Einsamer Grenzgänger zwischen Klamauk und Tragik – Rudolf Platte

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Einsamer Grenzgänger zwischen Klamauk und Tragik – Rudolf Platte
Oliver Möbert
Mit einer einzigen Bewegung ein Temperament zu
charakterisieren, in Sekundenschnelle einen Lebensroman
zu erzählen, durch Gleichnis-Aktionen eine Welt
entstehen zu lassen – Rudolf Platte gelang es.
Walter Jens alias »Momos«, in: »Rudolf Plattes Exerzitien«
[»Die Zeit« vom 26. August 1966]
Im Hallenbad. Oberkommissar Roggenburg (Rudolf Platte), Chef einer Mordkommission,
fragt den Bademeister nach besonderen Kennzeichen eines vor Jahren verschwundenen
Bekannten des Mannes. Dieser kann sich an auffallend viele Details erinnern, was
Roggenburg auch anmerkt. »Ja, ich seh’ mir meine Leute genau an. Was meinen Sie, wenn
nachher einer kommt und fragt, wie Sie aussehen, was ich dem alles erzählen kann.« bemerkt
daraufhin der Bademeister, worauf Roggenburg erwidert: »Na, ich hoffe nicht, daß einer
kommt.« Die Situation ist in doppelter Hinsicht komisch: Zum einen könnte in dem Fall der
Oberkommissar die Rolle jener Wasserleiche einnehmen, deren Identität gerade von ihm
festgestellt werden soll. Zum anderen scheut Roggenburg die weitere Demaskierung – schon
jetzt fühlt er sich in seiner Badehose sichtlich unwohl. Die unsportliche und nicht mehr ganz
junge Erscheinung ist quasi nackt dem voyeuristischen Blick des Betrachters ausgeliefert:
Seine Haut ist blaß, die Brust behaart, die Arme hängen schlaff herunter; aller äußeren
Attribute, mit Ausnahme der nicht abgelegten Armbanduhr, beraubt, führt Roggenburg die
Ermittlungen. Daß er nicht im entferntesten ans Schwimmen denkt, weiß der Zuschauer mit
Beginn der Einstellung und wird von dem die Sequenz beschließenden Dialog bestätigt:
Bademeister: »Wollen Sie nicht mal in’s Wasser?«
Roggenburg: »In’s (er schaut entsetzt zum Schwimmbecken, dann wieder zum
Bademeister) – auf keinen Fall! Ich zittere ja jetzt schon.«
Bademeister: »Sie haben doch ’ne Badehose an.«
Roggenburg: »Die ist gelieh’n. Im Anzug wollte man mich hier nicht ’reinlassen.«
(Roggenburg geht schnell weg, der Bademeister schaut ihm lachend hinterher)
Die beschriebene Szene stammt aus dem Fernsehfilm Das Haus an der Stör (1963) der
Kriminalreihe »Stahlnetz«, die Regie führte Jürgen Roland. Sie wurde ausgewählt, weil nun
eben doch »jemand kommt«, der nach Rudolf Platte fragt, genaugenommen nach dem
Charakter seines Spiels, seiner Komik und dem ihm eigenen menschlichen Humor.
Nach anfänglicher Betätigung im ernsten Charakterfach als junger Theaterschauspieler gibt
Platte in der überwiegenden Mehrzahl seiner Spielfilme dann den »Klamottier«: Er wird auf
schablonenhafte Klamauk-Figuren festgelegt. Da aber das Komikfach in Deutschland sehr
eng gefaßt ist und kein Rollenspektrum bereit hält, kann ein Schauspieler sich nicht weiter
entwickeln. Komiker aber, die sich nicht auf diese stereotypen Rollen festlegen lassen wollen,
weichen dann eher auf ernste Rollen aus. Bei diesem Wechsel von der angestammten
Rollenschematik zu einem neuen Charakter handelt es sich allerdings um ein weiteres
›deutsches‹ Problem – Platte gelingt es letztlich durch die Rückkehr zum Theater, der
Nutzung des noch jungen Mediums Fernsehen sowie der Verflechtung dieser beiden Medien
miteinander auf verschiedenen Ebenen, mit dem Ergebnis eines erheblich erweiterten
Rollenspektrums. Im folgenden wird auch zu zeigen sein, daß dieser Wechsel im Spielfilm
nicht gelingt, weshalb sich Platte immer mehr aus dem Film zurückzieht. Durch diese
Maßnahme wirkt er schließlich in keiner seichten Komödie mehr mit. Im Gegenzug nimmt
die Anzahl seiner Fernsehproduktionen kontinuierlich zu.
Dieser Versuch einer Annäherung an Rudolf Platte soll in vier Schritten erfolgen: Zunächst
wird seine Biografie im Wechselspiel von ernsten und komischen Rollen nachgezeichnet,
bevor näher auf die als »Klamotten« eingestuften Filme eingegangen wird. In einem dritten
Abschnitt wird der Komiker/Komödiant, in einem letzten Abschnitt schließlich der
Tragikomiker Platte Gegenstand der Betrachtungen sein. Es soll dabei vor allem auch der
Frage nachgegangen werden, auf welche Weise Platte die verschiedenen Charaktere
interpretiert und ob er Elemente aus der Komödie mit in das ernste Fach hinübernimmt.
I
Rudolf Platte, 1904 in Dortmund geboren, verläßt noch vor dem Abitur gegen den Willen der
Eltern die Oberschule, nimmt Schauspielunterricht und spielt ab 1920 an Provinzbühnen
»jugendliche Liebhaber« und klassische dramatische Rollen. Fünf Jahre später debütiert er als
Shylock an der »Düsseldorfer Freilichtbühne«. Am »Lobe-Theater« in Breslau tritt Platte als
Franz Moor, Geßler und Richard III. auf, führt hier auch erstmals Regie. 1927 verpflichtet ihn
Victor Barnowsky nach Berlin. Er spielt unter der Regie Max Reinhardts am »Deutschen
Theater«, weiter im ernsten Charakterfach. Er wird ein »leiser Kammerspiel-Schauspieler mit
heiteren und melancholischen Zügen« (Effi Horn im »Münchner Merkur« vom 12.2.1974).
Platte steht in manchen provokativen Zeitstücken jener Jahre auf der Bühne, so auch in der
Uraufführung von Peter Martin Lampels gesellschaftskritischem Zöglingsdrama Revolte im
Erziehungshaus. Bei der filmischen Adaption des Stoffes (Regie: Georg Asagaroff) erhält er
1929 seine erste »tieftragische« (Platte) Stummfilmrolle.
