatem Alltag sich im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrfach
erheblich gewandelt haben.
In diesem Beitrag werde ich zeitliche und räumliche Verhältnisse in der konkreten
Alltagspraxis der Kinder in verschiedenen Lebensbereichen untersuchen: in der Schule, im
sozialen Leben unter Kindern und im Familienalltag. Ich werde von historischen Phasen der
zeitlichen und räumlichen Verhältnisse in Arbeitswelt und privatem Alltag ausgehen: von der
Durchsetzung der rigiden Zeitstrukturen industrieller und bürokratischer Arbeit über die
Vermehrung und Optionalisierung von Zeitstrukturen im Zuge der Expansion des
Dienstleistungssektors bis hin zur aktuellen Phase der Flexibilisierung und der
Individualisierung der Bestimmung über Zeit. Dabei geht es um eine dreifache Dynamik: um
Wechselwirkungen zwischen Zeit- und Raumstrukturen; um Verhältnisse zwischen
Kindheitsentwurf und realem Leben; und um Beziehungen zwischen den Generationen. Dem
historischen Wandel folge ich nicht, um ein Stück Geschichte zu schreiben, sondern weil
Verhältnisse, die in den letzten fünfzig Jahren nacheinander vorherrschend wurden, heute
innerhalb individueller Kinderleben nebeneinander anzutreffen sind. Aktuelle Dynamik
entsteht nicht zuletzt aus dem Aufeinanderstoßen verschiedener Zeitmodi.
2. Lernen: von Zeit- und Raumdisziplin zu struktureller Kontrolle
Aus historischen Studien ist bekannt, welcher großen Anstrengungen es im 19. Jahrhundert
bedurft hatte, den Umgang mit verselbständigter, rationaler Zeit, den Industrialisierung und
Staatsbürokratie notwendig machten, bei den Menschen durchzusetzen. Rastloses Nutzen der
Zeit war als Tugend in den Kirchen gepredigt worden; Verstetigung, Fragmentierung und
zeitliche Präzisierung der Produktionsabläufe waren in den Fabriken mit strenger Disziplin
erzwungen worden (Thompson 1973). Die nachwachsenden Generationen mussten diesen
Lernprozeß in der Kindheit vollziehen. Die Instanz dafür war vor allem die Pflichtschule. Der
Kindheitsverlauf hat durch Jahrgangsstufen und Stundentafeln, durch die Wechsel von Schulund Ferienzeiten im Jahr und von Unterrichtszeit und freier Zeit an den Schultagen ein
institutionalisiertes Zeitkorsett erhalten. Dieses ist mit räumlicher Einsperrung in
Schulhäusern verbunden. Denn in lehrergesteuerten Gruppen erfordert schulisches Lernen die
gleichzeitige Anwesenheit vieler Kinder am selben Ort. Die lineare Aufbereitung des
Lernstoffs in aufeinander aufbauenden Schritten verlangt vom Einzelnen regelmäßige und
jeweils pünktliche Teilnahme, um im Zeitablauf des Curriculums mitzukommen. Die zeitliche
und räumliche Disziplinierung der Kinder war bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus
ausdrückliches Erziehungsprogramm. Im Zeugnis wurde die Regelmäßigkeit des
Schulbesuchs bewertet. Kinder wurden nicht nur in Schulhäusern und Klassenzimmern
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eingesperrt, überdies wurden ihre Bewegungen im Detail in einer dem militärischen Drill
ähnlichen Weise (Foucault 1976) reguliert, indem sie zu standardisierten Körperhaltungen
gezwungen wurden. Verlängerung der Zeiten der Einsperrung, "Nachsitzen", war ein
verbreitetes Strafmittel.
Auch die Familie war an der Einübung von Zeitdisziplin beteiligt. Feste Zeitordnungen des
Essens und des Schlafens waren üblich und wurden bei Kindern von Geburt an rigide
durchgesetzt. Und es gab auch hier Einsperrung als Strafe, den "Hausarrest". Doch zwischen
den Terminen der Familie und der Schule wurde Kindern "eigene" Zeit gelassen. Im Spielen
Nutzloses tun und die Zeit vergessen, galt als kindgemäß. In ihren sozialen Spielwelten
waren Kinder unter sich, ohne Einmischung Erwachsener. Behnken u.a. (1989) haben
beschrieben, wie in Städten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Kinder und Erwachsene räumlich
vermischt, aber in ihrem Tun je für sich lebten.
In den späten 60er Jahren wurde das Bildungswesen im westlichen Deutschland durch soziale
Öffnung und durch leistungsbezogene Rationalisierung den Anforderungen des
anwachsenden Dienstleistungssektors angepasst. Institutionelle Kleinkindbetreuung wurde als
pädagogischer Elementarbereich ausgebaut, und bildungsbezogene Freizeitangebote für
Kinder wurden vermehrt angeboten und genutzt. Auf diese Weise drang schulförmig
organisiertes Lernen in früheres Lebensalter und in die außerschulische Alltagszeit von
Kindern ein. Das vorgegeben Zeitmuster für den Kindheitsverlauf wurde komplexer; neu
hinzu kamen die altersgestaffelten Sequenzen der Betreuungsinstitutionen und mancher
Freizeitprogramme, die Normierung von Entwicklungsphasen in Programmen für
Kontrolluntersuchungen sowie altersspezialisierte Spielplätze und Spielzeuge. Im
Alltagsleben haben Kinder es seither vermehrt mit Veranstaltungsterminen, mit
Öffnungszeiten, mit formal organisierten Abläufen und mit Anmeldefristen zu tun. Die
Zeitnutzung für Lernprozesse wurde nicht nur in Bildungsinstitutionen intensiviert, auch
Spielen und soziales Leben unter Kindern wurden ausdrücklich lernbezogen betrachtet und
arrangiert; Erwachsene griffen nun auch in die vormals eigene Spielzeit der Kinder ein.
(Rabe-Kleberg/Zeiher 1984).
Formale Organisation und Ökonomisierung ihrer Zeit haben Kinder damals in den Wandel
der Kontrollverhältnisse einbezogen, der in der Arbeitswelt stattfand. Strukturelle Kontrollen
lösten direkte persönliche Zwänge ab. Auch Kindern wurden Zeitdisziplin und Einhalten von
Raumgrenzen jetzt so sehr durch die raum-zeitliche Struktierung der Alltagswelt abverlangt,
dass es dazu weniger von Personen ausgehender Zeitdisziplinierung und Bewegungskontrolle
bedurfte. So erübrigte es sich von nun an weitgehend, besondere pädagogische Anstrengung
darauf zu verwenden. Das kam in einem radikalen Umbruch im pädagogischen Denken und
Handeln zum Ausdruck. In den späten 60er Jahren begann eine neue Nachkriegsgeneration
von Eltern und Pädagogen, engagiert Kritik an den in der eigenen Kindheit erfahrenen rigiden
Regulierungen zu üben und sich ausdrücklich nicht mehr in den Dienst der Vorbereitung der
Kinder auf Zeitdisziplin zu stellen. Selbststeuerung der Kinder erhielt Priorität, nicht zuletzt
als zeitliche Selbstbestimmung. In Entwicklungspsychologie und Pädagogik wurden
Konzepte der Subjektivität und Autonomie des Kindes zentral. Mütter stillten ihre Kinder von
nun an nicht nach Zeitplan, sondern wenn diese danach verlangten. In der Schulpädagogik
wurden Methoden gesucht, "Taylorisierung des Unterrichts" (Bruder 1971) zu überwinden. In
einigen neuen "Freien Schulen" sollte ein jedes Kind selbst bestimmen, wann es lernte.
Kindern wurde Kritik an objektivierter linearer Zeit im Kultbuch "MOMO" (Ende 1973)
vermittelt, wo ein Kind den Zeitreichtum des Lebens gegen die tote ökonomisierte Zeit
erwachsener "grauer Herren", der "Zeitdiebe", zu behaupten vermochte.
