Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Die Wirkung von Theraplay auf aggressive, oppositionell verweigernde Jungen und Mädchen Herbert H. G. Wettig Zusammenfassung: Am Beispiel eines aggressiven, anfangs kaum zu bändigenden dreieinhalbjährigen Jungen mit Namen Simon T. werden Ergebnisse aus zwei unabhängigen Studien zur Wirkung von Theraplay bei oppositionell verweigernden, aggressiven Klein- und Vorschulkindern berichtet. Erstens eine Multi-Zentren-Studie mit einer anfallenden Patientenstichprobe von N=251 Kindern, deren Behandlung mit Theraplay 2000-2003 abgeschlossen wurde. Ziele dieser Studie sind die Evaluation der Wirkung von Theraplay unter unterschiedlichen Therapieeinrichtungen, Bedingungen wie Therapeut/innen Verschiedenheit und regionalen der Patientengruppen, Einzugsgebiete und die Qualitätssicherung der Therapien. Zweitens eine 1998 begonnene, prospektive, kontrollierte Langzeitstudie mit einer anfallenden Stichprobe von N=60 Kindern. Ziel dieser Studie ist die Evaluation der Wirkung von Theraplay im Zeitverlauf vom Beginn der Therapie bis zwei Jahre nach der Behandlung mit Theraplay. Aus beiden Studien werden hier Ergebnisse für jene Kinder berichtet, die eine Koinzidenz von sprachlichen Kommunikationsstörungen (vorwiegend rezeptive und expressive Sprachstörungen) und oppositionell verweigerndem, aggressivem Interaktionsverhalten haben. Das sind in der Multi-Zentren-Studie N=135 oppositionell verweigernde Kinder, von denen N=59 zu Beginn der Behandlung als aggressiv diagnostiziert wurden, und in der kontrollierten Langzeitstudie N=23 anfangs oppositionell verweigernde Kinder, von denen N=7 aggressiv waren. Die vorher stark ausgeprägten Symptome des oppositionell verweigernden bzw. aggressiven Verhaltens waren nach der Behandlung mit Theraplay deutlich weniger auffällig und statistisch signifikant verringert. Zugleich haben sich die rezeptiven und expressiven Sprachstörungen tendenziell verbessert. Der anfängliche Ausprägungsgrad der Symptome des störenden Interaktionsverhaltens dieser Kinder wird verglichen mit dem Verhalten einer Kontrollgruppe von N=30 normalen, unauffälligen Kindern gleicher Geschlechts- und Altersstruktur. Die Wirtschaftlichkeit von Theraplay erweist sich an der Kürze der Therapiedauer. Es waren nur bis zu 20 halbstündige Therapiesitzungen notwendig, um das oppositionell verweigernde, aggressive Interaktionsverhalten dieser Kinder so zu verändern, einer logopädischen Therapie ihrer Sprachstörungen nahezu problemlos zugänglich wurden. 1 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Aggressives Verhalten von Jungen und Mädchen ist ein von Kinderärzten und ärztinnen, Kinderpsychotherapeut/innen, anderen Therapeut/innen, z.B. Logopädinnen, und den Eltern solcher Kinder beobachtetes, die kindliche Entwicklung und sozialen Beziehungen beeinträchtigendes Störungsbild. Es wird jedoch weder in der neuesten, d.h. 10. Version der Internationalen Klassifikation Psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation (ICD10), noch in der 4. Version des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen der American Psychiatric Association (DSM-IV) klassifiziert. Aggressive Verhaltensmuster werden nur im Rahmen der Störungen des Sozialverhaltens mit Beginn in der Kindheit (klassifiziert als F9.31 in ICD-10) bzw. als Störung mit oppositionellem Trotzverhalten (Kennziffer 313.81 in DSM-IV) aufgeführt. Der Ausdruck von Aggression ist allerdings bei Jungen und Mädchen oft verschieden. Über lange Zeit wurde Aggressivität von Kindern an dem für Jungen im Schulalter und für männliche Jugendliche typische Verhalten orientiert. Als prototypisch galten verbale und körperliche Aggressivität, Drohgebärden, ernsthafte Bedrohungen, Neigung zum Prügeln, Gebrauch von Gewalt, sowie erpresserischer Druck auf Gleichaltrige. Die Aggressivität von Mädchen wurde selten untersucht. Scheithauser (2003) weist darauf hin, dass Jungen und Mädchen unterschiedliche Ausdrucksformen aggressiven Verhaltens haben, nämlich die Jungen „offen-körperlich“ und die Mädchen „verdeckt-indirekt“. Zu den von ihm als „unprototypisch“ bezeichneten Formen weiblicher Aggressivität gegenüber gleichaltrigen Mädchen gehören böswillige Nachreden, boshafte Zuschreibungen, gemeine Spitznamen, anonyme Telefonanrufe oder Briefe, das Zerstören der Liebesbeziehungen anderer Mädchen, Ausschluss eines Mädchens aus der Gruppe bis es vollkommen isoliert ist (mehrere Mädchen stecken die Köpfe zusammen, erzählen sich leise, kichern, schauen über die Schulter auf ausgegrenzte Gleichaltrige),. „Boys may use their fists to fight,..., girls use their tongues“ (Scheithauser, 2003). Jungen und Mädchen mit oppositionell verweigerndem, aggresivem Verhalten in der Kindergarten- und Vorschulzeit Störungen haben eine schlechte Prognose. Das zunächst nur störenden Sozialverhalten kann sich in der Schulzeit zu erheblichen Lernstörungen, in der Adoleszenz sogar zu dissozialen Verhaltensweisen auswachsen. Es ist also sinnvoll, eine solche Störung frühzeitig zu erkennen und gezielt zu behandeln, bevor das Kind eingeschult wird. Dieses scheint um so dringender, wenn solches Verhalten zusammen mit Sprachentwicklungsverzögerungen, z.B. rezeptiven und/oder expressiven Sprachstörungen auftritt, was fast immer zu einem Sonderförderungsbedarf führt. 2 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Störungen des oppositionellen, aufsässigen, trotzigen, aggressiven Verhaltens können mit THERAPLAY wirksam verringert werden, wie die Ergebnisse der beiden Studien zeigen. Mit der Besserung des Sozialverhaltens verringern sich interessanterweise auch rezeptive und expressive Sprachstörungen solcher Kinder. Um beides, sowohl die Probleme oppositionell verweigernder, aggressiver Kinder als auch deren Reaktion auf die Behandlung mit Theraplay zu zeigen, wird zunächst der Fall eines dreieinhalbjährigen Jungen berichtet. Simon T. ist typisch für die zusammen N=158 oppositionell verweigernden Jungen und Mädchen und davon insgesamt N=66 aggressiven Kinder, über die hier berichtet wird. Fallbeispiel Simon T. (Name geändert) war etwa dreieinhalb Jahre alt als seine Eltern ihn im Phoniatrisch Pädaudiologischen Zentrum in Heidelberg (Leitender Arzt Dr. med. Viktor Uttenweiler, Theraplay Therapeutin Ulrike Franke) vorstellten und ihre Besorgnis über das oppositionell verweigernde, aggressive Verhalten des Jungen äußerten. Sie berichteten, ihr Junge zeige keinen Wunsch nach Kommunikation, sondern nur Abwehr. Er sei aggressiv zu anderen und zu sich. Er könne auch eigene Gefühle und Wünsche nicht verbalisieren, spreche nicht richtig, könne sich nicht ausdrücken. Seine Sprache sei kaum zu verstehen, er benutze nur einzelne Worte. Sie sind über seine Verhaltensauffälligkeiten und seine verzögerte Sprachentwicklung sehr beunruhigt und möchten diese abklären lassen. Simon T. ist ein Einzelkind. Die Schwangerschaft verlief problemlos, die Geburt war pünktlich, aber sie war eine Zangengeburt. Die APGAR Werte nach der Geburt waren unauffällig (9/10/10), das Geburtsgewicht des Jungen mit 3.380 Gramm auch. Auffällig war den Eltern eine offensichtlich späte Entwicklung der motorischen Fertigkeiten und der Sprache des Jungen. Vom Kinderarzt wurde sowohl eine Sprachentwicklungsstörung als auch eine Verhaltensstörung diagnostiziert. Simons Eltern haben sich etwa ein Jahr vor diesem Termin voneinander getrennt. Sie sagen, sie kümmerten sich aber gemeinsam um ihn, obwohl sie betonen, dass sie mit der Erziehungshaltung des jeweils anderen nicht einverstanden sind. Tatsächlich gibt es Krieg zwischen ihnen. Sie und er kämpfen um das Kind. Die Mutter hat inzwischen einen neuen Freund und der Vater befürchtet, dass „der Neue“, der offenbar ein gutes Verhältnis zu Simon habe und ihm neue Worte beibringe, ihn als Vater bei dem Jungen verdrängen und seine Rolle einnehmen könne. Der Vater, in einem sozialen Beruf tätig, sagt, er versuche dem Jungen Struktur und das zu geben, „was der braucht“. 