In demselben Jahr gründet Platte zusammen mit Werner Finck und Hans Deppe das legendäre
Kabarett »Katakombe«. Er schließt sich zeitweise der aufsässigen »Truppe junger
Schauspieler« an und tritt in Rosa Valettis Kabarett »Larifari« auf – Rosa Valetti geht 1933
nach Österreich ins Exil. Die »Katakombe« wird 1935 von den Nationalsozialisten verboten.
»Die deutschen Kabaretts stehen geschlossen hinter ihrem Führer«, lautet der Kommentar in
Künstlerkreisen.
Parallel dazu avanciert Platte mit Aufkommen des Tonfilms zum vielbeschäftigten Darsteller,
spielt allerdings zunächst nur kleine und kleinste Nebenrollen, bis er schließlich 1934 in
Schützenkönig wird der Felix (Regie: Carl Boese) seinen ersten großen Erfolg als Komiker
hat. Von da an ist er festgelegt auf schrullige komische Figuren mit »Herz und Schnauze« –
Plattes originelles komisches Talent blüht jetzt voll auf. Die Erfahrungen mit dem Verbot der
»Katakombe« scheinen für ihn überdies ein Signal zu sein, seine Kinokarriere weiter
voranzutreiben. Doch wird er erneut in Episodenrollen besetzt und erhält erst wieder 1943/44
in Der Meisterdetektiv (Regie: Hubert Marischka) einen handlungstragenden Part.
Nach dem Zweiten Weltkrieg übernimmt Platte im Auftrag der sowjetischen Militärregierung
die Leitung des »Theaters am Schiffbauerdamm«; 1947 wird sie ihm wieder entzogen. 1
Bereits in den 30er Jahren2 hat er das Berliner Theater »Tribüne« und zwischen 1940 und
1944 das »Theater in der Behrenstraße« geleitet. In verschiedenen Konfektionsstücken erlebt
Platte auch an anderen Berliner Bühnen Theatererfolge.
Ab 1949 vereinnahmt ihn erneut weitgehend der Film, der auch jetzt nur wenig dankbare
Aufgaben für ihn übrig hat. In Mamitschka (1955), Regie: Rolf Thiele, erhält er als
kinderreicher tschechischer Flüchtling eine seiner seltenen ernsten Charakterrollen. In der
Mehrzahl der Filme jedoch ist Platte als »Quassel-Hans, kichernder Tolpatsch oder trauriger
Clown« (»Die Zeit« vom 28.12.1984. Zitiert nach CineGraph) zu sehen. Besonders in den
50er Jahren werden die Filme zudem immer niveauloser. Dessen ungeachtet ist Platte allein in
2
diesem Jahrzehnt an 76 (!) Produktionen beteiligt (vgl. CineGraph) – sie stellen ihn
erfolgreich auf das »Schmalspurgleis des Klamaukkomikers«, der »in Torten und in
Eierkisten fiel, in den Strahl von Feuerwehrschläuchen und in falsche Züge geriet, doch dabei
nie zum reinen Clown ausartete« (Effi Horn im »Münchner Merkur« vom 12.2.1974).
Henning Harmssen schreibt im »Tagesspiegel« vom 12.2.1984:
Es hat mehr als zwei Jahrzehnte gedauert, bis endlich der große Charakterkomiker
und sanfte Tragikomiker Rudolf Platte zum Zuge kommen durfte. In seinen fast
300 Filmen […] hatte er immer wieder auf Geheiß der Filmbosse mehr oder
weniger gelinde Varianten eines mal gewitzten, mal verschüchterten »Klamottiers«
abzugeben: geschwätzige Kellner, pingelige Beamte, devote Buchhalter,
aufdringliche Hotelportiers, zerstreute Postboten oder verängstigte Kleinganoven –
Chargen vom Drehbuchfließband, nie differenzierte Charaktere. Knickbeinig und
dürr wie eine Pfennigkerze, hatte Platte selten für mehr als Klamauk zuständig zu
sein.
Mit zunehmender Festlegung auf diese schablonenhaften Klamauk-Figuren kehrt Platte an das
Theater zurück. Und hier glückt ihm schließlich eine – nach Filmruhm und Theaterintendanz
– vielzitierte »dritte Karriere« als berlinernder Volksschauspieler, der »in lustige Rollen die
Elemente der Tragikomödie« einbringt (Effi Horn im »Münchner Merkur« vom 12.2.1974).
In Flatows Das Fenster zum Flur gibt er ab 1960 am Hebbel-Theater in 278 Vorstellungen
den allmählich erblindenden Trambahnschaffner, die Titelrolle in Pillaus Der Kaiser vom
Alexanderplatz verkörpert er ab 1964 rund 440 mal, den ehemaligen Tresorknacker in Flatows
Das Geld liegt auf der Bank spielt Platte ab 1968 in über 500 Aufführungen. Durch diese
ungewöhnlich lang laufenden Inszenierungen erwirbt er sich den Beinamen »LangspielPlatte«. Effi Horn schreibt: »[…] urberlinerische Figuren mit einem Schuß Tragik und
Sentimentalität legte Platte im Grenzbereich zwischen Komik und Tragik und immer um ein
paar Grade ernster an, menschlicher und weltfremder, als die Stücke verlangten.« (»Münchner
Merkur« vom 12.2.1974) Er hat das Glück gehabt, in die kleine Welle des neuen Berliner
Volksstückes hineinzugeraten – Friedrich Luft nennt ihn den »Pantoffel-Kainz vom
Kreuzberg« (»Die Welt« vom 12.2.1974). Daneben feiert Platte in den Ibsen-Stücken
Gespenster und Die Wildente (in Rudolf Noeltes berühmter Inszenierung) sowie in Mühls
Rheinpromenade große Erfolge an der Freien Volksbühne in Berlin. 1974 geht er mit
Schönthans Der Raub der Sabinerinnen auf Gastspieltournee.