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Als die Ausbreitung struktureller Kontrolle bewusst wurde, richtete sich Kritik auch
hiergegen. Doch konnte die pädagogische Kritik an Fremdbestimmung der Kinder die Macht
starrer Zeitvorgaben zwar im persönlichen Umgang der Generationen, aber nicht im
strukturellen Bereich brechen. Dem Wandel der Arbeitsformen in der Wirtschaft versuchten
in den 70er Jahren zwar "innere" Reformen der Schule mit Gruppenarbeit und
Projektunterricht zu entsprechen. Entscheidend blieb aber der wachsende Leistungsdruck, und
dieser führte in den Schulen bei Beibehaltung des Halbtagsunterrichts zu zeitlicher
Verdichtung des Lernens, und in der Freizeit zu mehr schulförmig organisierten Aktivitäten
von Kindern.
3. Verhäuslichung der Kinderorte und Rückgewinnung von öffentlichem Raum
Die Trennung der Generationen, die Kindheit in der Moderne konstituiert, erscheint auch in
räumlichen Funktionsentmischungen der Stadtlandschaften. Kinder sind in die ummauerten,
pädagogisch kontrollierten Räume der Schulen, Betreuungseinrichtungen und Familien
hereingeholt worden. Im öffentlichen Raum haben Kinder Spiel- und Sportplätze erhalten,
während der übrige Raum für Zwecke der Erwachsenen spezialisiert und deshalb für Kinder
ungeeignet, oft auch gefährlich ist. Kinder werden durch die Ausstattung kindspezialisierter
Orte zu diesen gelockt; der motorisierte Verkehr vertreibt sie von Straßen; lückenlose
Bebauung lässt ihnen wenig Platz; in Grünanlagen, Autoparkplätzen oder Einkaufspassagen
sind sie unerwünscht, sofern sie dort spielen und nicht sich wie erwachsene Passanten
bewegen. Diese räumliche Ausgrenzung der Kinder hat sich in den 60er und 70er Jahren
durch die Kumulation von Entwicklungsschüben in unterschiedlichen gesellschaftlichen
Bereichen erheblich verschärft: Die Bildungsreform erzeugte einen
Institutionalisierungsschub, der neue Vielfalt und größere Menge an Gebäuden für
Beschulung, Betreuungs- und Freizeit erforderte; räumliche Funktionsentmischung war
damals Programm der Stadtentwicklung; der motorisierte Straßenverkehr verdichtete und
beschleunigte sich; mehr Eltern wollten die Bildungschancen ihrer Kinder in
außerschulischen Veranstaltungen verbessern, und mehr Eltern nutzten familienexterne
Kinderbetreuung aus pädagogischen Gründen und wegen der Isoliertheit des Familienlebens,
aber auch, weil Mütter zunehmend erwerbstätig waren. Die soziale Entleerung von
Nachbarschaftsräumen war die Kehrseite dieser Entwicklung, nicht nur weil vielerorts die
nahen Orte kaum mehr zum Spielen geeignet waren, sondern weil Kinder, die Betreuungsund Freizeiteinrichtungen besuchen, entsprechend weniger Zeit haben, sich im Wohnumfeld
mit Nachbarskindern zu treffen, zumal es wenig davon gibt, weil die Geburtenzahlen seit
Mitte der 60er Jahre drastisch zurückgingen. (Zeiher/Zeiher 1994)
Kindern wird seither nahegelegt oder abverlangt, ihre Zeit in umbauten oder zumindest in
durch Hecken und Zäune eingegrenzten Räumen, öffentlichen wie privaten, zu verbringen.
Zugleich sind Familienwohnungen als Spielorte attraktiver geworden, seit Kinderzimmer in
allen sozialen Schichten zur Normalität gehören, seit die meisten Eltern Spielen in der ganzen
Wohnung zulassen, und seit Kinder zu Hause über viel Spielzeug und Medienzugang
verfügen. Zinnecker (1990) hat diesen historischen Prozeß im Anschluß an Norbert Elias als
"Verhäuslichung der Kindheit" beschrieben, als Verlagerung des Alltagslebens in geschützte
Räume und als Abgrenzung von den Handlungsräumen anderer Altersgruppen. Diese
Tendenz scheint sich bis heute fortzusetzen, neben Tendenzen der Rückgewinnung
öffentlichen Raums durch Kinder in neuen Bewegungsspielen (s. unten). O'Brian u.a. (2000)
haben festgestellt, dass Eltern ihre Kinder immer mehr an Familienwohnung und
Kindereinrichtungen binden und auf Straßen begleiten: während 1970 94 Prozent der
Londoner Zehn- und Elfjährigen ihre Schulwege unbegleitet gingen, waren es 1990 nur noch
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54 Prozent und 1998 47 Prozent. In jüngster Zeit spielen elterliche Ängste vor der Gefährdung
ihrer Kinder nicht nur im Autoverkehr, sondern auch durch kriminelle Gewalt verstärkt eine
Rolle; in England wird diskutiert, inwieweit ein gestiegenes Risikobewusstsein die
tatsächliche Gefährdung durch "stranger danger" übertreibt (Matthews u.a. 2000).
Ebenso wie die Zeitstrukturierung von Lernprozessen ist auch die Bewegungsformung durch
Verhäuslichung und durch tätigkeitsspezialisierte Austattungen der Innenräume parallel zu
Entwicklungen in der Arbeitswelt zu sehen. Das ist zum einen die Abtrennung einzelner
Bewegungsabläufe aus dem Alltagszusammenhang und ihre externe Formung. Ob im
veranstalteten Sport oder an den Geräten auf dem Spielplatz: die Bewegungen der Kinder
haben sich in die im Trainingsprogramm oder von der Konstruktion des Spielgeräts
vorgegebenen Bewegungsabläufe einzufügen. Die Schaukel oder der Kletterturm mit Rutsche
legen Kindern nicht nur die Tätigkeiten Schaukeln und Rutschen nahe, sondern auch ganz
bestimmte Abfolgen der Teilaktivitäten. Muster für zeitliche Bewegungsabläufe, für
Rhythmen und Tempi, werden gegenständlich vermittelt. Beim organisierten Leistungssport
sind Bewegungen auch zeitlich sehr detailliert vorgeformt. Zum zweiten ist eine Tendenz zur
Immobilisierung des Körpers zu beobachten. Kleine Räume lassen nur kleinräumige
Bewegungen zu. Sie begünstigen feinmotorische Tätigkeiten (Behnken/Zinnecker 1987);
symptomatisch dafür sind die Verbreitung des Bastelns in Kindereinrichtungen und Spielzeug
wie Lego und Playmobil. Die Weite von Bewegungen ist immer mehr eingeschränkt, immer
mehr Körperteile bleiben unbeteiligt. Diese Tendenz reicht vom Fangen- und Versteckspielen
im Freien über das Bespielen eines Spielplatzklettergerüsts über das Zusammenstecken von
Legosteinen bis zum Hervorrufen virtueller Bewegungen durch Bedienen von Gameboytasten
und Computermaus. Drittens hat eine Verinnerlichung von Kontrolle stattgefunden, wie sie
Norbert Elias (1978) als Entwicklungsrichtung der Moderne beschrieben hat. Wenn
verlockende Arrangements Art und Tempo des körperlichen Bewegens vorgeben, und wenn
mit Fernsehen und Computerspielen ein hohes Maß körperlicher Bewegungslosigkeit
verbunden ist, sind das sachgebundene Formen der räumlichen Einschränkung, die die
Individuen von sich aus annehmen. Kinder werden nicht gegen ihren Willen eingeschränkt,
sondern ergreifen diese Tätigkeiten freiwillig.