3 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Diagnostik Die Interaktionsdiagnostik (H-MIM, Heidelberger Marschak Interaktions-Methode: Ritterfeld & Franke, 1994) zeigt, dass Simon den Bemühungen seines Vaters, mit ihm die verlangten Spielaufgaben zu erfüllen, erheblichen Widerstand leistet, sich weigert, schreit, sich gar nicht beruhigen kann, so dass letztlich der verzweifelte Vater abbricht. Gegenüber der Mutter zeigt der Junge dagegen eine fast symbiotisch erscheinende Anpassungsbereitschaft und macht bei allen Spielaufgaben bereitwillig mit, tauscht mit ihr Zärtlichkeiten aus, lässt sich gut führen. Simon wird in der Diagnostik als ein etwas aggressiv erscheinendes Kind eingeschätzt, das Veränderungen nicht mag. Er braucht offenbar Zeit, um sich an Veränderungen zu gewöhnen. Sonst reagiert er mit heftiger Ablehnung, macht sich steif, tobt, schmeißt sich auf den Boden, wird körperlich aggressiv, schlägt, tritt, spuckt, brüllt laut, schreit über Stunden „Nein“, lässt sich nur schwer beruhigen, verlangt immer wieder nach der „Mama“. Der Junge kann sich sprachlich kaum ausdrücken. Er beherrscht zu diesem Zeitpunkt nur wenige Worte: „Nein“, „Mama“, „Papa“, kaum mehr. Die Mama berichtet stolz, dass er inzwischen „Liebling“ zu ihr sage, und dass er in seiner ganz eigenen, nur ihr verständlichen Sprache Fantasiegeschichten erzähle, „Dinge, die nicht stimmen“. Gegenüber Gleichaltrigen und anderen Erwachsenen zeige er durch Gestik, Mimik und Laute, was er will. Intervention Vom Arzt wird entschieden, dass der verweigernde, trotzige, aggressive Junge, bei dem keine organischen Störungen als Ursache seiner Sprachprobleme festzustellen waren, vor deren Behandlung zunächst im Sinne einer komplementären Präparationstherapie mit Theraplay vorbehandelt werden soll, um ihn für die logopädische Therapie hinreichend zugänglich zu machen. Die Behandlung erweist sich anfangs für die Theraplay Therapeutin als sehr schwierig. Ähnlich wie beim Vater reagiert Simon mit Verweigerung, sich Versteifen, Herumwerfen, Toben, Brüllen, obwohl seine Mutter ihn im Schoß hält, ihm Wärme, Nähe, Schutz vermittelt und seine um sich schlagenden Arme und Beine zu bändigen versucht, bevor er die Therapeutin kratzt, schlägt oder tritt. Er ist wütend und schreit unter fortgesetztem Weinen immer wieder „Nein“. Die Therapeutin ist liebevoll und konsistent um ihn bemüht, scheint sich durch seine Abwehr kaum beeindrucken zu lassen. Er aber tritt nach ihr, versucht, sie zu schlagen, spuckt ihr sogar ins Gesicht – und brüllt (Abbildung 1). Aber die Art seines Brüllens und sein wacher Blick auf die möglichen Reaktionen der Therapeutin 4 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen machen deutlich, das es kein Brüllen aus seelischem Schmerz, sondern Ausdruck seines oppositionell verweigernden, z.T. aggressiven Verhaltens ist. Abbildung 1: Simons oppositionell verweigerndes, z.T. aggressives Verhalten in der ersten Therapiesitzung. Simon T. brüllt in der ersten Therapiestunde die vollen 30 Minuten durch. Und in der zweiten Sitzung beginnt er zunächst genau so. Nach etwa 20 Minuten fängt er aber an, die spielerischen Aktivitäten der Therapeutin mit Interesse zu verfolgen. Er reagiert besonders auf Rhythmen und im Sing-Sang vorgetragene, das Spielen begleitende Verse. Er beruhigt sich. In der nächsten Sitzung bietet er zwar zunächst der Therapeutin Widerstand, lässt sich aber schon nach kurzer Zeit zu Interaktionen verleiten. Er reagiert besonders auf fürsorgliche Strukturelemente wie das Suchen kleiner Verletzungen an Armen und Beinen, das Versorgen dieser mit Creme, Spiele, in denen er zwischen formal, haptisch oder geschmacklich verschiedenen Alternativen von essbaren Figuren differenzieren kann, etc. Sein zunächst widerständiges, tobendes, brüllendes Verhalten beruhigt sich immer mehr. Schon nach den ersten Sitzungen zeigt er hin und wieder ein Lächeln, wenig später spielt er mit manchmal herzhaftem, fröhlichem Lachen mit (Abbildung 2). In einem Beratungsgespräch mit beiden Eltern - bisher waren sie jeweils einzeln mit Simon zur Therapie gekommen – wird nach der achten Sitzung beschlossen, die Behandlung mit Theraplay fortzusetzen, da sie Simon bisher offensichtlich gut getan, ihn beruhigt und ihn positiv in Hinsicht auf ein nun eher kooperatives Verhalten beeinflusst hat. Beide Elternteile finden, die Behandlung zeige zunehmend Erfolg. Simon scheine auf dem richtigen Weg zum gesetzten Therapieziel zu sein. Es mache ihn für die funktional notwendige logopädischen Behandlung seiner Sprachdefizite zugänglicher. 5 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Abbildung 2: Simons freundliches, lachendes Verhalten in einer der letzten Therapiesitzungen Insgesamt nehmen jeweils einzeln die Mutter 12mal und der Vater 9mal an den 21 Therapiesitzungen beobachtend, teilweise auch ihren Jungen im Schoß haltend, teil. Im Therapieverlauf werden nach und nach 5 Beratungsgespräche mit den Eltern geführt. Nach der 21. Sitzung schlägt die Mutter vor, die Behandlung nun zu beenden, denn Simon habe sich in seinem Verhalten grundsätzlich verändert, sei sehr zugänglich geworden. Das wird durch Videoaufzeichnungen der Therapiesitzungen bestätigt. Die Mutter sagt: Er „brauche“ nun Theraplay nicht mehr. In den nachfolgend berichteten Forschungsergebnissen wird deutlich, wie Theraplay nicht nur bei Simon T., sondern auch auf die anderen Kinder mit oppositionell verweigerndem, z.T. aggressivem Verhalten gewirkt hat. Theraplay als körpernahe, interaktive Kurzzeit-Spieltherapie Theraplay ist eine interaktive Kurzzeit-Spieltherapie, die Mitte der 1960er Jahre von Ann Marschak Jernberg im Rahmen des Head-Start Project der amerikanischen Regierung zur Behandlung psychisch auffälliger Kinder entwickelt wurde. Sie ist charakterisiert durch körperliche Nähe von Therapeutin und Kind und durch den Verzicht auf Spielzeuge und Puppen, wie sie sonst in Spieltherapien üblich sind (Axline, 1969, 1993; Goetze, 2002). Das Kind und die Therapeutin sind selbst die „Spielobjekte“ („the therapist uses himself and the child as primary objects for play“, Jernberg, 1979, p. 35). Interaktion und die interpersonale Kommunikation sind die Mediem des Spiels zwischen Therapeutin und Kind. Einige Materialien wie Seifenblasen, Hautcreme, Kekse in Tierfiguren unterstützen die spielerischen Aktivitäten. So wird das Kind beispielsweise herausgefordert, Obstkerne in eine etwas entfernt stehende Schale mit Wasser zu spucken oder an seinem Körper, z.B. unter dem 6 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Pullover kleine Stofftiere wiederzufinden, die die Therapeutin dort versteckt hat. Das vermittelt dem Kind Erfolgsgefühle. Das primäre Ziel der Behandlung mit Theraplay ist es, das Selbstwertgefühl, die Selbstachtung, das Selbstvertrauen und die Selbstwirksamkeit des Kindes zu stärken, so dass oppositionelles, verweigerndes, aggressives Verhalten überflüssig wird. Das Kind soll soziale Kompetenz und die Bereitschaft entwickeln, mit anderen zu interagieren (Franke, 1999). Theraplay kann bei sprachgestörten, schwierigen Kindern als Vorbehandlung für eine anschließende Sprachtherapie dienen (Franke, 1998). Die Intervention basiert unabhängig vom aktuellen Lebensalter des Kindes auf einem Zurückgehen auf das Entwicklungsalter und der Wiederholung einer guten Mutter-KindBeziehung („a good mother-child relationship“, Jernberg, 1979). Die therapeutischen Elemente von Theraplay entsprechen den vier charakteristischen Mustern der Interaktion in einer guten Eltern-Kind Beziehung. Es sind Strukturierung, Herausforderung, Stimulation zum Engagement sowie Fürsorglichkeit („from the initial battery of maternal behavior, structuring, challenging, intruding, and nurturing, each troubled child requires ...specific and very different kinds and combinations of intervention“; Jernberg, 1979, p. 22). Strukturierung vermittelt dem Kind, das die Eltern vertrauenswürdig sind und ihr Verhalten voraussagbar ist. Innerhalb einer guten Eltern-Kind-Beziehung strukturieren die Eltern den Alltagsverlauf ihres Kindes, setzen Grenzen, vermitteln durch klare Regeln ein Gefühl der Sicherheit. Mit Theraplay werden ebenso klare Regeln vermittelt, werden Zeit und Raum eindeutig strukturiert (Jernberg & Booth, 1999, S. 17). Durch Herausforderung ermuntern Eltern das Kind, weiterzumachen, sich zu bemühen und unabhängiger zu werden., so dass das Kind lernen kann, neue emotionale Erfahrung zu integrieren. Theraplay stellt in Ritualen und Spielen ähnliche Herausforderungen (Jernberg, 1987, S. 36) durch Spiele wie Guck-guck-da, Verstecken und Wiederfinden von kleinen Objekten am Körper, Kräftemessen mit Armen und Beinen zwischen Kind und Therapeutin, Kissenschlachten, um nur einige zu erwähnen. Durch ihre Eindringlichkeit, ihr Engagement vermitteln Eltern dem Kind Anregungen, Überraschungen und Stimulation, um ein maximales Niveau von Aufmerksamkeit, Aufgewecktheit und Engagiertheit aufrecht zu erhalten. In der dyadischen Interaktion zwischen Eltern und Kind dient je nach Situation sanfte, fröhlich, positiv fordernde Eindringlichkeit dazu, die Aufmerksamkeit des Kindes auf sie zu lenken. Mit Blickkontakt, körperlicher Nähe, wechselseitigem Berühren, fürsorglichem Versorgen und Schmusen fördern Eltern das Bindungsverhalten. Durch Theraplay lernt das Kind, in ähnlicher Weise, soziale Beziehungen einzugehen. Solche Aktivitäten vermitteln dem Kind emotional, dass es akzeptier ist “You are lovable. I will respond to your needs for care, 7 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen affection, and praise” (Jernberg & Booth, 1999, S. 19), dass es sich geborgen und sicher fühlen kann. Fürsorglichkeit gibt dem Kind Wärme, Zärtlichkeit, Besänftigung, Trost und Beruhigung bei Spannungen (Jernberg & Booth, 1999, p. 17). Als Ergebnis dieser therapeutischen Bemühungen lernt das Kind zu kommunizieren, Vertrautheit zu teilen und Freude an zwischenmenschlichen Kontakten zu empfinden (“As a result the child learns to communicate, share intimacy, and enjoy interpersonal contact”, Jernberg & Booth, 1999, 18). Weitere Informationen über Theraplay als Therapieverfahren in Franke, 1990, 1998, 1999, 2003; Jernberg, 1979, deutsch 1987; Jernberg & Booth, 1999; Ritterfeld, 1989). Inhalt und Verlauf des therapeutischen Spielens werden von der Therapeutin bestimmt. Die Theraplay Therapeutin führt das Kind. Sie ist für den Verlauf des Therapieprozesses verantwortlich. Sie richtet sich dabei nach den diagnostizierten Bedürfnissen des Kindes. Die Therapeutin sucht den Blickkontakt mit dem Kind und nutzt jede Gelegenheit zum warmen, liebevollen Körperkontakt. „Touch“, Berührung hat seine eigene therapeutische Qualität (Field, 1985, Field & Fogel, 1982). Die Therapeutin ist empathisch, empfänglich für die Signale des Kindes und versucht, dessen Gefühle zu verstehen. Die Auswahl der therapeutischen Spiele richtet sich nach dem Entwicklungsalter des Kindes und ist unabhängig vom Lebensalter. Letztlich wird die Wahl der therapeutischen Elemente von der diagnostizierten Störung des Kindes bestimmt. Alle therapeutischen Sitzungen werden auf Videokassetten protokolliert. Die Videoaufzeichnungen dienen als Dokumentation der Therapiesitzungen und zur Information der Eltern im Gespräch über die Fortschritte des Kindes. Simon T. reagiert gut auf Theraplay. Aus dem widerständigen, verweigernden, schreienden, aggressiven Jungen wurde ein selbstsicheres, freundliches, gern lächelndes Kind. Er war in den letzten Sitzungen sehr umgänglich. Zuletzt zeigte er eine große Bereitschaft zur Kooperation mit der Therapeutin und der Kotherapeutin. In der Anfangszeit hat vornehmlich Simons Vater ihn zu den Therapiesitzungen begleitet und vom Nebenraum durch eine Einwegscheibe dem therapeutischen Spielen zugeschaut und durch Tonübertragung zugehört. Die Mutter sah darin einen Versuch, ihr den Jungen zu entfremden. Zuletzt war bei fast allen Therapiesitzungen sie dabei, auch in der Rolle einer Simon im Schoß sicher beschützenden Kotherapeutin. Beide Elternteile waren – unabhängig voneinander – mit dem nach 21 Therapiesitzungen erreichten Therapieerfolg zufrieden. Sie waren sich dieser Beurteilung sehr sicher. Die Therapeutin bestätigt Simons Wandel zu einem friedlicheren, liebenswerten, gern lächelnden Jungen. Sie erwartet, dass er sich und seine sprachlichen Fertigkeiten weiter entwickeln wird. Das wird im Rahmen einer 8 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Folgeerhebung zwei Jahre nach Abschluss der Behandlung mit Theraplay überprüft werden. Nach telefonischen Auskünften des Vaters hat es keinen Rückfall gegeben. Die Therapeutin hat bei Simon T. mit Theraplay nachhaltig Wirkung erzielt Zwei Forschungsprojekte zur Wirkung von Theraplay Simon T. ist nur eines von vielen Kindern, die gleichzeitig unter oppositionell verweigerndem, z.T. aggressivem Sozialverhalten und unter Sprachentwicklungsstörungen leiden. Nachfolgend wird über die beiden Studien berichtet, die mit einer größeren Zahl von Kindern, die in ihrem Störungsbild Simon T. ähnlich sind, durchgeführt wurden: Erstens eine Multi-Zentren-Studie in Deutschland und Österreich und zweitens eine im Phoniatrisch Pädaudiologischen Zentrum in Heidelberg durchgeführte prospektive, kontrollierte Langzeitstudie zur Evaluation der Wirkung von Theraplay. Multi-Zentren-Studie (MZSt) Untersuchungsziele sind die Evaluation der Wirkung von Theraplay unter unterschiedlichen Bedingungen und die Qualitätskontrolle der in verschiedenen Zentren in Deutschland und Österreich mit Theraplay behandelten Kinder. Stichprobe sind von den N=251 in verschiedenen Ambulanzen und niedergelassenen Praxen in verschiedenen Städten von Dortmund über Dessau bis Wien als Patienten angefallenen Kindern jene N=135 mit oppositionell verweigerndem Sozialverhalten, denen Theraplay verordnet und deren Behandlung in den Jahren 2000 – 2003 abgeschlossen wurde. Darunter waren N=103 Kinder mit deutlich bis stark ausgeprägten Symptomen einer Koinzidenz von Verhaltensauffälligkeit und Sprachentwicklungs-, Sprach- oder Sprechstörungen. 96 der 135 Kinder waren Jungen, 39 waren Mädchen. Das durchschnittliche Alter dieser Kinder betrug bei Beginn der Therapie 4 Jahre und 8 Monate. Das jüngste Kind wurde im Alter von 2;3 Jahren, das älteste, ein geistig behindertes Kind mit 9;9 Jahren vorgestellt. Nur 60% der Mütter dieser Kinder waren verheiratet. Die übrigen waren entweder unverheiratet mit einem Partner zusammen lebende oder getrennt lebende bzw. ledige Mütter. 23% waren alleinerziehende Mütter. 