Der Spielfilm wartet derweil weiter mit drittklassigen Stoffen auf. Ab 1963 tritt Platte dann
schließlich nur noch sporadisch und in Rollen jenseits des Klischees vom »Klamotten-Heini«
(Platte) in Filmen auf. Er wirkt in zwei Produktionen Wolfgang Staudtes mit, darunter in dem
heftig diskutierten Herrenpartie (1963/64), der Staudte den Ruf des »Nestbeschmutzers«
einbringt und die Reihe seiner ausdrücklich politischen Filme beschließt. Die FBW
verweigert ein Prädikat. Seinen letzten Filmauftritt hat Platte in Rainer Werner Fassbinders
Die Sehnsucht der Veronika Voss (1981/82). Bei der Trauerfeier für Fassbinder, wenige
Monate nach der Premiere des genannten Films, fällt die Abwesenheit von Vertretern der
Stadt München und des Landes Bayern auf.
1960 gibt das Fernsehen Platte mit der Verfilmung von Zuckmayers »Der Hauptmann von
Köpenick« (Regie: Rainer Wolffhardt) eine riesige Chance: Die Inszenierung ist absichtlich
sehr expressionistisch und weniger komisch angelegt, um sich deutlich von der kurz zuvor
entstandenen Verfilmung mit Heinz Rühmann (1956, Regie: Helmut Käutner) abzuheben.
Das Ergebnis ist phänomenal. »Der Spiegel« schreibt am 24.12.1984:
Wohl kaum einer hat Zuckmayers »Hauptmann von Köpenick« so anklägerisch
gespielt […]. Sein Pferdegesicht mit den großen Kinderaugen spiegelt nicht nur die
maßlose Enttäuschung des Ausgestoßenen wider […]. Platte zeigt auch den
revolutionären Zorn des Depravierten her. Sein Schuster Wilhelm aus der
3
Fernsehinszenierung von 1960 hat nichts von der versöhnlichen Verschmitztheit
eines Heinz Rühmann. Daß Platte zu so einer schauspielerischen Leistung fähig
war, wirkte damals fast sensationell.
Friedrich Luft schreibt, daß Platte den »Hauptmann von Köpenick« so authentisch rührend
und provokant gespielt habe, wie sonst kaum einer die Rolle erfüllte, abgesehen vielleicht von
Werner Krauss oder Max Adalbert (»Die Welt« vom 12.2.1974). Es ist Plattes Durchbruch
zum Charakterdarsteller.
Nach vereinzelten Produktionen in den Folgejahren erfährt die Zusammenarbeit zwischen den
Fernsehsendern und Platte ab 1966 eine deutliche Intensivierung. Die TV-Angebote sind
vielseitig und anspruchsvoll, Platte spielt sowohl in gängigen Serien (»Der Kommissar«,
»Derrick«, »Der Alte«, »Jakob und Adele«) als auch in ambitionierten Kammerspielen
(Apothekergehilfe in Weiß gibt auf (1966), Regie: Falk Harnack; chinesischer Erzähler in Das
kleine Teehaus (1966/67), Regie: Paul Martin, Eugen York; Verlagsangestellter in Zurück an
den Absender (1981), Regie: Thomas Engel). Dabei prägen vor allem diese, eigens für das
Medium geschaffenen Fernsehspiele das Profil des Fernsehdarstellers Platte, nicht die
zahlreichen Bühnen-Adaptionen desselben Zeitraumes (u.a. Das Fenster zum Flur (1960),
Regie: Erik Ode; Der rote Hahn (1961/62), Regie: John Olden).
Rudolf Platte stirbt 1984 in Berlin. Friedrich Luft schreibt tags darauf in der Zeitung »Die
Welt« (19.12.1984):
Mit ihm ist der letzte wirkliche »Volksschauspieler« abgetreten, den Berlin hatte.
Die Stadt wird das (trotzdem in Erinnerung dankbar lächelnd) kaum verwinden
können. Platte wird fehlen. In der Tat: Er war ein Teil des Berliner Herzens selber.
II
Die Filmtitel (Die Leute mit dem Sonnenstich, So ein Früchtchen, Tante Wanda aus Uganda)3
sprechen bereits, ebenso wie die Kritiken des Lexikons des internationalen Films (1997), eine
deutliche Sprache. Dort heißt es u.a. zu den Filmen: Damenwahl (1953, Regie: E. W. Emo):
»Mageres Lustspiel; deutsche Standardkomiker tummeln sich im Niemandsland der Posse.« /
Wenn die Bombe platzt (1957, Regie: E. W. Emo): »Geschmacksunsichere Klamotte mit
wenig erheiternden Witzen […].« / Wenn die Heide blüht (1960, Regie: Hans Deppe):
»Anspruchsloser Heimatfilm mit einigen Schlagern und Volksliedern, viel Heidelandschaft,
[…] einer Heidekönigin und vielen Heidschnucken.« / So liebt und küßt man in Tirol (1961,
Regie: Franz Marischka): »Gasthofrivalitäten [sic!] und Liebeleien in einem Schlagerfilm von
besonders bescheidener Machart.«.
Schon Plattes erster Auftritt in Hollandmädel (1953, Regie: J. A. Hübler-Kahla) ist geeignet,
dem Betrachter den Atem zu rauben: Er sitzt an einem Tisch und hat zwei lange Schläuche in
der Nase, so als ob er ein Stethoskop fehlerhaft benutzen würde. Dieser visuelle Eindruck in
Verbindung mit der nasalen Sprechweise läßt bereits die Klamotte vermuten. Letzte
Gewißheit ergibt sich in dem Moment, in welchem deutlich wird, daß die Enden der beiden
Gummischläuche in einem Gouda stecken. Anders als die Hauptfigur in Patrick Süskinds
Roman Das Parfum riecht Platte an verschiedenen Käseproben und scheint folglich für die
Qualitätssicherung der Fabrikation verantwortlich zu sein. Auf den weiteren
Handlungsverlauf braucht hier nicht näher eingegangen zu werden.