Deshalb braucht Kindern die Einschränkung von Körperbewegungen heute nicht mehr
anerzogen zu werden, wie ja auch personvermittelte Zeitdisziplinierung sich durch die
Ausbreitung struktureller Zeitkontrollen erübrigt (s. oben). Heute sind Eltern, Mediziner und
Pädagogen über den Mangel an Bewegung besorgt. Als Ausgleich zur Immobilisierung des
Körpers in den Innenräumen wird Kindern Bewegung um des Bewegens willen nahegelegt:
organisierter Sport tritt an die Stelle von vielerorts kaum mehr möglichem Rennen, Springen,
Hüpfen und Klettern im Freien. So fördert Verhäuslichung weitere Verhäuslichung; mehr
Kinder treiben organisierten Sport (Brinkhoff/Sack 1999), und es werden mehr Spezialräume
für Sportaktivitäten gebraucht.
Das ganze 20. Jahrhundert hindurch waren Verhäuslichung und externe Bewegungsvorgaben
Mittel zur Realisierung des Schutz- und Erziehungsprojekts. Für dieses Projekt war und ist
der öffentliche Straßenraum der Gegenraum, in den seine Kontrollmacht nicht reicht, aber
auszudehnen ist. Pädagogen und Eltern haben diese Zielrichtung anfangs überhöht. Solange es
zu Jahrhundertbeginn darum ging, bürgerliche Familienkindheit zu verallgemeinern und
Schulbesuch durchzusetzen, galten die – proletarischen – "Straßenkinder" als die nicht
verwahrten, die "verwahrlosten", die auch moralisch gefährdeten Kinder. Als pädagogisch
unbeherrschter Restraum eignete sich die Straße als Metapher für alles, wovon Kinder
ferngehalten werden sollen (Zinnecker 1979; 1999). Zugleich hatte das freie Leben draußen
unter Kindern aber immer auch eine andere Bedeutung, nämlich als dem Kindsein gemäßes
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Eigenleben. Das Kindheitsprojekt der Moderne organisiert zwar die Vorbereitung der Kinder
auf das Leben in der Erwachsenengesellschaft, weist ihnen damit aber auch den Sonderstatus
des noch nicht Erwachsenseins, des Andersseins, zu. Sie sollen lernen, aber sie dürfen und
sollen auch in einer eigenen Welt nutzlos spielen, trödeln und träumen (Bühler-Niederberger
1996). Wie ihnen neben den Zwängen ökonomisierter Zeit auch ein vormoderner Zeitmodus
zugestanden wurde, so auch ein nicht pädagogisierter Eigenraum. Auch diese Seite ist im
pädagogischen Denken überhöht worden zum "Mythos Kind" (Honig 1999).
In dieser Ambivalenz zwischen von Erwachsenen kontrollierter Welt und Eigenwelt der
Kinder haben sich die Gewichte verschoben, als strukturelle Gewalt Kinder aus dem
öffentlichen Raum vertrieb. Seither haben Pädagogen und Stadtplaner die Vertreibung der
Kinder aus dem öffentlichen Raum mit Klagen über das Verschwinden von Freiheit und
Eigenleben begleitet. Das einst bei Bürgern verpönte Straßenleben wurde für die damalige
antiautoritär und naturbezogen eingestellte Erwachsenengeneration zur Projektionsfläche für
Kindheitserinnerungen und für Wünsche nach Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen
(Preuss-Lausitz u.a. 1983). Das Bild vom Kind als noch nicht Vergesellschaftetem beförderte
nicht nur Schutzanstrengungen, sondern auch eine Romantisierung der Eigenwelten des
Spielens, der Wildheit und Naturnähe. Sozialwissenschaftler, die untersuchten, wie Kinder
die neugebauten Spielplätze "annahmen", notierten mit Sympathie, wenn Spielplätze anders
als vorgegeben benutzt wurden, wenn Kinder ein Baugrundstück, einen Rest verwildertes
Land, Brücken und Parkhäuser zum Spielgelände machten, wenn Kinder irgendwo noch
"Straßenkindheit" lebten (z.B. Berg-Laase u.a. 1985; Harms/Preissing/Richtermeier 1985).
Mit Abenteuerspielplätzen, mit Bereitstellen von altem Bauholz und Erde, mit
Kinderbauernhöfen wurde in den 60er und 70er Jahren versucht, den Widerspruch zwischen
Schutzraumbedarf und kindlicher Freiheit aufzulösen. Auch dies bedeutete,
Verhäuslichungsfolgen durch neue Verhäuslichung zu beheben.
Seit den 80er und 90er Jahren gehen neue Anstöße weniger von Kindheitsvorstellungen der
Pädagogen aus als von Kindern und Jugendlichen selbst, unterstützt durch Ausstattungen und
Verhaltensmuster, die Markt und Medien ihnen anbieten. Kinder haben sich der
Verhäuslichung ihrer Bewegungen nie ganz gefügt, sie haben sich nie auf Spielplätze und
verhäuslichten Sport reduzieren lassen. Zinnecker (1997) hat auf die Attraktivität des
öffentlichen Raums hingewiesen. Dieser sei auf Mobilität angelegt, das Straßennetz weise in
die Ferne, die motorisierten Bewegungen haben hohes Tempo. Kräfte und Abenteuerlust
können anders eingesetzt werden als in Innenräumen. An dieser Stelle setzen Marktangebote
erfolgreich an, indem sie schnelle und riskante Bewegungen nicht pädagogisch einfangen und
eingrenzen, sondern durch Ausstattung fördern. Kinder können zwar keine Motorkraft nutzen,
wohl aber immer wieder neues Gerät: vielerlei Fahrräder, Skateboards, Inlineskates, Roller.
Die Sportgeräteindustrie wendet sich heute direkt an Kinder, und diese setzen die jeweils
modischen Geräte und Skripte auf ihre Weise in ihren Aktivitäten ein (Hengst 1996). Hier
werden Grenzen erkennbar, an die das Erziehungs- und Schutzprojekt der Moderne bei der
Durchdringung tatsächlich gelebter Kindheit stößt.
Stadtplaner und Pädagogen verhalten sich dazu reaktiv, indem sie für die je aktuellen
Bewegungsmoden neue Spezialorte einrichten – Crossradbahnen, Skaterhallen – , und indem
sie räumliche Fixierungen weniger durch Abgrenzung als durch Öffnung und
Attraktivitätssteigerung zu erhalten versuchen. So gibt es seit längerem vielfältige
Bemühungen zur Wiederbelebung von Nachbarschaftsräumen, etwa durch verkehrsberuhigte
Spielstraßen, Stadtteilfeste, Spielmobile. Schulhöfe sind nachmittags offen,
Kindertagesstätten sollen zu lokalen Treffpunkten werden (Deutsches Jugendinstitut 1994).
Neueste Ansätze zielen über Nachbarschaftsräume hinaus. So entsteht auf einem zentralen
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Platz in der Berliner Innenstadt ein "Spiel Point" (Klettergeräte), ein "Beach-Volleyballfeld"
(auf Sand) und ein Streetballplatz, um Sechs- bis Zwölfjährigen, die "keine Lust mehr" hätten,
"auf herkömmlichen Spielplätzen zu spielen, sondern ... herumstreichen" wollten, einen
"Treffpunkt" in der City zu bieten (Der Tagesspiegel, 18.3.2000: "Raus aus den Reservaten,
rein in die Stadt") – auch das ein Versuch, durch Verhäuslichung Kinder, die sich dieser
entziehen, wieder einzufangen.
Der Wandel, der sich gegenwärtig vollzieht, hat neues sozialwissenschaftliches Interesse
geweckt, das nicht mehr Ausfluss des Erziehungs- und Schutzprojekts ist. Matthew und Limb
(1999), englische Kulturgeographen, sehen Landschaften als "documents of power".
Erwachsene prägten dort ihre eigenen Lebensweisen und ihre Erwartungen an Kinder der
materialen Gestalt von Räumen ein und ziehen so Grenzlinien zwischen den Generationen.
