Klausur 04.07.15

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Abschlussklausur im Grundkurs Literaturwissenschaft Teil II
Sommersemester 2004, am 15.7.2004
(Poetik des Dramas und des Erzählens)
Die Reihenfolge der Bearbeitung der einzelnen Aufgaben (bitte die Nummern angeben!) ist beliebig. Sie dürfen
Ihre Lösungen auch auf dem Aufgabenblatt eintragen. Die Benutzung von Aufzeichnungen und anderen
Hilfsmitteln, außer einem Wörterbuch, ist nicht erlaubt ! Vergessen Sie bitte nicht, auf allen abzugebenden
Blättern Ihren Namen einzutragen!
Name (Druckschrift):.........................................................Vorname .........................................................
Aufgabe 1: Geben Sie an, aus welchen Dramen die folgenden vier Textausschnitte genommen
sind und überlegen Sie dann, ob und wie die von Aristoteles benannten dynamischen Bestandteile
einer tragischen Handlung: Pathos, Peripetie und Anagnorisis (bitte kurz definieren!), von den
vier Szenenausschnitten her veranschaulicht werden können!
Erkennen sie in Beispiel 2 Mittel des verfremdeten Theaters?
Beispiel 1
SCHWESTER MONIKA: Ich habe noch mehr getan.
–
MÖBIUS: Das wäre?
SCHWESTER MONIKA: Mit dem berühmten Physiker Professor Scherbert gesprochen.
MÖBIUS: Er war mein Lehrer.
SCHWESTER MONIKA: Er erinnerte sich genau. Sie seien sein bester Schüler gewesen.
MÖBIUS: Und was besprachen Sie mit ihm?
SCHWESTER MONIKA: Er versprach mir, Ihre Manuskripte unvoreingenommen zu prüfen.
MÖBIUS: Erklärten Sie auch, daß sie von Salomo stammen?
SCHWESTER MONIKA: Natürlich.
–
MÖBIUS: Und?
SCHWESTER MONIKA: Er lachte. Sie seien immer ein toller Spaßvogel gewesen. Johann Wilhelm!
Wir haben nicht nur an uns zu denken. Sie sind auserwählt. Salomo ist Ihnen erschienen, offenbarte sich
ihnen in seinem Glanz, die Weisheit des Himmels wurde Ihnen zuteil. Nun haben Sie den Weg zu gehen,
den das Wunder befiehlt, unbeirrbar, auch wenn der Weg durch Spott und Gelächter führt, durch
Unglauben und Zweifel. Aber er führt aus dieser Anstalt. Johann Wilhelm, er führt in die Öffentlichkeit,
nicht in die Einsamkeit, er führt in den Kampf. Ich bin da, dir zu helfen, mit dir zu kämpfen, der Himmel,
der dir Salomo schickte, schickte auch mich. Möbius starrt zum Fenster hinaus.
SCHWESTER MONIKA: Liebster.
–
MÖBIUS: Geliebte?
SCHWESTER MONIKA: Bist du nicht froh?
–
MÖBIUS: Sehr.
SCHWESTER MONIKA: Wir müssen nun deine Koffer packen. Acht Uhr zwanzig geht der Zug. Nach
Blumenstein.
Beispiel 2
Der Polizist schlägt den zweiten [Arbeiter] nieder.
DER JUNGE GENOSSE zeigt auf den Polizisten. Zum ersten: jetzt hat er einen Unschuldigen
erschlagen, du bist Zeuge.
DER ERSTE [ARBEITER] greift den Polizisten an.
Du gekaufter Hund.
Der Polizist zieht den Revolver.
DER JUNGE GENOSSE schreit:
Zu Hilfe, Genossen! Zu Hilfe! Hier werden Unbeteiligte erschlagen!
Der junge Genosse fasst den Polizisten von hinten am Hals, der erste Kuli biegt ihm den Arm langsam
nach
hinten. Der Schuss geht los, der Polizist wird entwaffnet und niedergeschlagen.
DER ZWEITE [ARBEITER] aufstehend zum ersten: jetzt haben wir einen Polizisten niedergeschlagen
und können nicht mehr in den Betrieb und zum jungen Genossen: du bist schuld.
DIE VIER AGITATOREN
Und er musste sich in Sicherheit bringen, anstatt Flugblätter zu verteilen, denn die Polizeibewachung
wurde verstärkt.
DISKUSSION
DER KONTROLLCHOR
Aber ist es nicht richtig, das Unrecht zu verhindern, wo immer es vorkommt?
DIE VIER AGITATOREN
Er hatte ein kleines Unrecht verhindert, aber das große Unrecht, der Streikbruch, ging weiter.