8 von 10 Kindern gingen in den Kindergarten. Bei Abschluss der Therapie war noch keines der Kinder eingeschult.. N=59 der 135 Kinder zeigten ein aggressives, sozial störendes Verhalten, davon N=37 mit deutlich bis stark ausgeprägter Aggressivität. Unter diesen 59 Kindern war der Anteil der Jungen deutlich höher als der der Mädchen mit einer Relation von 4:1. Unter den 37 Kindern mit stark ausgeprägte aggressiver Symptomatik war der Jungenanteil noch höher. Eine 9 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen postulierte „Knabenwendigkeit“ oppositionell verweigernder, aggressiver Kinder hat sich bestätigt. Methoden: Dieses ist eine fortlaufende Feldstudie mit Erhebungswiederholung der Daten im Prä-Post-Design von Beginn der Therapie bis zur Wiederholung der Erhebung der therapiebedingten Symptomveränderungen nach der Behandlung mit Theraplay. Wesentliche Erhebungsinstrumente sind explorierende Befragungen zur Vorgeschichte des Störungsbildes (Anamnese) und Erhebung der sozio-demografischen Daten des Kindes und seiner Familie sowie die diagnostische Einschätzung der Symptome des jeweiligen Kindes zu Beginn und nach Abschluss der Behandlung mit Theraplay auf der dimensionalen Skala des Psychopathologischen Befund-Systems für Kinder und Jugendliche (CASCAP-D, Döpfner et al., 1999). Das ist die deutsche Version der Clinical Assessment Scale for Child and Adolescent Psychopathology, die im Rahmen der Basisdokumentation der Eingangsdiagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und in Kinderkliniken eingesetzt wird. Die 4-stufige Skala von 1 = das Symptom ist unauffällig bis 4 = stark ausgeprägtes Symptome erlaubt eine differentielle Beurteilung (Angaben zur Reliabilität und Validität von CASCAP-D bei Döpfner et al., 1999, S. 102-107). Prospektive, kontrollierte Langzeitstudie (LZSt) Nach Vorstudien in 1997 wurde im Jahre 1998 eine prospektive, kontrollierte Langzeitstudie (LZSt) begonnen, deren Basiserhebung inzwischen mit N=60 im Zeitverlauf beobachteten Patient/innen abgeschlossen wurde. Zwei 2 Jahre nach Abschluss der Behandlung mit Theraplay wurden erneut Daten zur Nachhaltigkeit des Therapieerfolgs erhoben. Hier können allerdings nur die bis Ende 2003 erhobenen Daten für N=29 Kinder und deren Eltern berichtet werden. Untersuchungsziel: ist die Evaluation der Wirkung von Theraplay im Zeitverlauf. Durch die Vorbehandlung mit Theraplay sollen multimorbid gestörte Kinder (Koinzidenz, d.h. gleichzeitiges Auftreten von ernsten Verhaltens- bzw. Interaktionsstörungen und sprachlichen Kommunikationsstörungen) für die eigentlich notwendige logopädische Behandlung der Sprachprobleme zugänglicher werden. Ihre Aufmerksamkeit soll gesteigert und ihre Bereitschaft zur Kooperation mit der Therapeutin verbessert werden. Stichprobe: Es handelt sich um eine anfallende Patient/innen-Stichprobe von N=60 multimorbid gestörten Kindern. Sie wurden ursprünglich im Phoniatrisch Pädaudiologischen Zentrum in Heidelberg dem Facharzt zur Diagnostik ihrer Sprachentwicklungsstörungen vorgestellt. Von diesen wurde bei N=23 ein oppositionell verweigerndes Verhalten mit 10 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen klinischer Bedeutsamkeit diagnostiziert. Davon waren 17 Jungen und 6 Mädchen. Die Geschlechtsrelation bestätigt auch in dieser Studie die tendenzielle „Knabenwendigkeit“ des oppositionell verweigernden Verhaltens. 19 der 23 Kinder hatten eine deutlich bis stark ausgeprägte Symptomatik. 7 der 23 Kinder zeigten aggressives Sozialverhalten. Davon waren 6 Jungen und 1 Mädchen. Das Störungsbild dieser Stichprobe wird mit einer Kontrollgruppe von N=30 im Verhalten unauffälligen Kindern verglichen, die der Therapiegruppe nach Alter und Geschlecht entsprechen,. Methoden: Diese prospektive, kontrollierte Langzeitstudie ist eine die Therapie begleitende Feldstudie mit mehrfacher Wiederholung der Erhebungen. Die Datenerhebung erfolgt in der realen Diagnose- bzw. Therapiesituation und durch unmittelbar nachfolgende Befragung der Elternteile. Das Ziel ist die Evaluation der Wirkung von Theraplay im Zeitverlauf vom Beginn der Wartezeit über Beginn, Verlauf und Abschluss der Therapiezeit bis 2 Jahre nach Ende der Behandlung mit Theraplay. Aus der Vielzahl der erhobenen Daten werden hier nur Ergebnisse zur Anamnese der Störung, zu sozio-demografischen Daten des Kindes und seiner Familie und die Art und Ausprägung der Symptome und deren therapiebedingte Veränderung, sowie Therapieerfolg und Anzahl der notwendigen Therapiesitzungen berichtet. Das sind jene Daten, die methodisch mit der Multi-ZentrenStudie vergleichbar sind. Ergebnisse der beiden Studien zur Wirkung von Theraplay Die nachfolgend berichteten Daten zeigen, wie sehr sich Kinder mit oppositionell verweigerndem Sozialverhalten und entsprechenden Schwierigkeiten in der Interaktion mit Gleichaltrigen, Eltern, Erzieher/innen und anderen Autoritätspersonen von unauffälligen Kindern unterscheiden, die in der Alttagssprache als „normal“ bezeichnet werden. Ausgangslage: Oppositionelle Verweigerung, Aggressivität In einer Reihe von Symptomen, die für oppositionelle Verweigerung und Aggressivität charakteristisch sind, werden jeweils vier Werte miteinander verglichen, nämlich die durchschnittlichen Symptomausprägungen für - die Stichprobe der Kontrollgruppe (N=30 normale Kinder, davon 21 Jungen, 9 Mädchen), - die Stichprobe der Multi-Zentren-Studie (N=135 Kinder, davon 96 Jungen, 39 Mädchen), - die Stichprobe der Langzeitstudie (N=23 Kinder, davon 17 Jungen, 6 Mädchen) - und die absoluten Symptomausprägungen im Fall Simon T. (vgl. Tabelle 1). 11 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Auch die „normalen“ Kinder der Kontollgruppe sind nicht völlig unauffällig. Einige unter ihnen sind unaufmerksam, hyperaktiv, unruhig, impulsiv oder zeigen hin und wieder oppositionelles oder trotziges Verhalten, jedoch nicht so ausgeprägt, dass es klinisch bedeutsam wäre. Und, da es eben nur Einzelne sind, die ein so schwieriges Interaktionsverhalten zeigen, drückt sich das in einem Mittelwert (M) aus, der nahe der Unauffälligkeit liegt (Tab. 1, Spalte 2). Die geringe Standardabweichung (s) zeigt, dass die Einschätzungen ziemlich homogen, d.h. ohne große Abweichungen sind (Tab. 1, Spalte 3). Ganz anders die durchschnittlichen Symptomausprägungen der Therapiegruppen der beiden Studien, der Multi-Zentren-Studie (MZSt) und der kontrollierten Langzeitstudie (LZSt). Die Mittelwerte über leichte, deutliche und starke Ausprägungen des oppositionell verweigernden und unkooperativen Verhaltens, Verhaltensmuster, die eine Therapie der Sprachdefizite dieser Kinder so schwierig machen, sind mit M=3.0 bis M=3.2 auf einer Intervallskala von 1 – 4 mehr als deutlicher ausgeprägt (Tab. 1, Spalte 4+6). Der Grund: Die Mehrheit der Kinder, nämlich 103 der 135 oppositionell verweigernden Kinder der MZSt und 19 der 23 Kinder der LZSt, hat eine eher starke Ausprägung dieser Symptome. Die Standardabweichungen sind Ausdruck einer geringen Schwankungsbreite um diese Mittelwerte (Tab. 1, Spalte 5+7). Die Durchschnittswerte für Aggressivität scheinen in den beiden Therapiegruppen auf den ersten Blick moderat zu sein. Das ist jedoch eine Effekt der Arithmetik. Da nur 59 der 135 oppositionell verweigernden Kinder der MZSt Aggressivität zeigten, davon 37 mit deutlicher bis starker Ausprägung, und nur 7 der 23 oppositionell verweigernden Kinder der LZSt aggressiv waren, sinkt der Mittelwert stark ab. Tabelle 1 Zusammenfassung der Daten zur anfänglichen Störungssymptomatik Durchschnittliche Ausprägung der Symptome von oppositionell verweigerndem Verhalten über Kontrollgruppe, beide Studien MZSt und LZSt, sowie Simon T. Erhebung der Daten mit CASCAP-D vor Beginn der Behandlung mit Theraplay Symptome INTERAKTIONSSTÖRUNG 1 Oppositionelle Verweigerung KontrollGruppe (LZSt) N=30 21 Jungen 9 Mädchen MultiZentrenStudie (MZSt) N=135 96 Jungen 39 Mädchen LangzeitStudie (LZSt) N=23 17 Jungen 6 Mädchen Simon T. (LZSt) N=1 Fallbeispiel M 2 s 3 M 4 s 5 M 6 s 7 absolut 8 1.1 0.3 3.2 0.8 3.1 0.7 4.0 12 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Unkooperatives Verhalten 1.0 1.1 3.0 1.1 3.0 0.9 4.0 Aufmerksamkeitsstörung 1.2 0.4 2.8 1.2 2.9 0.8 3.0 Hyperaktive Unruhe 1.2 0.4 2.2 1.2 2.1 1.1 1.0 Impulsivität 1.1 0.3 2.1 1.3 2.0 1.1 3.0 Dominanz 1.0 0.0 2.2 1.2 1.7 0.9 3.0 Spielstörung 1.0 0.0 2.0 1.2 1.7 1.7 3.0 Aggressivität 1.0 0.0 1.8 1.2 1.5 1.5 4.0 M s M s M s absolut Artikulationsstörung 1.2 0.5 2.7 1.1 2.5 1.0 4.0 Expressive Sprachstörung 1.1 0.3 2.7 1.1 2.8 0.9 4.0 SPRACHENTWICKLUNG 0.0 1.2 1.1 Rezeptive Sprachstörung 1.0 2.4 2.6 3.0 Bemerkungen: M = arithmetischer Mittelwert; s = Standardabweichung/ (Fehlerbereich) Ausprägungsgrad der Symptome: 4=stark ausgeprägt. 