Darin sei ein Generationenkonflikt angelegt, den frühere Jugendgenerationen aufgenommen
hätten, indem sie sich als Banden oder Cliquen gegen Erwachsene und gegeneinander
wendeten. Heutige Kinder entzögen sich der ihnen zugewiesenen Alternative von Kinderwelt
und Erwachsenenwelt, indem sie sich auf Straßen und Plätzen und in Einkaufspassagen auf
ihre eigene Weise bewegten und eigene kulturelle Identität konstituierten, ohne sich gegen die
Erwachsenen zu stellen. Sie errichteten gleichsam ein "thirdland" im öffentlichen Stadtraum
und praktizierten so Multikulturalität der Altersgruppen. (s. auch Holloway/Valentine 2000;
Matthew u.a. 2000). Rusch und Thiemann (1998) berichten aus ethnographischen Studien in
Köln, wie mit Crossrädern, Skateboards und Inlinern die Straße zur Bühne wird, auf der sich
"Szenen" bilden, wo "expressive Selbstinszenierung" stattfinde und individuelle Besonderheit
und Distinktion wie auch kollektive Identität hergestellt werde. Gebauer und Alkemeyer
(2001) vergleichen ihre ethnographischen Beobachtungen von "altem Sport" und von "neuen
Spielen". Traditioneller Sport sei in Sonderräumen institutionalisiert, normiere vom Alltag
abgetrennte Bewegungen, forme und diszipliniere sie methodisch und entspreche somit
Rationalisierungsprinzipien der industriellen Arbeit. "Neue Spiele" – von den Autoren am
Beispiel von Inline-Hockey auf einem Berliner Platz untersucht – seien dagegen
"Aufführungen" von Körperkünsten mit Hilfe technischen Geräts an zentralen Stellen
städtischer Öffentlichkeit. Die Akteure fügten sich in das ortsspezifische soziale Geschehen
ein, wobei "Atmosphäre des Orts" und "Fluidum des Spiels" ohne scharfe Abgrenzungen
"ineinanderfließen". Die Abkehr von dauerhaft fixierten Rahmungen zu spielerisch
gehandhabten "performativen Weisen der Vergesellschaftung" weise Homologien zu
aktuellen Informalisierungen in der Arbeitswelt auf.
Die Zeit- und Raumverhältnisse dieser "Auftritte" von Kindern und Jugendlichen im
öffentlichen Raum sind andere als in verhäuslichten Kinderräumen. Die räumlichen
Grenzüberschreitungen folgen aus dem beschleunigten Tempo und aus dem Wechseln von
Aktivitäten. Das Bewegungstempo ist ein wichtiges Moment der Selbsterfahrung
(Gebauer/Alkemeyer 2001), und wird durch Geschicklichkeitstraining und immer besseres
Gerät ständig gesteigert. Die genannten Studien weisen darauf, dass die neuen RaumZeitverhältnisse eingebettet sind in kulturellen Wandel des Verhältnisses zur eigenen
Körperlichkeit. Die Gewichte verschieben sich von Bewegungsformung durch raumfixierte
Vorgaben zu Bewegungsperformanz im Austausch mit Identitätsvorlagen, die über Medien
vermittelt werden.
4. Verinselung des Lebensraums und individuelle Lebensführung
Bisher bin ich von einzelnen Gegebenheiten ausgegangen, von institutionellen Arrangements
zum Lernen und von Orten im öffentlichen Raum. Dieser Abschnitt setzt bei
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Zusammenhängen an, einerseits bei der raum-zeitlichen Organisation der Alltagswelt,
andererseits bei der Organisation individuellen Alltagslebens, die durch alltägliche
Lebensführung hergestellt wird. Alltägliche Lebensführung ist eine besondere Aktivität, mit
der das Individuum Tätigkeit für Tätigkeit und Tag für Tag seine Lebenszeit disponiert. In
den Entscheidungen für Tätigkeiten wird auch deren zeitliche Lage, Dauern und Tempi sowie
räumliche Bewegungen und Aufenthaltsorte bestimmt. Die Orte, an denen die Tätigkeiten
nacheinander stattfinden, sind in der Lebenszeit aneinander gereiht, sie bilden den in der
Lebenszeit erstreckten individuellen Lebensraum (vgl. Zeiher/Zeiher 1994). Als
soziologisches Konzept ist alltägliche Lebensführung seit Max Weber immer auf
gesellschaftliche Modernisierungserscheinungen bezogen worden. Fragen nach der
Lebensführung der Individuen sind erneut aktuell geworden (Voß 1991; Jurczyk/Rerrich
1993) mit dem verstärkten Hervortreten von Prozessen gesellschaftlicher Individualisierung,
also der Ablösung der Individuen aus sozialen Zusammenhängen, in denen der Lebensweg
und die Lebenszeit im ganzen Leben wie im Alltag vorgezeichnet waren. Kinder sind im
letzten Drittel des 20. Jahrhunderts von solchen Prozessen nicht zuletzt durch die
Institutionalisierung von Betreuungs- und Freizeitmöglichkeiten und durch deren
Optionalisierung erreicht worden. Deshalb stelle ich im Folgenden das soziale Leben ins
Zentrum, das Kinder in ihrer Freizeit jenseits von Kindertagesstätte und Schule untereinander
führen. Wie sind die Orte für das Leben unter Kindern in der Alltagswelt raum-zeitlich
verteilt, und wie führen Kinder ihr Alltagsleben in den jeweiligen raum-zeitlichen
Gegebenheiten?
Noch zu Beginn der 60er Jahre hat Elisabeth Pfeil (1965) die typische Aneignung der
räumlichen Welt durch Kinder im Kindheitsverlauf als allmähliches Ausweiten des aus
eigener Kraft erreichbaren Lebensraums in konzentrischen Kreisen beschrieben. Der
individuelle Lebensraum blieb die Kindheit hindurch an ein zusammenhängendes Areal
gebunden. Über Jahre hin blieben es dieselben Gleichaltrigen, die hier zusammen aufwuchsen
und die Orte im selbst erreichbaren Umkreis der Wohnungen dem Alter gemäß immer wieder
anders nutzten. Dieses Muster des traditionalen einheitlichen Lebensraums setzt voraus, dass
ein jedes Kind für alle seine Tätigkeiten immer geeignete Möglichkeiten im Umfeld findet.
Im funktionsentmischten Stadtraum fehlt diese Voraussetzung. Die verhäuslichten
Betreuungs- und Freizeitorte – Kitas, Spiel- und Sportplätze, Schwimmhallen, Freizeitheime,
Orte von Kursen u.a. – liegen wie Inseln verstreut, oft weit auseinander in einem Raum, der
im übrigen für Erwachsene eingerichtet ist. Viel vom Alltagsleben der Kinder findet auf
diesen Kinderinseln statt. Da viele Orte altersspezialisiert sind, sind es im Kindheitsverlauf
immer wieder andere. Individuelle Lebensräume von Kindern enthalten die je eigenen
Inselkombinationen. Das können nur Wohnung und Kindertagestätte sein, das können aber
auch viele verstreute Orte sein, die durch Wege zu Fuß oder mit elterlichem Auto verbunden
werden, und deren Entfernungen besonderes raum-zeitliches Alltagsmanagement verlangen.
Das Raum-Zeit-Muster des Kindheitsverlaufs zeichnet sich hier nicht mehr durch
allmähliches Ausweiten des Lebensraums durch das Kind selbst aus. Vielmehr ist der
Lebensraum von frühem Alter an weit, entsprechend der elterlichen, oft motorisierten
Alltagsmobilität. Erst in der mittleren Kindheit, wenn sich der Übergang zu raum-zeitlicher
Selbstbestimmung vollzieht, schrumpfen die individuellen Lebensräume nicht selten auf einen
Bereich, der zu Fuß und mit dem Fahrrad selbst erreichbar ist.
