Inhaltsverzeichnis 1 Die Unterrichtsplanung 3 1.1 Begründung des Themas 3 1.2 Unterrichtsvoraussetzungen 6 1.2.1 Curriculare Überlegungen 6 1.2.2 Entwicklungspsychologische Erwägungen: Die 15- bis 16-jährigen 10 1.2.3 Lernvoraussetzungen aus literaturdidaktischer Perspektive 16 1.3 18 Sachanalyse: Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser 1.3.1 Autor und Werk 18 1.3.2 Struktur des Romans 21 1.3.3 Erzählperspektive, Sprache und Erzählstil 24 1.3.4 Die zentralen Themen 26 1.3.4.1 Adoleszenz 26 1.3.4.2 Die Beziehung zwischen Hanna und Michael 30 1.3.4.3 Analphabetismus 33 1.3.4.4 Die Schuldproblematik 35 1.3.4.4.1 Die Schuld Hannas und der Tätergeneration 1.3.4.4.2 Die Schuld Michaels und die Schuld der „zweiten Generation“ 1.4 36 39 Didaktische Analyse 43 1.4.1 Romanlektüre im Unterricht 43 1.4.2 Produktionsorientierte Verfahren im Literaturunterricht 45 1.4.2.1 Begriff und heutiger Stellenwert 45 1.4.2.2 Pädagogisch-didaktische und literaturtheoretische Begründungszusammenhänge 47 1.4.2.3 Produktive Verfahren zu erzählenden Texten 49 1.4.2.4 Kritik und Probleme des produktionsorientierten Literaturunterrichts 51 1.4.3 Überlegungen zur methodisch-didaktischen Aufbereitung 53 1.4.3.1 Übergeordnete literaturdidaktische Zielsetzungen 54 1.4.3.2 Schwerpunkt und didaktische Reduktion 56 2 Unterrichtspraktische Umsetzung 58 2.1 Tabellarischer Überblick über die Unterrichtsreihe 58 2.2 Kurze Darstellung der einzelnen Stunden der Unterrichtsreihe 58 1. Stunde: 2. Stunde: Einstiegsstunde: Lektüretest; Kartenabfrage: Spontanreaktionen und zentrale Themen des Romans Wer ist der junge Michael? 1 59 2.3 Fragebogen und produktionsorientierte Arbeitsaufträge 60 3. Stunde: Zeit- und Ereignisstruktur des Romans; Analyse der Erzähltechnik 61 4. Stunde: Michael und seine Familie 62 5. Stunde: Ablösung vom Elternhaus und Erwachsenwerden – früher und heute 64 6. und 7. Stunde: Die Entwicklung der Beziehung zwischen Hanna und Michael im ersten Teil des Romans 64 8. Stunde: Schreibgespräch „Beziehung“; Die Motive Michaels und Hannas für die Beziehung 65 9. Stunde: Michaels Prägung durch Hanna; Analphabetismus 66 10. Stunde: Hannas Analphabetismus 68 11. Stunde: Schuldproblematik I: Aspekte der Schuld Hannas und Michaels 68 12. Stunde: Schuldproblematik II: Die Schuld der „ersten Generation“ (Täter) und der „zweitenGeneration“ (Täterkinder) 69 13. Stunde: Hannas Entwicklung während der Haft; Gründe für ihren Suizid 71 14. Stunde: Fragen und Anworten des Autors Bernhard Schlink 72 Ausführliche Darstellung der Unterrichtsstunden 1 und 7 74 2.3.1 Die Einstiegsstunde 74 2.3.2 Die siebte Stunde 77 2.4 Lernerfolgskontrolle: Die Klassenarbeit 80 3 Kritische Auswertung der Unterrichtsreihe 82 4 Literaturverzeichnis 85 5 Anhang 89 2 1 Die Unterrichtsplanung 1.1 Begründung des Themas Beim diesjährigen Deutschen Lehrertag des Verbandes Bildung und Erziehung (VEB)1 zerbrachen sich die Pädagogen die Köpfe über den Widerwillen von Kindern gegen Bücher. „Kinder und Jugendliche in Deutschland brauchen mehr Lesekompetenz“ hieß es im Untertitel der Tagung. Gut gefüllte Bücherregale daheim, vorlesende Eltern als Vorbilder – solche bildungsbürgerlichen Mitbringsel entscheiden noch immer über Lernerfolge und Karrierewege im gegliederten deutschen Schulsystem. Beim Lehrertag lag das Belastungsmaterial aus – das Zeugnis der internationalen Schulleistungsstudie Pisa für Deutschland: Rang eins, was die Abneigung der 15-Jährigen gegenüber Büchern angeht. Fast ein Viertel von ihnen wächst über die einfache Kompetenzstufe nicht hinaus; zur „Risikogruppe“ zählen laut Pisa ausländische und deutsche Jugendliche gleichermaßen.2 Und bei Lehrern hapert es häufig mit der Diagnostik – sie übersehen die Leselücken der Schüler. Die Teilhabe an der Kultur geschieht zu großen Teilen durch das selbstständige Lesen. Definitionen betonen die Bedeutung des Lesens als Kulturtechnik, deren Beherrschung das Individuum befähigt, aktiv und selbstständig am Kommunikationsgeschehen zu partizipieren und die angebotenen Informationen und Anregungen aufzunehmen und zu verarbeiten. Besonders das gesellschaftlich integrierende Moment des Lesens erscheint von großer Bedeutung. Das Lesen befähigt den Rezipienten, Zusammenhänge zu erfassen, potentielle Folgen abzuschätzen und eventuelle Reaktionen zu entwickeln sowie gedruckten Medien in vielfältiger Weise Informationen zu entnehmen oder sich unterhalten zu lassen. Wie kann nun die Schule SchülerInnen wieder zu Lesern machen, was kann insbesondere der Deutschunterricht, als das „buchintensivste“ Schulfach tun, dass SchülerInnen Lesen wieder als Abenteuer, als gemeinsames Entdecken, als Prozess, in dem man sich packen lassen und auf erzählte Geschichten einlassen kann, erleben? Wie kann man einem Kulturverhalten entgegenwirken, dass durch den oft exzessiven Fernseh- und Videokonsum der SchülerInnen weithin konsumptiv, rezeptiv und passiv ist? 1 Der Deutsche Lehrertag des Verbandes Bildung und Erziehung, der mit 150.000 Mitgliedern zweitgrößten Lehrergewerkschaft, fand am 02.06.2002 in Weimar statt. 2 Vgl. Feuck, Jörg: Wie macht man Leser? In: Frankfurter Rundschau vom 03.06.2002. 3 Wenn man sich als Deutschlehrer oder –lehrerin dazu entschieden hat, dass ein oberstes Ziel des Deutschunterrichts sein muss, die SchülerInnen (wieder) Freude und Lust am Umgang mit Literatur empfinden zu lassen, müssen nach meinen Überlegungen zwei Entscheidungen getroffen werden: Zum einen muss man sich Gedanken über die literarische Gattung machen, mit der man SchülerInnen am ehesten erreichen kann, und zum anderen sollte man bei der Auswahl nicht allein auf den Text, sondern ebenso auf die Situation der SchülerInnen und auf den thematischen Zusammenhang achten, da Lesen von den Erfahrungen, Erwartungen und Einstellungen des Lesers und der Lesesituation ebenso abhängt wie von den Konstituenten des Textes. Wie in der didaktischen Analyse dieser Arbeit ausgeführt wird, kommt meiner Meinung nach dabei dem Roman, d. h. der abgeschlossenen, spannenden Geschichte mit einem für unser eigenes Leben wichtigen Thema eine Schlüsselrolle zu. Vor allem der moderne Roman mit seinem gesellschaftlichen Problembewusstsein macht vielfältige Angebote zur Identifizierung und bietet fremde, nachvollziehbare Leben mit „Übungscharakter“, d. h. man kann probeweise in andere Rollen schlüpfen und wesentliche Erfahrungen machen. Der Vorleser von Bernhard Schlink ist so ein Roman. Gerade jugendlichen Lesern bietet die Hauptfigur Michael aufgrund seines Alters sehr gute Identifikationsmöglichkeiten, was ganz im Sinne von Bernhard Schlink „über das Lesen zur Selbstaufklärung“ beitragen kann. Schlinks klare aber doch differenzierte Sprache und seine spezielle Perspektive, die intime Einblicke in das Denken und Fühlen seiner Protagonisten ermöglicht, machen den Roman den verschiedensten Altersstufen leicht zugänglich. Er hat eine packende Geschichte, enthält überraschende Wendungen der Ereignisse, fesselt den Leser durch die Erzählweise bis zum Schluss. Darüber hinaus löst die ungleiche Liebesbeziehung zwischen einem Heranwachsenden und einer deutlich älteren Frau eine Fülle von verschiedenen Reaktionen aus. Die Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Ereignissen des Holocaust erfolgt auf eine Art und Weise, die allgemein als überraschend, neu und anregend empfunden wird. Kurz: Seine Vielschichtigkeit regt den Leser in hohem Maße an, sich mit dem Text und seinen Fragen auseinander zu setzen – ja, er schult in der Kunst, Fragen auszuhalten. Nicht umsonst ist Der Vorleser der international erfolgreichste Roman des letzten Jahrzehnts. Seine Geeignetheit für den Literaturunterricht haben inzwischen viele erkannt, und so hat Der Vorleser Eingang gefunden in den Literaturunterricht der deutschen Gymnasien. Bisher wird der Roman jedoch fast ausschließlich in den Oberstufen gelesen, d. h. ab Klassenstufe 11 bis 13. Und so liegt es nahe zu vermuten, dass der Roman – nach dem man die Lehrpläne bisher noch vergebens durchforsten wird – im Literaturkanon der Oberstufe angesiedelt werden wird. 4 Dieser möglichen Entwicklung will ich mit dieser Arbeit meine Unterrichtserfahrungen entgegensetzen. Im Rahmen meines eigenverantwortlichen Unterrichts habe ich den Roman von Bernhard Schlink bereits in einer zehnten Klassenstufe gelesen und bin nach diesen Erfahrungen der Überzeugung, dass es durchaus möglich ist, diese Lektüre bereits am Ende der Sekundarstufe I zu lesen. Wie in dieser Arbeit ausführlich dargelegt wird (vgl. Kapitel 1.2.2) beginnt heute die Pubertät in den westlichen Industrienationen wesentlich früher. Viele Jugendliche sind damit überfordert, es fehlen ihnen Selbstbewusstsein und Vertrauen, die mit dem Eintritt in die Erwachsenenwelt gefragt sind. In dieser Phase brauchen Jugendliche die Möglichkeit sich auszusprechen und dazu bietet die hier vorgeschlagene Lektüre optimale Voraussetzungen, weil sie den SchülerInnen Gelegenheit gibt, über sich zu sprechen, indem sie über den Protagonisten Michael sprechen. Zudem sind die Lektürevorschläge in den Lehrplänen für Gymnasien und Gesamtschulen längst veraltet und bedürfen einer „Entrümpelung“ – und das bedeutet auch eine Anpassung an die nunmehr gegebenen entwicklungspsychologischen Voraussetzungen der SchülerInnen. Doch auch methodisch lässt sich im Deutschunterricht einiges verändern, um den SchülerInnen wieder Lust auf Literatur zu machen. Wie die vorliegende Arbeit zeigen wird, fordern gerade produktive Ansätze eine kreative Auseinandersetzung, auch ein emotionales Sich-Einlassen auf Umstände, Ereignisse, Situationen und Charaktere, führen aber dennoch zu einer kognitiven Betrachtung literarischer Formen und Textmuster. Denn handlungsorientierter Unterricht schließt immer auch theoretische Voraussetzungen oder anschließende Reflexion bezüglich literaturwissenschaftlicher Aspekte ein, so dass von einer Einseitigkeit dieser Methode keine Rede sein kann. 5 1.2 Unterrichtsvoraussetzungen 1.2.1 Curriculare Überlegungen Sichtet man die Deutsch-Lehrpläne für saarländische Gymnasien so wird man feststellen, dass Der Vorleser von Bernhard Schlink bisher keine Erwähnung findet. Dennoch wird er an den Schulen bereits gelesen.3 Die saarländischen Lehrpläne verzichten nämlich auf einen amtlich vorgeschriebenen Lektürekanon und räumen dem Lehrer bei der Auswahl der im Unterricht zu behandelnden Texte gewisse Freiheiten ein: „Da ein verbindlicher Textkanon nicht ausreichend begründet werden kann, beschränkt sich der Lehrplan einerseits darauf, dem Lehrer in den Bereichen „Erzählende Texte“ und „Dramatische Texte“ Vorschläge zu unterbreiten. Andererseits kann aber die Frage nach der Verbindlichkeit von Inhalten [...] nicht ausgeklammert werden.“4 In den Lehrplänen wird also ein sogenannter „Mittelweg“5 verfolgt: Vorgeschlagen wird eine „Reihe von Texten, die bedeutsam sind zum Verständnis der gegenwärtigen Situation, sie tragend oder kritisch korrigierend“ und gleichzeitig wird versucht „einen Minimalkonsensus herzustellen, indem verbindlich gesagt wird, wie viele und z.T. welche Texte aus der Vorschlagsliste mindestens gewählt werden müssen“.6 Dem Lehrer bleibt „die Freiheit, [...] der Vorschlagsliste zusätzlich Texte zu entnehmen oder auch relevante Texte nach eigener Wahl, unabhängig von der Vorschlagsliste, im Unterricht zu behandeln“7. „Der Vorleser“ scheint für viele Lehrende so relevant, dass sie ihn „freiwillig“ für die Behandlung in ihrem Unterricht auswählen. So ist der Roman in den letzten sieben Jahren nach seinem Erscheinen in vielen gymnasialen Oberstufen als Beispiel für Gegenwartsliteratur und gelungenes zeitgenössisches Erzählen behandelt worden. Wie in einer der inzwischen herausgegebenen Unterrichtshilfen beschrieben wird, haben den Text „auch die Schülerinnen und Schüler […] fast ausnahmslos gelobt" und das Buch „als gut lesbar, gut geschrieben und thematisch interessant bezeichnet".8 3 Und zwar nicht nur an Gymnasien, sondern auch an Fachoberschulen und Berufsschulen. Der Stellenwert der Lektüre lässt sich daran ermessen, dass am Landesinstitut für Pädagogik und Medien (LPM) in Dudweiler im Januar 2002 eine Fortbildungsveranstaltung für Lehrer mit dem Titel „Bernhard Schlink, ‚Der Vorleser’: Pflichtlektüre im Schuljahr 2001/2002 für die FOS/FSP“ stattfand. 4 Vgl. hierzu z. B. Lehrplan Deutsch. Gymnasium. Klassenstufen 9+10. Saarland: Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft 1990, S. 52. 5 Ebd. S. 53. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Moers, Helmut: Bernhard Schlink, Der Vorleser. Freising: Stark 1999 (= Reihe Interpretationshilfe Deutsch), S. 1. 6 Als zeitgenössisches Werk erfüllt „Der Vorleser" nach Meinung der Autoren alle Anforderungen, die es ermöglichen, im Unterricht „den Anschluss an das literarische Leben der Gegenwart"9 nicht zu verlieren. Im Zuge der Einführung von „G 8" ab dem Schuljahr 2001/2002 an saarländischen Gymnasien10 und der damit verbundenen Reformierung der Lehrpläne scheint es folglich als wahrscheinlich, dass der Roman Eingang in die saarländischen Lehrpläne findet. Doch nicht nur über die prinzipielle Eignung des Romans für den Einsatz im Unterricht herrscht unter den „Experten" Einigkeit – einig ist man sich auch darüber, dass der Text in der gymnasialen Oberstufe gelesen werden sollte. So urteilen z. B. Bettina Greese und Almut PerenEckert, die Autorinnen des im Schöningh Verlag erschienenen Unterrichts-Modells in ihren "Vorüberlegungen zum Einsatz des Buches im Unterricht"11: „’Der Vorleser’ scheint als einer der wenigen Romane der Gegenwartsliteratur den Weg in den Kanon der Oberstufenliteratur zu finden. Er bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für eine Unterrichtseinheit, sowohl für Grund- und Leistungskurse im Fach Deutsch als auch für fächerübergreifende Projekte.“12 Auch Cerstin Urban, die Autorin der Unterrichtshilfe der Reihe "Blickpunkt – Text im Unterricht", leitet ihre Untersuchung mit folgender Einschätzung ein: „Aufgrund der Komplexität des Romans und des nötigen Hintergrundwissens [Hervorhebungen durch B. P.] eignet er sich in erster Linie für die gymnasiale Oberstufe.“13 Urban ist die Einzige der Verfasser und Verfasserinnen von Unterrichtshilfen zu Schlinks Erfolgswerk, die damit zumindest eine – wenn auch äußerst kurze - Begründung dafür liefert, warum ihrer Meinung nach der Roman erst in der Oberstufe gelesen werden soll. 9 Möckel, Magret: Bernhard Schlink, Der Vorleser. Hollfeld: Bange2001 (= Reihe Königs Erläuterungen), S. 5. Denn wie die Autorin beschreibt, entstehe gerade bei einem zeitgenössischen Text häufig Unsicherheit über seine Eignung für die Behandlung im Unterricht: "Er soll bei Schüler/innen gut 'ankommen' [und] muss für die Behandlung ergiebig sein, d. h. wichtige Aspekte von Literatur müssen an diesem Text exemplarisch zu erarbeiten sein. Weiterhin soll die ästhetische Qualität hoch sein und diese Einschätzung sollte von einer recht großen Gruppe von Kennern geteilt werden. Außerdem wird der Anspruch gestellt, dass er in gewisser Weise zumindest für eine bestimmte Strömung der Gegenwartsliteratur typisch ist und literaturgeschichtliche Bezüge zu anderen Texten herstellbar sind". (Ebd.) 10 Gemeint ist die zum Schuljahr 2001/2002 an saarländischen Gymnasien eingeführte Verkürzung der bisherigen dreizehn auf zwölf Schuljahre bis zur allgemeinen Hochschulreife. 11 Greese, Bettina und Almut Peren-Eckert: Bernhard Schlink, Der Vorleser. Paderborn: Schöningh 2000 (= Reihe Einfach Deutsch), S. 15. 12 Ebd. Eine Recherche im Internet ergab, dass „Der Vorleser“ auch in anderen Bundesländern in Klasse 12 bzw. 13 (Gk oder Lk) der gymnasialen Oberstufe gelesen wird. 13 Urban, Cerstin: Bernhard Schlink, Der Vorleser. Kommentare, Diskussionsaspekte und Anregungen für produktionsorieniertes Lesen. Hollfeld: Joachim Beyer Verlag 2000 (= Reihe Blickpunkt Text im Unterricht), S. 7. 7 Ich bin dagegen bei meinen curricularen Überlegungen davon ausgegangen, dass es möglich ist, das Buch "Der Vorleser" mit den Schülern bereits in der Mittelstufe, präzise im zweiten Halbjahr der Klassenstufe 10, zu lesen. Die Forderungen, die der noch gültige Lehrplan der Klassenstufe 9 und 10 an „unterrichtstaugliche“ Texte stellt, werden von Bernhard Schlinks Roman mehr als erfüllt. So äußert sich der Lehrplan z. B. über die Bedingungen, die an die zur Wahl stehenden Texte geknüpft werden: „Wenn man das oberste Lernziel des Literaturunterrichts darin erblickt, die Schüler zum sachgemäßen Umgang mit solchen literarischen Texten zu befähigen, die für unser Selbstverständnis wichtig sind, so wird die Aufgabe unumgänglich, im Rahmen curricularer Überlegungen eine Auswahl von Texten zu entwickeln, die eine Verwirklichung dieses Ziels ermöglicht. Diese Auswahl ist ständig neu zu erörtern, stellt ein Ergebnis auf Zeit dar und sollte nicht mit dem Anspruch eines nationalen Kulturschatzes auftreten. Im Mittelpunkt dieser Auswahl sollen Texte der literarischen Gegenwart [Hervorhebung durch die Verfass.] stehen [...].“14 Als zeitgenössischer Text eignet sich Bernhard Schlinks Roman hervorragend, „den Erfahrungshorizont der Schüler [zu] erweitern, gewohnte Denkschemata [zu] verändern und auf diese Weise Differenzerfahrung [zu] ermöglichen, da sie mit den Mitteln der Sprache Lebenssituationen sowie gesellschaftliche Interaktionsprozesse erfassen“15. Außerdem ermöglicht es der Umgang mit einem solchen Text „die geistige Beweglichkeit der Schüler [zu] erhöhen und [kann] eine Hilfe bei der Bewältigung persönlicher Probleme sein, da [er] die Wirklichkeit ausschnittshaft und modellhaft darstell[t], und auf diese Weise Einblick in menschliche Erfahrungen und Vorstellungen ermöglich[t] und damit die Meinungs- und Urteilsbildung förder[t]"16. Auch die vom Lehrplan gestellten „grundsätzliche[n] Voraussetzung[en] für die Auswahl von Texten erfüllt „Der Vorleser“, weil er „für Selbstverständnis und Weltverstehen der Schüler bedeutsam [ist] und damit den Erfahrungshorizont der Schüler erweiter[t]“ und insbesondere, weil er „den Interessen und Bedürfnissen der Schüler ent[spricht], indem [er] konkrete Situationen aus dem Erfahrungsbereich der Schüler dar[stellt]“17. Cerstin Urbans Feststellung, Schlinks Erfolgswerk sei „komplex“ lässt sich sicherlich zustimmen. Wie die Sachanalyse zeigen wird, bietet der Roman eine reiche Palette inhaltlicher Aspekte. Es sind dies einerseits Themen wie Erwachsenenwerden und Erste Liebe sowie die damit verbundene Prägung des weiteren Beziehungslebens. 14 Vgl. Lehrplan Deutsch. Gymnasium. Klassenstufen 9+10, S. 52. Vgl. Ebd. S. 33. (=allgemeine Erwartungen des Lehrplans an den Umgang mit Texten) 16 Ebd. 17 Ebd. S. 42. 