In Damenwahl spielt Rudolf Platte einen unvermögenden Baron von Latten. Bereits die
Namensähnlichkeit (Platte – von Latten) ist ein direkter Hinweis auf die Fülle von Einfällen,
welche den Zuschauer in dieser Verwechslungskomödie erwarten. Platte hat einen schmalen
Oberlippenbart und eine streng gescheitelte pomadige Frisur und sieht schon damit recht
schmierig aus. Er hat es zunächst auf die (reiche) Besitzerin des Tanzclubs »Mathilde«
4
abgesehen, später dann auf deren (junge + reiche) Tochter, und tritt hierzu in Verhandlung mit
einem Privatdetektiv, der das Nötige gegen Provision zu arrangieren hat. Dabei grinst er blöd
in den Raum, indem er den Ober- über den Unterkiefer schiebt und diesen Blick mit offenem
Mund hält; er macht fahrige Bewegungen mit den Armen und schaut flüchtig und ungläubig
sein Gegenüber an, das offenbar unmotiviert permanente Kaubewegungen vollführt: »Ist ja
eine merkwürdige Angewohnheit. Das Kauen mit leerem Munde macht einen ja ganz
nervös.« Bei den abendlichen Tanzveranstaltungen singt der Baron verklärt und falsch die
Lieder der Kapelle mit (»Da staunt der gute Mond«), spricht sowieso sehr gekünstelt und
tanzt recht eigenwillig. Nach dem unvermittelten Zusammenstoß mit einer Bedienung
entspinnt sich der folgende Dialog:
Bedienung: »Verzeihen Sie, aber die Tanzfläche ist hinter Ihnen.«
Baron: »Irrtum! Wo ich tanze, ist Tanzfläche!«
Und tanzt weiter. Später fliegen Schalen mit Schlagsahne durch den Saal; der Baron wird mit
einem Rosenstrauß geschlagen, setzt sich neben seinen Stuhl, markiert mit abgeknicktem
Kopf ein altes Gebrechen, eine Glastür knallt gegen seine Nase … Plattes Spiel mit verzerrten
Grimassen und aus dem Rahmen fallenden Gebärden besitzt Slapstick-Charakter.
In der bühnenbewährten Posse Der Haustyrann (1958), Regie: Hans Deppe, spielt Platte
einen Kellner in einem Café, der nach der Explosion der historischen Kaffeemaschine
rußgeschwärzt hinter dem Tresen hervorkommt und einen Kübel auf dem Kopf hat. Später
tritt er bei Modernisierungsarbeiten in einen Farbeimer. Und selbst in Wolfgang Staudtes
Satire Herrenpartie (1963/64) fällt Platte in seiner Rolle als Chorleiter der »Liedertafel
Neustadt« als Außenseiter und Sonderling auf, dessen Dirigieren zuweilen überzeichnet ist
und der sich in den bosnischen Bergen an die »Sächsische Schweiz« erinnert fühlt. Zu Beginn
des Filmes wird er bereits karikierend als ›dirigierender Schatten‹ zu Füßen des
Männergesangvereins gezeigt.
Kurt-Uwe Nastvogel und Gerhard Schatzdorfer (1982, 59) notieren:
Platte ist einer der vielen deutschen Komödianten, die im Lustspielfilm fast immer
unterfordert waren. Dennoch leistete er immer gute Arbeit und selbst in den
schwächsten Streifen freut man sich, wenn er auftritt. Seine Komik ist auf kein
»Markenzeichen« reduziert, dazu ist sein Spiel zu nuanciert, oft leise. Selbst seine
derbsten Figuren haben etwas Verwundbares – eine Menschlichkeit, die sich
(anders als etwa bei Rühmann) nie anbiedert. […] Nichtsdestoweniger filmte Platte
unverdrossen und war, fast immer in tragenden Nebenrollen, ein sicherer
Publikumstreffer […].
III
In vielen seiner Bühnen- und Fernsehrollen entwickelt Platte einen feinen Humor, der die
gesamte Handlung durchzieht und jede Begegnung mit ihm dadurch noch um ein Quentchen
sehenswerter macht. Es muß sich bei dem zugrundeliegenden Stoff gar nicht einmal um eine
Komödie oder ein Lustspiel handeln – selbst in einem Kriminalfilm gelingt es ihm, durch sein
ihm ureigenes Spiel die verstaubten kriminalpolizeilichen Ermittlungen deutlich aufzulockern.
Im folgenden soll an zwei Beispielen Plattes Komik illustriert werden.
In dem Spielfilm Ihr schönster Tag (1961/62, Regie: Paul Verhoeven) verkörpert Platte als
ein von vielerlei familiären Problemen geplagter Straßenbahnschaffner eine Vaterrolle, die er
zuvor schon auf der Bühne (Das Fenster zum Flur von Curth Flatow; 1960 für das Fernsehen
adaptiert von Erik Ode) mit Sentiment und Glaubwürdigkeit gestaltet hat. In einer Szene will
seine Frau Annie (Inge Meysel) Maß nehmen für eine neue Uniform, verrät ihm aber diese
Absicht nicht. Karl kaspert ziemlich herum, kichert munter drauf los, als ihn das Maßband
5
unter den Achseln kitzelt, zieht erst den Bauch ein und muß ihn dann wieder herausstrecken,
wobei er sich dabei gleichzeitig mit dem ganzen Oberkörper nach hinten lehnt. Ihm ist der
Vorgang ziemlich unverständlich:
Karl Wiesner: »Wozu brauchst du denn meine Maße?«
Annie Wiesner: »Falls mich mal jemand fragt.«
Karl Wiesner: »Nach meiner Taille?«
Platte steht zuweilen da wie eine Schaufensterpuppe und demonstriert mit seinen
verschiedenen Posen eindrucksvoll, daß eine große Präzision im Körperspiel den Grundton
des komödiantischen Spiels darstellt. Er hat sich in seiner naiv-ungläubigen Art sehr viel von
Kindsein bewahrt und nimmt durch sein unbeschwertes Spiel und den Wortwitz das Publikum
für sich ein. Mit seinem kindlichen Gekicher und der großen Verspieltheit setzt er sich zudem
deutlich von der resolut auftretenden Inge Meysel ab. Effi Horn schreibt (»Münchner
Merkur« vom 10./11.2.1979):
Vom Typ her zart, mit dem stets etwas verschreckten Gesichtsausdruck naiven
Staunens, war er der aufmuckende Pantoffelheld […]. In mehr als 50 Jahren Arbeit
entwickelte Platte jene Kunst des Volksschauspielers, die in leise unterspielter
Sentimentalität und behutsam eingesetzter Komik an das Mitgefühl appelliert und
des Zuschauers Sympathie gewinnt.