In diesem Beitrag ist kein Platz, um die Vielfalt an Lebensführungen und an individuellen
Lebensräumen von Kindern darzustellen, die heute in funktionsentmischten
Raumverhältnissen und verhäuslichten Kindheitsbedingungen anzutreffen sind. Ich werde drei
Muster, die Kinder im mittleren Kindesalter praktizieren, herausgreifen und sehr knapp
idealtypisch beschreiben. Empirische Grundlage ist eine biographisch und sozialökologisch
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angelegte Untersuchung zur alltäglichen Lebensführung Zehnjähriger in verschiedenen
Wohnvierteln im Westen Berlins Mitte der 80er Jahre (Zeiher/Zeiher 1994), also zu einer
Zeit, als die oben beschriebene Verhäuslichung der Freizeitorte sich ausgebreitet hatte.
Domestizierte Nachbarschaft: offene Zeit am begrenzten Ort: Einen künstlichen Ersatz für
vielfältig nutzbare Nachbarschaftsräume, bieten "offene" sozialpädagogische Einrichtungen
mit vielen Aktivitätsangeboten draußen und drinnen, die nachmittags unbeschränkt
zugänglich sind. Kinder, die nah wohnen, können dort über Jahre hin miteinander
aufwachsen. Solche Einrichtungen haben gewöhnlich eine Kerngruppe ständiger Benutzer,
deren Spielen sich an den räumlich-gegenständlichen Angeboten entfaltet. Als Gruppen oder
allein wechseln die Kinder mit den Aktivitäten die Orte, verlassen aber nur selten den
überschaubaren Bereich ihrer Kinderinsel. Anders als das traditionelle freie Spielen und
Herumstreifen draußen ist das soziale Leben hier räumlich eingegrenzt. Die
Bewegungsfreiheit der Kinder wird zwar nicht durch direkte Machtausübung Erwachsener
beschnitten wie in Schule oder Kindertagesstätte, ist aber faktisch eingeschränkt. Denn die
Spielgelegenheiten und das Spielgeschehen, das sich hier entfaltet, attrahiert Kinder, die
anderswo vertrieben werden, vom Verkehr aus den Straßen, von Hausmeistern aus Höfen und
von der Polizei aus Parks. Alltägliche Lebensführung geschieht hier durch zeitlich spontanes
Bewegen im Raum: durch Sich-Umschauen und Hingehen. Das verlangt Wahrnehmung der
im Augenblick vorhandenen Möglichkeiten und sofortigen Entschluß zum Tun. Planen und
Verabreden ist nicht notwendig und nicht üblich, weil alles nah ist und Spielgefährten immer
zu finden sind. Jedem einzelnen Kind lässt der offene Zugang in jedem Moment zeitliche
Selbstbestimmung. Die Zehnjährigen, die auf einer solchen vielfältig ausgestatteten
"Kinderinsel" in Berlin untersucht wurden, ließen sich auf nichts ein, was ihre zeitliche
Freizügigkeit einschränkte; sie kamen zu früh, zu spät, nur gelegentlich und blieben oft ganz
weg. Der Versuch der Erzieher des Freizeitheims, regelmäßige Fußballtrainingsstunden
einzuführen, scheiterte sogar bei denjenigen Jungen, die auf dem dortigen Bolzplatz täglich
Fußball zu spielen pflegten. Daraufhin öffnete die Einrichtung die Zeitbedingungen ihrer
Angebote – die Kinder hatten mit ihrer Präferenz für einen offenen Zeitmodus ihr lokales
zeitliches Umfeld geformt. Gleichartiges geschah in anderen Kindereinrichtungen dieses
Stadtteils.
Raum-Zeit-Inseln im individuellen Lebensraum: Im Zentrum dieses Musters steht ein
verbreiteter Typus sozialpädagogischer Freizeitangebote: regelmäßig an festen Orten zu
festen Terminen stattfindende Gruppenveranstaltungen in Sportvereinen, kirchlichen und
anderen Einrichtungen sowie als nachmittägliche Arbeitsgemeinschaften in Schulen. Es gibt
Kinder, die nachmittags nur in solchen Veranstaltungen mit anderen Kindern zusammen sind.
Jedes solche Arrangement ist ein raum-zeitlich eng begrenztes soziales Milieu. Die Kinder
und Erwachsenen dort haben anderswo in der Regel nichts miteinander zu tun. Da hier ein
Curriculum absolviert wird, haben die Kinder wenig Gelegenheit für eigene Beziehungen
untereinander. Wenn die Veranstaltung vorbei ist, pflegt jedes Kind seiner Wege zu gehen. So
ist das einzelne Kind hier nur mit einem Teilbereich seines Lebens angesiedelt. Im
individuellen Lebenszusammenhang kann es mehrere solche sozial, zeitlich und räumlich
partikularen Milieus geben, die das Kind im Laufe der Woche nach Terminplan jeweils für
die vorgesehene kurze Zeit aufsucht. Partikularität und Optionalität solcher Freizeitangebote
verlangen längerfristige individuelle Entscheidungen über das Alltagsprogramm, Initiative zur
Information über Angebote und gegebenenfalls Zeitkoordination – wobei oft Eltern helfen.
Nachdem solche Entscheidungen getroffen sind, ist freilich ein Alltagsprogramm etabliert,
das nur noch zu absolvieren ist.
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Zeitdisponieren im Netzwerk von Freunden und Freundinnen: Dieses Muster kommt
weitgehend ohne institutionelle Freizeitangebote aus. Das soziale Milieu besteht in einem
Netzwerk von Zweierbeziehungen, die in privaten Verabredungen realisiert werden. Solche
Praxis kennen diese Kinder oft seit frühem Alter, als ihre Mütter Besuche zu verabreden
pflegten. Der einzige Ort, an dem diese Kinder in größeren Gruppen zusammentreffen, ist die
Schule. Hier stellen sie Freundschaftsbeziehungen her, und hier verabreden sie sich für den
bevorstehenden Nachmittag, um in einer Wohnung oder draußen zu spielen. Das
nachmittägliche soziale Leben wird nicht an einem gemeinsamen Ort konstituiert, sondern
allein durch immer neue individuelle Zeitdisposition. Dem Spielen miteinander geht voraus,
Partner oder Partnerin und Tätigkeit zu wählen, die Realisationsbedingungen an diesem
Nachmittag zu antizipieren, vormittags in der Schule initiativ zu werden, mittags zu Hause
den Termin in der Familie abzuklären und schließlich telefonisch zu bestätigen. Das verlangt
an jedem Tag bewusste Antizipation, Initiative und Koordination. Auch längerfristig ist
vorauszudenken, denn jede einzelne Beziehung innerhalb dieses Milieus muß immer wieder
durch ein Zusammensein realisiert werden, um nicht zu verschwinden. Und sie muß so
gehandhabt werden, dass mehrere solche Beziehungen innerhalb des Netzwerks
nebeneinander bestehen bleiben. Dazu ist bewusstes soziales Verhalten erforderlich: attraktiv
bleiben für den anderen, und eine Balance zwischen Nähe und Distanz halten, damit einzelne
Beziehungen weder zu eng werden noch sich auflösen. Weil Verabreden zu zweit einfacher
und weniger konfliktträchtig ist als in größerer Gruppe, bevorzugten die untersuchten Kinder
jeweils nur paarweises Zusammensein, exklusiv für den ganzen Nachmittag, wechselten aber
über die Tage die Partner. Letzteres sicherte eine gewisse soziale Distanz, die erlaubte, jeden
Tag frei über die Nachmittagszeit zu bestimmen. Mit diesen Regeln und durch ein Agieren in
der Zeit, das bewusst auch künftig benötigte Bedingungen einbezieht, gelangt es den
Kindern, das eigene Leben nur für den aktuellen Tag vorab festzulegen und nicht langfristig,
Lebenszeit also offen zu halten. Die Verabredungsregeln hatten die Kinder selbst gemacht,
um sich Entscheidungsfreiheit und zeitliche Selbstbestimmung zu erhalten. Sie benutzten
Methoden der rationalen Organisation, nämlich Terminplanung und Regulierung, damit jeder
trotz Planungsnotwendigkeit möglichst viel zeitliche Freiheit behielt. In diesem Bestreben
mieden auch diese Zehnjährigen extern zeitfixierte Veranstaltungen in Freizeiteinrichtungen.