15 8 Gerade diese Themen sind es aber, die 15-, 16-jährige Jugendliche, eben Jugendliche am Ende von Klassenstufe 10, brennend interessieren (vgl. hierzu das nachfolgende Kapitel). Andererseits behandelt der Roman auch Themen im Kontext der deutschen nationalsozialistischen Vergangenheit, nämlich die Frage nach dem schuldhaft-schuldlosen Verstricktsein in verbrecherische Geschehnisse und Strukturen und damit die Frage nach dem Umgang mit persönlichem Versagen sowie die Frage nach Sinn und Chancen von Verurteilung und Haft. Wie auch diesen Themen methodisch Rechnung getragen werden kann, wird die unterrichtpraktische Umsetzung (vgl. Kap.2), die in dieser Arbeit dokumentiert wird, zeigen. Im Übrigen erscheinen mir einige erzählende Texte aus der Vorschlagsliste des Lehrplans für die Klassenstufen 9+10 nicht wesentlich weniger „komplex“, zusätzlich aber auch nicht gerade zeitgemäß und vergleichsweise weniger interessant für Jugendliche – so beispielsweise Adalbert Stifter, Abdias oder Wilhelm Raabe, Die schwarze Galeere. Andere Lesevorschläge erscheinen schlichtweg veraltet wie Solschenyzin, Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch oder die Empfehlung „Massenliteratur“ und dazu in Klammern die exemplarische Aufzählung „Simmel, Konsalik, Fischer u.a.“. Außerdem stellt doch gerade die „Komplexität“ eines literarischen Werks die Lehrenden vor die Herausforderung des unterrichtsgemäßen „Zuschnitts“ (vgl. didaktische Reduktion) und der angemessenen Methode. Dem Argument, dass sich der Roman aufgrund des „nötigen Hintergrundwissens [...] in erster Linie für die gymnasiale Oberstufe“ eigne, kann dagegen an dieser Stelle ganz klar widersprochen werden. Gerade in Klassenstufe 10 bietet sich eine ausgezeichnete Möglichkeit der fächerübergreifenden Zusammenarbeit: Das Thema „Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg“ findet sich als zweite Unterrichtseinheit im Lehrplan Geschichte für die Klassenstufe 1018. Im Laufe dieser Reihe werden z. B. Lerninhalte wie „Wesentliche Elemente der NS-Ideologie“ und „Judenverfolgung, vernichtung und Völkermord“19 behandelt, so dass die Schüler im Geschichtsunterricht die wesentlichen historischen und politischen Zusammenhänge erfahren und somit keine Schwierigkeiten haben dürften, die nationalsozialistische Thematik in Schlinks Roman verstehend nachzuvollziehen. Hier bietet sich also eine Zusammenarbeit mit dem Geschichtslehrer an. 18 Vgl. Vorläufiger Lehrplan Geschichte. Gymnasium. Klassenstufen 9+10. Saarland: Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft 1990, S.15-18. 19 Ebd. S.15f. 9 In den Klassenstufen 11 und 12 wird das Thema Nationalsozialismus laut Lehrplan nicht mehr behandelt, sondern erst wieder im Grund- und Leistungskurs der Klassenstufe 13.20 Zu diesem Zeitpunkt dürfte sich bei manchen Schülern allerdings schon Widerstand regen, wenn das inzwischen bekannte Thema – wenn natürlich auch vertiefend und mit anderen Schwerpunkten – (schon) wieder auf dem Lehrplan steht. Denn auch im Religionsunterricht der Klassenstufe 10 steht die Thematik „Kirche im Dritten Reich“21 auf dem (Lehr-)Plan. Wird Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ im zweiten Halbjahr der Klassenstufe 10 behandelt, so bietet sich die einmalige Chance der Zusammenarbeit von mindestens22 drei Fachlehrern. Die Schüler haben somit die seltene Gelegenheit die Problematik um das Geschehen in NS-Deutschland aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und unterschiedliche Sichtweisen zu erfahren – so in „Der Vorleser“ z. B. die Perspektive der Nachgeborenen, die selbst aufgrund ihres Alters nicht unmittelbar Verantwortung für die Ereignisse des Holocaust tragen. 1.2.2 Entwicklungspsychologische Erwägungen: Die 15- bis 16-jährigen Die Schüler sind im zweiten Halbjahr der Klassenstufe 10 in der Regel zwischen fünfzehn und sechzehn Jahre alt. Auch Michael Berg, der Ich-Erzähler und „Vorleser“ im Roman, ist zu Beginn der Handlung ein 15-jähriger Schüler der "Untersekunda"23 eines (vermutlich) Heidelberger Gymnasiums. Was den Roman folglich in besonderer Weise als Lektüre für die 10. Klasse geeignet erscheinen lässt, ist der für die Lernenden unmittelbar nachvollziehbare Lebenszusammenhang des Protagonisten: Michael befindet sich in der Phase der Pubertät . Sexuelle Wünsche und Phantasien, Unsicherheiten, den eigenen Körper betreffend („Ich hatte zu lange Arme und Beine [...] für die Koordination meiner Bewegungen.“24) sind bestimmend für sein Lebensgefühl. 20 Vgl. Vorläufiger Lehrplan Grundkurs Geschichte Gymnasium/Gesamtschule. Jahrgangsstufe 13. Saarland: Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft 1990, S. 10ff. und Vorläufiger Lehrplan Leistungskurs Geschichte Gymnasium/Gesamtschule. Jahrgangsstufe 13. Saarland: Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft 1990, S. 11ff. 21 Vgl. z. B. Lehrplan Evangelische Religion. Gymnasium. Klassenstufen 9 und 10.Saarland: Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft 1988, S. 123ff. 22 Passend wird im Fach Sozialkunde in Klasse 10 das Thema „Grundrechte und Friedensordnung“ behandelt. 23 Bernhard Schlink, Der Vorleser. Zürich: Diogenes 1995, S. 63. Im Folgenden abgekürzt als Der Vorleser. Die „Untersekunda" entspricht der heutigen Klassenstufe 10. 24 Der Vorleser, S. 39. 10 Der Schüler Michael Berg berichtet von Erfahrungen, die den fünfzehn- bis sechzehnjährigen Lesern nur allzu vertraut sind und mit denen sie sich mühelos identifizieren können. Die "Pubertät ist die Phase, in der der Heranwachsende besonders einschneidende physiologisch – biologische Veränderungen durchmacht (er wird geschlechtsreif) und im Zusammenhang dieser Erfahrungen die allmähliche Ablösung vom Elternhaus intensiviert"25. Unter "Pubertät" wird also die Lebensphase verstanden, in der die Geschlechtsorgane heranreifen. Diesbezüglich beobachten Mediziner seit mehr als zweihundert Jahren, dass der hormonelle Reifungsprozess des Menschen durch optimalere Lebensumstände (Ernährung, Hygiene) immer früher beginnt.26 Es handelt sich dabei um eine Vorverlegung der hormonellen Reifung von etwa zwei Jahren: Bei den Mädchen statistisch von dem 15. auf den 13. Geburtstag, wobei sich Anzeichen der Pubertät bereits nach dem 9. Lebensjahr zeigen und die Menarche im Mittel mit 13 Jahren eintritt.27 Damit entwickeln sich die Mädchen etwa zwei Jahre früher als die Jungen. Bei den Jungen kommt es im Mittel zwischen 14 und 15 Jahren zum Stimmbruch, während der Beginn des Wachstums von Genitale und Hoden zwischen 11 und 12 Jahren auftritt.28 Der "puberale Wachstumsschub" hat seinen Höhepunkt etwa bei 15 Jahren und die physiologisch-biologische Entwicklung ist in der Regel spätestens mit 17,18 Jahren beendet, wobei es natürlich individuelle Variationen gibt.29 Parallel zu den körperlichen Veränderungen während der Pubertät entwickelt sich schließlich auch der Geschlechtstrieb weiter.30 Da die Jugendlichen heute früher als die Generation ihrer Eltern mit hormonellen Veränderungen konfrontiert werden, fangen sie auch in jüngeren Jahren an, sexuelle Erfahrungen zu machen. Die jüngste Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zur Jugendsexualität ergab, dass nur gut ein Viertel der Mädchen und ein Drittel der Jungen mit 14 Jahren noch keine Zärtlichkeiten mit dem anderen Geschlecht ausgetauscht haben. Gemeint sind damit z. B. Küssen oder Petting. Mit 16 Jahren 25 Baacke, Dieter: Die 13- bis 18jährigen. Einführung in die Probleme des Jugendalters. Weinheim und Basel: Beltz 2000, S. 36. 26 Dieses Phänomen bezeichnet man als "Akzeleration". 27 Zu diesen Angaben vgl. Gudjons, Herbert: "Ich will halt anders sein wie die anderen." Neue Befunde zur Pubertät. In: Pädagogik. Heft 7-8, 07-08/2001, S. 8. 28 Ebd. 1860 trat die Menarche dagegen durchschnittlich erst zwischen dem 17. und 18. Lebensjahr ein (Vgl. Microsoft Encarta. Enzyklopädie 2002, Suchbegriff "Pubertät".). 29 Vgl. Baacke, 2000, s. 36. Baacke weist an andereren Stellen ausdrücklich darauf hin, dass man heute von einer "entstrukturierten" Jugendphase auszugehen hat: "Jugend ist nicht gleich Jugend" (vgl. S. 18 bzw. S. 41ff.). 30 Heute stellt man die lange angenommene Gleichzeitigkeit von hormoneller und pubertärer Entwicklung in Frage und vermutet, dass das sexuelle Erleben von Kindern nicht erst mit der körperlichen Geschlechtsreife einsetzt: Mädchen und Jungen sind von Beginn ihrer Existenz an sexuelle Wesen. Neurophysiologische Forschungen aus den USA belegen nämlich, "dass die hormonelle Aktivität, die für das sexuelle Empfinden von Heranwachsenden verantwortlich ist, bereits im Alter zwischen sechs und acht Jahren beginnt". (Vgl. Milhoffer, Petra: Das pubertäre Chaos der Gefühle. Entwicklungspsychologische Merkmale und sexualpädagogische Herausforderungen. In: Pädagogik. Heft 7-8, 07-08/2001, S. 13.) 11 sind beide Geschlechter in dieser Hinsicht gleich aktiv: Nur noch zehn Prozent haben dann noch keine Erfahrungen. Laut der Studie, für die 14- bis 17-jährige befragt wurden, haben Jungen durchschnittlich mit 15,1 Jahren und Mädchen mit 14,8 Jahren ihren ersten Geschlechtsverkehr.31 Liebe, Sexualität und Partnerschaft – es gibt also kaum einen Jugendlichen in diesem Alter, den dieses Thema nicht interessiert und der dazu nicht auch Fragen hat. Obwohl Kinder und Jugendliche in Printmedien und elektronischen Medien, in Spielfilmen, in Computerspielen und in der Werbung bereits früh mit vielfältigen Dimensionen von Sexualität befasst sind, bekommen sie jedoch selten Antworten auf ihre Fragen. Immer noch erschweren gesellschaftliche Tabus die sachliche Verhandlung und das offene Gespräch über dieses Thema, das zum einen dargestellt wird als "schönste und natürlichste Sache der Welt" und zum anderen vom "Ruch des Anstößigen oder gar Abstoßenden" noch nicht befreit ist.32 Da es also schon Erwachsenen schwer fällt, sich über ihre sexuellen Empfindungen, Bedürfnisse und Fragen zu verständigen, sind Barrieren gegenüber Kindern und Jugendlichen nicht geringer. Besonders Jungen haben zu sexuellen Fragen immer noch weniger Ansprechpartner als Mädchen, auch wenn in den neunziger Jahren die Zahl der Jungen, die eine Beratung von ihren Eltern erhalten haben, kontinuierlich gestiegen ist. So geben neun Prozent der 14- bis 17-jährigen Mädchen, aber 23 Prozent der Jungen in diesem Alter an, niemanden zu haben, mit dem sie über sexuelle Dinge sprechen können.33 Die unmittelbare Pubertät ist meist schon beendet, ohne dass jedoch ihre sozialen und emotionalen Folgen bereits völlig bewältigt sind. Man spricht deshalb von Adoleszenz, indem man nicht nur das Ereignis der Pubertät meint, sondern eine länger gestreckte Phase einer Altersgruppe, die umgangssprachlich unter dem Terminus "Jugendliche" zusammengefasst wird. Dazu Dieter Baacke: "Die Einheit dieses Zeitraums besteht darin, dass durch den Einbruch der Pubertät – der durchschnittlich mit 13 Jahren erfolgt – die selbstverständliche Welthinnahme des Kindesalters abgeschlossen wird und eine neue Einheit aus physisch-psychischem Erlebnis und Selbsterfahrungen entsteht, die zur wachsend bewussten Entwicklung eines Ich-Gefühls führen, das die Abgrenzung von anderen Personen erlaubt und gerade dadurch die Aufnahme von selbst gewählten Beziehungen auf breiter Basis ermöglicht"34. Das zentrale Thema des Jugendalters ist damit das Ringen um Identität. Mit dem Konzept „Identität“ meint man zunächst in einem allgemeinen Sinn „die einzigartige Kombination von 31 Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.): Jugendsexualität 2000. Wiederholungsbefragung von 14-17jährigen und ihren Eltern im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Ergebnisse der aktuellen Repräsentativbefragung. Köln 2000, S. 34ff. 32 Milhoffer, 2001, S. 16. Hervorhebungen durch die Autorin. 33 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2000, S. 7. 34 Ebd. S. 37. 12 persönlichen, unverwechselbaren Daten des Individuums wie Name, Alter, Geschlecht und Beruf, durch welche das Individuum gekennzeichnet ist und von allen Personen unterschieden werden kann“35. Dagegen ist in einem engeren psychologischen Sinn „Identität die einzigartige Persönlichkeitsstruktur, verbunden mit dem Bild, das andere von dieser Persönlichkeitsstruktur haben“36. Für das Verständnis von Entwicklung im Jugendalter ist aber noch eine dritte Komponente der Identität wichtig, nämlich „das eigene Verständnis für die Identität, die Selbsterkenntnis und der Sinn für das, was man ist bzw. sein will“37. Das Jugendalter ist die Periode, in der sich in Bezug auf Identitätsbildung Entscheidendes ereignet. Aufgrund einer Fülle klinischer Erfahrungen hat der Psychoanalytiker Erik H. Erikson einen theoretischen Rahmen entworfen, der die menschliche Entwicklung von der Geburt bis zum Tod zusammenfasst. Er fand eine Reihe psychosozialer Krisen (insgesamt acht) heraus, die das Individuum im Verlauf seiner Entwicklung zu bestehen hat. Danach wird „die Adoleszenz als fünfte Stufe [...] bestimmt durch Identiät/Identitätsdiffusion“38: „Bei gelungener Identiätsbildung gehen alle in der Kindheit gesammelten positiven Ich-Werte in das Identitätsgefühl ein in dem Sinne, dass man sich selbst als eine Person mit Einheitlichkeit und Kontinuität versteht und zugleich als jemanden, der darum auf andere angewiesen ist in der Gewissheit, dass diese auch ihn brauchen [Hervorhebung durch den Verfass.]“.39 Für die heutige Zeit stellt Erikson dagegen ein hohes Maß an Identitätsdiffusion40 bei Jugendlichen fest, was offenbar seinen Grund darin hat, dass die modernen Gesellschaften Informationen bereitstellen, die für Jugendliche schwer zu verarbeiten sind: „Abstraktion, Funktionalisierung und Differenzierung der Lebensbezüge, pluralistische Weltoffenheit und Fülle alternativer Informationen bei gleichzeitiger Wahleinschränkung [Hervorhebung durch den Verfass.], Handlungskontrolle und Chancenentzug, also die Disparität zwischen grundsätzlichem Angebot und eingeschränkter Fähigkeit, es angemessen wahrzunehmen, führen verständlicherweise leicht zu Verwirrung und Verzweiflung, zumal dann, wenn keine prinzipiellen moralischen Standards verlässliche Orientierung gewähren“41. Dass „Identität“ bzw. die Suche nach dem Selbst heute ein so häufig diskutiertes Thema ist, hängt sicherlich damit zusammen, dass sie nicht selbstverständliche Gabe ist, sondern mühsam errungen werden muss. 35 Oerter, Rolf, Dreher Eva: Jugendalter. In: Oerter, Rolf, Montada, Leo (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union 1995, S. 310-396, hier S. 346. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Baacke, a. a. O., S. 179. 39 Ebd. S. 181. 40 Diese entsteht, wenn die in der Kindheit vorbereitenden Identitätsbildungsprozesse negativ verlaufen sind. 41 Baacke, a. a. O., S. 185. 13 Da der enge Konnex von Identitätsbildung und Adoleszenz im Vorleser überzeugend vorgeführt wird42, eignet sich der Text für die Verwendung in einem Deutschunterricht, der der Identitätsbildung der Schüler Rechnung tragen will. Denn grundsätzlich kann durch den Umgang mit Texten die Identitätsgewinnung wesentlich gefördert werden: „Über Identifikationsprozesse ist das Ich des Lesers immer mehr oder weniger in den Leseprozeß involviert; als Entwurf möglicher Welten, Perspektivenverschränkung, als Erschließung durch Verarbeitung psychischer von Dimensionen, Rollenbildern, durch Autoritäts- und Wertproblemen betrifft Literatur gerade solche Aspekte, die für die Ichentwicklung entscheidend sind.“43 Auch das Denken, d. h. die kognitive Entwicklung, kommt in der Phase der Adoleszenz in ein neues Stadium. Nach den Untersuchungen des französischen Psychologen Jean Piaget beginnt im Jugendalter das Stadium des formalen, zielgerichteten Denkens, das durch logisches Ableiten und Kombinieren gekennzeichnet ist. Mit Beginn der Pubertät eröffnen sich aber auch weitere qualitative Besonderheiten des Denkens: Jugendliche können " in Möglichkeiten denken (Fähigkeit zur Hypothesenanwendung und zu "Möglichkeitsräumen"), sie können in abstrakten Begriffen denken, sie werden zunehmend fähig, sich in einen anderen Standpunkt hineinzuversetzen und von diesem her den eigenen zu verstehen, sie beginnen, zwischen dem, was man wirklich ist, und dem, was man sein könnte, präziser zu unterscheiden (sie erforschen also die eigene Person genauer zwischen Realität und Möglichkeit und bilden sich ein bewusstes Selbstkonzept) und schließlich werden sie zunehmend fähig, zur Realität einen kritischen Standpunkt einzunehmen, d. h. sie kommen in eine günstige Phase für den Aufbau kritischen Denkens und mündigen Urteilens"44. Durch Jean Piagets Forschungen zur Intelligenzentwicklung wurde der amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg zu Untersuchungen zur moralischen Entwicklung des Menschen angeregt.45 Entsprechend Piagets Stufenplan für die intellektuelle Entwicklung ergaben Kohlbergs Forschungen Stadien und Stufen der moralischen Entwicklung. Die Methode seiner empirischen Untersuchungen bestand in der Formulierung „moralischer Dilemmata“, die 42 An der Figur Michael Bergs, der seine 21 Jahre ältere Geliebte als 15-Jähriger kennen lernt und mit gerade 16 auf für ihn traumatische Weise verliert, zeigt der Roman einen gestörten und bis weit ins Erwachsenenalter andauernden Prozess der Identitätsentwicklung. 43 Spinner, Kaspar H.: Entwicklungsspezifische Unterschiede im Textverstehen. In: Spinner, Kaspar H. (Hrsg.): Identität und Deutschunterricht. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1980, S. 33-51, hier S. 50. 44 Gudjons, a. a. O., S. 8. Hervorhebungen durch den Autor. 45 Nach der Definition von Baacke versteht man unter „Moral" in der Regel „die Ausstattung mit Verhaltens- und Einstellungsmustern, die unter dem Einfluss einer gesellschaftlichen Kultur, vermittelt durch die soziale Umgebung und die Bezugspersonen, im Rahmen zunächst primärer, sodann sekundärer Sozialisation von einem Individuum erworben werden". (Vgl. Baacke, a. a. O., S. 152.) 14 Versuchspersonen vorgelegt wurden mit der Bitte, nach einer angemessenen Lösung zu suchen.46 Jugendliche im Alter von 15 bzw. 16 Jahren befinden sich nach Kohlbergs Stufenplan im sogenannten „Konventionellen Stadium“47: In diesem Stadium „werden Werte um ihrer selbst willen erkannt, unabhängig von unmittelbaren Konsequenzen. Moralische Regeln sind nun so ‚verinnerlicht’, dass nicht nur die unmittelbaren Interessen der eigenen Person, sondern auch die Regeln, der sozialen Ordnung, in der man lebt, respektiert werden können“48. Die berühmten Untersuchungen zur moralischen Entwicklung haben nicht zuletzt deshalb Eingang in die pädagogische Diskussion gefunden, weil sich Kohlberg selbst häufig mit der Frage beschäftigt hat, wie Lehrer ihre Schüler Moral lehren können. Er ging dabei von der Forderung aus, „der Lehrer dürfe den Schüler nicht moralisch ‚indoktrinieren’ oder ihm Lösungen empfehlen. ‚Demokratisch’ und außerdem sachangemessen sei es vielmehr, das moralische Urteilen bei Schülern zu stimulieren [Hervorhebung durch den Verfasser] dadurch, dass man es – durch Vorlage und Diskussion moralischer Dilemmata – herausfordert und trainiert“49. Kohlberg konnte seine Forderung auf interessante Untersuchungsergebnisse stützen: „45% der Schüler urteilten nach dem Training [zur Schulung des moralischen Urteilens; Anmerkung von B. P.] eine Stufe höher als vorher [...] und 10% der Schüler gelang sogar eine Anhebung ihres moralischen Urteils um 2 Stufen [...]