In dem folgenden Jahr spielt Platte in dem eingangs bereits erwähnten Kriminalfilm Das Haus
an der Stör einen Oberkommissar, der mit seiner Kollegin von der weiblichen Kripo im
Nachtzug von Schleswig-Holstein nach Bayern reist, um dort einen seit Jahren ungelösten
Mordfall endlich zum Abschluß zu bringen. Roggenburg schildert seiner Kollegin während
dieser Zugfahrt den Fall in allen Einzelheiten, in zahlreichen Rückblenden wird dem
Fernsehzuschauer das Geschehen noch einmal vorgeführt. Platte stellt einen menschlichen
Kriminalbeamten dar, der bei der Kartenkontrolle den ganzen Betrieb aufhält, im Abteil die
Schuhe auszieht und einer zusteigenden Studentin mit Geld für den Speisewagen aushilft. Daß
er sämtliche Akten des Mordfalles im Handgepäck mit sich führt, dürfte nicht nur der
Entstehungszeit des Filmes zuzurechnen sein. Trotz des hohen Dienstgrades ist er der ›kleine‹
Beamte geblieben.
Besonders auffällig ist jene Passage, wo der Oberkommissar über die unmittelbare
Nachkriegszeit, in welcher der Mord damals geschah, spricht: Man könne sich noch an die
Zeit erinnern, die Äußerlichkeiten nachlesen, aber wie die Menschen gefühlt, was sie gedacht
haben, das wisse man heute nicht mehr. Mit dokumentarischen Filmaufnahmen werden diese
Ausführungen illustriert. Mit dieser Einordnung des Falles in den zeitgeschichtlichen Kontext
und Roggenburgs Versuch, Verständnis für diese Zeit zu wecken, bekommt der Fall noch eine
ganz neue Bedeutungsebene. Durch die schwierigen Zeitumstände und die vielen Jahre, die
mittlerweile vergangen sind, ist die Aufklärung des Mordfalles inzwischen eigentlich
unmöglich geworden. Roggenburg aber schildert mit einer bemerkenswerten
Unermüdlichkeit, wie er Spur für Spur nachgegangen ist, bis sich das Netz um den Täter
schließlich immer dichter zusammengezogen hat. Einmal mit den Ermittlungen angefangen,
läßt er dann nicht mehr locker.
Dieser Plot in Verbindung mit dem beschriebenen Charakter Roggenburgs birgt die Gefahr
einer Ermüdung des Zuschauers. Dem wird Rechnung getragen, indem Platte sein
komödiantisches Talent voll entfalten darf – dies geschieht auf ganz unterschiedliche Weise.
Nach einer längeren Erzählphase fragt er beispielsweise seine Kollegin, ob sie schon schlafe –
von ihrer Körperhaltung her zu schließen ist sie tatsächlich inzwischen eingenickt. Nachdem
die Studentin das Abteil betreten hat, erzählt der Kommissar assoziativ von schaurigen
Einzelheiten des Leichenfunds – die Studentin guckt sichtlich konsterniert. Auf die spätere
Bemerkung seiner Kollegin, er habe die Frau damit wohl etwas verwirrt, antwortet er
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strahlend, ach, die sei immer verwirrt. Er besitzt einen sehr trockenen Humor, wenn er im
Aktenarchiv ohne genauere Zeitangabe eine bestimmte Akte herausfinden soll, an sich ein
aussichtsloses Unterfangen:
Kollege (sichtlich unbeteiligt): »Volmer, mit V vorne, wie Fenster.«
Roggenburg (angesichts der chaotischen Lage): »Sie sind mir eine große Hilfe,
Dimeritz!«
Es sind die feinen Betonungen, Gesten und Blicke, die Plattes Spiel auszeichnen und so
unnachahmlich machen. Er grinst beispielsweise diebisch, als er die Lösung eines Problems
gefunden hat und seinem Vorgesetzten präsentieren kann – wieder hat dieses Grinsen eine
Spur von kindlicher Freude über die plötzliche Entdeckung. Bei seinem Irrweg durch die
Ausstellungshallen der Messe »Du und Deine Welt« ist Platte völlig in seinem Element. Und
abschließend sei ein besonders schönes Beispiel seines unterhaltsamen Spiels genannt: Auf
die Bemerkung seiner Kollegin im Zug, man hätte ja auch fliegen können, entgegnet er
enthusiastisch »Nöh, nöh!«, und fügt nach einer winzigen Pause kopfschüttelnd schnell hinzu,
den Blick auf den Fußboden gerichtet: »Das bekommt mir nicht.«
IV
Bei Gerhart Hauptmanns Tragikomödie Der rote Hahn, uraufgeführt 1901, handelt es sich um
die Fortsetzung von Der Biberpelz, die Handlung spielt ein Dutzend Jahre später. Mutter
Wolffen, verwitwet und neu verheiratet mit dem Flickschuster Fielitz, setzt den »roten Hahn«
auf das Dach der hochversicherten Hütte ihres zweiten Mannes. In der gleichnamigen
Bühnen-Adaption von John Olden (1961/62) für das Fernsehen spielt Platte diesen Fielitz.
Bereits im ersten Akt kommt es zu einer hochdramatischen Auseinandersetzung zwischen ihm
und Mutter Wolffen (gespielt von Inge Meysel), deren Spiel er nicht mitmachen will. Beide
schreien sich an, drohen einander, Fielitz will die Keller-Werkstatt verlassen, Mutter Wolffen
packt ihn am Kragen und zieht ihn zu sich heran, er stößt sie darauf in ein Regal, schleudert
tobend und aus purer Verzweiflung Schuhe in den Raum. – Platte, lang und hager, dabei
immer ein wenig gebückt, verleiht der Szene schon durch seine ausgemergelte Erscheinung
hohe Dramatik. Er besitzt ein schmales Gesicht mit hervortretenden Wangenknochen, das die
typischen Züge des Magenkranken aufweist. Sehr stark ausgeprägt sind dabei die von den
Nasenflügeln zu den Mundwinkeln führenden Linien, welche die Länge des Kopfes noch
zusätzlich unterstreichen. In diesem traurigen Gesicht, das Platte in dieser Intensität überhaupt
erst im Alter hat, spiegelt sich die ganze Tragik der von ihm dargestellten Figuren.4
Besondere Bedeutung kommt dabei vor allem seinen mimischen Ausdrucksmöglichkeiten zu.