Die drei Muster lassen die Vielgestaltigkeit der Raum- und Zeitbedingungen erkennen, in
denen Kinder von Tendenzen der Funktionsentmischung städtischer Räume betroffen werden
und mit diesen umgehen, bilden diese aber keineswegs vollständig ab. In der Realität
verbinden Kinder zuweilen mehrere dieser Muster und auch andere Muster. Ob in jüngster
Zeit neue Muster alltäglicher Lebensführung im sozialen Leben von Kindern hervortreten,
etwa in Szenen neuer Straßenspiele, wäre noch zu untersuchen. Auch die Ausbreitung des
Handys könnte Folgen in den raum-zeitlichen Mustern alltäglicher Lebensführung haben.
Die Alltagswelt gibt Kindern zwar Möglichkeiten und Grenzen vor, es sind aber die Kinder
selbst, die diese in ihrem Handeln aufgreifen oder nicht, und die diese auch verändern. Daran
wie Kinder mit ihren je besonderen Möglichkeiten umgehen, lässt sich ablesen, welches ihre
eigenen Bestrebungen sind. Die Berliner Studie hat gezeigt, wie wichtig es den Mitte der 80er
Jahre untersuchten Zehnjährigen war, sich die Zeit möglichst offen zu halten, um jederzeit
selbst entscheiden zu können, was sie tun möchten, und wie ihnen das in zwei der
beschriebenen Milieus, im domestizierten Nachbarschaftsmilieu und im
Verabredungszusammenhang, auf je andere Weise gelang.
5. Zeitkonflikte: Folgen deregulierter elterlicher Arbeitszeiten
10
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebten wohl die meisten Familien mit einem Regime
fester Zeiten für Essen und Schlafen, für häusliche Arbeiten und für gemeinsame
Freizeitaktivitäten. Zusammen mit den Schulzeiten und auf diese abgestimmt, lebten die
meisten Kinder in einem recht einfachen Zeitgerüst des Alltags, das freie Zeitblöcke ließ für
Aktivitäten allein oder unter anderen Kindern. Seit den 60er Jahren sind diese Zeitgerüste
zunehmend komplexer und individuell verschiedener geworden. Das ging zum einen von der
Bildungsreform aus: von Institutionalisierungen in Betreuung und Freizeit sowie von neuen
Erziehungsvorstellungen (s. oben). Kinder haben seither mehr externe Termine und Eltern
verbringen mehr Zeit mit ihnen, zu Hause und außer Haus. Eltern spielen mehr mit ihren
Kindern, engagieren sich in Kindereinrichtungen für ihre Kinder, gestalten Freizeit und
Urlaube der Familie kindbezogen. Die Familie ist tendenziell zum
Dienstleistungsunternehmen für das sich entwickelnde und lernende Kind geworden. Von
Eltern wird erwartet, durch intensives Beschäftigen mit den Kindern und durch Organisieren
von sozialen Kontakten und außerschulischer Bildung Lern- und Sozialisationsförderung zu
betreiben. Den vermehrten Ansprüchen an elterliche Zeit für Kinder steht vermehrte
außerhäusliche Zeitbelastung von Müttern gegenüber; immer mehr Mütter sind erwerbstätig,
wenn auch bis heute überwiegend teilzeitlich (Engstler 1997). In der Bundesrepublik
bestimmen die externen Zeitgeber der Familie – Schule, Betreuungsinstitutionen, Arbeitgeber
– ihre Zeitansprüche in der Regel noch immer aus ihren internen Abläufen und überlassen die
Zeitkoordination den Eltern; wenn Arrangements zusammenbrechen, etwa bei Erkrankung,
haben Eltern Notlösungen zu finden. Das deutsche Schulwesen hat immer mit obrigkeitlicher
Macht von Familien Anpassung verlangt. Halbtagsunterricht, unterschiedliche
Unterrichtsdauern an den Wochentagen und wenige Unterrichtsstunden für Schulanfänger
setzen nach wie vor die Hausfrauenfamilie voraus. Selbst für teilzeitarbeitende Mütter sind
solche Schulzeiten oft nicht an die eigene Arbeitszeit anschließbar, obwohl immer mehr
Arbeitgeber Müttern mit Gleitzeitregelungen entgegenkommen – soweit das die betrieblichen
Interessen zulassen.
In jüngster Zeit sind Veränderungen in den gesellschaftlichen Zeitstrukturen zu beobachten:
Deregulierungen und Beschleunigungen in Arbeitswelt (z.B. Voß 1998) und Alltagswelt (z.B.
Bauer 2000; Eberling/Henckel 1998; Garhammer 1999; Geißler 1999; Rinderspacher 2000)
sowie Verlagerungen der Raum-Zeitbestimmung vom Betrieb auf die Arbeitenden (Voß
2000). So haben neben Gleitzeitregelungen und Heimarbeit auch Arbeitszeitverlängerungen,
Schicht-, Nacht- und Wochenendarbeit sowie Diskontinuität der Arbeitszeiten bei Zeitarbeit
und Scheinselbständigkeit und in eigenen Unternehmen zugenommen (Garhammer 1999).
Von den Entstrukturierungen von Arbeitszeiten und von Rhythmen des Alltagslebens werden
Kinder wohl vor allem über die Betroffenheit ihrer Eltern und über raum-zeitliche
Veränderungen im familialen Alltagsleben erreicht. Deregulierte elterliche Arbeitszeiten, die
unregelmäßig in die Abende und Wochenenden hineinreichen, sind noch weniger mit den
kollektiven Rhythmen synchronisierbar, in die Kinder eingebunden sind. Die familialen
Zeitkoordinationsprobleme von immer mehr Eltern verschärfen sich auf diese Weise. Erst in
jüngster Zeit beginnen Kinderinstitutionen ihre Zeitregimes revidieren. "Verlässliche"
Halbtagsschulen verlängern und verstetigen die Unterrichtszeit, einzelne bieten sogar
Mittagessen, und der Ruf nach Ganztagsschulen wird lauter. Auch im Bereich der
Kindertagesstätten beginnt eine Umorientierung zum Dienstleister für Familien
(Leu/Preissing 2000). Kommerzielle Unternehmen entstehen, die für bisher unversorgte
Zeiten, selbst über Nacht, Betreuung anbieten.
Zweifellos sind die Möglichkeiten, wie Eltern Zeitkonflikte bewältigen können, sozial
ungleich verteilt. Und andere Bedingungen "familialer Zeitbewirtschaftung" (Bauer 2000)
verändern sich ebenfalls. Sehr allmählich werden Väter mehr in Familienarbeit einbezogen.
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Tradierte Normen der Haushaltsarbeit gelten nicht mehr. Haushaltsarbeit wird zunehmend
rund-um-die-Uhr, nebenher und eilig getan, als "verstreute Sekundäraktivitäten" (Garhammer
1994, 156). Mit Fertigprodukten und externen Dienstleistungen wird Zeit gespart. Mit Hilfe
der nicht ortsgebundener Mittel der Telekommunikation läßt sich die desynchronisierte
Familie vernetzen, sofern die Kinder alt genug sind, diese zu benutzen. Es gibt erste
Untersuchungen zur Bedeutung von Zeitveränderungen für das Familienleben (Bauer 2000;
Jürgens/Reinecke 1998), aber noch keine über die Auswirkungen auf die Zeit- und
Raummuster des Alltagslebens von Kindern unterschiedlichen Alters. Kinder pflegen nur als
Verursacher von Zeitproblemen der Eltern in den Blick zu kommen. Ich kann hier nur
Vermutungen anstellen.