“50. Da in Bernhard Schlinks Werk vielfältig Fragen von Moral und Unmoral behandelt werden, erscheint dieser Roman als außerordentlich geeignet zur Stimulation der moralischen Urteilskraft der Schüler. Insgesamt stellen diese Fakten und Daten pädagogische Herausforderungen nicht nur für die Eltern, sondern auch für die Lehrkräfte dar, die zwar tagtäglich mit jungen Menschen zu tun haben, aber nur Ausschnitte des Verhaltens und der Befindlichkeit der ihnen anvertrauten heranwachsenden Männer und Frauen erleben. Denn besonders Jugendliche „verstecken sich wie Lehrerinnen und Lehrer übrigens auch – im 'Pflichtverband Schule' hinter der Maske der Schülerinnen/-Schüler- (und Lehrerinnen-/Lehrer-) –Rolle“51. Was die Jugendlichen sonst noch umtreibt und irritiert als Menschen mit den Gravuren des ihnen zugeschriebenen Geschlechtes, mit ihrem nicht immer harmonischen familiären Hintergrund, mit einem ständig sich verändernden Körper, ihrem erwachsenen Begehren und großen Bewegungsdrang ist in der Regel kein Thema von Unterricht. Vgl. Baacke, a. a. O., S. 154. Ein solches Dilemma war beispielsweise: “Ist es besser, das Leben einer wichtigen Person zu retten, oder das Leben vieler unwichtiger Personen zu retten?“ 47 Ebd. S. 156. 48 Ebd. 49 Ebd. S. 163. 50 Ebd. 51 Milhoffer, 2001, S. 16. 46 15 Wie Milhoffer jedoch anschaulich beschreibt, geben "Mädchen und Jungen […] weder ihren Körper noch ihre persönliche erotisch-sexuelle Biografie an der Schulgarderobe ab"52: Der Wunsch nach Nähe, der Wunsch zu gefallen und geliebt zu werden, Sehnsucht und Eifersucht, Neid und Rivalität, die Angst, anders zu sein, zum Gespött gemacht, entblößt und ausgegrenzt zu werden, d. h. nicht "normal" zu sein, sind vom ersten Schultag an Ausdrucksformen des Kampfes um Anerkennung. Die 15- und 16-jährigen Schüler der 10. Klasse eines Gymnasiums befinden sich in einer Phase emotionaler Belastungen, die nicht natürlich, sondern kulturell bedingt sind.53 Wie schon Charlotte Bühler beschrieben hat, ist die Pubertät "eine unlustreiche, d. h. leidvolle und schwierige Zeit, nicht nur in einzelnen Fällen, sondern für die überwiegende Mehrzahl" 54. Und trotz größerer Offenheit hat sich an der unbefriedigenden Situation der Jugendlichen gerade im Hinblick auf ihre Sexualität nicht viel geändert. Wenn der richtige Ton im Umgang mit Kindern getroffen werden soll, müssen ihr Ringen um ihre Geschlechtsidentität und die erwachenden sexuellen Gefühle sehr ernst genommen werden. Dazu Milhoffer: "Der Dynamik, die sich aus den 'sexuellen Sensationen' (im Sinne von Gefühlsregungen) im Schulalltag ergibt, die Sprengkraft zu nehmen, heißt daher, Sexualität immer wieder anlassbezogen und fächerübergreifend zum Thema zu machen."55 Hierzu bietet "Der Vorleser" nach meinem Dafürhalten reichlich Gelegenheit. 1.2.3 Lernvoraussetzungen aus literaturdidaktischer Perspektive Nachdem im vorherigen Kapitel die Kompetenzen der Schüler im Hinblick auf ihr Alter und ihre Entwicklung eingeschätzt wurden, ist nun nach den für den Unterricht notwendigen Fähigkeiten und Kenntnissen der Schüler zu fragen. Die Schüler der Klasse 10a des Marie-Luise-Kaschnitz-Gymnasiums in Völklingen hatten Erfahrung im Umgang mit Ganzschriften. Zu den epischen Texten, die in Klasse 9 gelesen worden waren, zählten z. B. Das Tagebuch der Anne Frank und Friedrich Dürrenmatts Der Richter und sein Henker. Da die Klasse aus zwei ehemaligen neunten Jahrgängen gebildet worden war, hatten zwar nicht alle Schüler der Klasse die gleichen Texte gelesen, doch die für den Unterricht insgesamt sichtbar unterschiedlichen Lernvoraussetzungen hatten im Lernbereich „Umgang mit erzählenden Texten“ kaum Relevanz. Ich selbst hatte mit den Schülern bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen epischen Text gelesen, allerdings am Ende des ersten Halbjahres 52 Ebd. Der in Deutschland geborene amerikanische Psychologe Erik Erikson sieht übrigens in der Entwicklung einen psychosozialen Vorgang, der sich während des ganzen Lebens fortsetzt. 54 Bühler, Charlotte: Das Seelenleben der Jugendlichen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, S. 94. 55 Milhoffer, 2001, S. 17. 53 16 der Klassenstufe 10 unter den dramatischen Texten Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan ausgewählt. Deshalb konnte ich auf die in dieser Reihe wiederholten bzw. erarbeiteten grundlegenden Techniken im Umgang mit einer Ganzschrift zurückgreifen.56 Die Schüler waren also den selbständigen Umgang mit einem Text gewohnt und so hatten sie auch den Auftrag, den gesamten Roman vor Beginn der Unterrichtsreihe zu lesen.57 Da es sich um die letzte Reihe in diesem Schuljahr handelte, die Anfang Mai begann, hatten die Schüler den Leseauftrag bereits vor den Osterferien erhalten, so dass ihnen genügend Zeit für die Lektüre blieb. Aufgrund der interessanten und spannenden Thematik, der relativ geringen Seitenzahl (207 Seiten) und der gut nachvollziehbaren Erzählweise, rechnete ich diesbezüglich auch nicht mit größeren Schwierigkeiten. Während des gesamten gemeinsamen Schuljahres war es mein Anliegen, dass die Schüler im Deutschunterricht nicht nur rezeptiv bzw. analysierend-interpretierend mit Literatur umgehen, sondern im Umgang mit lyrischen, dramatischen und epischen Texten selbst gestaltend tätig werden. Die Schüler begegneten also nicht erst im Rahmen der „Schlink-Reihe“ produktiven Verfahren im Unterricht. So hatten sie z. B. in der Reihe „Lyrische Texte und Mischformen“ Fortsetzungen bzw. Schlüsse zu Gedichten geschrieben, sich Titel zu Gedichten ausgedacht, lyrische Texte visuell gestaltet oder selbst Gedichte zu einem Thema verfasst. Im Verlauf der Reihe zum „Guten Menschen von Sezuan“ schrieben die Schüler Briefe an und Tagebucheinträge von Shen Te, veränderten die Hauptfiguren und stellten sich die entsprechenden Konsequenzen für den Handlungsverlauf vor, präsentierten Figuren in der IchForm und übten kleine Situationen szenisch darzustellen. Auch im Rahmen von Textanalysen fiktionaler Texte schrieben die Schüler Texte um, indem sie sich in die Perspektive einer anderen Figur versetzten – so vergegenwärtigten sie sich beispielsweise die Wahrnehmungsweise der Tochter aus Peter Bichsels gleichnamiger Kurzgeschichte. Insgesamt konnte beobachtet werden, dass derartige Aufgabenstellungen die Lerngruppe stärker motivierten als der bekannte fragend-entwickelnde Deutschunterricht. Das notwendige historische Hintergrundwissen eigneten sich die Schüler – wie bereits beschrieben – zeitgleich im Geschichtsunterricht an, was jederzeit anhand der Unterlagen der Schüler aus dem Geschichts-Unterricht zu überprüfen war. Von Anfang an reagierte die Klasse 10a auf den Roman mit auffälligem Interesse und gespannter Aufmerksamkeit. An dieser Stelle muss hinzugefügt werden, dass es sich bei dieser 56 Gemeint sind z. B. das Arbeiten mit verschiedenen Farben (Wesentliches über je eine Hauptfigur wird in unterschiedlicher Farbe markiert), das Markieren von Schlüsselbegriffen und Leitmotiven, das Gliedern eines längeren Kapitels in sinnvolle Abschnitte, das Zuordnen von Seitenzahlen zu einem wesentlichen Textthema, das Entwickeln von Fragen an den Text, das Nachschlagen unklarer (Fach-)Begriffe. 57 Eine „Vorab-Lektüre“ des Romans empfiehlt sich für die Lerngruppe auch deshalb, um die Lernenden zunächst selbst einen Zugang zur Lektüre finden zu lassen. 17 Klasse im Allgemeinen um eine sehr lernbereite und aufgeschlossene Lerngruppe handelte, die sich von anderen zehnten Jahrgängen insgesamt durch wenig Disziplinschwierigkeiten und eine motivierte Grundstimmung erfreulich abhob. Und selbst die eher „Lesefaulen“ der Klasse wurden durch den „Vorleser“ zu eifrigen Lesern, was sie und mich gleichermaßen freute. Tatsächlich gab es zu Beginn der Unterrichtsreihe nur vereinzelte Stimmen, die an dieser Schullektüre weniger Gefallen fanden. Dennoch birgt zumindest der zweite Teil des Romans für die Schüler einer Klasse 10 thematisch einige Hürden. So erscheint beispielsweise die Frage nach der Schuld, das heißt, nach dem Schuldigwerden, im Roman als komplizierte Angelegenheit. Dieser Tatsache muss bei den Überlegungen zur didaktischen Reduzierung des Stoffes sowie beim Nachdenken über eventuelle Schwierigkeiten und Lösungsmöglichkeiten Rechnung getragen werden. 1.3 Sachanalyse: Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser 1.3.1 Autor und Werk Als Schriftsteller ist Bernhard Schlink eine ungewöhnliche Persönlichkeit. Der am 06. Juli 1944 in der Nähe von Bielefeld geborene Sohn eines Theologieprofessors wächst in Mannheim und Heidelberg auf.58 Obwohl er als junger Mann Dichter werden will, geht er den bürgerlichen Weg und macht eine beachtliche Karriere: Er studiert Rechtswissenschaften in Heidelberg und Berlin, schreibt seine Dissertation zur „Abwägung im Verfassungsrecht“ und habilitiert sich sechs Jahre später mit einer Arbeit zum Thema „Die Amtshilfe. Ein Beitrag zu einer Lehre der Gewaltenteilung in der Verwaltung“. Schlink arbeitet zunächst als Professor für Verfassungsund Verwaltungsrecht in Bonn und Frankfurt und ab 1988 als Verfassungsrichter in NordrheinWestfalen. Seit 1990 ist er Professor für Öffentliches Recht, Völkerrecht und für Rechtsphilosophie an der Berliner Humboldt-Universität. Daneben lehrte er 1993 und 1997/98 an der Yeshiva-University in New York. Außerdem ist Bernhard Schlink noch wissenschaftlicher Fachautor und hat sich in seinem Fachbereich als Verfasser von Aufsätzen und Neubearbeitungen alter juristischer Fachbücher sowie als Mitherausgeber eines Standardkommentars zu den „Grundrechten“ einen Namen gemacht. Aber Bernhard Schlink ist auch Romanschriftsteller. Gefragt nach seinem Verhältnis zu dem juristischen Schreiben einerseits und dem literarischen Schreiben andererseits, antwortet er 58 Die folgenden biografischen Angaben fußen im Wesentlichen auf Schäfer, Dietmar: Bernhard Schlink, Der Vorleser. München: Mentor Verlag 2000, S. 22f. und Urban, Cerstin: Bernhard Schlink, Der Vorleser. Kommentare, Diskussionsaspekte und Anregungen für produktionsorientiertes Lesen. Hollfeld: Joachim Beyer Verlag 2000, S. 9ff. 18 in einem Interview des Saarländischen Rundfunks: „Mir hat das juristische Schreiben immer schon Spaß gemacht. Ich habe schon als Schüler, als Student geschrieben und dachte eine Zeitlang, meine Freude am Schreiben könnte sich im wissenschaftlichen Schreiben erfüllen. Das kann sie nicht. Insofern kann ich mir jetzt ein Leben ohne das literarische Schreiben nicht mehr vorstellen“59. Literarisch hat sich Schlink zunächst an Kriminalromanen erfolgreich versucht. Seinen ersten Roman, Selbs Justiz, um einen rund 70-jährigen pensionierten Staatsanwalt und Detektiv mit braungefärbter Vergangenheit, schrieb er1987 in Zusammenarbeit mit Walter Popp. Selb ist auch Hauptfigur in Selbs Betrug (1992) und Selbs Mord (2001). Im Berliner Tagesspiegel schreibt Dorothee Nolte über Schlinks „Selb-Romane“: „Es sind schwungvoll geschriebene, häufig witzige Romane, die – Ortskundige werden Straßen und Gebäude wiedererkennen – in Mannheim und Umgebung spielen; raffiniert gebaute Geschichten, in denen die politische Aktualität und die deutsche Vergangenheit präsent sind“60. Neben den „Selb-Romanen“ erschien 1988 der Kriminalroman Die gordische Schleife, für den er 1989 seine erste Auszeichnung erhielt: Den Autorenpreis deutschsprachiger Kriminalliteratur „Der Glauser“. 1993 folgte der Deutsche Krimi Preis des Bochumer Krimi Archivs für Selbs Betrug. Für Bernhard Schlink besteht – wie er in dem bereits erwähnten Interview beschreibt zwischen seiner Arbeit als Jurist und als Schriftsteller kein Widerspruch: „Ich habe mit Krimis angefangen, weil der Schritt vom Juristen zum Krimiautor der geringste war. Die Struktur ist hier wie da klar: Es gibt Probleme, und die Probleme müssen gelöst werden. Beim Nicht-Krimi ist das nicht mehr so klar. Aber es gibt auch beim Nicht-Krimi-Schreiben – beim Krimi ohnehin – Konsistenzanforderungen, Anforderungen an die Entwicklung und Entfaltung von Problemen. Vielleicht kann man noch ein Stückchen weitergehen und sagen: Juristen haben mit der Ordnung der Welt zu tun. Und Literatur hat ja auch mit der Ordnung der Welt zu tun.“61 Die Tatsache, dass Schlink hauptberuflich Jurist ist, spiegelt sich in verschiedener Hinsicht in seinen Texten wieder. Zum einen sind viele seiner Protagonisten Juristen62 oder haben im juristischen Milieu zu tun. Zum anderen wird inhaltlich – so auch in Der Vorleser – das Prinzip von Schuld und Sühne verfolgt. Juristische Denkweise ist allenthalben unübersehbar 59 Bernhard Schlink im Interview mit Dr. Ralph Schock am 12. 10. 1996 bei SR 2 Kulturradio (Vgl. Transkription, S. 6ff., im Anhang). 60 Dorothee Nolte im Berliner Tagesspiegel vom 24.04.1993. 61 Bernhard Schlink im Interview mit Dr. Ralph Schock am 12. 10. 1996 bei SR 2 Kulturradio (Vgl. Transkription, S. 6ff., im Anhang). 62 Zu nennen sind hier z. B. Selb, Michael (Der Vorleser), der Vater des Jungen aus der Erzählung Das Mädchen mit der Eidechse und der Junge selbst, der Professor für Völkerrecht aus der Erzählung Der Sohn u. a. (die genannten Erzählungen stammen aus dem 2000 erschienenen Band Liebesfluchten). 19 und wird von Lesern und Rezensenten ausdrücklich aufgenommen.63 In der Laudatio der Tageszeitung „Die Welt“ anlässlich der (erstmaligen!) Verleihung eines Literaturpreises für das literarische Werk eines Autors heißt es zu seinem Roman Der Vorleser: „Das Buch erzählt von der Hilflosigkeit juristischer Formeln auf die größte Katastrophe unserer Zeit.“64 Mit dem Roman Der Vorleser, mit dem Schlink erstmals außerhalb des Krimi-Genres schreibt, gelingt ihm im Jahre 1995 der ganz große Wurf in der Belletristik. Seit der Roman auch als Taschenbuch vorliegt, ist der Erfolg überwältigend. Bernhard Schlink erhält für den Roman mehrere literarische Auszeichnungen65 und der in ca. 27 Sprachen übersetzte Vorleser wird auch im Ausland sehr gut aufgenommen. Als erstes ausländisches Buch überhaupt schafft es The Reader, wie die englische Übersetzung heißt, zur Empfehlung in der Show der US-Talkmasterin Oprah Winfrey (mit täglich etwa acht Millionen Zuschauern), einem mächtigen Marktlenkungsinstitut in den USA. Und sogleich klettert es als erstes deutsches Buch an die Spitze der Bestsellerlisten der New York Times. Zudem schafft es Der Vorleser auf die Lektürelisten vieler ausländischer Universitäten und zahlreiche Diskussionsforen im Internet belegen, dass Schlink tatsächlich nicht nur gekauft, sondern auch gelesen wird. Schließlich soll der Roman von dem Regisseur und Oscar-Preisträger Anthony Minghella (Der englische Patient, Der talentierte Mr. Ripley) in Hollywood verfilmt werden.66 Woher nimmt Bernhard Schlink nun die Ideen für seine Romane, wie kommt er zu seinen Texten? Zu dieser Frage hat sich der Schriftsteller in mehreren Interviews geäußert, beispielsweise im Interview mit Dr. Ralph Schock: „Ich lebe beim Schreiben sehr in der Geschichte. Sie haben ja vorhin gefragt, wie lange mich diese Geschichte [Der Vorleser; Anmerkung von B. P.] begleitet hat. Und sie hat mich tatsächlich lange begleitet. Schübe, die das voran gebracht haben, waren oft Atmosphärisches. Als ich im Januar 1990 nach Ostberlin kam, das Grau der Straßen und Häuser sah, die Zäune – das hat viel an Fünfziger-Jahre-Erinnerungen wieder hochgebracht. Oder die neue Art, das Schuldproblem aufzuwerfen, hat dazu geführt, dass ich mich mit den Schuldproblemen des Romans beschäftigt habe. Es ist also so etwas 63 Vgl. hierzu auch die Art der Darstellung in Thomas Wirtz, Immer nur lebenslänglich. Bernhard Schlink verhängt Liebesstrafen. In: FAZ vom 12.02.2000. 64 Christoph Stölzl, Ich hab`s in einer Nacht ausgelesen. Laudatio auf Bernhard Schlink. In: „Die Welt“ vom 13.11.2000. Nachdem dieser Preis am 14.10.1999 erstmals verliehen wurde, wird er von da an jedes Jahr an Schriftsteller vergeben, welche mit ihrem Werk international große Anerkennung gefunden und zur Diskussion angeregt haben. 65 Neben dem bereits erwähnten Literaturpreis der Tageszeitung „Die Welt“ u. a. den „Stern des Jahres der Abendzeitung München“ (1995), den „Grinzane-Cavour-Preis“, Italien (1997), den "Hans-Fallada-Preis der Stadt Neumünster“ (1997), den „Prix Laure Bataillon“, Frankreich (1997) und die „Ehrengabe der Heinrich-HeineGesellschaft in Düsseldorf“ (2000). 66 Vgl. zu diesen Angaben Lamberty, Michael: Literatur-Kartei „Der Vorleser“. Zürich: Verlag an der Ruhr 1997, S. 5. 20 Atmosphärisches, ich entwickele und konstruiere nicht auf eine vielleicht ‚germanistisch korrekte Weise’“.67 Nach dem autobiografischen Gehalt seiner Werke und speziell des Vorlesers gefragt, antwortet Schlink gewöhnlich ausweichend bis irritierend-ironisch: „Wir [Schlink und der Interviewer; Anmerkung von B. P.] werden uns, wenn ich die Frage gestellt bekomme – und ich bekomme sie oft gestellt - , rasch einig, dass es darauf nicht ankommt. Im Übrigen ist mir einmal als Antwort eingefallen – und ich fand das ziemlich gut - , dass man nur über das schreiben kann, was man kennt, aber nicht einfach so schreibt, wie es war. So ist das. Man kann in der Tat nur über das schreiben, was man kennt, und man kennt sich eben besonders gut. Aber man kennt sich natürlich nicht nur so, wie man war, sondern auch, wie man sich gerne hätte, nicht gerne hätte, wie man manchmal zu sein befürchtet. Man kennt auch die anderen immer in dem, was sie sind und sein könnten. Daraus werden dann die Geschichten, die man schreibt.“68 1.3.2 Struktur des Romans Der Vorleser gliedert sich in drei Teile, die jeweils einem besonderen Lebensabschnitt des Protagonisten Michael Berg entsprechen.69 Teil I konzentriert sich auf die Beschreibung der Liebesbeziehung des 15 Jahre alten Michael Berg und der 36-jährigen Hanna Schmitz. Der erzählte Zeitraum erstreckt sich von Herbst 1958 bis in den Sommer 1959. Somit umspannt dieser Romanteil nur ein dreiviertel Jahr, obwohl er im Roman mit 80 Seiten den größten Raum einnimmt. Ort der Handlung ist vermutlich Heidelberg und Umgebung. Teil II beschreibt den Prozess, in dem Michael mit der Vergangenheit seiner Geliebten konfrontiert wird. Durch den Prozess wird die brutale Welt der Arbeits- und Vernichtungslager und die grausame Zeit des zu Ende gehenden Krieges vermittelt. Im Zuge der Befragungen wird Hannas geheimgehaltene Vergangenheit in der Zeit des Nationalsozialismus aufgedeckt. Michael erkennt jedoch auch den Grund für Hannas Entscheidung, KZ-Aufseherin zu werden, welcher nach langer Zeit auch die Erklärung für Hannas merkwürdiges Verhalten während ihrer Beziehung offenbart.70 Der zweite Teil umfasst zeitlich die Jahre 1959 bis 1966. Durch die Schilderung der Ereignisse während 67 Bernhard Schlink im Interview mit Dr. Ralph Schock am 12. 10. 1996 bei SR 2 Kulturradio (Vgl. Transkription, S. 3, im Anhang). Vgl. auch das Spiegel-Gespräch mit Bernhard Schlink: „Ich lebe in Geschichten“. In: Der Spiegel vom 24.01.2000. 68 Bernhard Schlink im Interview mit Dr. Ralph Schock am 12. 10. 1996 bei SR 2 Kulturradio (Vgl. Transkription, S. 7f., im Anhang). 69 Sowohl Teil I als auch Teil II umfassen 17 Kapitel, Teil III 12 Kapitel. 70 Gemeint ist Hannas Analphabetismus. 