Dies zeigt sich, wenn Fielitz später neben Mutter Wolffen sitzt. Seine kleinen Augen blicken
stumpf und leer in den Raum, er wirkt beinahe teilnahmslos, während sie mit ihm spricht. Die
Augenbrauen sind zusammengezogen, die Stirn liegt in Falten, das ganze Gesicht drückt eine
unermeßliche Traurigkeit aus. Einmal plinkert er inmitten der ganzen Hoffnungslosigkeit mit
seinen Augen. Als er dann selbst davon erzählt, was für Pläne er gehabt hat, schaut er nach
oben, scheint alles genau vor sich zu sehen, seine Augen sind plötzlich groß und haben einen
ganz eigentümlichen Glanz. Als er von dem »Radiator« spricht, den er sich kaufen wollte,
umspielt sogar ein beinahe unmerkliches Lächeln seine Lippen. Danach erfaßt ihn mit noch
größerer Wucht erneut die Traurigkeit, wenn er an die Konsequenzen der geplanten
Brandstiftung denkt; wieder schaut er nach unten:
Ick hab’ aber doch schon wat uff’m Kerbholz. Soll ick denn noch mal trillen, wat?
Plattes markante Stimme ist leise, wirkt heiser. Der Mund ist mitunter leicht geöffnet, wenn er
dann wieder schweigend und bewegungslos dasitzt. Zuweilen ist der Kopf leicht zur Seite
geneigt, was ebenfalls seine Hilflosigkeit unterstreicht. Als Mutter Wolffen ihm dann
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bedeutet, es nun dabei bewenden zu lassen, morgen sei auch noch ein Tag, ist es, als ob Platte
weinen würde: Die Unterlippe zittert, er schluckt und streicht sich mit der Hand schnell über
beide Bartenden. Dann geht er. Er ist eine traurige, bemitleidenswerte Gestalt, die keine
großen Ansprüche hat und der Übermacht von Mutter Wolffen nichts entgegenzusetzen hat.
Platte wirkt innerlich zerbrochen, was nicht nur an dem pointierten Spiel sondern vor allem an
seiner Mimik liegt. In erster Linie sind es wohl die ernsten und ängstlichen Augen, mit denen
er weit über die dargestellte Situation hinausgehende Einblicke in seine Seelenverfassung zu
geben imstande ist. Manche seiner Figuren haben etwas hoffmannesk Hintergründiges,
Gespenstisches, vor deren innerer Zerrissenheit der Betrachter Angst haben kann.
In dem Moment, wo Platte mit diesem traurigen Gesichtsausdruck auch noch lacht, ergibt sich
sofort ein ganzes Spektrum sensibler Darstellungsmöglichkeiten von leiser Melancholie über
unterschwellige Trauer bis hin zu alles überschattender, durch das Komische ins Vielfache
gesteigerter Tragik. Viele von Plattes Fernsehrollen weisen tragikomische Züge auf; zwei
sollen im folgenden vorgestellt werden.
In der 87. Folge der Fernsehserie »Der Kommissar« mit dem Titel Der Mord an Dr. Winter
(1975), Regie: Johannes Schaaf, spielt Platte einen gealterten Studienrat, der von seinen
Schülern ausgelacht wird und der auch im Kollegium keinerlei Anerkennung besitzt. Als
seine Kollegin Echte (Marianne Hoppe) eines Tages völlig unerwartet vor seiner winzigen
Wohnung in einem Studentenwohnheim steht, öffnet er die Tür nur eine Handbreit und schaut
durch den schmalen Spalt hindurch. Das entbehrt ebenso wie seine dann einsetzenden
hilflosen Versuche, in dem völligen Chaos seiner Wohnung einen Sitzplatz für die Besucherin
zu schaffen, nicht einer gewissen Komik. Selbst als er sich seiner Nachhilfeschülerin Hanna
Bauer (Andrea L’Arronge) immer mehr öffnet und prustend von dem »Brustkuchen« der
ostpreußischen Verwandtschaft erzählt, ist dieser Moment nur scheinbar entspannt und von
einer in diesem Augenblick nicht näher bestimmbaren Tragik überschattet. Später erfährt der
Zuschauer, auf welch grausame Weise die Familie Dr. Winters auf der Flucht vor den Russen
im Zweiten Weltkrieg umgekommen ist.
Die Ermittlungen des Kommissars (Erik Ode) ergeben schließlich, daß der einsame und am
Leben verzweifelte Mann ein weiteres Mal getäuscht worden ist: Hanna Bauer hat die Nähe
zu Dr. Winter nur gesucht, um an die Abitursaufgaben für ihre Clique zu gelangen. Für den
Abend versammeln sich alle bei ihr zuhause, ihr Lehrer kommt dorthin. In einer tonlosen
Rückblende wird nun die ›Ermordung‹ Dr. Winters gezeigt: Platte setzt eine Pistole auf sein
Herz, dann wird sein Gesicht in Naheinstellung gezeigt: Er schaut zunächst sehr unsicher in
den Raum, ein kindliches Erstaunen, eine naive Ungläubigkeit schwingen in diesem Blick
mit. Er beginnt plötzlich mit seinem unwahrscheinlich dehnbaren Mund breit zu grinsen,
während er nacheinander alle anwesenden Personen, die nicht gezeigt werden, anschaut. Dann
drückt er offenbar ab: Das Gesicht ist plötzlich schmerzhaft verzogen, die Augen sind
krampfhaft geschlossen, der Körper fällt leblos zu Boden. Damit ist die Rückblende beendet.
Wieder zeigt Platte das Traurige in der Komikerrolle, weil er fremd ist in der Welt, nicht
dazugehört; er ist ein einsamer Clown mit zutiefst menschlichen Zügen, der an der harten
Realität vollständig scheitert.
Einen seiner intensivsten schauspielerischen Momente hat Platte in der Fernseh-Adaption von
Der Hauptmann von Köpenick (1960), die Regie führte Rainer Wolffhardt. Am Ende des
Films wird der ›Hauptmann‹ gebeten, die Uniform doch noch einmal anzuziehen. Nach der
dann folgenden, überzeugenden Darbietung bittet der Schuster Voigt um einen Spiegel – zur
Überraschung der Anwesenden hat er noch nie sein uniformiertes Spiegelbild gesehen. Ein
Spiegel wird sofort geholt, Voigt trinkt sich noch etwas Mut an und schaut dann hinein,
überrascht, staunend. Das muntere Gelächter der Umstehenden wird von Voigts vorsichtigem
Lachen abgelöst, das dann in ein hemmungsloses und erschütterndes Weinen übergeht. Sein
Gesicht im Spiegel zeigt den ganzen Schmerz und die Enttäuschung der vorangegangenen
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Odyssee. Im Spiegel sieht man, wie Voigt die Uniform auszieht, sich seine persönlichen
Dinge geben läßt und abgeht – der Film beginnt und endet jeweils mit Spiegelbildern.