3=deutlich, 2=leicht, 1=unauffällig Am Fall des Simon T zeigt sich, was es bedeutet, wenn ein Kind oppositionell verweigernd bis zur Aggressivität ist. Bei Simon T. sind oppositionelle Verweigerung der Interaktion, geringe Bereitschaft zur Kooperation, z.B. mit den Eltern, Erzieherinnen oder der Therapeutin, und seine Aggressivität stark ausgeprägt: alle mit Skalenwert 4.0 (Tab. 1, Spalte 8). Bei allen Kindern der Therapiegruppen sind zugleich mit den widerständigen Verhaltensmustern auch Aufmerksamkeitsstörungen und Symptome hyperkinetischer Störungen wie Unruhe, Impulsivität und Dominanz relativ deutlich ausgeprägt (Tab. 1, Spalten 2-7). Auch bei Simon T. sind diese Symptome, abgesehen von hyperaktiver Unruhe, deutlich ausgeprägt (Tab. 1, Spalte 8).Es ist verständlich, dass diese Kinder auch Spielstörungen haben, nicht lange bei einer Sache bleiben, nicht dauerhaft spielen können und meistens keine Freundschaften mit Gleichaltrigen aufrecht erhalten können. Es macht „normalen“ Kindern wohl keinen Spaß, mit diesen dominanten, z.T. aggressiven Kinder zu spielen, die sich leicht verletzt fühlen, Wutausbrüche bekommen, möglicherweise andere Kinder mit Zorn und Rachegefühlen verfolgen. Simon T. war vor seiner Behandlung offensichtlich ein solches Ich-will-nicht-Kind mit deutlichen Spielstörungen und sozial störendem Verhalten. Es soll noch einmal daran erinnert werden, dass die Kinder beider Stichproben dem Arzt überwiegend wegen Sprachentwicklungsstörungen vorgestellt oder wegen Sprach- oder Sprechstörungen an die niedergelassenen logopädischen Praxen überwiesen wurden. Nur wenige von ihnen kamen bereits mit der Diagnose von Verhaltensauffälligkeiten und 13 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Entwicklungsstörungen. So kann die Koinzidenz von sprachlichen Kommunikationsstörungen und oppositionell verweigerndem, unkooperativem, z.T. aggressivem Interaktionsverhalten nicht überraschen. Zwar haben auch einige der klinisch unauffälligen Kinder der Kontrollgruppe (Tab. 1, Spalten 2-3) expressive Sprach- und Artikulationsstörungen. Aber die Störungen der Sprachentwicklung der Kinder der beiden Therapiegruppen sind deutlich ausgeprägter, insbesondere auch hinsichtlich des fehlenden Sprachverständnisses (Tab. 1, Spalten 4-7). Die Wirkung von Theraplay auf oppositionelle Verweigerung, Aggressivität und begleitende Symptome Nachfolgend werden die Ergebnisse der beiden voneinander unabhängigen Studien, der Multi-Zentren-Studie (MZSt) und der kontrollierten Langzeitstudie (LZSt) dargestellt und mit Simon T. und der Kontrollgruppe normaler Kinder verglichen. Der Grad der Veränderung der Symptome der anfangs oppositionell verweigernden, z.T. aggressiven Klein- und Vorschulkinder ist in beiden Studien oft so ähnlich, dass von einer gegenseitigen Bestätigung der Ergebnisse der Studien gesprochen werden kann. (vgl. Abb. 3-6) Oppositionelle Verweigerung MZSt: N=135, t1-t6: prob=0.0001 Opposotionelle Verweigerung LZSt: N=23, t1-t6: prob=0.0001 Ausprägungsgrad der Symptome 4=stark... 3=deutlich... 2=leicht ausgeprägt, 1=unauffällig 4,0 Oppositionelle Verweigerung LZSt: Simon T. Oppositionelle Verweigerung LZSt: N=30 Kontrollgruppe Unkooperatives Verhalten MZSt: N=135, t1-t6: prob=0.0001 3,0 2,0 Unkooperatives Verhalten LZSt: N=23, t1-t6: prob=0.0001 Unkooperatives Verhalten LZSt: Simon T. Unkooperatives Verhalten LZSt: N=30 Kontrollgruppe 1,0 Beginn der Therapie (t1) Abschluss der Therapie (t6) Zwei Jahre nach der Therapie (t7) Abbildung 3: Veränderung des anfänglich oppositionellen Verweigerungs- und unkooperativen Verhaltens von oppositionell verweigernden, z.T. aggressiven Klein- und Vorschulkindern nach Theraplay Behandlung. Stichproben: N=135 oppositionell verweigernde von insg. N=251 Kindern der Multi-Zentren-Studie (MZSt), N=23 oppositionell verweigernde von insg. N=60 Kindern der kontroll. Langzeit-Studie (LZSt) N=30 klinisch unauffällige Kinder der Kontrollgruppe der kontrollierten Langzeit-Studie, N=1 Einzelfall Simon T. als Beispiel eines oppositionell verweigernden, aggressiven Kindes. In beiden Studien zeigt sich nach der Behandlung mit Theraplay, dass das anfangs deutlich bis stark ausgeprägte oppositionell verweigernde und unkooperative Verhalten der 14 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Kinder (M>3.0) sich bedeutsam verbessert hat (M<1.6). Simon T. hat sich sogar in seinem Interaktionsverhalten ganz extrem verbessert. Bei ihm hat sich das anfangs stark ausgeprägte Verweigerungsverhalten (absolut = 4.0) nach der Behandlung mit Theraplay völlig gegeben (absolut = 1.0).Das Verhalten der ursprünglich sehr auffälligen Kinder nähert sich dem von klinisch unauffälligen Kindern der Kontrollgruppe an (vgl. Abb. 3). Fast alle Kinder der Kontrollgruppe waren von Anfang an zur Kooperation bereit und die meisten zeigten keine Verweigerungen. In den beiden Jahren nach Abschluss der Therapie blieben die erreichten Therapieerfolge weitgehend stabil. Es gab keine Rückfälle. Die Bereitschaft zur Kooperation scheint sich nach Ende der Behandlung sogar noch weiter verbessert zu haben. Die geschilderten positiven Veränderungen des Interaktionsverhaltens dieser Kinder sind statistisch signifikant. Die Fehlerwahrscheinlichkeit beträgt sowohl in der größeren Stichprobe mit N=135 Fällen der Multi-Zentren-Studie als auch in der kleineren Stichprobe mit N=23 Fällen der Langzeit-Studie durchweg nur prob=0.0001; sie ist also sehr gering. Aggressives Verhalten MZSt: N=135, t1-t6: prob=0.0001 Aggressives Verhalten LZSt: N=23, t1-t6: prob=0.0343 Ausprägungsgrad der Symptome 4=stark... 3=deutlich... 2=leicht ausgeprägt 1=unauffällig 4,0 Aggressives Verhalten LZSt: Simon T. Aggressives Verhalten LZSt: N=30 Kontrollgruppe Spielstörungen MZSt: N=135, t1-t6: prob=0.0001 3,0 2,0 Spielstörungen LZSt: N=23, t1-t6: prob=0.0247 Spielstörungen LZSt: Simon T. Spielstörungen LZSt: N=30 Kontrollgruppe 1,0 Beginn der Therapie (t1) Abschluss der Therapie (t6) Zwei Jahre nach der Therapie (t7) Abbildung 4: Veränderung des anfänglich in einigen Fällen aggressiven Verhaltens und der Spielstörungen der oppositionell verweigernden, z.T. aggressiven Klein- und Vorschulkinder nach Behandlung mit Theraplay. Stichproben: N=135 oppositionell verweigernde von insg. N=251 Kindern der Multi-Zentren-Studie (MZSt), N=23 oppositionell verweigernde von insg. N=60 Kindern der kontr. Langzeit-Studie (LZSt), N=30 klinisch unauffällige Kinder der Kontrollgruppe der kontrollierten Langzeit-Studie, N=1 Einzelfall Simon T. als Beispiel eines oppositionell verweigernden, aggressiven Kindes. Durch die relativ kleine Anzahl aggressiver Kinder in den beiden Stichproben erscheint der Mittelwert der Aggressivität bei Beginn der Behandlung mit Theraplay viel geringer ausgeprägt zu sein als sie es bei den betroffenen Kindern tatsächlich war (vgl. Abb. 4). Ein gutes Bespiel dafür ist das aggressive und spielgestörte Verhalten des Simon T. (gestrichelte Linien), das sich von anfänglich stark bzw. deutlich ausgeprägter Symptomatik (=4 bzw. =3) bis zur Unauffälligkeit (1=unauffällig) auflöste. In den zwei Jahren nach Ende 15 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen der Therapie gab es auch hinsichtlich dieser Symptome keine Rückfälle. Die erreichten Therapieergebnisse blieben stabil. Die Wirkung von Theraplay scheint nachhaltig zu sein. Zwischen oppositionell verweigerndem, unkooperativem Verhalten und Unaufmerksamkeit sowie hyperkinetischen Störungen scheint ein wechselseitiger Zusammenhang zu bestehen (Abb. 3, 4 und 5). Jedenfalls verändern sich mit der Verbesserung des vorher widerständigen Interaktionsverhaltens der Kinder nach Behandlung mit Theraplay zugleich auch deren Aufmerksamkeit, hyperaktive Unruhe, Impulsivität und andere Symptome hyperkinetischer Störungen wie z.B. das dominante Verhalten in der Interaktion mit Gleichaltrigen und Erwachsenen. Der Grad der Veränderungen der mit Theraplay behandelten Kinder ist in beiden Studien sich so ähnlich und durchweg klinisch und statistisch signifikant, dass man von einer wechselseitigen Bestätigung der Ergebnisse beider Studien sprechen kann (vgl. Abb. 5). Unaufmerksamkeit MZSt: N=135, t1-t6: prob=0.0001 Unaufmerksamkeit LZSt: N=23, t1-t6: prob=0.0009 Ausprägungsgrad der Symptome 4=stark... 