21 Hannas Dienst im Konzentrationslager entsteht eine zweite zeitliche Ebene, welche die chronologische Abhandlung der Geschehnisse unterbricht. Der zentrale Ort des zweiten Teils ist das Gerichtsgebäude in einer nahe Heidelberg gelegenen Stadt. Hier bieten sich „Assoziationen zu Frankfurt am Main als Ort der großen Ausschwitzprozesse in den Jahren 1963-1968 (1976)“71 an. In Teil III wird Michels Leben nach dem Prozess thematisiert. Da ihn seine und Hannas Vergangenheit nicht loslässt, scheitern seine Versuche einer „normalen“ und zufriedenen Existenz. Der erzählte Zeitraum erstreckt sich über 18 Jahre – so lange dauert die Gefangenschaft Hannas – und berichtet von Michels beruflichen Erfolgen, seinen persönlichen Problemen, die durch die frühe Prägung durch Hanna verursacht werden, seinen Kontakten mit Hanna mittels der Kassetten und von seinem Wunsch, in Distanz zu Hanna zu leben. Im letzten Kapitel, zehn Jahre später, hat der Erzähler beschossen, seine Erlebnisse niederzuschreiben: „[...] ich denke, dass sie stimmt und dass daneben die Frage, ob sie traurig oder glücklich ist, keinerlei Bedeutung hat. [...] Vielleicht habe ich unsere Geschichte doch geschrieben, weil ich sie loswerden will, auch wenn ich es nicht kann“.72 Jeder Teil ist schon durch den Neuanfang der Nummerierung der Kapitel als eigenständig und abgeschlossen gekennzeichnet. Das Erzählen folgt im Wesentlichen der Chronologie der Ereignisse, ist aber im Rückblick erzählt und enthält immer wieder Vorausdeutungen (z. B. S. 68), Einschübe und Unterbrechungen (vgl. S. 134 f., S. 84 u. a.). Die einzelnen Kapitel sind kurz und in sich abgeschlossen, selbst wenn der Chronologie der Ereignisse folgend weitererzählt wird. Der Lesbarkeit und Verständlichkeit des Romans dient die Tatsache, dass fast alle der insgesamt 46 Kapitel nur einen thematischen Schwerpunkt behandeln (z. B. das Haus in der Bahnhofstraße I, 2; Schule und MitschülerInnen I, 13; Besuch bei der Tochter, III, 11). Das Kapitelthema wird meist schon im ersten Satz angesprochen: „Ich sah Hanna im Gerichtssaal wieder.“ (S. 86); „Ende Juni wird das Urteil verkündet.“ (S. 156); „Am nächsten Morgen war Hanna tot.“ (S. 192). Auch die Kapitelenden resümieren oft das Dargestellte: „Die Odyssee ist die Geschichte einer Bewegung, zugleich zielgerichtet und ziellos, erfolgreich und vergeblich. Was ist die Geschichte des Rechts anderes!“ (S. 173); „Ein hochmütiger, verletzter, verlorener und müder Blick, der niemanden und nichts sehen will.“ (S. 157). Die drei Teile werden zum einen durch ein überleitendes erstes Kapitel, zum anderen durch Rückblicke und Vorausdeutungen sowie durch Leitmotive miteinander verknüpft. „Schlink hat darauf verzichtet, aus seinen zart angespielten Leitmotiven eine schlüssige Symphonie zu machen“, kommentiert Christoph Stölzl, der designierte Feuilletonchef der 71 72 Köster, 2000, S. 30. Der Vorleser, S. 206. 22 „Welt“ in der Laudatio auf Bernhard Schlink73 anlässlich der Preisverleihung der Zeitung dessen Umgang mit der Möglichkeit der Textverknüpfung und Bedeutungserweiterung. So fallen dem Leser eine Fülle von wiederkehrenden Begriffen oder Ausdrücken auf, die sich nicht immer ohne Weiteres zweifelsfrei deuten lassen. Hier hilft allerdings ein Blick auf das bisher vorliegende Werk Schlinks weiter, da auch in seinen Kriminalromanen und vor allem in seinem Erzählwerk Liebesfluchten nahezu alle Leitmotive aus dem Vorleser wieder auftauchen und häufig mit klareren Bedeutungszuordnungen versehen werden. Beispielsweise spielt die Odyssee von Homer eine besondere Rolle.74 Der Text erweist sich als Michaels Lieblingstext: „Wir übersetzten die Odyssee. Ich hatte sie auf deutsch gelesen, liebte sie und liebe sie bis heute.“75 Zunächst liest er sie als „Geschichte einer Heimkehr“76, und in dieser Lesart drückt sich Michaels Sehnsucht nach einem Zuhause aus, nach der Möglichkeit eines Endes von Irrfahrten und Abwegen. Aber der Glaube an eine Welt, die in einer guten „Ordnung angelegt ist“ und deshalb durch Gesetze und Paragrafen „auch in eine gute Ordnung gebracht werden kann“ und in der eine „Entwicklung zu mehr Schönheit, Wahrheit, Rationalität und Humanität“ möglich ist, erweist sich langfristig als falsch.77 Bei der erneuten Lektüre der Odyssee setzt er einen neuen Akzent und betont, dass Odysseus nicht zurückkehrt, „um zu bleiben, sondern um erneut aufzubrechen“78. Am Ende zieht er einen Vergleich zwischen Rechtsgeschichte und Odyssee und versteht schließlich beide als die „Geschichte einer Bewegung, zugleich zielgerichtet und ziellos, erfolgreich und vergeblich“79. In ihrem Nebeneinander von Gegensätzen entspricht diese Auffassung den Fahrten, Fluchten, Wegen und Reisen, die Michael im Laufe seines Lebens unternimmt und die durch die Art der Beschreibung und der Wortwahl leitmotivisch der Odyssee zugeordnet werden können. Damit verknüpft sind auch andere Leitmotive wie Bahnfahrten, Haus, Zuhause sein, Traum, Bild etc. Michael wird auf diese Weise selbst zum Suchenden, Herumreisenden, Heimkommenden und wieder Aufbrechenden, der schließlich letztlich wie der Protagonist in der Erzählung Der Andere80 feststellen muss: Christoph Stölzl, Ich hab`s in einer Nacht ausgelesen. Laudatio auf Bernhard Schlink. In: „Die Welt“ vom 13.11.2000. 74 Zu den „Bildern und Motiven“ in Schlinks Roman vgl. Köster, Juliane: Bernhard Schlink, Der Vorleser. München: Oldenbourg 2000, S. 89ff. 75 Der Vorleser, S. 66. 76 Ebd. S. 173. Diese Sichtweise deckt sich mit der klassischen Lesart: „Das nach der Ilias zweitälteste Werk der griechischen und abendländischen Literatur besingt in 24 Büchern die abenteuerlichen Irrfahrten und die glückliche Heimkehr des König Odysseus [...]“ (Kindlers Neues Literaturlexikon, Bd. 8, S. 25). 77 Der Vorleser, S. 173. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Der Andere. In: Schlink, Bernhard: Liebesfluchten. Zürich: Diogenes 2000, S. 97-149. 73 23 „Nein, er hatte nichts abgeschlossen. Er war auch nirgendwo angekommen, weder unten, wo er wieder von vorne anfangen konnte, noch in seinem alten Leben noch in einem neuen.“81 Was die Protagonisten in Schlinks Romanen antreibt und was bleibt, ist die „Sehnsucht danach, nach Hause zu kommen“82. 1.3.3 Erzählperspektive, Sprache und Erzählstil Die gesamte Handlung des Romans wird konsequent aus der Perspektive Michael Bergs erzählt. Der Ich-Erzähler berichtet aus großer zeitlicher Distanz, indem er sich als gereifter Mann in die Situation der Nachkriegszeit zurückversetzt. In dieser Position kommentiert er auch sein früheres Verhalten, so dass ein deutlicher Unterschied zwischen dem erlebenden und dem erzählenden Ich erkennbar wird. Die Distanz zwischen erlebendem und erzählendem Ich lässt sich beispielsweise an folgender Textpassage nachvollziehen: „Ich gewöhnte mir ein großspuriges, überlegenes Gehabe an, ich präsentierte mich als einen, den nichts berührt, erschüttert, verwirrt. Ich ließ mich auf nichts ein, und ich erinnere mich an einen Lehrer, der das durchschaute, mich darauf ansprach und den ich arrogant abfertigte. [...] Ich erinnere mich daran, dass ich angesichts kleiner Gesten liebevoller Zuwendung einen Kloß im Hals spürte, ob die Gesten mir galten oder jemand anderem. [...] Dieses Nebeneinander von Kaltschnäuzigkeit und Empfindlichkeit war mir selbst suspekt.“83 Michael schildert hier seine Gefühle und Verhaltensweisen gegenüber seiner Umwelt nach der schmerzhaften Trennung von Hanna. An dieser Stelle wird ein „Einblick ins Innere des erlebenden Ichs“ 84 gegeben. Im Anschluss kommentiert das erzählende Ich eben dieses Verhalten mit folgenden Worten: „Dass ich mich nach solchem Verhalten gut gefühlt haben soll, ist mir schwer vorstellbar.“85 Auf diese Weise produziert der Autor ein Spannungsfeld zwischen erlebendem und erzählendem Ich, in dem es zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten des Ich-Erzählers kommt.86 Bei allem geschickten Umgang mit erzähltechnischen Mitteln arbeitet Schlink „nicht für die Kritiker, sondern für die Leser“87. Diesem Anspruch entsprechend arbeitet er mit einer einfachen, leicht verständlichen Sprache, die sich auf das Wesentliche konzentriert. Auf diese 81 Ebd. S. 142. Der Vorleser, S. 200. 83 Ebd. S. 84 f. 84 Köster, 2000, S. 69. 85 Der Vorleser, S. 85. 86 Vgl. Köster, 2000, S. 69. 87 Vgl. Krause, Tilmann: Welt – Literaturpreis für Schlink. Liebe zu guten Geschichten: Ein Porträt des Berliner Schriftstellers. In: „Die Welt“ vom 16.10.1999. 82 24 Weise behandelt er die an sich schwierige Thematik des Romans überaus fesselnd auf nur 200 Seiten und erreicht damit eine ungeahnt große Leserschaft. Obwohl seine Knappheit in der Sprache mehrmals von Kritikern negativ beurteilt wurde, so liegt gerade darin ein großer Vorzug. Durch die Erzählperspektive und die Einfachheit der Sprache kann sich der Leser in Michaels Rolle begeben. Gemeinsam mit ihm erlebt er die Geschehnisse, so dass Identifikation möglich wird. Des Weiteren erzeugt Schlink mit diesen Mitteln den Eindruck von Authentizität und erreicht damit ein erstaunliches Ergebnis: Die meisten Leser des Vorlesers glaubten, eine „wahre Geschichte“ miterlebt zu haben.88 Der Autor erreicht in vielen Passagen eine große emotionale Wirkung, da er den Leser unmittelbar an das Geschehen heranzuführen vermag. Aus diesem Grund überwiegt auch bezüglich Schlinks Sprachstil das positive Echo: „Mit kurzen Sätzen, in sprachlicher Sebstbescheidung, nüchtern und doch nicht ohne Poesie formuliert der Autor ein schonungsloses Gefühlsprotokoll, ein analytisches Selbstgericht, die aufrührende Geschichte einer Liebe.“89 Doch es lassen sich noch weitere stilistische Besonderheiten ausmachen, die am Erfolg des Buches maßgeblich beteiligt sind. Wie bereits erwähnt, fassen viele Kapitelanfänge und –enden die Thematik des Kapitels zusammen und wecken Spannung und Neugierde – man will wissen, was dahinter steckt, erwartet eine Auflösung (z. b. „Ich sah Hanna im Gerichtssaal wieder“, S. 86). Sentenzen verallgemeinern das Erlebte oder Reflektierte: „Die Schichten unseres Lebens ruhen so dicht aufeinander auf, dass uns im Späteren immer Früheres begegnet, nicht als Abgetanes und Erledigtes, sondern gegenwärtig und lebendig“, S.206; „Analphabetismus ist Unmündigkeit“, S. 178. Scheinbar einfache Erlebnisse erhalten durch diese Sentenzen einen „komplexen Zusammenhang“ und „eine philosophische Dimension“90. Wie Helmut Moers analysiert hat, bleibt die Sprache Bernhard Schlinks zwar „durchgehend präzise, doch einfach wirkt sie nur auf den ersten Blick. Denn schnell fällt bei aller Genauigkeit das sprachliche Herantasten an das Geschehen auf“91. Ein besonders auffallendes Stilmittel ist die Verwendung von Fragen: „Es handelt sich um Fragen, die die Problematik genau aufwerfen und die der Erzähler sich und dem Leser zum Teil beantwortet“92. Andere Fragen werden nicht beantwortet und beziehen sich häufig auf existenzielle Zusammenhänge: „Aber warum hätte ich ihr einen Platz in meinem Leben 88 Vgl. Möckel, Magret: Erläuterungen zu Bernhard Schlink. Der Vorleser. Hollfeld: Bange 2001, S. 83 (=Königs Erläuterungen und Materialien, Band 403). 89 Wandrey, Ute: Frau mit Peitsche. Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ – Protokoll der Gefühle. In: Das Sonntagsblatt vom 15.12.1995. 90 Moers, Helmut: Bernhard Schlink, Der Vorleser. Freising: Stark 1999, S. 38. 91 Ebd. 92 Ebd. S. 39. 25 zubilligen sollen?“ (S. 187); „Wo blieb ich?“ (S. 190). Diese Fragen wirken lebensnah und bieten dem Leser die Möglichkeit zur Identifikation: „Geht das allen so?“ (S. 64). Laut Moers drücken die Fragen „vielfach die Unsicherheit des Erzählers in der Beurteilung und Bewertung der Vorgänge aus“93. Auch dadurch ist er dem Leser näher. In poetisch ausgefeilten Textteilen (vgl. z. B. die Fieberphantasien des jungen Michael, S.19f.) arbeitet Schlink mit Kontrasten, Alliterationen, Metaphern, Parallelismen und Aufzählungen.94 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass neben der interessanten Thematik Erzähltechnik und Sprache wesentlich für den großen Erfolg des Vorlesers verantwortlich sind: „Der Stil ist einerseits knapp, präzise, prägnant und damit gut verständlich, andererseits einfühlsam durch das Sich-Heranschreiben, das Einkreisen, um die treffendsten Formulierungen neben gleichzeitig ähnlich treffenden zu finden – die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit verbietet nur eine Formulierung [...] Durch diese Technik wird eine große Anschaulichkeit erreicht und der Leser kann sich identifizieren, mitfühlen, mitleiden und ist aufgefordert, die gestellten Fragen zu beantworten.“95 1.3.4 Die zentralen Themen Während die Themen „Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust“ und „Schuldproblematik“ eng mit der Beziehung von beiden Protagonisten verknüpft sind, sind die Themen „Adoleszenz“ und „Analphabetismus“ mit jeweils einem der beiden Protagonisten verbunden: „Adoleszenz“ mit Michael Berg, „Analphabetismus“ mit Hanna Schmitz.96 Wie Köster richtig festgestellt hat, „interpretiert der Roman Adoleszenz und Analphabetismus [auf unterschiedlichen Ebenen] als Erscheinungsformen der Unreife. Damit wäre komplementär das Motiv des Reifens verbunden.“97 1.3.4.1 Adoleszenz Die enge Verbindung von Adoleszenz und Identitätsbildung (vgl. Kap. 1.2.2) wird im Vorleser überzeugend vorgeführt. Der Leser lernt Michael Berg in den verschiedenen Phasen seines Lebens kennen - als Schüler, Student, Referendar und schließlich Jurist. Insofern kann der Roman auch als Entwicklungsroman gelesen werden, welcher die zentralen Stationen im Leben eines jungen Mannes beschreibt: 93 Ebd. S. 40. Auf eine genaue Beschreibung und Analyse dieser rhetorischen Mittel muss an dieser Stelle verzichtet werden. Verwiesen sei aber auf folgende Lektürehilfen: Moers, 1999, S. 38ff. und Möckel, 2001, S. 55ff. 95 Moers, 1999, S. 42. 96 Vgl. Köster, 2000, S. 45. 97 Ebd. 94 26 (1) Sexuelle Initiation und Abschied von den Eltern (2) Lehr- und Wanderjahre der Studienzeit (3) Existenzgründung. Jeder dieser Anfänge ist mit einem Widerhaken versehen, sodass eine unproblematische Entwicklung verhindert wird. Gestört werden diese Anfänge durch die intime Nähe des jungen Mannes nicht nur zur Generation der Täter, sondern zu einer veritablen Täterin.“98 Der 15-jährige Michael Berg ist zunächst ein typischer Jugendlicher seines Alters: Er sucht seine Identität. Seine sexuellen Wünsche, Träume und Nöte sind kennzeichnend für sein Alter und ebenso seine Loslösung von einer scheinbar heilen Familie. Seine sexuellen Phantasien, die ihn nachts wie tags verfolgen, nimmt er als Unrecht und Sünde war.99 Die Mutter, die große Schwester und der Pfarrer sind dabei Michaels moralische Instanzen. Seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Hanna erregen und beschämen ihn zugleich. Diese innere Zerrissenheit findet sich auch in seinem Verhältnis zu seiner Familie: Wie in der Phase der Pubertät üblich, wechseln sich Protesthaltung und Sehnsucht nach familiärer Geborgenheit ab. Das Erlebnis mit Hanna gewinnt für Michael die Dimension einer lebensbestimmenden Initiation. Es leitet die Adoleszenz ein, ohne nur vorübergehend relevant zu sein. Michael erprobt mit Hanna nicht nur eine – zunächst vor allem sexuell dominierte – Beziehung, wie es typisch für das Jugendalter ist, sondern begibt sich in eine völlige Fixierung auf diese eine Frau. Nach der ersten sexuellen Begegnung verliebt er sich in sie.100Bezeichnenderweise erinnert sich Michael nach dem Erlebnis in Hannas Wohnung an ein Gefühl seiner Kindheit: an den Genuss, von der Mutter gebadet und anschließend angekleidet zu werden.101 Die Empfänglichkeit Michaels für das Ritual des Badens, das er mit Hanna zu teilen beginnt, wird dadurch transparent, gleichzeitig wird deutlich, dass Hanna als Geliebte die Mutter ablöst. Hier könnte eine Grundannahme Freuds literarisch inszeniert sein, nämlich dass die Wahl des Liebesobjektes eines jungen Mannes in Einklang mit dem kindlichen Erinnerungsbild der Mutter steht, d. h. dass die infantile Neigung zur Mutter die Wahl des ersten Sexualobjektes determiniert. Als Michael von Hanna nach Hause kommt, hat sich die Wahrnehmung der eigenen Familie verändert: Köster, Juliane: Bernhard Schlink: „Der Vorleser“ (1995) – Eine Interpretation für die Schule. In: Der Deutschunterricht 4/1999, S. 70 – 81, hier S. 73. 99 Der Vorleser, S. 20f. 100 Vgl. Ebd. S. 28. 101 Vgl. Ebd. S. 28 f. 98 27 „Ich fühlte mich wie bei einem Abschied. Ich war noch da und schon weg. Ich hatte Heimweh nach Mutter und Vater und den Geschwistern, und die Sehnsucht, bei der Frau zu sein.“102 Die Familie Berg wird im Rahmen jenes Abendessens porträtiert, währenddessen Michael seinen Abschied von der Familie vollzieht. Der Vater ist Universitätsprofessor für Philosophie, dessen Leben in erster Linie „Denken und Lesen und Schreiben und Lehren“ 103 ist. Demgegenüber sehnt sich der Ich-Erzähler danach, für den Vater wichtig zu sein, im Zentrum seines Lebens zu stehen. Jedoch hat er den Eindruck, dass der Vater seine Familie wie Haustiere betrachtet104 und das wirkliche Leben des Vaters „anderswo“105 ist. Haushalt und Kinder sind dagegen die Domäne der Mutter106 und obwohl die Mutter fürsorglich ist, bleibt das Verhältnis zu ihr eher distanziert. So spielt der Vater auch noch für den Jurastudenten als Gesprächspartner eine wichtige Rolle, während die Mutter mehr und mehr in den Hintergrund rückt. Die ältere Schwester wird als Vertraute bezeichnet, was allerdings im Roman nicht konkretisiert wird. Die jüngere Schwester nennt Michael frech, zum älteren Bruder ist die Beziehung eher problematisch, denn zwischen den Brüdern herrscht ein permanenter Konkurrenzkampf. In der Beziehung zu Hanna erfährt Michael also einen erheblichen Schub in seiner psychosozialen Entwicklung. Der Junge, der „zu lange Arme und zu lange Beine“ hat, von den Lehrern nicht wahrgenommen wird und nicht zu den Schülern gehört, „die in der Klasse den Ton“ angeben107, beginnt, sich mit sich selbst anzufreunden: „Ich staune, wie viel Sicherheit Hanna mir gegeben hat. Mein Erfolg in der Schule ließ meine Lehrer aufmerken und gab mir die Sicherheit ihres Respekts. Die Mädchen, denen ich begegnete, merkten und mochten, dass ich keine Angst vor ihnen hatte. Ich fühlte mich in meinem Körper wohl.“108 In den Empfindungen des Fünfzehnjährigen zeigt sich deutlich, dass „das sich bildende Identitätsgefühl als psychosoziales Wohlbefinden erlebt wird“109. Doch weder die sexuelle Intimität und Harmonie110, noch das psychosoziale Wohlgefühl entwickeln sich stetig weiter. Für Michael wird die Peer-group altersentsprechend wichtig und tritt in offensichtliche Konkurrenz zur isolierten Paarbeziehung: 102 Ebd. S. 32. Der Vorleser, S. 31. 104 Vgl. Ebd. 105 Ebd. 106 Die Ehe der Eltern weist die typische Rollenverteilung der 50iger Jahre auf. 107 Der Vorleser, S. 39. 108 Ebd. S. 41. Die Lehrer werden aufmerksam, als Michael die Versetzung trotz negativer Vorzeichen schafft. Michel erfüllt damit eine unerbittliche Forderung Hannas: „;Raus aus meinem Bett. Und komm nicht wieder, wenn du nicht deine Arbeit machst. [...]’“ (Der Vorleser, S. 36). 109 Köster, 2000, S. 46. 110 Vgl. Der Vorleser, S. 57. 103 28 „Sie wusste, dass mein Leben im Sommer nicht mehr nur um sie, die Schule und das Lernen kreiste. Immer öfter kam ich, wenn ich am späten Nachmittag zu ihr kam, aus dem Schwimmbad. Dort trafen sich die Klassenkameradinnen und –kameraden [...] es bedeutete mir viel, dabei zu sein und dazuzugehören. [...] Ob ich lieber im Schwimmbad wäre als bei Hanna, habe ich mich lange nicht zu fragen gewagt.