Diese Spiegel-Szene im dritten Akt, einundzwanzigste Szene der Vorlage von Carl
Zuckmayer ist viel diskutiert worden. So fragt Jürgen Hein (1986, 49), wie das »große,
befreite und mächtige Gelächter« und Voigts zusammenfassender Ausruf »Unmöglich!!« am
Schluß zu verstehen seien, welchen Formen der Komik welches Lachen entspringe und gegen
wen es gerichtet sei, und resümiert (1986, 67):
Nicht zuletzt an der Schlußszene scheiden sich die Meinungen der Interpreten. Die
einen erkennen eine Auflösung der Satire in versöhnliches Gelächter, die Erlösung
der tragischen Grundspannung ins Komische; Voigt breche am Ende über sich und
die anderen in homerisches Gelächter aus. Die dem Humor sich nähernde Komik
begrenze den Angriff auf den Wilhelminismus, nehme den sozialen Problemen die
Schärfe, lasse das Stück optimistisch schließen und garantiere das Lustspielhafte.
Andere sehen […] im Schlußlachen eine groteske, das System bestätigende Aktion.
[…] Die Schlußszene zeigt noch einmal auf allen Ebenen komischer Gestaltung
und mit allen Funktionen der Komik – vom heiter-versöhnlichen Lachen über die
Schadenfreude zum ironischen und aggressiven satirischen Lachen – die
Widersprüche zwischen Mensch und Uniform, kreatürlichem Leben und
mechanisch funktionierendem System, zwischen der Lebensgeschichte des
einzelnen und der Zeitgeschichte.
Thomas Koebner (1998, 177) weist darauf hin, daß die Spiegelszene kaum überzeugend zu
spielen sei – in der Verfilmung von Richard Oswald (1931) mit Max Adalbert als Schuster
Voigt fehlt die Szene. Allerdings nehme eine andere Szene die Spiegelszene des
Theaterstücks vorweg (1998, 178): Wenn Voigt im Ratskeller die Brötchen befühlt und vom
Kellner neue Semmeln holen läßt, entfährt ihm ein beiläufiges »Unglaublich« – dies sei
sowohl ein Kommentar zur Gastronomie als auch zur eigenen Situation. In der Verfilmung
von Helmut Käutner (1956) mit Heinz Rühmann als Schuster Voigt gehe die Spiegelszene
schief – und das sei symptomatisch für die ins Leere stoßende Gesellschaftskritik (1998, 180):
Rühmann betrachtet sich in der Uniform und beginnt, eigentlich unmotiviert, mit
halb erstickten Lauten sein großes Gelächter. Unmotiviert, denn er wirkte als
Hauptmann durchaus überzeugend, unwirsch und kurz angebunden, nicht einmal
von der Bürgermeisterfrau zu entzücken – wie zuvor noch Max Adalbert, der
verlegen charmiert über sein Bärtchen strich. Welchen ›Mißklang‹ hätte er also im
Spiegel entdecken können?
Indem Rudolf Platte aus Zuckmayers Regievorgabe ausbricht und zeigt, wie sich in dem
hemmungslosen, beinahe schon animalischen Schluchzen die Anspannung durch das zuvor
Erlittene ihren Weg bahnt, stellt er ein weiteres Mal seine menschliche Natur unter Beweis,
ohne die eine solche Verletzbarkeit gar nicht möglich wäre. Es ist eben nicht das befreiende
Gelächter, mit dem das »deutsche Märchen« harmonisch und versöhnlich ausklingt. Bei Platte
bleibt eine Spur von Bitterkeit zurück, die mit ihm fühlen läßt und seine Darstellung von
vielen anderen Interpretationen abhebt. Still und leise, wie es seine schauspielerische Art ist,
verläßt er das Geschehen, ohne Stretta und ohne Schlußsequenz, die ihn in den Mittelpunkt
stellt und als ›Helden‹ feiert.
Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild: Platte bricht aus der Festlegung auf
schablonenhafte Klamauk-Figuren im Spielfilm aus, indem er zurück an das Theater wechselt
und dort neben urberlinerischen Figuren, die von ihm komisch und mit Sentiment dargestellt
werden, auch tragische Rollen verkörpert. Dadurch kann er den stärksten Gegenakzent zu den
bisherigen Klamotten setzen. Parallel dazu spielt er auch im Fernsehen differenzierte
Charaktere. In der Folgezeit werden viele dieser Bühnenstücke für das Fernsehen adaptiert
und mit Publikum aufgezeichnet (Das Fenster zum Flur) oder ohne Publikum realisiert (Der
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rote Hahn). Darüber hinaus werden dieselben Bühnenstücke neu und prominent besetzt und
eigens für das Kino in Szene gesetzt und später auch im Fernsehen gesendet (Ihr schönster
Tag). Durch diese vielfältigen Vernetzungen ergibt sich langfristig für Platte ein erheblich
erweitertes Rollenspektrum: Die verstärkte Medienpräsenz in bisher unbekannten
Rollenkonfigurationen bewirkt die Etablierung eines völlig neuen Schauspiel-Konzeptes,
welches mit dem Wegfall des alten Images einhergeht. Plattes Mitwirkung an Spielfilmen
nimmt nach 1962 allerdings deutlich ab – der Wechsel in das ernste Charakterfach gelingt
hier nicht.
Platte spielt gleichermaßen in Theater und Fernsehen auch ernste Rollen. Durch sein
komisches Talent bekommen die von ihm dargestellten Figuren dabei schnell tragikomische
Züge. Wiederholt wirkt Platte aber auch in seinen komischen Rollen unglücklich komisch,
man kann darüber nicht lachen, sondern ist eher betroffen. Es sind beklemmende Situationen,
die entblößend sind für die Figur (wenn er sich beispielsweise in Das Fenster zum Flur das
Leben nehmen will). In beiden Medien wird dieser Umstand auf vielfältige Weise genutzt, es
kommt zu virtuosen Umsetzungen. Mit seinem leisen Spiel vermag Platte aber immer wieder
den von ihm dargestellten Figuren völlig neue Facetten abzugewinnen – die lautstarke
Klamotte avanciert darüber zum Auslaufmodell.