Kinder wechseln im Tagesverlauf zwischen Familienwohnung, Schule und/oder Orten
externer Betreuung und veranstalteter Freizeit. Für jüngere Kinder müssen bei schlechter
Passung zwischen elterlichen Arbeitszeiten und institutionellen Kinderzeiten mehr
Tagesphasen zusätzlich mit externen Betreuungen gefüllt werden, gegebenenfalls abends oder
an Wochenenden mit anderen Arrangements als werktags tagsüber. Das tägliche Zeit- und
Raummuster solcher Kinder wird dann sehr fragmentiert sein. Es können dann häufiger kurze
Zwischenzeiten entstehen, die entsprechend kurzschrittige, jederzeit abbrechbare Aktivitäten
nahe legen. Bei verbesserter Passung von elterlicher Arbeitszeiten und Zeiten der
Kinderinstitution, etwa durch Gleitzeitarbeit, können Zeit- und Raummuster des täglichen
Wechselns auch einfacher werden. Eltern und Kinder haben dann mehr gemeinsame Zeit zu
Hause. Ältere Kinder werden eher zeitweise allein zu Hause sein, nicht nur mittags zwischen
Schulschluß und Heimkehr von Mutter oder Vater, sondern auch am Abend oder an
Wochenenden. Solberg (1990) spricht von älteren Kindern als den neuen "homestayers".
Während früher die Mütter im Hause und die Kinder zum Spielen draußen waren, seien jetzt
die erwerbstätigen Mütter fort, und die Kinder, die draußen kaum mehr spielen könnten, zu
Hause. Sie berichtet über zehn- bis zwölfjährige norwegische Kindern vollzeitlich
erwerbstätiger Mütter, die es sehr schätzten, eine Zeitlang zu Hause allein über Raum, Zeit
und Tätigkeiten verfügen zu können.
Verändert sich auch, wie die Kinder selbst mit Zeit und Raum umgehen? Nahe liegt
anzunehmen, das Leben von Kindern gerate durch Termindichte und Beschleunigungen im
elterlichen Leben ebenfalls unter Zeitdruck. Wenn Mütter sich unter Zeitdruck fühlen, was
häufig der Fall ist (Krings-Heckemeier 1997), erleben Kinder gestresste Mütter. Doch kann
solchen Müttern dann auch die Zeit fehlen, um Kinderzeit mit Angeboten und Anforderungen
zu besetzten. Eine eilige Mutter wird weniger Geduld für das langsamere Tempo des Kindes
aufbringen, etwa um es bei einer Hausarbeit mittun zu lassen. Arbeiten selbst zu tun, geht
rascher, insbesondere, wenn diese je kurz und zeitlich verstreut sind (Zeiher 2000). In den
Berliner Fallstudien zur alltäglichen Lebensführung Zehnjähriger fanden sich keine Kinder,
die sich in ihrer außerschulischen Zeit gestresst fühlten. Das Problem dieser Kinder war eher,
die Nachmittagszeit zu füllen. Einzelne, denen das schlecht gelang, "hingen herum" und
klagten über Langeweile.
Es ist zu vermuten, dass Kinder heute mit sehr verschiedenen Zeitmodi konfrontiert sind.
Wenn Eltern ihre Arbeitszeiten flexibel handhaben, wenn der Haushalt kaum mehr durch feste
Rhythmen strukturiert ist, wenn also Eltern Zeitbedingungen bedarfs- und situationsbedingt
modifizieren, erfahren Kinder, dass Zeitvorgaben nicht notwendig nur als extern gesetzte
starre Strukturen hinzunehmen sind, sondern individuell gehandhabt werden können. Der
jederzeit beliebig mögliche Umgang mit Medien ergänzt diese Erfahrung. Denn seit der
Verkabelung des Fernsehens stehen den ganzen Tag über Programme aller Art zur Verfügung.
Videogerät, Playstation und Computer sind zeitlich beliebig einsetzbar. Dem stehen die nach
12
wie vor extern fixierten Termine und Aktivitätsabläufe in Schule und Kindereinrichtungen
gegenüber, insbesondere das starre Zeitgerüst der Schule.
Was bedeutet es für Kinder, einerseits Individualisierungen und Flexibilisierungen im Raumund Zeitverhalten ständig im Alltagsleben zu erfahren und zu praktizieren, und andererseits in
nicht mehr zeitgemäße tayloristische Organisationsformen gezwungen zu werden?
Rinderspacher (2000) hat den Wechsel zwischen Phasen der Beschleunigung und der
Entschleunigung diskutiert. Entschleunigungsphasen würden bei zunehmender zeitlicher
Verdichtung – wie sie bei Kindern in den Schulen und bei Eltern am Arbeitsplatz zu
beobachten sei – für die Individuen notwendiger. Kinder finden in ihren Alltagsabläufen
vermutlich eher als viele Erwachsene Bedingungen vor, in denen sie von intensiver
Zeitnutzung in der Lernarbeit einerseits in freies Fluktuieren in der Zeit wechseln können. Die
Erfahrung unterschiedlicher Zeitmodi kann auch reflexive Distanz gegenüber den je einzelnen
Zeitmodi ermöglichen. In Fallstudien zur alltäglichen Lebensführung Zehnjähriger, die ich im
Jahr 2000 durchgeführt habe, beklagte sich ein Mädchen über das starre Stundenschema des
Schulunterrichts und wünschte sich Zeitbedingungen, die sie in der Berufsarbeit Erwachsener
vermutete: "Sich freie Zeit lassen, sich öfter Pausen lassen... sich dann selbst aussuchen,
womit man anfängt". Ein Symptom dafür, dass die allgemeine Tendenz der Auflösung starrer
Zeitmuster auch die Schule nicht ganz auslässt, ist die Erosion der Pünktlichkeit. Nach
Berichten von Schülern und Lehrern scheint sich zu verbreiten, es mit dem pünktlichen
Erscheinen nicht mehr absolut genau zu nehmen. Wenn selbst Lehrer die Stundenplanzeiten
gelegentlich nicht einhalten, werden auch für die Kinder Zeitgrenzen bewegbar. Es scheint
möglich zu werden, selbst zu bestimmen, wann Pünktlichkeit objektiv notwendig ist, und
wann sie subjektiv gehandhabt werden kann.
Während den heutigen Erwachsenen einst strikte Unterwerfung unter Zeitökonomie
anerzogen wurde, lernen Kinder diese vermutlich nur noch als einen Zeitmodus neben
anderen. Ich greife hier wieder auf neue Fallstudien zurück. Anders als die Mitte der 80er
Jahre untersuchten Zehnjährigen wollten die 2000 untersuchten Kinder keine Uhren am Arm,
obwohl ihre Wochenpläne eher mehr feste institutionelle Termine enthielten. Nirgends war,
wie seinerzeit, das Bestreben zu erkennen, einen bestimmten Zeitmodus im eigenen Leben zu
etablieren. Vielmehr handhabten diese Kinder verschiedene Zeitmodi, und sie taten das eher
situationsgebunden und eher von Lust oder Unlust auf das jeweilige Tun bestimmt. Termine,
die sie als wichtige akzeptierten oder an denen eigenes Interesse und Vergnügen hing, hielten
diese Kinder ein. Dazu beachteten sie dann die Uhren, von denen sie umgeben waren, von
Schuluhren bis zu Küchenuhren, oder sie fragten erwachsene Uhrenträger. Wo sie selbst aber
zu einem Tun nicht sonderlich motiviert waren, verzichteten sie auf zeitliche
Selbstregulierung und überließen gern Erwachsenen die Verantwortung. Ein Junge berichtete
das aus seinem Hort. Dort waren die Erzieherinnen verantwortlich, dass ein jedes Kind
nachmittags pünktlich zur vorher angekündigten Zeit fortging. Wollten die Kinder ihre
Termine einhalten, versäumten sie nicht, trotzdem selbst darauf zu achten. Mochten sie
dagegen lieber das gemeinsame Spielen im Hort ausdehnen, hatten sie eine willkommene
Begründung für Verspätungen: "Die Erzieherinnen haben uns nicht Bescheid gesagt. Das ist
deren Sache." Heimkehrtermine, die Eltern gesetzt hatten und mit anderen verabredete
Termine wurden meist nicht als exakte Zeitbestimmung verstanden, sondern "locker
genommen". Wenn Wartezeiten entstanden, pflegten Kinder und Eltern das als etwas
Normales hinzunehmen. Eine Mutter erläuterte, warum Uhren nicht so wichtig waren: "Sie
fährt ja nicht Bus, und sonst kommt es nicht so darauf an."