“111 Da er die Beziehung mit Hanna nicht nur vor der gesamten Peer-group, sondern auch vor seiner Mitschülerin Sophie112 verheimlicht, tritt neben sein neu gewonnenes Selbstbewusstsein ein Schuldgefühl, das er als Ergebnis jener „Halbherzigkeit“ interpretiert, „aus der heraus [er] sie verleugnet, verraten“ zu haben glaubt.113 Die durch das plötzliche Ende der Beziehung ausgelöste Erschütterung im Bereich der Sexualität und Partnerschaft hat nicht nur Rückwirkung auf seine spätere Ehe und seine weiteren Beziehungen zu Frauen, sondern auch auf die Bereiche der Arbeit und des sozialen Lebens. Als junger Erwachsener fällt es Michael schwer eine Arbeitsidentität zu entwickeln. Mit der anstehenden Berufswahl tut er sich schwer und sieht sich in „keiner der Rollen, in denen [er] Juristen beim Prozess [...] erlebt“114 hat. Endlich findet er seinen Platz im Fachbereich Rechtsgeschichte, den er selbst als Flucht interpretiert: „Ich floh und war erleichtert, fliehen zu können. [...] der ersten Flucht folgte die nächste, als ich von der Universität an eine Forschungseinrichtung wechselte und dort eine Nische suchte und fand, in der ich meinen rechtsgeschichtlichen Interessen nachgehen konnte, niemanden brauchte und niemanden störte.“115 Schwerer wiegen jedoch seine deutlichen Probleme im sozialen Bereich. Anders als der Schüler, für den die Peer-group noch große Bedeutung hatte, vermeidet der Student nach dem Prozess Kontakte und stößt die wenigen Bekannten, die ihn ansprechen, grob zurück.116 Der Erzähler sieht sich rückblickend als „im Dissens mit seiner Generation“ und „realisiert die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auf der Ebene der privaten Rechenschaft und der des juristischen Urteils“.117 Er bleibt „in kritischer Distanz [...] zur ethischpolitischen Aufarbeitung durch seine Generation“118. Köster interpretiert sowohl Michaels riskante Neigung zu „Stürze[n] und Brüche[n]“119 als auch den Verlust der schützenden Temperaturwahrnehmung als „latente[n] Todeswunsch“ 111 Ebd. S. 70. Seine Mitschülerin Sophie erscheint ihm zeitweilig als gleichaltrige Alternative zu Hanna. 113 Ebd. S. 80. 114 Ebd. S. 171. 115 Ebd. S. 172. 116 Vgl. Ebd. S. 159. 117 Vgl. Köster, 2000, S. 48. 118 Ebd. 119 Der Vorleser, S. 159. 112 29 und diesen wiederum als „Prolongierung der Adoleszenz ins frühe Erwachsenenalter bzw. als Hinweis auf drohende Identitätsdiffusion“.120 1.3.4.2 Die Beziehung zwischen Hanna und Michael Im ersten Teil von Bernhard Schlinks Roman steht die Beziehung zwischen Hanna und Michael im Vordergrund. Zufällig begegnet Hanna dem 15-jährigen Gymnasiasten auf der Straße. Der an Gelbsucht erkrankte Michael muss sich übergeben und Hanna nimmt sich seiner an und hilft ihm. Als er wieder gesund ist, schickt Frau Berg ihren Sohn mit einem Blumenstrauß zu der fremden Frau. Das ist der Beginn ihrer folgenreichen Beziehung. Der Ich-Erzähler gibt eine genaue Beschreibung seiner Geliebten: „Sie hatte ihr schulterlanges, aschblondes Haar im Nacken mit einer Spange gefasst. Ihre nackten Arme waren blass. [...] Hohe Stirn, hohe Backenknochen, blassblaue Augen, volle, ohne Einbuchtung gleichmäßig geschwungene Lippen, kräftiges Kinn. Ein großflächiges, herbes, frauliches Gesicht.“121 Doch es ist weniger Hannas Schönheit, die den 15-jährigen anzieht - Hanna fasziniert ihn in ihrer selbstverständlichen Weiblichkeit und Körperlichkeit, die sexuelle Anziehung ist Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach Behaustsein, nach Trost, nach Geborgenheit: „Jahre später kam ich drauf, dass ich nicht einfach um ihrer Gestalt, sondern um ihrer Haltungen und Bewegungen willen die Augen nicht von ihr hatte lassen können. [...] Ich erinnere mich, dass ihr Körper, ihre Haltungen und Bewegungen manchmal schwerfällig wirkten. Nicht dass sie so schwer gewesen wäre. Vielmehr schien sie sich in das Innere ihres Körpers zurückgezogen, diesen sich selbst und seinem eigenen, von keinem Befehl des Kopfs gestörten ruhigen Rhythmus überlassen und die äußere Welt vergessen zu haben. Dieselbe Weltvergessenheit lag in den Haltungen und Bewegungen, mit denen sie die Strümpfe anzog. Aber hier war sie nicht schwerfällig, sondern fließend, anmutig, verführerisch – Verführung, die nicht Busen und Po und Bein ist, sondern die Einladung, im Innern des Körpers die Welt zu vergessen.“122 Für den Charakter der Beziehung und deren Entwicklung ist es bezeichnend, dass Michael Hanna zunächst nur anonym als „Frau“ bezeichnet. Sie steht für das Weibliche schlechthin und wird erst nach und nach als Person wahrgenommen. Im Verlauf der Beziehung mit Hanna wird aus einem mit seiner pubertären Unsicherheit kämpfenden, unauffälligen, sich seines Körpers schämenden Jungen ein Mann, der an Ich-Stärke gewinnt und erwachsen wird. Während die 36-jährige Hanna den Jungen zunächst sexuell bindet, bindet Michael sie durch das Ritual des Vorlesens an sich: Die Rollenverteilung ist zu Beginn der Beziehung komplementär. Wie selbstverständlich nimmt Hanna von Michael Besitz 120 Köster, 2000, S.48. Der Vorleser, S. 14. 122 Ebd. S. 17 f. 121 30 und lehrt ihn die körperliche Liebe, im Gegenzug liest er ihr vor und entführt sie in die Welt der Literatur und des Theaters. Dabei ist sie es, die die Spielregeln ihrer Begegnungen bestimmt: „Vorlesen, duschen, lieben und noch ein bisschen beieinander liegen – das wurde das Ritual unserer Treffen.“123 Hanna besteht auf die Reihenfolge Lieben nur nach Vorlesen sowie nach einer zwanghaft anmutenden Reinigung. Für die Deutung der Beziehung enthält das Ritual eine Schlüsselfunktion: „Das Element des Wassers als Mittel der Reinigung bzw. Erneuerung und als Medium der Initiation steht am Beginn der Beziehung und erhält im Ritual besondere Bedeutung.“124 Wird bei der Taufe der Sieg des Lebens über den Tod symbolisch inszeniert, so erhält Michael bei Hanna seine Taufe als Mann. Die trennenden Realitäten jenseits ihres Liebesrituals, den Altersunterschied sowie das soziale Gefälle, schließen Hanna und Michael aus ihrer Beziehung aus. Der 15-jährige Gymnasiast ist Sohn eines Professors und lebt in der Welt der Bücher, Biedermeiermöbel und klassischer Musik. Die 36-jährige Hanna hingegen ist Straßenbahnschaffnerin und lebt in einer sparsam möbilierten Wohnung ohne persönlichen Besitz. Als bedeutsam für ihre Beziehung erweist sich die Tatsache, dass Hanna Analphabetin ist (Vgl. Kap. 1.3.4.3). Eine wichtige Ebene der Verständigung bildet das Vorlesen in der Beziehung. Von beiden gemeinsam wird eine wesentliche Funktion der Literatur wahrgenommen, nämlich die Entdeckung und Öffnung einer anderen Welt, die man „staunend“ betritt.125 Michael betont das Verbindende, das sich z. B. durch die „ferne Reise“126 in Tolstois Welt entwickelt.127 Dadurch entsteht im Laufe der Zeit eine sehr persönliche Art der Verständigung über Literatur, wie sie unter Vertrauten, die viel gemeinsam erlebt haben, möglich ist: „Ihre Bemerkungen über Literatur trafen oft erstaunlich genau. ‚Schnitzler bellt, Stefan Zweig ist ein toter Hund’ oder ‚Keller braucht eine Frau’ [...] Da sie über Autoren nichts wusste, setzte sie sie als Zeitgenossen voraus, solange es sich nicht eindeutig verbot. Ich war verblüfft, wie viel ältere Literatur sich in der Tat lesen lässt, als sei sie heutig, und wer nichts über Geschichte weiß, kann erst recht in den Lebensumständen früherer Zeiten einfach die Lebensumstände ferner Gegenden sehen.“128 Gleichzeitig verdeckt das Vorlesen jedoch die Unfähigkeit oder die mangelnde Bereitschaft, auf andere Weise zu kommunizieren: „Das Vorlesen war meine Art, zu ihr, mit ihr 123 Ebd. S. 43. Köster, 1999, S. 73. 125 Vgl. zum Beispiel Hannas Verhalten in der Bibliothek von Michaels Vater: „Sie ließ ihren Blick über die Bücherregale wandern, die die Wände füllten, als lese sie einen Text. Dann ging sie zu einem Regal, fuhr in Brusthöhe mit dem Zeigefinger der rechten Hand langsam die Buchrücken entlang, ging zum nächsten Regal, fuhr mit dem Finger weiter, Buchrücken um Buchrücken, und schritt das ganze Zimmer ab.“ (Der Vorleser, S. 60 f.) 126 Der Vorleser, S. 68. 127 In diesem Zusammenhang lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie viel Zeit mit dem Vorlesen und dem Zuhören verbracht wird. Allein Tolstois Roman wird mit vierzig bis fünfzig Stunden veranschlagt (Vgl. S. 68). Die Liste der vorgelesenen Texte ist nicht vollständig, aber schon so kann man die immense Zeitdauer abschätzen. 128 Der Vorleser, S. 179. 124 31 zu sprechen.“129. Bernhard Schlink selbst bezeichnet in einem Interview das Vorlesen in der Beziehung als „Äquivalent für das Reden. Für ihn und wohl auch für sie.“ 130 So wird gleichzeitig Nähe und Distanz erzeugt. Dem scheinbar Nicht - Kommunizierbaren geben die beiden Liebenden keinen Raum – jeder hält etwas vor dem anderen verborgen: „Seitens des Ich-Erzählers ist es die Beziehung selbst (vgl. S. 72ff.), aus Hannas Warte ist es ihr Verbrechen, das mit ihrem Gebrechen, dem Analphabetismus, auf problematische Weise verquickt ist (vgl. S. 40).“131 Doch nach einer kurzen Zeit des Glücks bricht sich das von Hanna und Michael Verdrängte und Unausgesprochene Bahn. Die bei beiden vorhandenen Ängste, verlassen und verletzt zu werden, führen zu Machtkämpfen, in denen sich zunächst Michael als der emotional abhängigere, immer wieder demütigt, aus Angst, Hanna zu verlieren. Eine Schlüsselstelle ist hier die Schilderung einer Straßenbahnfahrt, bei der Michael in den zweiten Wagen einsteigt, worauf Hanna irritiert reagiert: Hat Hanna Angst, dass Michael sie in der Öffentlichkeit nicht kennen will? Oder reagiert sie umgekehrt empfindlich, weil Michael die Trennung der Bereiche Ritual und Alltag verletzt und in ihren Arbeitsalltag eindringt? Ist es doch zunächst Hanna, die das Gesetz der Trennung des Liebesrituals vom Alltag bestimmt: „Ich habe nie erfahren, was Hanna machte, wenn sie weder arbeitete noch wir zusammen waren. Fragte ich sie danach, wies sie meine Frage zurück. Wir hatten keine gemeinsame Lebenswelt, sondern sie gab mir in ihrem Leben den Platz, den sie mir geben wollte.“132 Weil Hanna nicht auf Michaels Anwesenheit im Wagen reagiert, steigt Michael seinerseits wütend und verletzt aus. Als beide am Nachmittag über die morgendliche Straßenbahnfahrt sprechen, gelingt es ihnen nicht, das Missverständnis aufzulösen. Michael nimmt schließlich alle Schuld auf sich, um die Beziehung nicht zu gefährden. Auf das Gefühl des Verratenwerdens, der Verlassenheit und Einsamkeit reagiert Michael mit Betteln um Hannas Liebe. Zunächst scheint sich dies als Muster zu etablieren: Michael weint, bettelt um Liebe, erniedrigt sich, kapituliert, während Hanna erkaltet, sich verschließt, die Unverletzliche und Unberührbare mimt: „Ich konnte mit ihr nicht darüber reden. Das Reden über unser Streiten führte nur zu weiterem Streit. Ein- oder zweimal habe ich ihr lange Briefe geschrieben. Aber sie reagierte nicht, und als ich nachfragte, fragte sie zurück: ‚Fängst du schon wieder an?’“133 129 Ebd. S. 180. Bernhard Schlink im Interview mit Dr. Ralph Schock bei SR 2 Kulturradio am 12. Oktober 1996 (Vgl. Transkription im Anhang, S. 2). 131 Der Vorleser, S. 74. 132 Ebd. S. 75. 133 Ebd. S. 50. Im Interview mit Ralph Schock analysiert Bernhard Schlink selbst die Beziehung von Hanna und Michel wiefolgt: „In Lesungen wurde immer wieder die Frage gestellt, ob das denn eine ‚richtige Liebe’ sein könne. Nein, es war eine richtige Liebe, und darüber ein negatives Urtel zu fällen, liegt mir ganz fern. Ich denke aber, dass er dieser 130 32 Als Hanna jedoch eine Situation auf einer gemeinsamen Fahrradtour missversteht und sich verlassen glaubt134, wird deutlich dass ihre Unabhängigkeit nur mühevoll aufgebaute Fassade ist, dass sich dahinter eine Frau verbirgt, die Angst hat, verletzt, verlassen und gedemütigt zu werden – denn nun wechseln die Rollen und es ist Hanna, die sich schwach, bedürftig und anschmiegsam zeigt: „Sie machte zwei Schritte zu mir, warf sich an meine Brust, schlug mit den Fäusten auf mich ein, klammerte sich an mich. Jetzt konnte ich sie halten. Ihre Schultern zuckten, sie schlug mit der Stirn an meine Brust. Dann seufzte sie tief und kuschelte sich in meine Arme.“135 Es wird deutlich, dass Hanna ihre Macht über Michael immer wieder ausspielt, um sich in der Illusion zu wiegen, ihrer Gefühle mächtig zu sein. Im weiteren Verlauf ihrer gemeinsamen Geschichte emanzipiert sich Michael zusehends von Hanna, er orientiert sich zunehmend an seinen Altersgenossen und interessiert sich für die gleichaltrige Sophie: „Der Sommer war der Gleitflug unserer Liebe. Oder vielmehr meiner Liebe zu Hanna; über ihre Liebe zu mir weiß ich nichts.“136 Vor seinen Freunden hält er die Beziehung zu Hanna geheim. Dieses Verhalten deutet der Ich-Erzähler rückblickend als „Verrat“, als „Verleugnen“137, obwohl er mit seinem Verhalten dem „Gesetz der Beziehung, der Trennung von Ritual und Lebenswelt“138 entspricht. Eines Tages verlässt Hanna Michael und verschwindet spurlos. Die Gründe für ihr Verhalten bleiben zunächst offen. Geht Hanna, bevor sich Michael weiter von ihr entfernt, flieht sie, damit Michael ihrem Geheimnis nicht auf die Spur kommt? Sieht sie die Perspektivlosigkeit der Beziehung zweier Menschen aus völlig unterschiedlichen Lebenswelten? 1.3.4.3 Analphabetismus Was die Themen Adoleszenz und Analphabetentum miteinander verbindet ist das Merkmal fehlende Mündigkeit. Während es sich jedoch bei der Adoleszenz „um eine natürliche Entwicklungsphase [handelt], an deren Ende das Erwachsensein steht, so ist das Analphabetentum ein zivilisatorischer Mangel, dessen Überwindung ungewiss ist“139. Hanna ist vollständige Analphabetin, d. h. sie kann weder lesen noch schreiben. Ihr gesamter Lebensweg ist bestimmt von ihrer Disposition als Analphabetin, ein Defizit, das sie Liebesbeziehung in gewisser Weise nicht gewachsen war, dass sie ihn überwältigt hat. Er schafft es nicht, sich in dieser Beziehung Hanna gegenüber zu definieren. Sie weist seine Versuche, das zu tun, rasch in ihre Schranken; also eine ganz asymmetrische Beziehung. [...]“ (Vgl. Interview mit Dr. Ralph Schock im Anhang, S. 4). 134 Vgl. Ebd. S. 54 ff. (Hotelszene). 135 Ebd. S. 55. 136 Ebd. S. 67. 137 Ebd. S. 72. 138 Vgl. Köster, 1999, S. 74. 139 Köster, 2000, S. 49 f. 33 krampfhaft zu verbergen sucht. Bis Michael Hannas Geheimnis entdeckt, finden sich in ihrem Verhalten jedoch zahlreiche Hinweise auf ihre Schwäche140: Hanna hat Michaels Namen auf seinen Schulheften nicht gelesen. (S. 35) Sie reagiert nicht auf seine Briefe. (S. 50) Sie überlässt ihm die Wahl der Routen, der Hotels, der Speisen auf der Fahrradtour. (S. 52 ff.) Sie gibt im Hotel vor, den Zettel von Michael nicht gefunden zu haben. (S. 54 f.) Sie ist äußerst fasziniert von den Büchern im Arbeitszimmer von Michaels Vater und möchte, dass ihr Michael daraus vorliest. (S. 60 f.) Sie trifft eine seltsam wahllose Auswahl von Kinofilmen. (S. 76) Sie zeigt Anzeichen von starker Anspannung. (S. 76) Sie hält Termine auf schriftliche Vorladung nicht ein. (S. 94) Sie will im Prozess nicht auf die Verlesung des den Angeklagten vorher zugesandten Manuskriptes des Buches der Tochter verzichten. (S. 104) Sie reagiert sicht- und hörbar verwirrt im Zusammenhang mit dem Protokoll ihrer richterlichen Vernehmung. (S. 105) Erst während des Prozesses entdeckt Michael das gut gehütete Geheimnis seiner ehemaligen Geliebten: „Hanna konnte nicht lesen und schreiben“141. Hannas Lebensweg wird von ihrem Bemühen bestimmt, ihren Analphabetismus zu vertuschen. Sie reagiert durch Ignorieren oder erfindet Begründungen für ihr Tun. Immer wieder lässt sie sich im Laufe ihres Lebens vorlesen, schon im KZ von weiblichen Häftlingen, dann von dem jungen Michael und schließlich während der Haft mittels Kassetten, die Michael für sie besprochen hat. Um ihr Analphabetentum zu verbergen, wird sie KZ-Aufseherin, denn sie sollte zur Vorarbeiterin bei Siemens befördert werden – ein Job, bei dem man lesen und schreiben können muss. In der Beziehung mit Michael wird ihr Geheimnis eine Quelle zunehmender Irritationen und lässt den Heranwachsenden zum Spielball ihrer scheinbaren Launenhaftigkeit werden. Schließlich bezichtigt sie sich während der Gerichtsverhandlung fälschlich, einen Bericht vom „Todesmarsch“ verfasst zu haben, der sie schwer belastet. Zu diesem Zeitpunkt scheint ihre Scham über ihr Unvermögen, nicht lesen und schreiben zu können, größer zu sein, als die Scham darüber, als Hauptschuldige schwerster Verbrechen verurteilt zu werden. Vor diesem Hintergrund scheint Hannas Analphabetismus auch gleichnishaft verstanden werden zu müssen: als moralischer Analphabetismus, der es ihr unmöglich macht, das, was sie erlebt und getan hat, zu verstehen und zu „buchstabieren“. Erst als sie während der Haft lesen und 140 141 Die folgende Auflistung stützt sich im Wesentlichen auf Möckel, 2001, S. 83. Der Vorleser, S. 126. 34 schreiben lernt, scheint sich auch ein Erkennen ihrer Schuld einzustellen, sodass ihr Freitod am Ende des Romans einem Eingeständnis ihrer tieferen Schuld gleichkommt. Bernhard Schlink greift mit seinem Roman das Thema „Sekundärer Analphabetismus“142 auf, welches in unserer zivilisierten Gesellschaft kaum Beachtung findet oder tabuisiert wird, obwohl die Anzahl der Betroffenen alarmierend hoch ist. Während die Rate der Analphabeten in der sogenannten Dritten Welt zurückgeht, steigt sie in den Industrieländern an. In Deutschland können nach einer Studie der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) ca. 14 % der Bevölkerung nicht richtig lesen, schreiben oder rechnen. Wenn man den Bereich Rechnen außer Acht lässt, haben nach Angaben der UNESCO (Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur) etwa vier Millionen deutschsprachige Menschen keine für die Alltagsbewältigung ausreichende Lese- und Schreibkenntnisse.143 1.3.4.4 Die Schuldproblematik Das Thema Schuld und seine verschiedenen Aspekte haben in Bernhard Schlinks Roman eine zentrale Bedeutung. Der Leser erlebt die Protagonisten in einem komplizierten Verhaltens- und Beziehungsgeflecht, in dem die Frage nach der Schuld oder Unschuld der Personen keine letzte Antwort erfährt. Schlink wirft dagegen Fragen auf, bringt Ratlosigkeit zur Sprache. Der Vorleser ist in diesem Sinne nicht nur ein literarischer Beitrag zur Holocaust– Thematik, sondern grundsätzlich ein Buch darüber, „was Menschen einander antun und einander schuldig bleiben können, wie sie, ohne Monster zu sein, die furchtbarsten Verbrechen begehen können, wie politische und gesellschaftliche Institutionen versagen und wie eine moralische Kultur zusammenbrechen kann, schließlich auch wie man sich zu denen verhält, die die furchtbarsten Verbrechen begangen haben [...]“144 Besonders interessant ist, wie Schlink individuelle Schuld und Kollektivschuld zueinander in Beziehung setzt - Einzelschicksale spiegeln in gewisser Weise das Schicksal In den Industrieländern handelt es sich vorwiegend um den sogenannten „funktionalen“ bzw. „sekundären“ Analphabetismus. Das bedeutet, die Betroffenen haben zwar lesen und schreiben gelernt, können mit diesen Fähigkeiten im Alltag aber kaum etwas anfangen. Sie haben Schwierigkeiten, mit ihrer Umwelt zurecht zu kommen, welche von Schrift geprägt ist. Sie können z. B. keine Zeitungen, Schilder, Beipackzettel o. ä. lesen. Um dennoch den Alltag bewältigen zu können, entwickeln sie Strategien, bitten also beispielsweise Passanten, ihnen einen Fahrplan vorzulesen, da sie ihre Brille vergessen hätten oder lassen in einer Behörde von einem Beamten ein Formular ausfüllen, da sie wegen einer Verletzung der Hand nicht schreiben könnten. Nähere Informationen zum Thema Analphabetismus im Zusammenhang mit der Lektüre finden sich z. B. bei Reisner, Peter: Bernhard Schlink, Der Vorleser. Stuttgart: Klett 2001, S. 82 ff.; Urban, 2000, S. 42 ff.; Möckel, 2001, S. 83 ff. Allgemeine Informationen zum Thema findet man z. B. unter [email protected] und www.alphabetisierung.de; 143 Diese Angaben sind herausgegeben worden vom Bundesverband Alphabetisierung, vgl. www.alphabetisierung.de . 