„..........................Die Bevölkerung der westlichen Welt wächst auf in einer von Psychologie geprägten Kultur, in der man glaubt, daß sich psychische Probleme hauptsächlich von der Vergangenheit, genauer gesagt von der Kindheit, herleiten lassen.......................... Es ist natürlich unumstritten, daß schwierige Kindheitserlebnisse Spuren in uns hinterlassen und daß die Umgebung, in der wir aufwachsen, unsere Entwicklung beeinflußt. Aber ist die Erklärung der Probleme von heute durch negative Kindheitserfahrungen so eindeutig, wie wir es gewohnt sind zu glauben? ................ Nach der Statistik besteht für Kinder, die in einer ungünstigen Umgebung aufwachsen - z.B. in Familien mit Suchtproblemen, psychischen Krankheiten oder Gewaltpotential - eine größere Wahrscheinlichkeit, später im Erwachsenenalter verschiedenartige Probleme zu haben als für Kinder aus den sogenannten „Normalfamilien". Aber die Statistik zeigt nur die Risiken auf, sie behauptet nicht, daß negative Erfahrungen automatisch Probleme verursachen. ................... Die Forscher Joan Kaufman und Edward Zigler haben ......... gezeigt, daß der allgemeine Glaube, wonach diese Probleme von einer Generation auf die andere übergehen, ein schädlicher Mythos ist. Sie stellen fest: „Erwachsene, die in ihrer Kindheit mißhandelt wurden, müssen immer wieder im Laufe ihres Lebens hören, daß sie wahrscheinlich auch ihre Kinder mißhandeln werden. Die Wiederholung dieser Aussage hat sich bei manchen zu einer sich selbst verwirklichenden Prognose entwickelt. Wobei andere, die die Spirale der Gewalt gebrochen haben, sich als laufende Zeitbomben empfinden." Das Forscherpaar stellt außerdem fest, daß dieser weit verbreitete und Sachverhalte vereinfachende Mythos das Verstehen von Gründen der Mißhandlung erschwert und sowohl die Kinderfürsorger als auch über Sozialpolitik entscheidende Personen irregeführt hat........................ Howard Goldstein, ein angesehener amerikanischer emeritierter Professor für Sozialarbeit, ......... hat eine Gruppe älterer Menschen beobachtet, die vor dem zweiten Weltkrieg im gleichen Kinderheim aufwuchsen und dadurch miteinander verbunden sind. Das Leben in dem Heim war hart und voller Leid. Das Personal war kaum geschult, die Erziehung war intolerant............. Professor Goldstein schreibt, daß unter den Interviewpartnern eine einzige war, die über 60jährige Betty, die in einem verbitterten Ton über ihre Kindheit sprach. Auch sie konnte ihr Leben als gelungen bezeichnen, sie hatte ihr Leben lang als Lehrerin von behinderten Kindern gearbeitet, ihr Mann hat sie sehr geschätzt, und das Paar war stolz über ihre erfolgreichen Kinder. Trotzdem hat Betty ihr Leben in der Anstalt vor vielen Jahren und die damit verbundenen Verlusterlebnisse mit Wut und Bitterkeit geschildert. Professor Goldstein wunderte sich über ihre Reaktion und fragte: „Wie erklären Sie sich denn die Tatsache, daß Sie trotz dieser schwierigen Kindheit, ein Leben gelebt haben, in dem Sie auf so Vieles wirklich stolz sein können?" Betty wollte antworten, erzählt Goldstein, aber sie brach ab und schien darüber nachzudenken, was sie gesagt hatte. Dann sagte sie überraschenderweise, daß sie in der letzten Zeit zur Therapie gegangen ist. Ihr Vater, den sie sehr geliebt hatte, war vor ein paar Jahren gestorben. Der Tod des Vaters war für sie ein harter Schlag und sie war nicht in der Lage, sich von der darauf folgenden Depression zu erholen. Sie wurde sehr ernst und meinte: „Wissen Sie, ich hatte kaum über meine Kindheit in dem Heim nachgedacht, bevor ich zur Therapie ging. Ich hatte nicht gedacht, daß sie eine so grosse Bedeutung haben könnte, bis mein Therapeut mich nach meiner Kindheit fragte. Als ich ihm über mein Leben in der Anstalt berichtete, war er ganz schockiert und sagte, daß ich die pathologischste Kindheit gehabt hätte, von der er je gehört hat." Betty versank in ihren Gedanken und sagte schließlich sehr nachdenklich: „Ob das wohl stimmt?"................ Vielleicht sollten wir unseren Therapeuten-Kandidaten fragen: „Wie werde ich meine Vergangenheit sehen, nachdem ich sie mit Ihnen eine Weile analysiert habe?"........ (Pädagogische oder therapeutische Arbeit sollte den Klienten helfen) über ihr Leben so nachzudenken, daß sie über die Bewältigung ihres Schicksals stolz sein (können, dass es möglich wird, den) Blick von der Vergangenheit auf die Möglichkeiten der Zukunft zu richten................. Ein nicht erwünschtes Verhalten mit Kindheitserlebnissen zu erklären, ist besonders schädlich deshalb, weil das Kind leicht diese Einstellung übernimmt. Das gut gemeinte Verständnis wird sich als Bärendienst erweisen, wenn das Kind selbst zu denken anfängt, daß es durch seine vergangenen Erlebnisse psychisch so geschädigt ist, daß es zu etwas Besserem nicht fähig ist. Aus meiner Studienzeit erinnere ich mich auch an einen Jungen namens Marco, über den unter der Leitung eines erfahrenen Therapeuten in der Behandlungsgruppe beraten wurde. Als Thema wurde das aggressive Verhalten von Marco behandelt. ......... Marcos „Agieren" wurde mit der Angst, verlassen zu werden, erklärt; diese Angst wiederum rührte daher, daß er schon mehrmals in seinem Leben verlassen wurde. Marco hatte fünfmal von einer Familie zum Heim und wieder in eine neue Familie wechseln müssen. Die Gedankenkonstruktion war lückenlos und erklärte einleuchtend Marcos Verhalten, aber war sie in bezug auf Marco nützlich, um sein Leben besser verstehen zu können? Als Student habe ich damals meinen Mund gehalten, aber innerlich protestiert. Könnte man nicht genausogut sagen, daß Marco Glück auf seinem Lebensweg gehabt hatte, weil er die Möglichkeit hatte, viele Familien kennenzulernen. Er hatte viele Menschen kennengelernt, die sich alle um ihn sorgten und alle auf ihrer Weise versucht hatten, ihn bei seiner Entwicklung zu einem selbständigen Erwachsenen zu helfen. ............................ Mir war schon klar, daß Marcos Leben nicht einfach gewesen war, aber ich verstand nicht, warum seine Erfahrungen in einem internen Gespräch von Fachleuten so negativ bewertet werden mußten. War Marco durch das mehrmalige Verlassen-Worden-Sein ein in seiner Persönlichkeit gestörtes Individuum oder ein welterfahrener, hart gesottener kleiner Vagabund, dessen jetzige Aufgabe es wäre, sich in Disziplin zu üben? Es ist sicher nicht gleichgültig, durch welche Brille wir Marco und ähnliche junge Männer betrachten................ Textauszüge aus Ben Furman „Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben“ mit freundlicher Genehmigung des verlag modernes lernen borgmann publishing www.verlag-modernes-lernen.de