Wir haben es hier nicht mehr mit dem ideologisch und praktisch klar abgegrenzten
Nebeneinander von modernen und vormodernen Zeitmodi, von Zeitrationalität und Eigenzeit
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des kindlichen Spielens, zu tun, das bis vor wenigen Jahrzehnten das bürgerliche
Kindheitsmuster wie auch die Alltagsrealität von Kindern ausmachte. Auch die in den 70er
und 80er Jahren dominant gewordene Forderung nach Selbstbestimmung gegenüber
Fremdbestimmung der Zeit scheint im pädagogischen Handeln Erwachsener wie auch im
Alltagshandeln von Kindern an Kraft verloren zu haben. Die Tendenz, die sich hier –
spekulativ – ausmachen lässt, deutet auf eine Vielfalt der von einer Person gelebten
Zeitmuster und Zeitmodi. Mit dem "Es kommt nicht so darauf an" lockert sich die Bindung an
das Dogma des rationalen, ökonomischen Zeitgebrauchs, das den Menschen in der Geschichte
der Moderne anerzogen worden ist. Die Uhr in der Schublade zu lassen, kann bedeuten, sich
ein Stück weit frei zu machen von der ständigen Kopplung des Lebens an lineare, dem Leben
gegenüber verselbständigte, es rastlos beherrschende Zeit. (Vgl. Geißler 2000). Die Kinder
der hier herangezogenen Fallstudien im Jahr 2000 konnten mit rationaler objektiver Zeit
umgehen, aber sie bevorzugten zeitliche Offenheit. Sie akzeptierten Zeitvorgaben, aber sie
legten mit der Uhr einfach von Zeit zu Zeit die Herrschaft der verselbständigten Zeit ab. Sie
verstanden es, mit verschiedenen Zeitmodi zu leben und sich somit keinem Modus mehr ganz
zu unterwerfen.
Hier deutet sich ein weiterer historischer Schritt der Individualisierung des Umgangs mit Zeit
an; über das individuelle Alltagsmanagement hinaus wird die Macht – einiger – Zeitvorgaben
disponibel. Das mag als Zuwachs von Zeitsouveränität gewertet werden, doch es sollte auch
gesehen werden, dass Selbstorganisationszwänge die Individuen belasten und überfordern
können, zumal soziale Integration im Medium Zeit durch diese Entwicklungen schwieriger
wird.
6. Zeit- und Raumpolitik für Kinder
Das Gesellschaftsprojekt der Moderne war darauf gerichtet, Kinder aus der Arbeitswelt
herauszunehmen und sie in besonderen Räumen und Institutionen aufwachsen und lernen zu
lassen. Die gesellschaftliche Verselbständigung und Separierung von Kinderwelten war
pädagogisch und politisch intendiert und geschah unter anderem im Medium von Raum und
Zeit. Durch räumliche Aussperrungen und Einsperrungen sowie durch zeitliche
Regulierungen der Lebensbewegungen sind für Kinder besondere Lebensformen definiert und
sind Kinder und Erwachsene voneinander abgegrenzt worden. Im historischen Überblick ist
deutlich geworden, dass dies keineswegs bedeutet, dass Kindheit und Kinder jenseits der
Gesellschaft lokalisiert wären, wie das die Ideologie des Kindheitsprojekts annimmt. Das
zeigt sich zum einen in den einzelnen Maßnahmen und Konzepten. Obwohl zum Schutz und
zur gesonderten Behandlung der Kinder jenseits der Arbeitswelt geschaffen, konfrontieren
diese in allen historischen Phasen Kinder mit raum-zeitlichen Organisationsprinzipien, die
jeweils in der Arbeitswelt vorherrschend waren oder sind. Und das wird auch deutlich, wenn
man den raum-zeitlichen Zusammenhang der Lebenswelt von Kindern betrachtet. Die
Tätigkeitssequenzen der Alltagsabläufe wie auch die Räume, durch die das Leben im
Zeitverlauf geht, zeigen die Einbindung der Kinder in vielfältige gesellschaftliche Bereiche.
Die je einzelnen Raum-Zeit-Bedingungen, etwa in Kindereinrichtungen, erweisen sich im
individuellen Alltagsablauf als Stücke, die mit anderen solchen Stücken um Zeit konfligieren
können, und die, wenn sie im individuellen Leben zusammentreffen, neue raum-zeitliche
Bedingungen erzeugen und besonderes raum-zeitliches Handeln erfordern können. Im
Zeitverlauf individuellen Lebens werden raum-zeitliche Verhältnisse der Schulen,
Betreuungs- und Freizeiteinrichtungen verbunden mit solchen der städtischen Alltagswelt,
solchen der Kommunikations- und Unterhaltungsmedien, und nicht zuletzt mit solchen
anderer Personen, mit denen das Kind in "Existenzverflechtungen" (s. Siewerts in diesem
14
Band) lebt. Indem sie ihr Alltagsleben durch Raum und Zeit bewegen, nehmen Kinder raumzeitliche Gegebenheiten aus vielen Gesellschaftsbereichen auf - nicht nur aus der für sie
gemachten Kindheitswelt - und verknüpfen diese miteinander, stellen solche neu her, und
konstruieren auf diese Weise konkret gelebte Kindheit.
Ob der weitere Ausbau des separaten Schutz- und Vorbereitungsraums Kindheit im Fokus ist,
oder ob Kindheit als integraler Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenhangs
wahrgenommen wird, hat Folgen für die Position von Kindern in einer Raum-Zeit-Politik und
für die Ziele und Ansatzstellen solcher Politik. Während das überkommene Kindheitsprojekt
sich auf das Konzipieren, Bereitstellen und Ausstatten einzelner Räume und Programme für
Kinder beschränkt, nimmt die umfassendere, heute zu fordernde Perspektive
Lebenszusammenhänge – Alltagsabläufe mit den darin vorhandenen
„Existenzverflechtungen" – von Kindern in den Blick und sucht darin Problem- und
Konfliktstellen auf, die zu bearbeiten sind.
Nicht von Kindern und Kindheit, sondern vom gesellschaftlichen Zusammenhang ausgehend,
läßt sich das Ergebnis des historischen Überblicks auch anders formulieren: Der
gesellschaftliche Wandel raum-zeitlicher Verhältnisse bricht sich im Generationenverhältnis,
und das kommt in den je besonderen raum-zeitlichen Strukturen und Konzepten der Kindheit
gegenüber denen der Erwachsenenwelt zum Ausdruck. Die gesellschaftliche Position der
Kinder bestimmt sich, wie eingangs gesagt, durch ihren Bezug zu der der Erwachsenen. Das
weist auf eine weitere Konsequenz für Raum-Zeit-Politik. Weil Kindheit Ausdruck der
gesellschaftlichen Konstruktion des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen den Generationen
ist, hat es auch Politik nie nur mit Kindern zu tun, sondern letztlich immer mit dem
Generationenverhältnis. Wenn Raum- und Zeit-Verhältnisse für Kindern zu verändern sind,
steht das Generationenverhältnis zur Disposition.
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