144 Bernhard Schlink in seiner Rede zur Verleihung des Fallada – Preises der Stadt Neumünster 1997. In: Salatgarten, Heft 1 1998, S. 44. 142 35 ganzer Generationen. Es wird dargestellt, wie Menschen teilweise durch ganz banale Umstände schuldig werden können und wie schwierig es ist, mit der jeweiligen Schuld umzugehen. Der Roman zeigt sehr unterschiedliche Mechanismen der Verdrängens, Verweigerns von Verantwortung und der Ich–Bezogenheit von Menschen. Gerade weil keine eindeutigen Rollenzuweisungen zu „Nur–Schuldigen“ oder „Nur–Unschuldigen“ entstehen, zudem die Umstände, die zur Schuld führten, verstehbar und erklärbar gemacht werden, aber deutlich darauf hingewiesen wird, dass das gleichzeitige Verstehen und Verurteilen145 nicht möglich ist, bekommt der Roman eine universelle Bedeutung mit fast philosophischen Zügen. 1.3.4.4.1 Die Schuld Hannas und der Tätergeneration Der zweite Teil des Romans ist bestimmt von der Auseinandersetzung mit der Frage der Schuld Hannas, die der Erzähler umkreist, ohne Hanna, die einstige Geliebte, zu dämonisieren oder aber zur Sympathiefigur zu stilisieren. So schreibt beispielsweise die „taz“ in ihrer Rezension vom 09.12.1995: „Die Provokation des Buches liegt in dem Blickwinkel aus dem Hanna, ein Mensch, den die Zeitungen damals als Monster bezeichnet hätten, beschrieben wird. Dazu führt der Analphabetismus. Er steht zwar nicht in direktem Zusammenhang mit ihren Verbrechen im Dritten Reich, aber er macht sie selbst zum Opfer, [...] zu einer ängstlichen, unbewussten Peinigungen der Umwelt ausgesetzten Person.“ Von einigen Rezensenten wird dem Buch vorgeworfen, es leiste einem relativistischen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Vorschub, indem Hanna durch ihre Disposition zur Analphabetin exkulpiert werde.146 Dazu der Autor selbst in einem Spiegel-Interview: „Wenn es nicht die menschliche Sicht auf die Täter gäbe, hätten wir kein Problem mit ihnen. Erst die menschliche Nähe zu ihnen macht das, was sie getan haben, so furchtbar. Wir hätten doch mit den Tätern schon lange abgeschlossen, wenn es wirklich alles Monster wären, ganz fremd, ganz anders, mit denen wir nichts gemein haben.“147 Hannas Verhandlung beginnt im Frühjahr 1966 in Darmstadt. Es ist einer der KZProzesse, aber „keiner der großen“148 wie etwa der Frankfurter Auschwitz–Prozess. Hanna 145 Vgl. Der Vorleser, S. 151 f. So z. B. in der Kritik des Romans von Sigrid Löffler im Literarischen Quartett im Dezember 1995. Abgedruckt als Zusatzmaterial bei Peren-Eckert/Pohsin, 2000, S. 140. 147 Spiegel-Gespräch mit Bernhard Schlink: „Ich lebe in Geschichten.“ In: Der Spiegel vom 24.01.2000. Die wesentlichsten Reden von und Interviews mit Bernhard Schlink finden sich im Internet unter http://homepages.strath.ac.uk/~hfs97115/bibvorle.htm . Im Gespräch mit Dr. Ralph Schock bezeichnet Bernhard Schlink Hannas Analphabetismus „als eine Metapher für die Unfähigkeit, elementare Bedingungen unseres Zusammenlebens zu buchstabieren. Und diese Unfähigkeit, denke ich, zeichnet in der Tat das Dritte Reich und viele, die in ihm gelebt und gehandelt haben, aus“ (Vgl. Bernhard Schlink im Interview mit Dr. Ralph Schock im Anhang, S. 4). 148 Der Vorleser, S. 86. 146 36 Schmitz ist mit vier weiteren Frauen angeklagt, die im Frühjahr 1944 von Auschwitz in ein kleines Lager bei Krakau versetzt wurden. Der erste Hauptanklagepunkt gilt den Selektionen in dem Lager, von dem aus jeden Monat rund sechzig Frauen nach Auschwitz in den Tod geschickt wurden. Der zweite Hauptanklagepunkt betrifft das Verhalten der Aufseherinnen während einer Bombennacht auf dem so genannten „Todesmarsch“. Sie hatten mehrer hundert gefangene Frauen in eine Kirche gesperrt. Diese Kirche wurde von einer Bombe getroffen und geriet in Brand. Obwohl die Aufseherinnen hätten aufschließen können, taten sie es nicht und die in der Kirche eingeschlossenen Frauen verbrannten. Michael, der als Rechtsreferendar im Gerichtssaal Hanna als Angeklagte wieder trifft, gerät in das Dilemma, eine Frau „verurteilen“ zu müssen, die er doch so sehr geliebt hat, während sich seine Kommilitonen distanziert als „Avantgarde der Aufarbeitung“ 149 sehen können. Er verfolgt die Verhandlung wie „betäubt“: „Ich fühlte nichts.“150 Hanna nimmt er als Fremde wahr und kann keine innere Haltung finden, mit der er den Gräueltaten, die während des Prozesses ans Licht kommen, begegnen könnte: „Ich wollte Hannas Verhalten zugleich verstehen und verurteilen. Aber es war zu furchtbar. Wenn ich versuchte, es zu verstehen, hatte ich das Gefühl es nicht mehr so zu verurteilen, wie es eigentlich verurteilt gehörte.“151 Zwar zwingt der Prozess Hanna, sich den Jahren 1943-45 ihrer eigenen Biografie zu stellen, doch findet das bei ihr eher auf einer vordergründigen Ebene statt. Ihre detaillierte Wiedergabe ihres Verhaltens während der Aussonderungen im KZ und während des Feuers zeugen davon, dass sie die Rolle der KZ-Aufseherin und die damit verbundenen Rollenerwartungen stark verinnerlicht hat. Eine wirkliche Reflexion ihrer Rolle oder gar Schuldbewusstsein sind von außen nicht auszumachen. Hannas Beteiligung am Prozess beschränkt sich auf die Rekonstruktion der wahren Begebenheiten. Sie zeigt keine Form der inneren Auseinandersetzung.152 Mit Michael ist der Leser ratlos und versucht Hannas Motive zu rekonstruieren: „Wie oft habe ich mir damals und seitdem die selben Fragen gestellt. Wenn Hannas Motiv die Angst vor Bloßstellung war – wieso dann statt der harmlosen Bloßstellung als Analphabetin die furchtbare als Verbrecherin? Oder meinte sie, ohne jede Bloßstellung durch- und davonzukommen? War sie einfach dumm? Und war sie so eitel und böse, für das Vermeiden einer Bloßstellung zur Verbrecherin zu werden?“153 149 Ebd. S. 87. Ebd. S. 96. 151 Ebd. S. 151. 152 Vgl. hierzu z. B. Ebd. S. 121 f. 153 Ebd. S. 128. 150 37 Michael beschließt für sich, dass sich Hanna deshalb so teilnahmslos im Prozess verhält, da sie im Grunde akzeptiert, für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden.154 Die Verhandlung verläuft schlecht für Hanna, da ihre Unfähigkeit, lesen und schreiben zu können, ihr Nachteile verschafft. Ihr anfängliches Insistieren auf Fehler in der Darstellung der Geschehnisse, ihr Kampfgeist, nehmen zum Ende des Prozesses ab – sie gibt auf.155 Ihr Analphabetismus erschwert Hanna nicht nur die Teilnahme am eigenen Prozess, sondern sie verstellt ihr auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld. Erst als sie in der Zeit ihrer Haft mithilfe der von Michael aufgenommenen Kassetten, die er mit literarischen Werken besprochen hat, Lesen und Schreiben lernt, stellt sich ein Unrechtsbewusstsein ein, ist sie in der Lage, das, was sie getan hat, zu „buchstabieren“ und in seiner Tragweite zu begreifen: „Indem Hanna den Mut gehabt hatte, lesen und schreiben zu lernen, hatte sie den Schritt aus der Unmündigkeit zur Mündigkeit getan, einen aufklärerischen Schritt.“156 Sie beginnt nun, die Literatur, die sich der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit verschrieben hat, zu studieren: „Die Literatur der Opfer neben den autobiografischen Aufzeichnungen von Rudolf Höss, Hannah Arendts Bericht über Eichmann in Jerusalem und wissenschaftliche Literatur über Konzentrationslager.“157 Damit verbunden ist ein gewandeltes soziales Verhalten im Gefängnis: Lebte sie im Gefängnis zunächst wie in einem „Kloster“158, respektiert von ihren Mitgefangenen, die ihr eine Art Schiedsfunktion in Streitfällen zuerkannten, ihrer äußeren Erscheinung nach „schlank und von peinlicher, gepflegter Sauberkeit“159, so zieht sie sich mit der Erkenntnis ihrer Schuld „in eine einsame Klause“160 zurück, lebt im Gefängnis wie eine Einsiedlerin, in freiwilliger Isolation, äußerlich verwahrlost und an Gewicht zunehmend („[...] sie wurde dick und roch“, S. 196). Bei ihrem ersten und letzten Wiedersehen nach vielen Jahren erlebt Michael Hanna als eine alte, lebensmüde Frau. Er riecht das Gealtertsein Hannas, erinnert sich an den Geruch der jungen Hanna und stellt fest, dass sie für ihren jetzigen Geruch, den er einen „Fluch“161 nennt, zu jung ist. 154 Ebd. Ebd. S. 131. 156 Ebd. S. 178. 157 Ebd. S. 193. 158 Ebd. S. 196. 159 Ebd. 160 Ebd. 161 Ebd. S. 186. 155 38 Ist es die Einsicht in das Abschreckende, Hässliche ihres Tuns, das seinen Ausdruck in ihrer körperlichen Entwicklung findet, oder vernachlässigt sie gerade das, „was ihre Qualität darstellte und womit die ihren Vorleser an sich gebunden hat: körperliche Attraktivität“162? Hannas körperlicher Verfall deutet auf ihre Todesnähe hin, ebenso das Gespräch mit Michael bei ihrem Wiedersehen, bei dem Hanna äußert, dass sie sich nur den Toten gegenüber für ihr Verhalten verantwortlich fühlt, denn allein die Toten, die sie im Gefängnis begleiten („sie kamen jede Nacht, ob ich sie haben wollte oder nicht“; S. 187), „verstehen“. Da ihre Mitmenschen nicht verstehen, können sie – nach Hannas Argumentation - auch keine Rechenschaft verlangen. Auch dies mag ein Grund für die Isolation von ihren Mitgefangenen sowie für ihren Suizid sein: Nur bei den Toten findet sie Verständnis. Hanna nimmt sich das Leben und hinterlässt der Anstaltsleiterin eine Art „Testament“, indem sie verfügt, dass Michael eine ersparte Summe den beiden Überlebenden des Kirchenbrandes übergeben soll. Ein später Widergutmachungsversuch oder ein Loskaufen von Schuld? Auch hier sind Hannas Motive unklar, genau so wie die letztendlichen Beweggründe für ihren Selbstmord. 1.3.4.4.2 Die Schuld Michaels und die Schuld der „zweiten Generation“ Mit der Verstrickung Michaels in die Geschichte der Täterin Hanna stellt der Roman die Frage nach der Schuld der Nachgeborenen in den Schuldzusammenhang der ersten Generation. Die Liebesgeschichte zwischen der NS-Täterin und dem Nachgeborenen, der ihr Sohn sein könnte, liest sich wie eine finstere Allegorie auf das Verhältnis zwischen Kriegs- und Nachkriegsgeneration in Deutschland: „Indem der Roman die Tätergeneration nicht in einer Vaterfigur repräsentiert, sondern in der Figur der Geliebten eines Angehörigen der zweiten Generation, werden Vertrautheit und Fremdheit anders konkretisiert als in der ‚Väterliteratur’. Gerade da, wo in der ‚Väterliteratur’ Distanz waltet, im Bereich des Körperkontakts, der Intimität und der Partnerschaftlichkeit, setzt der Roman – erstaunliche Vertrautheit. Dadurch geraten die Nachgeborenen in größere und vor allem ungewöhnliche Nähe zu den Tätern und gegenüber der Hierarchie der Eltern-KindBeziehung wird die Symmetrie der Generationen betont.“163 Als der Jura-Student Michael Berg am Seminar zur „Aufarbeitung der Vergangenheit“ teilnimmt, glaubt er ganz klar zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. Er selbst zählt zu den „Guten“, denn er ist Bestandteil der jungen Nachkriegsgeneration, die keine direkte Schuld an der Nazi-Vergangenheit Deutschlands trägt, während für ihn die 162 163 Köster, 1999, S. 79. Köster, 1999, S. 71. 39 Generation seiner Eltern und die Personen auf der Anklagebank die durchweg Bösen, die Schuldigen sind. So rekapituliert der Ich-Erzähler das Verhältnis der 68er-Generation zu ihren Vätern: „Aufarbeitung! Aufarbeitung der Vergangenheit! Wir Studenten des KZ-Seminars sahen uns als Avantgarde der Aufarbeitung. [...] Wir rissen die Fenster auf, ließen die Luft herein, den Wind, der endlich Staub aufwirbelte, den die Gesellschaft über die Furchtbarkeiten der Vergangenheit hatte sinken lassen.“164 Diese naive Schwarz-Weiß-Malerei kann der Erzähler so lange aufrecht erhalten, bis er in einer der Angeklagten seine ehemalige Geliebte Hanna erkennt. Von diesem Augenblick an ist jede moralische Gewissheit, die Attitüde des moralisch Überlegenen, gebrochen. Michael Berg kann den Konflikt zwischen Verständnis, Verurteilung und letzter Unsicherheit über das eigene Verstricktsein in die Geschichte mit Hanna nicht auflösen. Die Konfrontation mit seiner privaten Geschichte macht ihn zum Außenseiter unter seinen Kommilitonen: „[...] Aber woher kam die auftrumpfende Selbstgerechtigkeit, die mir bei ihnen so oft begegnete? Wie kann man Schuld und Scham empfinden und zugleich selbstgerecht auftrumpfen? War die Absetzung von den Eltern nur Rhetorik, Geräusch, Lärm, die übertönen sollten, dass mit der Liebe zu den Eltern die Verstrickung in deren Schuld unwiderruflich eingetreten war?“165 Michael kann sich nicht länger als Zuschauer fühlen, er sieht sich als „Teilnehmer, Mitspieler und Mitentscheider“166, denn es liegt in seiner Macht, den Richter über Hannas Analphabetismus zu informieren. Nur er allein weiß unter den Anwesenden im Gerichtssaal, dass Hanna Analphabetin ist und nur er allein wäre in der Lage, sie zu entlasten. Michael weiß nicht, wie er handeln soll: Gebietet es die Moral, über Hannas Kopf hinweg zum Richter zu gehen und ihm ihr Geheimnis zu offenbaren? Oder ist es umgekehrt ein Zeichen von Moralität, Hannas in Freiheit getroffene Entscheidung zu akzeptieren und ihre Würde durch Verheimlichen ihrer Schwäche zu bewahren? Auch, nachdem er Rat bei seinem Vater eingeholt hat, kann er das moralische Dilemma nicht wirklich auflösen. Seine letztendliche Entscheidung, nicht auszusagen, hinterläst bei ihm das Gefühl, wiederum schuldig geworden zu sein, schuldig an Hanna. Der zweite Teil des Romans endet so wie der erste: Michael hat das Gefühl, Hanna verleugnet und verraten zu haben.167 Nach Beendigung des Prozesses versucht er, seine Geschichte loszuwerden, er flüchtet sogar vor ihr, als er z. B. von einem ehemaligen Kommilitonen auf der Beerdigung des 164 Der Vorleser, S. 87 (Es handelt sich hier um einen der wenigen Ausrufesätze des Romans). Ebd. S. 162 f. 166 Ebd. S. 131. 167 Vgl. Ebd. S. 129. 165 40 Professors nach seiner Beziehung zu der Angeklagten Schmitz gefragt wird.168 Auch vor „jedem handfesten juristischen Beruf“ flieht er, weil ihm durch seine eigene Verstrickung die Komplexität von Schuld deutlich geworden ist, an der gemessen jeder Urteilsspruch eine „groteske Vereinfachung“ darstellen muss.169 Glücklich wird er auch nicht in seiner Ehe mit Gertrud: „Ich habe nie aufhören können, das Zusammensein mit Gertrud mit dem Zusammensein mit Hanna zu vergleichen, und immer wieder hielten Gertrud und ich uns im Arm und hatte ich das Gefühl, dass es nicht stimmt, dass sie nicht stimmt, dass sie sich falsch anfasst und anfühlt, dass sie falsch riecht und schmeckt. Ich dachte, es würde sich verlieren. Ich hoffte, es würde sich verlieren. Ich wollte von Hanna frei sein. Aber das Gefühl, dass es nicht stimmt, hat sich nie verloren.“170 So lässt er sich von Gertrud scheiden, was ihn wiederum schuldig werden lässt: Schuldig diesmal an Tochter Julia, der die Eltern „die Geborgenheit verweigerten, die sie sich spürbar wünschte“171. Michael empfindet sein Versagen als Vater, denn Julia hätte ein „Recht“ auf die Geborgenheit gehabt, die ihr ihre Eltern schuldig bleiben: „Wir haben sie um ihr Recht betrogen, [...] dass wir es gemeinsam taten, hat die Schuld nicht halbiert.“172 Wie Hanna an der Möglichkeit einer Wiedergutmachung scheitert, so sucht auch Michael verzweifelt nach Möglichkeiten, seine eigene Schuld gegenüber Hanna zu sühnen. Er bespricht Kassetten für Hanna und übernimmt wieder die Rolle des „Vorlesers“. Dass er damit unwissentlich dazu beiträgt, dass Hanna ihr Lebensproblem Analphabetismus überwindet, ist eine ironische Wendung, die er in der ganzen Dimension erst nach ihrem Tod begreifen kann. Seinen Wiedergutmachungsversuch muss er nämlich selbst als defizitär begreifen, weil er es zunächst nicht schafft, sich einer direkten Kommunikation mit Hanna zu stellen: Er weigert sich, Hanna im Gefängnis zu besuchen, ihre Briefe bleiben unbeantwortet. Bernhard Schlink umkreist in seinem Roman anhand der Schuldverstrickung Michaels die Frage der Schuld der „zweiten Generation“. Wie Schlink das Verhältnis zwischen erster und zweiter Schuld definiert, verdeutlicht er in der Rede anlässlich der Verleihung des FalladaPreises der Stadt Neumünster: „Es war die Schuld derer, die die Verbrechen des Dritten Reiches begangen haben, wie auch derer, die zugesehen haben und nicht eingeschritten sind oder überhaupt weggeschaut haben. Die Rechtsgeschichte lehrt uns, wie Schuld sogar die verstrickt, die nicht einmal Zeugen der Verbrechen waren. In den frühen Stammeskulturen hatte, wenn ein Angehöriger einer Gemeinschaft gegenüber einem Angehörigen einer anderen Gemeinschaft ein Verbrechen beging, seine Gemeinschaft die Wahl, ihn auszustoßen oder ihn bei sich zu halten. 168 Vgl. Ebd. S. 169 f. Vgl. Ebd. S. 171. 170 Ebd. S. 164 f. 171 Ebd. S. 165. 172 Ebd. 169 41 Behielt sie ihn bei sich, gewährte sie ihm Solidarität, dann teilte sie auch seine Schuld, übernahm gegenüber der anderen Gemeinschaft Verantwortung und Haftung. Solidargemeinschaft ist auch Schuldgemeinschaft. Ähnlich haben die Deutschen, die die Täter der ersten Generation nicht ausgestoßen, sondern als Mitbürger, Politiker, Administratoren, Richter, Professoren, Lehrer und Eltern akzeptiert haben, an deren Schuld teil.“173 Indem Schlink in der Figur Michaels einen Erzähler zu Wort kommen lässt, der eine Schuldverstrickung erkennt, verdeutlicht er parabelhaft die Schuldverstrickung der „zweiten Generation“. Michael vermag auf niemanden mehr mit dem Finger zu zeigen, „denn der Fingerzeig auf Hanna wies auf mich zurück. Ich hatte sie geliebt. Ich hatte sie nicht nur geliebt, ich hatte sie gewählt“174. Die Schuldverstrickung der nachfolgenden Generation ist keine theoretische, kein mystisch anmutender Zusammenhang, sondern ein ganz realer: Es ist eine persönliche Involvierung in die Schuld der Menschen, mit denen diese Generation, vielleicht sogar in Liebe, verbunden ist. Die Liebesbeziehung mit Hanna sieht Michael als eine Wahl, für die es einzustehen gilt, denn „Solidargemeinschaft ist Schuldgemeinschaft“. Das Moment der Wahl unterscheidet die Liebesbeziehung von der Eltern-Kind-Beziehung, die er die einzige Form der Liebe nennt, für die man nicht verantwortlich ist.175 Aber selbst in der Eltern-Kind-Beziehung tritt unweigerlich mit der Liebe, die Verstrickung in deren Schuldzusammenhänge ein. 176 Bernhard Schlink in seiner Rede zur Verleihung des Fallada – Preises der Stadt Neumünster 1997. In: Salatgarten, Heft 1 1998, S. 44. 174 Der Vorleser, S. 162. 175 Ebd. S. 162. 176 Ebd. S. 163. 173 42 1.4 Didaktische Analyse 1.4.1 Romanlektüre im Unterricht Vor der didaktischen Reflexion über die Behandlung des Romans im Unterricht, soll der Gegenstand zunächst einer definitorischen Betrachtung unterzogen werden: Als epische Langform in Prosa ist der Roman eine „Erzählung, in der vom Persönlichen aus das Ganze des Weltseins erfahren wird oder erfahren werden soll“. 