3=deutlich... 2=leicht ausgeprägt, 1=unauffällig 4,0 Unaufmerksamkeit LZSt: Simon T. Unaufmerksamkeit LZSt: N=30 Kontrollgruppe 3,0 Hyperaktive Unruhe MZSt: N=135, t1-t6: prob=0.0001 Hyperaktive Unruhe LZSt: N=23, t1-t6: prob=0.0176 2,0 Hyperaktive Unruhe LZSt: Simon T. Hyperaktive Unruhe LZSt: N=30 Kontrollgruppe 1,0 Beginn der Therapie (t1) Abschluss der Zwei Jahre nach Therapie (t6) der Therapie (t7) Abbildung 5: Veränderung der anfänglichen Unaufmerksamkeit und einer möglichen hyperaktiven Unruhe der oppositionell verweigernden, z.T. aggressiven Klein- und Vorschulkinder nach Behandlung mit Theraplay. Stichproben: N=135 oppositionell verweigernde von insg. N=251 Kindern der Multi-Zentren-Studie (MZSt), N=23 oppositionell verweigernde von insg. N=60 Kindern der kontr.. Langzeit-Studie (LZSt), N=30 klinisch unauffällige Kinder der Kontrollgruppe der kontrollierten Langzeit-Studie, N=1 Einzelfall Simon T. als Beispiel eines oppositionell verweigernden, aggressiven Kindes. Allerdings scheint die überdauernde Wirkung von Theraplay auf Unaufmerksamkeit und hyperaktive Unruhe unterschiedlich zu sein. Während sich in den beiden Jahren nach Ende der Therapie die Aufmerksamkeit der ursprünglich oppositionell verweigernden, z.T. aggressiven Kinder, einmal angestoßen und mit Erfolgsgefühlen verbunden, weiter verbessert, fallen hyperaktiv unruhige Kinder nach Abschluss der Therapie wohl nach und nach wieder in ihr unruhiges Verhaltensmuster zurück: sie werden zwar wieder unruhig, aber trotzdem 16 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen zunehmend aufmerksamer (vgl. Abb. 5). Auch im Fall des Simon T. zeigt sich die positive Veränderung seines Interaktionsverhaltens in einer starken Verbesserung seiner Aufmerksamkeit. Allerdings ist an seinem Fall die Veränderung der Unruhe nicht zu belegen, da er von Anfang an dieses Symptom eines hyperkinetischen Syndroms nicht hatte (Abb. 5). Einzelne Kinder der Kontrollgruppe zeigten auch hyperaktive Unruhe, deshalb ist der Durchschnitt etwas auffällig. Impulsivität MZSt: N=135, t1-t6: prob=0.0001 Ausprägungsgrad der Symptome 4=stark... 3=deutlich... 2=leicht ausgeprägt 1=unauffällig Impulsivität LZSt: N=23, t1-t6: prob=0.0047 4,0 Impulsivität LZSt: Simon T. Impulsivität LZSt: N=30 Kontrollgruppe 3,0 Dominantes Verhalten MZSt: N=135, t1-t6: prob=0.0001 2,0 Dominantes Verhalten LZSt: N=23, t1-t6: prob=0.0147 Dominantes Verhalten LZSt: Simon T. Dominantes Verhalten LZSt: N=30 Kontrollgruppe 1,0 Beginn der Therapie (t1) Abschluss der Therapie (t6) Zwei Jahre nach der Therapie (t7) Abbildung 6: Veränderung der Impulsivität und des anfänglich dominanten Interaktionsverhaltens der oppositionell verweigernden, z.T. aggressiven Klein- und Vorschulkinder nach Behandlung mit Theraplay. Stichproben: N=135 oppositionell verweigernde von insg. N=251 Kindern der Multi-Zentren-Studie (MZSt), N=23 oppositionell verweigernde von insg. N=60 Kindern der kontr. Langzeit-Studie (MZSt), N=30 klinisch unauffällige Kinder der Kontrollgruppe der kontrollierten Langzeit-Studie, N=1 Einzelfall Simon T. als Beispiel eines oppositionell verweigernden, aggressiven Kindes. Zwei andere Symptome des hyperkinetischen Syndroms, nämlich Impulsivität bzw. mangelnde Impulskontrolle und dominantes Verhalten gegenüber Gleichaltrigen und Erwachsenen sind insgesamt in den Therapiegruppen der beiden Studien auch anfänglich nicht so hoch ausgeprägt wie die bereits beschriebenen Symptome. Trotzdem zeigen auch diese sich nach der Behandlung mit Theraplay klinisch und statistisch signifikant verändert, d.h. die Kinder sind nach Theraplay zunächst deutlich weniger impulsiv und dominant. Aber, ähnlich wie bei hyperaktiver Unruhe scheinen auch Impulsivität und Dominanz sich in den zwei Jahren nach der Therapie tendenziell wieder eingestellt zu haben, wenn auch offenbar nicht so ausgeprägt wie zu Beginn der Behandlung (Abb. 6). Die Sprachentwicklung wird angestoßen 17 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Die Behandlung mit Theraplay richtet sich auf eine positive Veränderung des Interaktionsverhaltens, also auf eine Verringerung des Widerstands und auf eine Verbesserung der Kooperationsbereitschaft und – nach Anbahnung des Sprachverständnisses – der Aufmerksamkeit. Diese Therapie ist nicht dazu gedacht, Sprachdefizite zu therapieren. Trotzdem zeigt sich mit der Verbesserung des Interaktionsverhaltens auch eine damit offenbar kovariierende Verbesserung der sprachlichen Kommunikation. Die Ergebnisse der MultiZentren-Studie (MZSt) zeigen, dass sich die expressive und mehr noch die rezeptive Sprachstörung der ursprünglich oppositionell verweigernden Kinder klinisch bedeutsam und statistisch signifikant verbessert haben (Abb. 7). Einmal angestoßen haben sich beide Störungen weiter verringert. Insbesondere die Sprachverständnisstörungen haben sich auch in den zwei Jahren nach der Behandlung mit Theraplay weiter verringert, z.T. infolge logopädischer Behandlung, sind aber immer noch auffällig (Abb. 7). Expressive Sprachstörungen MZSt: N=135, t1-t6: prob=0.0001 Expressive Sprachstörung LZSt: N=23, Veränd. nicht signif. Ausprägungsgrad der Symptome 4=stark... 3=deutlich... 2=leicht ausgeprägt 1=unauffällig 4,0 Expressive Sprachstörungen LZSt: Simon T. Expressive Sprachstörungen LZSt: N=30 Kontrollgruppe Rezeptive Sprachstörungen MZSt: N=135, t1-t6: prob=0.0001 3,0 2,0 Rezeptive Sprachstörungen LZSt: N=23, t1-t6: prob=0.0120 Rezeptive Sprachstörungen LZSt: Simon T. Rezeptive Sprachstörungen LZSt: N=30 Kontrollgruppe 1,0 Beginn der Therapie (t1) Abschluss der Therapie (t6) Zwei Jahre nach der Therapie (t7) Abbildung 7: Veränderung der rezeptiven und expressiven Sprachstörungen (Sprachentwicklungsstörungen) der oppositionell verweigernden, z.T. aggressiven Klein- und Vorschulkinder nach Behandlung mit Theraplay. Stichproben: N=135 oppositionell verweigernde von insg. N=251 Kindern der Multi-Zentren-Studie (MZSt), N=23 oppositionell verweigernde von insg. N=60 Kindern der kontr. Langzeit-Studie (LZSt), N=30 klinisch unauffällige Kinder der Kontrollgruppe der kontrollierten Langzeit-Studie, N=1 Einzelfall Simon T. als Beispiel eines oppositionell verweigernden, aggressiven Kindes. Simon T., unser Fallbeispiel, hatte zu Beginn der Therapie eine extrem ausgeprägte expressive und auch eine bedeutsame rezeptive Sprachstörung. Beides hat sich im Verlauf der Behandlung mit Theraplay zwar verbessert, aber auch nach dieser auf die Interaktion, nicht auf die Sprache zielende Therapie konnte er sich sprachlich wenig besser ausdrücken als zu Beginn der Therapie. Auch in der Kontrollgruppe der „normalen“ Kinder gab es einige mit Artikulations- und expressiven Sprachstörungen, nur waren deren Störungen nicht wirklich bedeutsam ausgeprägt (Abb. 7). 