1
Beispiel 3
CHOR: Geh hin und lass das Mädchen aus der unterirdischen
Gruft und weihe dem offen Daliegenden ein Grab.
KREON: Dies hältst du für richtig, und du empfiehlst nachzugeben.
CHOR: So schnell wie möglich, Herr; es holen ein
der Götter schnellfüßige Schadengeister die bös Irrenden.
Kreon: 0 weh, mühsam nur kann ich mich selbst überwinden
zu dieser Tat. Gegen die Notwendigkeit aber lässt sich schwer ankämpfen.
CHOR: Geh und tue' es und überlass es andern nicht!
Kreon: So, wie ich bin, gehe ich; los, ihr Diener,
nahe und fern, nehmt Äxte zur Hand und eilt auf den hoch gelegenen Ort!
Ich aber, nachdem sich mein Entschluß so geändert hat –
Ich habe sie selbst gebunden -, werde sie an Ort und Stelle wieder lösen.
Beispiel 4
TELL tritt auf mit der Armbrust.
Durch diese hohle Gasse muß er kommen,
Es führt kein andrer Weg nach Küßnacht - Hier
Vollend ichs - Die Gelegenheit ist günstig.
Dort der Holunderstrauch verbirgt mich ihm,
Von dort herab kann ihn mein Pfeil erlangen,
Des Weges Enge wehret den Verfolgern.
Mach deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt,
Fort mußt du, deine Uhr ist abgelaufen.
Ich lebte still und harmlos - Das Geschoß
War auf des Waldes Tiere nur gerichtet,
Meine Gedanken waren rein von Mord Du hast aus meinem Frieden mich heraus
Geschreckt, in gärend Drachengift hast du
Die Milch der frommen Denkart mir verwandelt,
Zum Ungeheuren hast du mich gewöhnt Wer sich des Kindes Haupt zum Ziele setzte,
Der kann auch treffen in das Herz des Feinds.
Die armen Kindlein, die unschuldigen,
Das treue Weib muß ich vor deiner Wut
Beschützen, Landvogt - Da, als ich den Bogenstrang
Anzog - als mir die Hand erzitterte Als du mit grausam teufelischer Lust
Mich zwangst, aufs Haupt des Kindes anzulegen Als ich ohnmächtig flehend rang vor dir,
Damals gelobt ich mir in meinem Innern
Mit furchtbarm Eidschwur, den nur Gott gehört,
Daß meines nächsten Schusses erstes Ziel
Dein Herz sein sollte - Was ich mir gelobt
In jenes Augenblickes Höllenqualen,
Ist eine heilge Schuld, ich will sie zahlen.
2
Aufgabe 2: Wie definiert Aristoteles den Anfang einer tragischen Handlung? Veranschaulichen
Sie diese Definition bitte an Antigone von Sophokles und an Schillers Wilhelm Tell!
Was ist gemeinsam und was nicht?
Aufgabe 3: 1. Ist Lessings Forderung an den Dramendichter, gemischte Charaktere zu wählen,
auch anwendbar auf eine Figur wie Gregers Werle in Ibsens Drama Die Wildente?
2. Lässt sich Lessings Forderung auch an Figuren aus Novellen wie in Gottfried
Kellers Kleider machen Leute oder der Falkennovelle aus dem Decamerone von
Boccaccio veranschaulichen?
Aufgabe 4: Bestimmen Sie und begründen Sie bitte mit wenigen Worten,
erstens: wie der Erzähler der folgenden Beispiele zu dem steht, was er erzählt und
zweitens: welcher Erzählweisen er sich bedient!
Drittens geben Sie bitte Verfasser und Titel an!
Beispiel 1: Die Diakonissin hat mir endlich einen Spiegel gebracht - ich bin
erschrocken. Ich bin immer hager gewesen, aber nicht so wie jetzt; nicht wie
der alte Indio in Palenque, der uns die feuchte Grabkammer zeigte. Ich bin
wirklich etwas erschrocken. Außer beim Rasieren pflege ich nicht in den
Spiegel zu schauen; ich kämme mich ohne Spiegel, trotzdem weiß man, wie
man aussieht, beziehungsweise ausgesehen hat. Meine Nase ist von jeher zu
lang gewesen, doch meine Ohren sind mir nicht aufgefallen. Ich trage
allerdings ein Pyjama ohne Kragen, daher mein zu langer Hals, die Sehnen
am Hals, wenn ich den Kopf drehe, und Gruben zwischen den Sehnen,
Höhlen, die mir nie aufgefallen sind. Meine Ohren: wie bei geschorenen
Häftlingen! Ich kann mir im Ernst nicht vorstellen, dass mein Schädel kleiner
geworden ist. Ich frage mich, ob meine Nase sympathischer ist, und komme
zum Schluss, dass Nasen nie sympathisch sind, eher absurd, geradezu
obszön. Sicher habe ich damals in Paris (vor zwei Monaten!) nicht so
ausgesehen, sonst wäre Sabeth nie mit mir in die Opera gekommen. Dabei ist
meine Haut noch ziemlich gebräunt, nur der Hals etwas weißlich. Mit Poren
wie bei einem gerupften Hühnerhals! Mein Mund ist mir noch sympathisch,
ich weiß nicht warum, mein Mund und meine Augen, die übrigens nicht
braun sind, wie ich immer gemeint habe, weil es im Paß so heißt, sondern
graugrünlich; alles andere könnte auch einem andern gehören, der sich
überarbeitet hat.