177 Der Roman ist die moderne Dichtungsart par excellence: Im Gegensatz zum Epos, von dem der Roman abstammt, „richtet der Roman den Blick auf die einmalig geprägte Einzelpersönlichkeit oder eine Gruppe von Individuen mit ihren Sonderschicksalen in einer wesentlich differenzierteren Welt, in der nach Verlust der alten Ordnungen und Geborgenheiten die Problematik, Zwiespältigkeit, Gefahr und die ständigen Entscheidungsfragen des Daseins an sie herantreten und die ewige Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit, innerer und äußerer Welt, bewusst machen. Dabei bildet nicht die Gegensätzlichkeit der Welt an sich, am Einzelfall aufgerollt, das Hauptthema wie im Drama, sondern das in das Weltgeschehen eingebettete Schicksal spielt sich in ständig erneuter Auseinandersetzung mit den äußeren Formen und Mächten ab, ist ständige individuelle Reaktion auf die Welteindrücke und – einflüsse und damit ständige eigene Schicksalsgestaltung. Bei aller Gebundenheit an die Außenwelt bestimmen letztlich nicht äußere Taten, sondern innere Entwicklungen den Gang des Romans und führen in der Gegenwart bis zu seiner ‚Entfabelung’, d. h. dem Verzicht auf äußere Handlung und der Beschränkung auf subtile Seelenanalyse als Beitrag zur Selbstvergewisserung des Menschen [...]“178. Sichtet man die vielfältigen Erscheinungen des Romans, so lassen sich zwar von verschiedenen Aspekten her (Thema, Struktur, Erzählperspektive u.a.) Romantypen erkennen, doch führt jede Einteilungsmöglichkeit im Einzelfall zu Überschneidungen: „Eine überzeugende Systematik ist kaum möglich, da der Roman von allen Gattungen am unmittelbarsten mit seiner Zeit verquickt ist und jede seiner Ausprägungen an ihrem geschichtlichen Ort, wenn auch nie als bloßes Zeitdokument, sondern immer im kritischen Abheben von der Zeitfolie, zu betrachten ist.“179 Nach der im vorherigen Kapitel erarbeiteten Sachanalyse lässt sich nach dieser Definition also auch Der Vorleser als einen Roman „par excellence“ bezeichnen, der alle definitorischen Ansprüche erfüllt. Was habe ich nun zu beachten, wenn ich einen Roman im Unterricht behandeln will? 177 Fritz Martini, zitiert in: Bantel, Otto/Schaefer, Dieter: Grundbegriffe der Literatur. Frankfurt a. M.: Hirschgraben-Verlag 1991, S. 114. 178 Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Kröner 1989, S. 784. 179 Bantel/Schaefer, 1991, S. 115. 43 Da der Roman nach wie vor ein „Stiefkind der Didaktik“ geblieben ist, „fehlen ausführlichere Gesamtdarstellungen, die zu klären versuchen, in welchem Alter welche Romane mit welchen Intentionen und möglichen Fragestellungen gelesen werden können, wie Romanlesen ‚gelernt’ wird, was man dazu im Deutschunterricht lernen muss, welche Kenntnisse über narrative Texte nötig sind und ob und wie der Deutschunterricht sie vermitteln kann, wie die private Romanlektüre der Schüler durch den Unterricht beeinflusst werden kann, schließlich: welche Methoden sich für die gemeinsame Romanlektüre eignen und auf welche Methoden man mit Schüler/innen besser verzichtet“180. So bleibt der Lehrer bei der Beantwortung zentraler Fragen der Romanbehandlung weitgehend auf sich gestellt. Allgemein wird Literatur heute als „ein Medium gesehen, das den Heranwachsenden in ihrer intellektuellen und affektiven Entwicklung eine Hilfe sein kann“181. Gerade ein moderner Roman , wie Schlinks Vorleser, der von gesellschaftlichem Problembewusstsein durchdrungen ist, „enthält im Allgemeinen gerade jenes Einstellungs- und Kognitionssyndrom, das dem Ziel der Selbstaufklärung des Schülers entspricht“182. Der Roman „verunsichert eher und widerspricht der eigenen Problemsicht des Lesers, durchbricht und kritisiert häufig verfestigte Erwartungsmuster und erweitert den Erwartungshorizont und die Erfahrungsbereiche des Lesers“183. Aus diesen Gründen sollten Schüler nach und nach in die Lage versetzt werden, Romane auch distanziert-erkenntnisorientiert zu lesen: „Dabei ist es wichtig, dass Schüler den gelesenen Roman auch von den historischgesellschaftlichen Bedingungen her verstehen lernen, unter denen er entstanden ist, ebenso wichtig aber ist es, dass die Leser die Texte von ihren eigenen Erfahrungen und Bedürfnissen her in Gebrauch nehmen können.“184 Auf diese Weise ist es nämlich dem Einzelnen möglich zu erkennen, in welchen gesellschaftlichen Abhängigkeiten er sich befindet, aber auch, welche Möglichkeiten der Beteiligung sich ihm bieten. Denn „wenn Schüler lernen, den gelesenen Roman im Literaturunterricht zur eigenen und zur gesellschaftlichen Praxis in Beziehung zu setzen, und im Gespräch versuchen, Denk- und 180 Wangerin, Wolfgang: Romane im Unterricht. In: Lange, Günter/ Neumann, Karl/ Ziesenis, Werner (Hrsg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Grundfragen und Praxis der Sprach- und Literaturdidaktik. Band 2. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 1998, S. 600-620, hier S. 608 f. 181 Spinner, Elisabeth/ Spinner, Kaspar, H.: Kinder- und Jugendliteratur. In: Baurmann, Jürgen/ Hoppe, Otfried (Hrsg.): Handbuch für Deutschlehrer. Stuttgart 1984, S. 362 – 378, hier S. 366. 182 Wangerin, 1998, S. 612. 183 Ebd. 184 Ebd. 44 Fragehemmungen zu überwinden und soziale Haltungen zu erproben, so dient Literaturunterricht der Selbstaufklärung der Schüler“185. Dieser Gedanke erscheint mir bei der Romanlektüre im Unterricht als außerordentlich wichtig, doch wie ist dies methodisch zu erreichen? Wenn es der Literaturunterricht zulässt, können die Schüler eigene Erfahrungen und Romanwelt aufeinander beziehen (wie sie es übrigens bei der privaten Lektüre immer tun) und dabei erfahren, dass Lesen Freude macht und Nutzen bringt. Um zu diesem Ziel zu gelangen, nennt der Fachdidaktiker Wolfgang Wangerin folgende beachtenswerte Aspekte: Zunächst muss den Schülern die Möglichkeit gegeben werden, „ihre eigenen Leseerfahrungen (die auch Abneigungen sein können) ungesteuert und ausführlich zu diskutieren“186. Aber „wenn wir im Unterricht gleich loslegen mit festen lernzielorientierten Anweisungen, mit rein kognitiver Analyse und ich-ferner Interpretation, dann bringen wie die Schüler/innen um die Möglichkeit, sich bewusst zu werden und zu artikulieren, was der gelesene Roman für sie selbst bedeutet“. Des Weiteren benötigen die Schüler Raum, um das Gelesene zu verarbeiten. Dazu bieten sich in besonderem Maße „Verfahren kreativer Rezeption“ an: „Sie basieren auf einer Verschränkung von Rezeption und eigener Produktion der Schüler/innen“ [Hervorhebungen durch den Autor]. „In Verfahren kreativer Rezeption kommen die Anteile des Romans und die Anteile der lesenden Schüler/innen so zusammen, dass sie durch das entstehende Produkt auch bewusst, sichtbar und dem Gespräch und der Reflexion zugänglich gemacht werden.“ Eine solch produktiv-ganzheitliche Rezeption dient also der Lesemotivation und dem Textverständnis. Produktionsorientierter Literaturunterricht kann damit rechnen, das Interesse der Schüler zu finden, weil er sie als Leser ernst nimmt, und außerdem dazu beitragen, dass Schüler zu Lesern werden. Dies bedeutet für den Lehrer, sowohl auf jeglichen Lernzielformalismus zu verzichten als auch auf eine zu starke Dominanz, die darauf abzielt, seine Interpretation, seine Lernziele und seine Planung durchzusetzen. 1.4.2 Produktionsorientierte Verfahren im Literaturunterricht 1.4.2.1 Begriff und heutiger Stellenwert Der handlungs- und produktionsorientierte Ansatz ist am Ende des 20. Jahrhunderts zum meistdiskutierten Paradigma des Literaturunterrichts im deutschen Sprachraum geworden. Er 185 Ebd. Nach Wangerin muss solche Selbstaufklärung auch immer „die Aufarbeitung der uns bestimmenden Geschichte mit einbeziehen“ – gerade der Roman „eignet sich, die historische Dimension menschlichen Handelns in den Literaturunterricht einzubringen“. 186 Ebd. S. 615. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Wangerin, 1998, S. 612 ff. In meiner Einstiegsstunde in die Unterrichtsreihe versuche in den Schülern genau diese Möglichkeit zu geben (vgl. Kap. 2.2.1). 45 zielt auf einen Unterricht, in dem sich die SchülerInnen nicht nur lesend und analysierend mit einem Text beschäftigen, sondern der sie in literarischen und anderen ästhetischen Ausdrucksformen tätig werden lässt: Sie schreiben erzählend und lyrisch gestaltend zu Texten, sie interpretieren durch szenische Darstellung, sie malen, erarbeiten Vertonungen u. ä. Die beiden Attribute „handlungsorientiert“ und „produktionsorientiert“ akzentuieren den Ansatz in zwei Richtungen: „Mit der Bezeichnung ‚handlungsorientiert’ wird ein Bezug zu allgemeinen schulpädagogischen Konzepten eines auf Selbsttätigkeit der Schülerinnen und Schüler setzenden Unterrichts hergestellt; leitend ist die Vorstellung eines ganzheitlichen Tuns, das kognitive, sinnenhafte und affektive Zugänge miteinander verbindet. Mit der Bezeichnung ‚produktionsorientiert’ wird hervorgehoben, dass sich die Schülerinnen und Schüler selbst literarisch schreibend mit Texten beschäftigen sollen; dabei kann es auch um begrenztere operative Verfahren wie das Wiederherstellen einer vertauschten Versfolge gehen, die noch nicht dem Anspruch eines handlungsorientierten Unterrichts genügen müssen. Für alle Formen des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts ist auch der Begriff des ‚handelnden Umgangs mit Texten’ geläufig.“187 Im Verlauf der letzten zwanzig Jahre ist in der Literaturdidaktik – und damit auch im Literaturunterricht – der produktionsorientierte Ansatz immer wichtiger geworden, denn nach diesem Ansatz gehen die SchülerInnen „nicht nur rezeptiv (hörend und lesend) und analysierendinterpretierend“188 mit Literatur um, sondern sie werden selbst gestaltend tätig. Der „Siegeszug“ der produktiven Verfahren ist daran festzumachen, dass sie immer stärker Eingang in die Lehrpläne189 gefunden haben, dass „Arbeitsaufgaben in Lesebüchern und anderen Arbeitsmaterialien, Handreichungen für Lehrerinnen und Lehrer [sowie] Unterrichtsmodelle in didaktischen Zeitschriften“190 zunehmend von diesem Ansatz geprägt sind. Was ist nun das Besondere an dieser Form des Literaturunterrichts, welche Begründungen für produktionsorientierte Verfahren führen seine wichtigsten Vertreter191 an? 187 Spinner, Kaspar H.: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. In: Bogdal, Klaus-Michael, Korte, Hermann: Grundzüge der Literaturdidaktik. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2002, S. 247 – 257, hier S. 247. Mit dem Begriff „handlungsorientiert“ ist dementsprechend der Aspekt des tausend Möglichkeiten einschließenden bildlich illustrativen, musikalischen, darstellenden und spielenden Reagierens auf Texte bezeichnet; der Begriff „produktionsorientiert“ meint dagegen die stärker das kognitive Vermögen beanspruchende Erzeugung von neuen Texten. Natürlich sind dabei vielfältige Übergänge und Mischformen möglich. 188 Spinner, Kaspar H.: Produktive Verfahren im Literaturunterricht. In: Spinner, Kaspar H. (Hrsg.): Neue Wege im Literaturunterricht. Informationen, Hintergründe, Anregungen. Hannover: Schroedel-Verlag 1999, S. 33 – 41, hier S. 33. 189 Vgl. z. B. die neuen saarländischen Lehrpläne für die Klassenstufen 5 und 6 im Zuge der Einführung von G 8. 190 Spinner, 2002, S. 247. 191 Zu diesen zählen u. a. der Vorsitzende des Symposions für Deutschdidaktik, Prof. Dr. Kaspar H. Spinner, Prof. Dr. Günter Waldmann, der an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg i. Br. lehrt, Gerhard Haas, Professor für 46 1.4.2.2 Pädagogisch-didaktische und literaturtheoretische Begründungszusammenhänge Der Ansatz eines handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts steht in enger Verbindung mit der Konzeption eines kreativen Schreibens192, ist aber vor allem auch auf dem Hintergrund einer zeitgenössischen pädagogischen Strömung zu sehen, die unter dem Begriff des „praktischen Lernens“ Erkenntnisse der Reformpädagogik wieder zu aktivieren sucht. Gedacht ist hier z. B. an Andreas Flitner, der in seinen „Jenaer Vorlesungen“ ein „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ zum Programm erhoben hat: „‚Praktisches Lernen’ soll daran erinnern, dass Denken, Handeln, Wissen zusammengehört... und dass für Kinder und Jugendliche dieser Zusammenhang viel drängender ist als für die Erwachsenen mit ihrer zivilisatorisch gebändigten Sinnlichkeit [...] Und es [das „praktische Lernen“; Anmerkung der Herausgeber] heißt vor allem: Wege zu einem ‚Wissen’ finden, das nicht gelehrt und zur Kenntnis genommen, sondern selber erlebt worden ist; zu Erfahrungen, die man mit eigenen Händen greifen, mit eigenen Sinnen vollziehen, mit eigener Aktivität bewältigen kann.“193 Wesentlicher Anstoß für die Entwicklung handlungs- und produktionsorientierter Verfahren ist die Beobachtung, dass ein nur analysierender und interpretierender Unterricht vielen SchülerInnen nicht gerecht wird. Welcher Lehrer hat es nicht schon einmal erlebt, dass SchülerInnen die herkömmliche schulische Beschäftigung mit Literatur als Zerreden der Texte empfinden, das ihnen jede Lust am Lesen nimmt: „Man kann nicht die Augen davor verschließen, dass der Literaturunterricht bei vielen Kindern und Jugendlichen genau das Gegenteil dessen bewirkt, was er erreichen will: Statt die Heranwachsenden zu Lesern zu machen, schafft er Antipathie gegenüber dem geschriebenen Wort.“194 Denn dies scheint fast unvermeidlich, wenn die SchülerInnen nicht auch in ihrer Sinnlichkeit, ihren Gefühlen, ihrer Phantasie, ihrem Tätigkeitsdrang angesprochen werden. Hier setzt der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht an, ohne – dies sei ausdrücklich gesagt – darauf aufbauende analytische Prozesse auszuschließen. Das bedeutet, dass „die Fundierung der Lesebereitschaft und die Ausbildung von Leselust [...] die Grundlage für alle weiteren sinnvollen analytisch-intellektuellen Aktivitäten“ bilden: „Dass damit allerdings eine unumkehrbare Reihenfolge bezeichnet ist, liegt auf der Hand: handlungs- und produktionsorientierter deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik in Heidelberg und Wolfgang Menzel, Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Augsburg. 192 Auf andere, verwandte Positionen im pädagogisch-didaktischen Feld kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, es sei aber verwiesen auf z. B. Haas, Gerhard: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. Theorie und Praxis eines „anderen“ Literaturunterrichts für die Primar- und Sekundarstufe. Seelze-Velber: Kallmeyer`sche Verlagsbuchhandlung 2001, besonders S. 24 – 52. 193 Filtner, Andreas: Lernen...mit Kopf, Herz und Hand. In: Lernen. Ereignis und Routine. Friedrich Jahresheft IV. Velber 1986, S. 9. Zitiert nach: Haas, Gerhard, Menzel, Wolfgang, Spinner, Kaspar H.: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. In: Praxis Deutsch. Zeitschrift für Deutschunterricht. Sonderheft: „Handlungsorientierter Literaturunterricht“. Seelze: FriedrichVerlag 2000, S. 7 – 15, hier, S. 7. 194 Haas/ Menzel/ Spinner, 2000, S. 7. 47 Literaturunterricht ist Ausgangspunkt und Basis – nie nur eine freundliche abschließende Verzierung!“195 Diese pädagogisch-didaktische Begründung des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts ist durch literaturtheoretische Diskussionen gestützt worden. Besonders Kaspar H. Spinner diagnostiziert in der Deutschdidaktik der neunziger Jahre eine „kognitive Wende“ bei der sich (im Sinne der kognitiven Lernpsychologie) der Blick von den Lerngegenständen und –ergebnissen weg auf das „Innere des Lernenden“ und die sich dort vollziehenden Lernprozesse richtet und diese Lernprozesse zu erkennen und zu verstehen sucht.196 Dabei sind die kreativen und die produktionsorientierten Formen des Umgangs mit Literatur eine der „Strömungen, die den individuellen Ausdruck, die Subjektivität aller Schülerinnen und Schüler in den Unterricht einfließen lassen möchten“197. Einen wesentlichen Anstoß hat dabei die Rezeptionsästhetik geliefert, die sich dem Leseprozess gewidmet und herausgearbeitet hat, dass Lesen nicht einfach Informationsentnahme aus einem Text ist, sondern dass der Sinn eines Textes immer vom Leser mitgeschaffen wird. In diesem Zusammenhang spricht man z. B. von „Leerstellen, die der Text enthält und die vom Leser gefüllt werden“198. Dieses Mitschaffen wird bei produktiven Verfahren gezielt didaktisch gefördert. Die SchülerInnen werden angeregt, eigene Vorstellungen zu Texten zu entfalten und sie in mannigfacher Form gestaltend zum Ausdruck zu bringen. Damit gehen die produktionsorientierten Verfahren zugleich über die Textrezeption hinaus, insofern durch sie auch eigene Standpunkte der SchülerInnen ins Spiel kommen und zum Gegenstand des Unterrichts werden. Diesen Prozess erklärt Spinner z. B. wie folgt: „Wenn Schülerinnen und Schüler z. B. Figurenporträts für ein mögliches Drehbuch zu einem Roman entwerfen, dann sind sie dazu angehalten, ihre Vorstellungen von den Figuren zu konkretisieren. Eine solche Förderung der Vorstellungsfähigkeit erscheint bei den heutigen mediensozialisierten Kindern und Jugendlichen besonders dringlich. Film, Fernsehen, Video, Computerspiele liefern anschauliche Bilder, so dass die Vorstellungskraft viel weniger gefordert ist als bei einem geschriebenen Text.“199 Kaspar H. Spinner führt noch weitere Argumente für einen produktionsorientierten Literaturunterricht an: Diese Unterrichtsformen und Methoden bieten auch „denjenigen Kindern 195 Ebd. S. 8. Vgl. z. B. Spinner, Kaspar H.: Die eigenen Lernwege unterstützen. Die sogenannte kognitive Wende in der Deutschdidaktik. In: Spinner, Kaspar H.: Neue Wege im Literaturunterricht. Informationen, Hintergründe, Arbeitsanregungen. Hannover: Schroedel 1999, S. 4 – 9. 197 Spinner, Kaspar H.: Neue und alte Bilder von Lernenden. – Deutschdidaktik im Zeichen der kognitiven Wende. In: Müller-Michaels, Harro/ Rupp, Gerhard (Hrsg.): Jahrbuch der Deutschdidaktik 1994. Tübingen: Narr 1995, S. 127 – 144, hier S. 128. 198 Spinner, 1999, S. 34. 199 Ebd. 196 48 und Jugendlichen, die weniger begrifflich abstrakt, sondern mehr bildhaft und analog denken, eine Chance, ihr Textverstehen in den Unterricht einzubringen. So kann z. B. ein Videoclip zu einem Gedicht eine sehr differenzierte gestalterische Interpretation sein.“200 Außerdem ermöglicht es der Einsatz produktiver Verfahren, alle SchülerInnen aktiv am Unterricht zu beteiligen und dem Ziel der Selbständigkeit und Selbsttätigkeit der Lernenden näher zu kommen, indem die Dominanz des fragend-entwickelnden Interpretationsgesprächs abgebaut wird. Operationale, analyseorientierte Methoden, die die formalen bzw. strukturellen Eigenheiten eines Textes sicht- und erfahrbar machen, fördern entdeckendes Lernen im Hinblick auf die Textanalyse. Insbesondere solche Aufgabenstellungen, die zu Perspektivenübernahme und Fremdverstehen anregen, sprechen die SchülerInnen an und bieten eine Chance zu größerer IchBeteiligung. Außerdem wird durch den Einsatz bestimmter produktionsorientierter Methoden und die Präsentation der Ergebnisse auch der Deutschunterricht als ein Ort ästhetischen Erlebens erfahrbar gemacht. Und schließlich ermöglichen produktive Verfahren die Integration der verschiedenen Lernbereiche des Deutschunterrichts: Die Arbeitsbereiche des Lesens, des Sprechens und des Schreibens können verbunden werden und somit ist eine integrative Konzeption von Deutschunterricht zu verwirklichen. Auch neueste literaturtheoretische Positionen können einen Begründungsrahmen für produktive Verfahren im Unterricht liefern: „Der Poststrukturalismus propagiert einen Zugang zu literarischen Texten, der nicht auf den Aufweis der geschlossenen Ganzheit eines literarischen Textes zielt, sondern die Texte als dynamische Gebilde begreift, die durchzogen sind von verschiedenen Bedeutungssträngen, die sich durchaus widersprechen mögen. Dementsprechend kann der Umgang mit Texten nur in einem Eingreifen und Dekonstruieren (Aufbrechen) der scheinbaren Geschlossenheit bestehen. Ebenso legt die konstruktivistische Literaturtheorie, die in radikaler Weise den Sinn eines Textes als Konstruktion des Lesers betrachtet, einen produktionsorientierten Umgang nahe.