18 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Versuch einer Erklärung, warum Theraplay wirkt Neue Forschungsergebnisse der Neuropsychobiologie über die Plastizität des Gehirns im Allgemeinen und des kindlichen Gehirns im Besonderen sowie über den möglichen Zusammenhang zwischen der Entstehung von Bindungen zwischen dem Kind und seiner primären Bezugsperson, der Entwicklung der Affektregulation des Kleinkinds und der Veränderbarkeit neuronaler Gehirnstrukturen/Netzwerke durch emotionale Erlebnisse liefern eine mögliche Erklärung für die Wirksamkeit von Theraplay. Bei der Geburt eines Kindes ist das Nervensystem noch weitgehend unorganisiert. Neurologen haben errechnet, dass das kindliche Gehirn anfangs Billionen von neuronalen Verknüpfungen hat, obwohl es sich erst nach der Geburt voll ausformt und in den ersten 18 Monaten um rund 400 Gramm seines durchschnittlichen Endgewichts von 1.300 – 1.400 Gramm wächst. Der Kortex (das Großhirn), in dem Erleben und Erfahrungen gespeichert werden, wächst vornehmlich. Speziell der rechtshemisphäre präfrontalen Kortex hat die Funktion, neue sensorische Wahrnehmungen mit vorhandenen Bildern im neuronalen Netzwerk zu vergleichen und das Ergebnis in Planungen des Handelns umzusetzen. Nach Forschungsergebnissen von Allan N. Schore (1994: Affect Regulation; 2003: Affect Dysregulation,) und Daniel J. Siegel (1999The Developing Mind) entwickelt ein Kleinkind parallel mit der Entwicklung der rechten, erlebnis- und erfahrungsabhängigen Gehirnhälfte die Fähigkeit zur Affektregulation. Dieses scheint insbesondere für die Entwicklung des präfrontalen Kortex in den ersten 18 Monaten nach der Geburt zu gelten. Frühkindlich werden wesentliche emotionale Erfahrungen und Bindungserlebnisse, die das künftige Verhalten des Kindes bestimmen können, als neuronale Netzwerke im Gehirn gespeichert. In gleicher Weise können im Gehirn bestehenden Netzwerkabbildungen durch neue Erlebnisse und Erfahrungen verändert, ausgebaut, umgeprägt werden. Diese Fähigkeit behält das Gehirn durch alle Entwicklungsphasen bis ins hohe Alter, was auch eine neue Erkenntnis ist. Die frühe Belegung der Neuronen durch Netzwerke der Vorstellungsbilder des Erlebtes und Erfahrenen, also die Speicherung von positiven oder negativen Erlebnissen, bestimmt ganz wesentlich das künftige Erleben und Verhalten des Kindes. Negative Erfahrung prägen negative Erlebensund Verhaltensweisen, positive prägen positive. Alle Neuronen, die in den ersten 18-24 Monaten nicht genutzt worden sind, die sich also als überflüssig erwiesen haben, sterben ab. Trotzdem bleiben Milliarden übrig, die die Fähigkeit haben, immer wieder neue Netzwerke und damit veränderte innere Bilder zu schaffen. Diese Fähigkeit des Gehirns ermöglicht es, dass ursprünglich negative Bilder in der Vorstellungswelt des Kindes durch neue positive 19 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen emotionale Erfahrungen verändert werden können. Und damit, sagt die Wissenschaft, verändert sich auch das Verhalten des Kindes. Das erklärt die Wirkung von Theraplay. Die therapeutischen Aktivitäten orientieren sich – wie früher schon erwähnt - an einer „guten Mutter-Kind-Beziehung“. Sie nutzen die für elterliche Erziehung typischen Erziehungsprinzipien Strukturierung, Herausforderung, Stimulation zum Engagement und Fürsorglichkeit. Diese verändern das Selbstbild und die Fähigkeiten des Kindes zur sozialen Interaktion. Durch die Fähigkeit des kindlichen Gehirns zur Veränderung der „Bilder“ können neue, positive, das Selbst des Kindes bestätigende Erlebnisse und Erfahrungen frühere, möglicherweise negativ geprägte modifizieren und sie für eine positiv verändertes Erleben und Verhalten zur Verfügung stellen. Den Effekt zeigen die berichteten Ergebnisse der beiden Studien zur Wirkung von Theraplay: Oppositionell verweigernde, widerständige, z.T. aggressive Jungen und Mädchen haben sich unter dem Einfluss von Theraplay zu nicht mehr aggressiven, sondern kooperationsbereiten und aufmerksameren Kindern gewandelt. Diese Kinder haben nun bessere Chancen. Sie werden nach der Einschulung weniger unter Lernstörungen leiden, nicht mehr so sehr durch soziales Fehlverhalten auffallen, nicht mehr andere stören. Dafür wird es ihnen voraussichtlich leichter fallen, ihre bisher defizitäre Sprache endlich zu entwickeln. Die Wirtschaftlichkeit von Theraplay Die Wirtschaftlichkeit eines Therapieverfahrens im Bereich der Verhaltensstörungen drückt sich in der Relation von Therapieeffekt und Therapieaufwand aus. Je mehr die therapeutisch erreichte Veränderung der Störungssymptome dem Verhalten von „normalen“, klinisch unauffälligen Kindern nahe kommt, um so größer ist der Therapieeffekt. Je kürzer die Therapiedauer ist, also je weniger Therapiesitzungen notwendig sind, um so geringer ist der Therapieaufwand. Und wenn die therapeutisch erreichte Wirkung nachhaltig überdauert, also das Störungsbild nicht wieder auftaucht, es keine Rückfälle gibt, dann kann man von einer „nachhaltigen“ Wirkung einer „wirtschaftlichen“ Therapie sprechen. Theraplay kann in diesem Sinne vorläufig – die Ergebnisse sollten durch weitere unabhängige Studien repliziert werden - als ein nachhaltig wirkendes und wirtschaftliches Therapieverfahren bei Interaktionsstörungen von Klein- und Vorschulkindern, die durch oppositionell verweigerndes, widerständiges, z.T. aggressives Verhalten auffallen, bestätigt werden. Zugleich wird mit der Verringerung der Interaktionsstörungen solcher Kinder deren Aufmerksamkeit verbessert und eine mögliche Verbesserung von rezeptiven und expressiven Sprachdefiziten angebahnt. 20 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Theraplay hat sich in diesen beiden Studien – unter Berücksichtigung der Schwere der hier untersuchten Störungsbilder – in Hinsicht auf die notwendige Therapiedauer als eine echte Kurzzeit-Therapie und damit als wirtschaftlich erwiesen. Im Durchschnitt waren bei den 135 oppositionell verweigernden, z.T. aggressiven Kindern der Multi-Zentren-Studie nur rund 20 Therapiesitzungen notwendig, um das Therapieziel zu erreichen. Die längste Therapie bei einem geistig behinderten, oppositionell verweigernden, aggressiven Kind dauerte 61, die kürzeste rund 12 Sitzungen mit je 30 Minuten. In der Stichprobe der Langzeitstudie war die durchschnittliche Therapiedauer etwas kürzer. Durchschnittlich waren rund 18 Sitzungen notwendig, von denen die längste Behandlung 36 Sitzungen dauerte, während bei leichten Fällen im Durchschnitt nur 7 Therapiesitzungen notwendig waren. Die durchschnittlich etwas längere Therapiedauer in der Multi-Zentren-Studie erklärt sich aus einem größeren Anteil von geistig behinderten Kindern mit oppositionellem, z.T. aggressivem Interaktionsverhalten, deren Therapie überwiegend länger als beim Durchschnitt dauerte. Interessant wäre ein Vergleich mit der notwendigen Behandlungsdauer bei sprachentwicklungsgestörten und zugleich oppositionell verweigernden, z.T. aggressiven Kindern, die nur – wie bisher üblich – logopädisch behandelt werden. Der Untersuchungsansatz wäre, in der Ambulanz nach Zufall zwei Gruppen mit vergleichbaren Störungsbildern von Sprachentwicklungs- und Störungen des sozialen Verhaltens zu bilden, von denen die eine wegen der Sprachdefizite traditionell nur logopädisch, die andere zunächst mit Theraplay zugänglicher gemacht und danach logopädisch behandelt wird. Dann könnte sich erweisen, ob die kompensatorische Vorbehandlung die Therapie der Sprachdefizite wirtschaftlich macht. Die Kosten für Theraplay Die positiven Konsequenzen einer nachhaltig wirksamen Kurzzeit-Therapie werden deutlich, wenn man einig Kostenbeispiele durchrechnet. Diese Berechnungen können verständlicherweise nur beispielhaft sein, denn die Beträge, die von den verschiedenen Krankenkassen den Therapeut/innen vergütet werdem, sind unterschiedlich hoch und für Privatpatient/innen gelten noch andere Honorarsätze. So wird hier versuchsweise von der Annahme ausgegangen, dass für eine Therapiesitzung mit einer Dauer von 30 Minuten zuzüglich 10-15 Minuten Vor- und Nachbereitungszeit = zus. 55 Minuten von einem Leistungsträger durchschnittlich 24,50 € vergütet würden. 