Es scheint, daß Platte sich dabei ein neues Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten zulegt und
wenig von dem bisherigen Instrumentarium weiter nutzt. Dies zeigt, welch immenses
schauspielerisches Talent Platte besessen hat und wirft die Frage auf, was aus ihm hätte
werden können, wenn er andere Regisseure, Rollen und Aufgaben gehabt hätte. Vielleicht ein
großer Schauspieler. Aber ganz sicher nicht dieser Platte, der sich mit seinen zuweilen
bizarren, in der überwiegenden Mehrzahl aber liebenswerten und menschlichen Figuren in die
Herzen seines Publikums gespielt hat.
Zum Tode von Rudolf Platte schreibt »gesta«:
Er hatte das Geheimnis all jener Schauspieler, die irgendwann aufhören, ›Kunst‹ zu
machen: er blieb in allem, was er tat, Rudolf Platte. Die Figuren, die er spielte,
schienen für ihn da, nicht er für sie. Daß er dabei nie auftrumpfte, immer seinem
Typ auch eine typische, freundliche Bescheidenheit beimischte, gab ihm allemal
etwas Zutrauliches. Mit ihm mußte man sich nie auseinandersetzen. Ihn konnte
man immer nur lieben.
Literatur
anonym: Gestorben. Rudolf Platte. In: Der Spiegel, Nr. 52, 24.12.1984.
CineGraph-Sammlung: Rudolf Platte – Schauspieler.
Dick, Rainer: Lexikon der Filmkomiker. Berlin 1999, S. 258f.
Dr., W. (= Wolfgang Drews): Ein elegischer Komiker. Rudolf Platte zum Sechzigsten. In:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.2.1964.
Drews, Wolfgang: Rudolf Platte zum Siebzigsten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
12.2.1974.
gesta: Immer er selbst. Zum Tode von Rudolf Platte.
Grack, Günther: Größe im Alter. Zum Tode des Schauspielers Rudolf Platte. In: Der
Tagesspiegel, 19.12.1984.
Grote, Gerald: Der Kommissar. Der TV-Klassiker – die Serie und ihre Folgen. Berlin 1999, S.
135, 172.
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Harmssen, Henning: Ein sanfter Tragikomiker. Zum 80. Geburtstag von Rudolf Platte. In: Der
Tagesspiegel, 12.2.1984, S. 5.
Hein, Jürgen: Zuckmayer »Der Hauptmann von Köpenick«. In: Harro Kieser (Hg.): Carl
Zuckmayer. Materialien zu Leben und Werk. Frankfurt am Main 1986, S. 47-70, hier S. 49,
67f.
Horn, Effi: Sein größter Wunsch: einmal Lear sein. Der Schauspieler Rudolf Platte wird heute
70 Jahre alt. In: Münchner Merkur, 12.2.1974.
Horn, Effi: Der Kaiser vom Alexanderplatz. Rudolf Platte wird am Montag 75 Jahre alt. In:
Münchner Merkur, 10./11.2.1979.
Kill, Reinhard: Ein großer Volks-Schauspieler. Zum Tod von Rudolf Platte / Zweite Karriere
mit »Köpenick«. In: Rheinische Post, Dezember 1984.
Koebner, Thomas: Carl Zuckmayers deutsche Filmhelden. In: Günther Nickel u.a. (Hg.):
Zuckmayer-Jahrbuch. Band 1 ∙ 1998. St. Ingbert 1998, S. 173-183, hier S. 180f.
L., F. (= Friedrich Luft): Pantoffel-Kainz. Rudolf Platte wird 65. In: Die Welt, 12.2.1969.
Lexikon des internationalen Films: Rudolf Platte. Reinbek bei Hamburg, 1996. 2., völlig
überarbeitete Ausgabe 97/98 auf CD-ROM. München 1997.
Luft, Friedrich: Pantoffel-Kainz vom Kreuzberg. Rudolf Platte wird 70. In: Die Welt,
12.2.1974.
Luft, Friedrich: Teil des Berliner Herzens. Zum Tode des Volksschauspielers Rudolf Platte.
In: Die Welt, 19.12.1984.
Momos (= Walter Jens): Rudolf Plattes Exerzitien. In: Die Zeit, 26.8.1966.
Nastvogel, Kurt-Uwe, Gerhard Schatzdorfer: Der komische Film. Band 1. Schondorf 1982, S.
59.
Presseinformation zu dem CCC-Farbfilm im UFA-Filmverleih Scala – total verrückt (1958),
Regie: Erik Ode: Rudolf Platte: Mehr als nur ein Spaßmacher.
Presseinformation zu dem Constantin-Film Verliebte Leute (1954), Regie: Franz Antel:
Rudolf Platte braucht Untertitel.
Laut Presseinformation zu dem CCC-Farbfilm im UFA-Filmverleih Scala – total verrückt (1958), Regie: Erik
Ode, hat Platte in der Zeit von 1945 bis 1948 sogar zwei Theater geleitet. Möglicherweise handelt es sich hierbei
um das »Theater in der Kastanienallee« (vgl. Presseinformation zu dem Constantin-Film Verliebte Leute (1954),
Regie: Franz Antel).
2
Hinsichtlich der genauen Jahresangaben widersprechen sich die Quellen: In der einen (Presseinformation zu
Scala – total verrückt) werden die Jahre 1933/34 als Zeitpunkt von Plattes Direktion genannt, in einer anderen
Quelle (»Abendzeitung« vom 29.4.1964) heißt es: »Im Jahr 1937 übernahm er die Berliner ›Tribüne‹ und
eröffnete seine Direktion mit Goldonis ›Diener zweier Herren‹«.
3
Die Leute mit dem Sonnenstich (1936), Regie: Carl Hoffmann; So ein Früchtchen (1941/42), Regie: Alfred
Stöger; Tante Wanda aus Uganda (1957), Regie: Geza von Cziffra.
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Thomas Koebner weist auf dem Symposion am 14.9.2000 darauf hin, daß im Film das Gesicht die Konsistenz
des Körpers insistiere. Während der Theater-Zuschauer noch weitestgehend objektiv Körpergröße und –form
wahrnehmen und beurteilen kann, findet nach dem Medienwechsel im Film eine »Körperinszenierung« statt, mit
welcher eine »Körperillusion« einhergeht. Bei Rudolf Platte stimmen das durch das Gesicht insistierte Bild von
seinem Körper und seine wirkliche Figur überein.
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