3
Beispiel 2:
Bei alldem erlebte Strapinski, was er in seiner Dunkelheit früher nie gekannt,
eine schlaflose Nacht um die andere, und es ist mit Tadel hervorzuheben, dass es
ebensoviel die Furcht vor der Schande, als armer Schneider entdeckt zu werden und
dazustehen, als das ehrliche Gewissen war, was ihm den Schlaf raubte. Sein
angeborenes Bedürfnis, etwas Zierliches und Außergewöhnliches vorzustellen,
wenn auch nur in der Wahl der Kleider, hatte ihn in diesen Konflikt geführt und
brachte jetzt auch jene Furcht hervor, und sein Gewissen war nur insoweit mächtig,
dass er beständig den Vorsatz nährte, bei guter Gelegenheit einen Grund zur
Abreise zu finden und dann durch Lotteriespiel und dergleichen die Mittel zu
gewinnen, aus geheimnisvoller Ferne alles zu vergüten, um was er die
gastfreundlichen Goldacher gebracht hatte. Er ließ sich auch schon aus allen
Städten, wo es Lotterien oder Agenten derselben gab, Lose kommen mit mehr oder
weniger bescheidenem Einsatze, und die daraus entstehende Korrespondenz, der
Empfang der Briefe, wurde wiederum als ein Zeichen wichtiger Beziehungen und
Verhältnisse vermerkt.
Beispiel 3:
Wie er so dahinschritt, hörte er rasche Tritte hinter sich, leichte, doch unruhig
bewegte. Nettchen ging an ihm vorüber und schien, nach einigen ausgerufenen
Worten zu urteilen, nach ihrem Wagen zu suchen, obgleich derselbe auf der
anderen Seite des Hauses stand und hier nur Winterkohlköpfe und eingewickelte
Rosenbäumchen den Schlaf der Gerechten verträumten. Dann kam sie wieder
zurück, und da er jetzt mit klopfendem Herzen ihr im Wege stand und bittend die
Hände nach ihr ausstreckte, fiel sie ihm ohne weiteres um den Hals und fing
jämmerlich an zu weinen. Er bedeckte ihre glühenden Wangen mit seinen fein
duftenden dunklen Locken, und sein Mantel umschlug die schlanke, stolze,
schneeweiße Gestalt des Mädchens wie mit schwarzen Adlerflügeln; es war ein
wahrhaft schönes Bild, das seine Berechtigung ganz allein in sich selbst zu tragen
schien. Strapinski aber verlor in diesem Abenteuer seinen Verstand und gewann das
Glück, das öfter den Unverständigen hold ist.
Beispiel 4:
Es sah nicht aus, als ob der Offizier zugehört hätte. »Das Verfahren hat Sie also
nicht überzeugt«, sagte er für sich und lächelte, wie ein Alter über den Unsinn eines
Kindes lächelt und hinter dem Lächeln sein eigenes wirkliches Nachdenken behält.
»Dann ist es also Zeit«, sagte er schließlich und blickte plötzlich mit hellen
Augen, die irgendeine Aufforderung, irgendeinen Aufruf zur Beteiligung
enthielten, den Reisenden an.
»Wozu ist es Zeit?« fragte der Reisende unruhig, bekam aber keine Antwort.
»Du bist frei«, sagte der Offizier zum Verurteilten in dessen Sprache. Dieser
glaubte es zuerst nicht. »Nun, frei bist du«, sagte der Offizier. Zum erstenmal
bekam das Gesicht des Verurteilten wirkliches Leben. War es Wahrheit? War es
nur eine Laune des Offiziers, die vorübergehen konnte? Hatte der fremde Reisende
ihm Gnade erwirkt? Was war es? So schien sein Gesicht zu fragen. Aber nicht
lange. Was immer es sein mochte, er wollte, wenn er durfte, wirklich frei sein und
er begann sich zu rütteln, soweit es die Egge erlaubte.
»Du zerreißt mir die
Riemen«, schrie der Offizier, »sei ruhig! Wir öffnen sie schon.«
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