21 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Dieses angenommen, würde die Vorbehandlung eines sprachentwicklungsgestörten und zugleich oppositionell verweigernden, evtl. aggressiven Kindes bis zum Erreichen des definierten Therapieerfolgs bei unterschiedlicher Therapiedauer kosten: - bei durchschnittlich 18 Sitzungen à 24,50 € insgesamt rund 440,00 € - bei durchschnittlich 20 Sitzungen entsprechend rund 490,00 €, - eine länger dauernde Therapie mit 36 Sitzungen rund 880,00 € - eine besonders lange Therapie mit 61 Therapiesitzungen rund 1.495,00 € wie mit dem erwähnten geistig behinderten Kind. Diese Beträge mögen für die einzelne betroffene Familie hoch sein, gemessen an der damit ermöglichten Entwicklungsfähigkeit eines solchen Kindes, gemessen an dessen später besseren Lernchancen, gemessen an dessen Möglichkeit, einen Beruf zu lernen, und an die Entlastung der Familie bedenkend, ist so ein Betrag gering. Teuer wird es dagegen, wenn solche Kinder nicht rechtzeitig therapiert werden (Wettig, 2000). Wegen ihrer Sprachdefizite brauchen sie dann teuere sonderpädagogischen Frühfördereinrichtungen. Die Zahl der Kinder, die sonderpädagogischen Förderbedarf haben, ist in Deutschland innerhalb von 10 Jahren (1993-2003) um 15,5% gestiegen (Ständige Kultusministerkonferenz, 2003), obwohl im vergleichbaren Zeitraum (1992-2002) die Zahl der lebend geborenen Kinder um 9,2% gesunken ist (Statistisches Bundesamt, 2003). Man fragt sich unwillkürlich, warum nicht manche Familie, denen die Krankenkassen die Bezahlung einer solchen Therapie der Verhaltensauffälligkeiten ihres Kindes verweigern, den doch begrenzten finanziellen Aufwand auf sich nehmen und eine Behandlung der Interaktionsstörungen ihres Kindes selbst bezahlen. Sie würden die Zukunftsmöglichkeiten des Kindes erheblich verbessern und sich selbst das Leben erleichtern. Liegt es daran, dass diese Familien und deren Ärzte nicht wissen, dass es die therapeutische Möglichkeit mit Theraplay gibt? Ist es deshalb, weil zu wenige Therapeut/innen eine Weiterbildung in Theraplay haben und deshalb nicht selbst Kinder mit schwierigem Verhalten diese Therapie anbieten können? Es ist eine Herausforderung, für solche Kinder etwas zu tun. 22 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Literatur Axline, Virginia M. (1969, 3. Auflage 1993). Play Therapy. New York: Ballantine Books Döpfner, M., Berner, W., Flechtner, H., Lehmkuhl, G. und Steinhausen, H.-C. (1999). Psychopathologisches Befund-System für Kinder und Jugendliche (CASCAP-D), deutsche Version der Clinical Assessment Scale for Child and Adolescent Psychopathology (CASCAP). Göttingen: Hogrefe – Verlag für Psychologie DSM-IV. American Psychiatric Association (1994). Diagnostic Criteria From DSM-IV. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Fourth Edition. Washington, DC: American Psychiatric Association (APA) DSM-IV. Saß, H., Wittchen, H.-U., Zaudig, M. und Houben, I. (Dt. Bearb.) (1998). Diagnostische Kriterien des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen. DSM-IV. S. 57-62. Göttingen: Hogrefe. Verlag für Psychologie Field, T. (2003). Touch. Boston: MIT Press Franke, U. (1990). Theraplay – eine direktive kommunikative Spieltherapie. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 39, 1, 1990, S. 12-17. Göttingen: Verlag für Medizinische Psychologie Vandenhoeck & Ruprecht Goetze, H. (2002). Handbuch der personenzentrierten Spieltherapie. Göttingen: Hogrefe Verlag für Psychologie ICD-10. Dilling, H., Mombauer, W., Schmidt, M. H. (Hrsg.) (1999). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10. Kapitel V (F); Klinisch-diagnostische Leitlinien. Weltgesundheitsorganisation. 3. Aufl. Bern: Verlag Hans Huber Jernberg, A. M. (1979). Theraplay. A New Treatment Using Structured Play for Problem Children and Their Families, 3rd printing. San Francisco: Jossey-Bass Inc. Jernberg, A. M. (1987). Theraplay. Eine direktive Spieltherapie. Deutsche Übersetzung/Bearbeitung: Ulrike Franke. Stuttgart: Gustav Fischer Verlag Jernberg A. M. and Booth, P. B. (1999). Theraplay. Helping Parents and Children Build Better Relationships Through Attachment-Based Play, 2nd Edition. San Francisco, Ca.: Jossey-Bass Publishers 23 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Ritterfeld, U. und Franke, U. (1994). Die Heidelberger Marschak-Interaktionsmethode (HMIM). Zur diagnostischen Beurteilung der dyadischen Interaktion mit Vorschulkindern. Stuttgart: Gustav Fischer Verlag Scheithauser, Herbert (2003). Aggressives Verhalten von Jungen und Mädchen. Göttingen: Hogrefe – Verlag für Psychologie Schore, A. N. (1994). Affect Regulation and the Origin of the Self. The Neurobiology of the Emotional Development. Hillsdale, N.J.: Lawrence Erlbaum Ass., Publishers Schore, A. N. (2003). Affect Dysregulation & Disorders of Self. New York: W. W. Norton & Company Siegel, D. J. (1999). The Developing Mind. How Relationships and the Brain Interact to Shape Who We Are. New York: The Guilford Press Wettig, H. (1999). Wir wollen wissen, wie es wirkt. Bericht über das Forschungsprojekt zur Wirkweise von Theraplay. In: Schwierige Kinder – verstehen und helfen. 17, 1999, 4-11. Oftersheim bei Heidelberg: Theraplay Press Wettig, H. (2000). Teuere schwierige Kinder. In: Schwierige Kinder – verstehen und helfen. 22, 2000, 16-20. Oftersheim bei Heidelberg: Theraplay Press 24 Schwierige Kinder Okt. 2004: Aggressive Kinder – scheinbar nicht zu bremsen Kasten (am Anfang des Artikels einfügen) Störungen des Sozialverhaltens mit Beginn in der Kindheit Oppositionell verweigerndes und aggressives Verhalten eines Kindes sind Ausdrucksformen der Störungen des Sozialverhaltens mit Beginn in der Kindheit. Diese Diagnose muss bestimmte Kriterien erfüllen, die in der Internationalen Klassifikation Psychischer Störungen, 10. Version der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) als F9.31 klassifiziert bzw. im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen der American Psychological Association, 4 Version (DSM-IV) als Störung mit oppositionellem Trotzverhalten unter der Kennziffer 313.81 aufgeführt werden. Diese kategorialen Klassifizierungen sollen eine international gleich lautende Verständigung zwischen Ärzten und Therapeuten ermöglichen. In der Praxis zu beobachtenden Störungsbilder des einzelnen Kindes können jedoch von diesen standardisierten Kategorien mehr oder weniger abweichen und treten oft zusammen mit anderen Störungen, z.B. rezeptiven und expressiven Sprachstörungen auf (Koinzidenz). Unter einer Störung des Sozialverhaltens mit oppositionell aufsässigem Verhalten (F91.3 in ICD-10) wird eine für das Alter des Kindes durchgängig unangemessene Weigerung gegenüber berechtigten Anweisungen, Forderungen, Regeln und Grenzsetzungen von Autoritätspersonen (Eltern, Erzieher/innen, Lehrer/innen) verstanden. Bei solchen Kindern werden oft zugleich eine verminderte Frustrationstoleranz, häufiger Ärger, Zornes- und Wutausbrüche beobachtet. Sie streiten häufig und suchen Rache. Dieses Verhalten tritt bereits in der Kindheit (vor dem 10. Lebensjahr) auf und sollte ein mindestens seit 6 Monaten anhaltendes Verhaltensmuster gewesen sein, bei dem altersentsprechende soziale Normen und Grundrechte anderer verletzt wurden. Unter einer Störung mit oppositionellem Trotzverhalten (313.81 in DSM-IV) wird ebenfalls ein mindestens 6 Monate anhaltendes Muster von negativistischem, feindseligem und trotzigen Verhalten verstanden, das klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen Funktionsbereichen (z.B. in der Interaktion und im Spiel mit Geschwistern, mit Gleichaltrigen im Kindergarten oder in der Schule) verursacht. Solche Kinder werden schnell ärgerlich, streiten häufig mit Gleichaltrigen und Erwachsenen, widersetzen sich, verärgern andere häufig absichtlich, schieben die Schuld für eigene Fehler gern auf andere, sind ihrerseits sehr empfindlich und fühlen sich durch andere leicht verärgert, werden dann wütend und beleidigend, sind oft auch boshaft und nachtragend. 25