“201 1.4.2.3 Produktive Verfahren zu erzählenden Texten Da dieser Arbeit eine Unterrichtsreihe zu einem narrativen Text zugrunde liegt, wird an dieser Stelle auf die systematische Beschreibung produktiver Verfahren zu lyrischen Texten verzichtet.202 Bei dramatischen Texten können prinzipiell die gleichen Verfahren wie bei 200 Diese und die folgenden Ausführungen fußen auf Spinner, 1999, S. 34 f. Haas/ Menzel/ Spinner, 2000, S. 8. 202 Zu produktiven Verfahren zu Gedichten siehe z. B. Spinner, 1999, S. 36 ff.; Haas/ Menzel/ Spinner, 2000, S. 14; Waldmann, Günter: Produktiver Umgang mit Literatur im Unterricht. Grundriss einer produktiven Hermeneutik. Theorie – Didaktik – Verfahren – Modelle. In: Lange, Günter, Schuster, Karl, Ziesenis, Werner (Hrsg.): Deutschdidaktik aktuell. Band 1. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag: Hohengehren 2000, hier S. 78 f.; sehr ausführlich bei Haas, 2001, S. 53 – 143. 201 49 Erzähltexten eingesetzt werden.203 Die Entscheidung, welcher Aufgabentyp sich zu welchem Zeitpunkt und bei welchem Text eignet, muss abhängig von Text und Lernzielen fallen. Allgemein können produktive Aufgaben jedoch vor der Erstbegegnung mit dem Text, während des Lesens sowie nach dem Erlesen des Textes in der Interpretationsphase oder auch als Lernerfolgskontrolle gestellt werden. Methodisch kann produktives Umgehen mit Literatur in Partner- oder Gruppenarbeit, als kollektives Schreiben oder auch in Spielformen erfolgen. Wichtig ist, dass den SchülerInnen Gelegenheit gegeben wird, bei aktivem und produktivem Umgehen mit Literatur eigene literarische Erfahrungen zu machen. Eine wichtige Erfahrung, die die SchülerInnen im produktiven Umgang mit Literatur machen, ist, „dass sie größere emotionale Nähe zu literarischen Texten gewinnen, wenn sie sich bei eigenem Erschreiben imaginativ auf sie einlassen und sich dabei gegebenenfalls aktiv in sie einleben und einfühlen“204. Produktive Verfahren zu erzählenden (und dramatischen) Texten regen laut Spinner „ein Nachdenken über die Figuren, die Interaktionen und die Handlungsverläufe an; sie halten aber zugleich zur imaginativen Vergegenwärtigung und zu Empathie an. Strukturelle Merkmale von Texten werden durch das eigene Tun erkennbar“205. Formen produktiven Umgangs mit Erzähltexten lassen sich nun auf verschiedene Arten kategorisieren. Sinnvoll erscheint die Einteilung von Günter Waldmann, der zwischen produktiven Aufgaben zu den Erzählfiguren, zur Erzählhandlung, zur Erzählform und schließlich nach Stellungnahmen zu dem Erzähltext unterscheidet.206 Produktive Verfahren zu Erzählfiguren sind z. B. das Vorstellen der Figuren in der IchForm, das Erstellen von Plakaten oder Steckbriefen zu Figuren, das Erfinden von Interviews mit Figuren, das Schreiben von Briefen von und an Figuren, das Verfassen von Tagebucheinträgen und inneren Monologen von Figuren, das Erfinden von Träumen von Figuren, das Umschreiben von Textstellen aus der Perspektive einer Figur, das Verändern des Charakters einer Figur und das entsprechende Umgestalten einer Szene usw. Soll mit der Erzählhandlung produktiv gearbeitet werden, dann bietet sich z. B. das Ausfabulieren einer im Text nur angedeuteten Handlung an, ebenso wie das Schreiben einer Fortsetzung oder eines eigenen Schlusses zum Text, das Rekonstruieren eines Textes, dessen Abschnitte miteinander vertauscht wurden, das Ausfüllen von Handlungslücken und –sprüngen, das Erfinden einer Rahmenhandlung, das Transponieren der (unveränderten) Handlung aus der Vergangenheit in die Gegenwart usw. 203 Siehe z. B. Spinner, 1999, S. 37 ff. Waldmann, 1998, S. 496. Imagination, Kognition und Identität sind übrigens die drei Leitbegriffe, die in Kaspar H. Spinners deutschdidaktischem Ansatz im Zentrum der Argumentation stehen (siehe z. B. Spinner, 2001, S. 5), auf die aber leider an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann. 205 Spinner, 1999, S. 39. 206 Waldmann, 1998, S. 499 ff. Die weiteren Ausführungen beziehen sich auf diese Quelle bzw. auch auf Spinner, 1999, S. 37 ff. 204 50 Produktive Verfahren hinsichtlich der Erzählform sind z. B. das Verändern der Erzählform von der Er- in die Ich-Form und umgekehrt, das Erzählen eines Vorgangs aus der Perspektive einer anderen Figur oder gleichzeitig aus der Perspektive mehrerer Figuren, das Umformen des Erzähltextes in Dialogform, in ein Theaterstück, Hörspiel, ein Drehbuch o. ä., das Umschreiben eines Textes in eine realistische (etwa Zeitungsbericht), triviale, utopische, parodistische usw. Fassung, das Schreiben einer eigenen Erzählung in der Form des Textes mit aktuellem Inhalt usw. Als Stellungnahmen zu dem Erzähltext kann man z. B. eine Buchbesprechung/ Buchempfehlung oder einen Informations- oder Werbetext verfassen, eine Befragung, ein Verhör, eine Gerichtsverhandlung vorbereiten und durchführen, den Text illustrieren oder ein Titelbild gestalten usw. Weitere Möglichkeiten, die sich einer Kategorisierung entziehen, wären z. B. das Bauen von Standbildern, das Spielen einer Situation oder Szene, das Suchen und Präsentieren historischer Hintergrundinformationen zu einem Text usw. Neben Überlegungen zum Zeitpunkt des Einsatzes produktiver Verfahren (das Wann) sowie der bevorzugten Arbeits- und Sozialform (das Wie), ist die wichtigste Frage, die sich ein Lehrer, der mit diesen Methoden arbeiten möchte, stellen muss, die Frage nach dem Warum: Jeder Lehrende sollte vor Einsatz des Verfahrens fragen, welchen Nutzen er mit der Methode zu erreichen hofft bzw. welche Ziele er anstrebt. Damit ergeben sich die Beantwortung der ersten beiden Fragen quasi schon von selbst. Während des Einsatzes aller aufgeführten Verfahren muss SchülerInnen wie Lehrenden klar sein, das sie zum Verständnis des Textes dienen. Produktive Verfahren sollen also zur Analyse, zur Interpretation des Textes führen – so kann beispielsweise erst dann ein Standbild gebaut werden, wenn die SchülerInnen sowohl die Charaktere, als auch die Beziehung der Personen untereinander, nachvollzogen und verstanden haben, d. h. wenn der Text sehr gut verstanden worden ist. Des Weiteren sollte man beachten, dass sich nicht jedes Verfahren in jeder Klassenstufe einsetzen lässt, und dass die meisten der vorgestellten Formen produktiven Umgangs mit Erzähltexten einige Zeit beanspruchen. Das führt zur kritischen Reflexion der produktiven Verfahren. 1.4.2.4 Kritik und Probleme des produktionsorientierten Literaturunterrichts Obwohl die Konzeption des produktionsorientierten Literaturunterrichts sehr positiv aufgenommen wurde, werden einige Aspekte in der Fachdiskussion kritisch diskutiert, die im folgenden kurz dargestellt werden sollen. Die handlungs- und produktionsorientierte Literaturdidaktik hat unterrichtsmethodische Fragen in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Das bringt ihr verschiedentlich den Vorwurf 51 ein, sie sei theorielos und spare die eigentlichen didaktischen Fragen, nämlich diejenigen nach den Zielen und Bildungsinhalten, aus. In der Tat kann produktionsorientierter Literaturunterricht, wie Kaspar H. Spinner bestätigt, „in Beliebigkeit ausarten“207. Das tritt dann ein, wenn einzelne Verfahrensweisen in der Unterrichtspraxis ohne sachanalytisch-textbezogene und didaktischzielorientierte Reflexion eingesetzt werden. Vertreter der handlungs- und produktionsorientierten Literaturdidaktik betonen dagegen die literaturtheoretische Fundierung des Ansatzes: „Es reicht nicht aus, schon zufrieden zu sein, wenn alle Schülerinnen und Schüler irgendwie tätig sind; äußerliche Emsigkeit garantiert noch nicht das Entstehen neuer Erkenntnisse und Erfahrungen“208. Ein weiterer Vorwurf gilt der Gefahr des Subjektivismus: „An die Stelle einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Text in seiner Widerständigkeit trete eine Vereinnahmung, bei der subjektive Projektionen den Textsinn überdeckten.“209 Laut Spinner ist dieser Vorwurf aber nur dann berechtigt, „wenn es dabei bleibt, dass die Schülerinnen und Schüler einfach ihre Alltagsvorstellungen in den Text hineinprojizieren“210. Dagegen soll bei allen Varianten des produktionsorientierten Literaturunterrichts gerade das Wechselspiel von subjektiver Verarbeitung und Herausforderung durch den Text didaktisch fruchtbar gemacht werden. Ein weiterer Kritikpunkt ist der Vorwurf, dass der Einsatz produktiver Verfahren im Unterricht „historisches Bewusstsein [verhindere] und zwar in doppelter Weise: Er bevorzuge moderne Literatur und ebne dort, wo er sich auf ältere Texte bezieht, die historische Differenz ein“211. Bezugnehmend auf diesen Einwand räumt Spinner zwar ein, dass es in der Tat etwas schwieriger sein mag, „gute produktive Aufgaben zu älteren Texten zu konzipieren; aber man kann umgekehrt auch sagen, dass sie hier besonders wichtig sind, um überhaupt einen intensiveren Kontakt der Schülerinnen und Schüler zu den Texten herzustellen und um auch die Differenzerfahrung bearbeitbar zu machen“212. Eine weitere Befürchtung bezieht sich auf die Gefahr, „dass im produktionsorientierten Literaturunterricht Dilettantismus honoriert werde“213. Diesem kritischen Einwand kann dagegen der Vergleich mit dem Kunst- oder Musikunterricht entgegengehalten werden. Auch hier geht es nicht darum, „die Ergebnisse des Kunstunterrichts an den Werken der großen Meister“ zu messen, sondern die SchülerInnen sollen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten künstlerisch, musikalisch und literarisch betätigen.214 207 Spinner, 1999, S. 35. Ebd. 209 Spinner, 2002, S. 256. 210 Spinner, 1999, S. 35. 211 Ebd. 212 Ebd. S. 35f. 213 Ebd. S. 35. 214 Vgl. Ebd. 208 52 Mit dem oben genannten Problem hängt die zentrale Schwierigkeit beim Einsatz produktiver Verfahren zusammen, nämlich die Auswertung und Bewertung produktionsorientierter Aufgaben. Auf jedem Fall sollte im Unterricht die ernsthafte Präsentation der Ergebnisse und eine Auseinandersetzung mit ihnen erfolgen. Nach Möglichkeit sollten die im produktiven Umgang mit Literatur gemachten Erfahrungen verbalisiert und kognitiv erfasst werden.215 Häufig steht einer intensiven Besprechung möglichst vieler Schülertexte leider häufig der Faktor Zeit im Weg. Doch auch, wenn das Gespräch über die Schülerarbeiten einmal knapp ausfallen oder gar nicht zustande kommt, ist damit laut Waldmann nicht gleich aller Ertrag der produktiven Arbeit in Frage gestellt: „Der entscheidende Lernertrag der produktiven Textarbeit liegt [...] in den verschiedenen Erfahrungen [Hervorhebung durch B. P.], die die Schüler durch sie mit Literatur gemacht haben, und der bleibt auch bestehen (und wird gegebenenfalls erst längerfristig wirksam), wenn er – etwa bei Schülern, die dazu weniger disponiert oder in der Lage sind – wenig, kaum und sogar wenn er einmal gar nicht explizit verbalisiert oder kognitiv verarbeitet ist.“216 Strittig ist in der Didaktik, wie produktive Aufgaben zur Leistungsbewertung herangezogen werden sollen. Günter Waldmann vertritt z. B. die Auffassung, dass produktive Arbeitsaufgaben nicht als Klassenarbeits- oder Prüfungsaufgaben gestellt werden sollten und auch nicht benotet werden sollten.217 Dagegen kann sich Kaspar H. Spinner durchaus einen Einsatz produktiver Aufgaben in Klausuren vorstellen, vor allem in Kombination mit analytischen Aufgaben.218 Er gibt auch einige Hinweise für die Bewertung schriftlicher Produktionsaufgaben: So sind der Textbezug der gestellten Aufgabe, die innere Kohärenz des Schülertextes sowie Problemtiefe und Differenziertheit der Darstellung wichtig. Schließlich sollten auch die stilistische Gestaltungskraft und die Konsequenz eine Rolle spielen. Nach meiner Auffassung ist es durchaus sinnvoll und möglich, produktionsorientierte Aufgaben in einer Klassenarbeit zu stellen, allerdings sollte den Schülern die Möglichkeit gegeben werden, zwischen einer „klassischen“ analytischen und einer produktiven Aufgabe zu wählen. 1.4.3 Überlegungen zur methodisch-didaktischen Aufbereitung Die Basis für die methodisch-didaktische Herangehensweise an die Unterrichtsreihe zu Bernhard Schlinks Vorleser war die Zielsetzung, den SchülerInnen Freude am Lesen und am Umgang mit 215 Vgl. hierzu Waldmann, 2001, S. 502 f. An dieser Stelle macht Waldmann auch Vorschläge für die Besprechung von Schülertexten. 216 Ebd. 217 Ebd. 218 Spinner, 1999, S. 40. 53 Literatur zu vermitteln. Durch die Auswahl der Lektüre und den Einsatz produktiver Verfahren wurde versucht, diesem Ziel näher zu kommen. Die im Literaturunterricht häufige Dominanz des fragend-entwickelnden Unterrichtsgesprächs einschließlich der Erstellung eines Tafelbildes wurde ergänzt durch die stärker schülerzentrierten, produktionsorientierten Methoden, die der subjektiven Rezeption von SchülerInnen Raum geben.219 1.4.3.1 Übergeordnete literaturdidaktische Zielsetzungen Im Folgenden werden verschiedene übergeordnete literaturdidaktische Zielsetzungen angeführt, die ich als grundlegend für einen produktionsorientierten Umgang mit Literatur im Unterricht erachte. Damit soll auch der gegenwärtigen fachdidaktischen Situation Rechnung getragen werden, „dass man eher versucht, verschiedene sinnvoll erscheinende Zielsetzungen miteinander zu kombinieren als einen stringenten Ableitungszusammenhang von Leit- und Grobzielen bis zu Feinlernzielen herzustellen, wie das z. B. im Rahmen der Curriculumtheorie der 70er Jahre geschah“220. Allgemeine Zielsetzungen des Deutsch-bzw. Literaturunterrichts Die SchülerInnen sollen zur Kommunikation motiviert werden und an Lesen, Sprechen und Schreiben Freude haben221, fremde Erfahrungsräume kennen lernen und damit in die Lage versetzt werden, ihre eigene Erlebnisfähigkeit zu steigern222, zum Nachdenken über das eigene Textverstehen und das anderer angeregt werden, beim Lösen eigener Probleme und beim Suchen und Finden, Darstellen und Vertreten eines eigenen Standpunktes unterstützt werden, Gesichtspunkte zur Beurteilung und Bewertung von Texten kennen lernen, Fachbegriffe kennen lernen, mit deren Hilfe das Sprechen über Texte möglich ist, Einsicht in die gesellschaftliche Funktion und Bedeutung von Texten gewinnen, zur Teilnahme an Literatur, Theater und Kunst befähigt werden. die Geschichtlichkeit von Sprache, Darstellungsweisen und Themen erfahren, Vgl. zur „Vorab“-Lektüre des Romans, zur Situation der Klasse etc. Kap. 1.2.3 „Lernvoraussetzungen“ der vorliegenden Arbeit. Bernhard Schlink selbst hat mehrfach in Briefen, Interviews und Stellungnahmen diese eine Bitte bezüglich der unterrichtlichen Verwendung seines Buches formuliert: “Es ist die Bitte an die Lehrer und Lehrerinnen, den subjektiven Zugang zur Literatur nicht zu verstellen. Der Unterricht muss ihn erleichtern, zu ihm Lust und Mut machen!“ (Greese/ Peren-Eckert, 2000, S. 8) 220 Spinner, 2001, S. 168. 221 Vgl. Lehrplan Deutsch. Gymnasium. Klassenstufen 9+10. Saarland: Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft 1990, S. 7. Im Folgenden abgekürzt als „Lehrplan“. 222 Zu diesen und den folgenden Zielsetzungen vgl. Lehrplan, S.34. 219 54 ...speziell auf die Analyse von Texten bezogen223: erkennen, dass Texte Sachverhalte, Vorstellungen, Meinungen, Absichten, Werturteile, Probleme, Gefühle vermitteln, erkennen, dass Texte Wirklichkeit interpretieren und oft eine eigene Wirklichkeit aufbauen, erkennen, dass die vermittelten Inhalte in besonderen Textsorten mit speziellen Strukturmerkmalen dargestellt werden. Allgemeine Zielsetzungen beim Einsatz produktiver Verfahren Die SchülerInnen sollen Freude und Lust am Umgang mit Literatur empfinden, allgemein Sensibilität für Literatur, ihre Inhalte und Formen, ihre Wirkungen und besonders für ihre Leistungen gewinnen, erproben und üben, sich aktiv in literarische Texte zu involvieren, eigene emotionale und imaginative Erfahrungen mit Literatur machen und sich selbst in ihr Verstehen mit einbringen, auf eigene Praxis gestützte kognitive Einsicht in die Funktionen literarischer Techniken und Strukturen gewinnen, die Erfahrung prinzipieller Produziertheit literarischer Texte machen, lernen, literarische Formen zu verwenden, und dazu angeleitet werden, in kleinerem und größerem Umfang selbst literarische Texte zu schreiben und sich in ihnen zu artikulieren, und so eigene – wenn auch begrenzte – Erfahrung mit dem Schreiben von Literatur machen. Des Weitern sollen die Schülerinnen insbesondere in ihrer Imagination und Kreativität gefördert werden, in der Entwicklung der eigenen Identität unterstützt werden, zum Fremdverstehen, d. h. zur Übernahme fremder Erfahrungsperspektiven angeregt werden und zur selbstständigen Auseinandersetzung mit grundlegenden Lebensfragen (z. B. Liebe, Tod, moralische Konflikte, Widerstreit von Vernunft und Gefühl, Ablöse- und Reifeprozesse) angeregt werden.224 Auf den Roman Der Vorleser bezogen bedeutet dies, dass die Schüler einen Roman kennen lernen, der wichtige Momente der jüngeren deutschen Geschichte verarbeitet, 223 224 Vgl. Lehrplan, S. 35. Vgl. zu diesen Zielsetzungen Spinner, 2001, S. 170ff. 55 sich mit den verschiedenen Aspekten einer Liebesbeziehung zwischen ungleichen Partnern (Alter, soziale Herkunft...) auseinander setzen, die Ablöse- und Identitätsfindungsprozesse Michaels nachvollziehen und mit ihren bisherigen Erfahrungen in Beziehung setzen, die Situation einer Analphabetin kennen lernen, verschiedene Dimensionen des Schuld-Begriffs reflektieren, einen Einblick in die politisch-historische Situation ihrer Eltern und (Ur-)Großeltern gewinnen und ihre eigene historische Situation bestimmen, sich mit der Frage nach der Verantwortung der Nachfolgegenerationen hinsichtlich des Nationalsozialismus auseinander setzen, Fragen an den Autor des Vorlesers, Bernhard Schlink, formulieren und sich mit Antworten des Autors auseinander setzen, indem sie z. B. ihre Leseeindrücke schriftlich formulieren; eine Zeit- und Ereignisstrukturübersicht zum Roman anlegen; in Gruppen einen Steckbrief oder ein Selbstporträt des jungen Michael anfertigen; die Situation der Familie Berg untersuchen; Standbilder bauen, die Aufschluss geben über die Entwicklung der Beziehung zwischen Hanna und Michael; einen Tagebucheintrag Hannas verfassen; sich in Form eines Clusters mit dem Thema „Erwachsenwerden“ auseinander setzen; sich in die Situation einer Analphabetin versetzen; Romanhandlung und historische Situation miteinander verbinden; Aspekte der Schuld im Roman herausarbeiten; einen Abschiedsbrief Hannas schreiben; Fragen an Schlink formulieren und seine Antworten auswerten usw. 1.4.3.2 Schwerpunkt und didaktische Reduktion Der Schwerpunkt der Unterrichtsreihe zu Bernhard Schlinks Der Vorleser liegt auf dem inhaltlichen Verständnis des Romans, auf dem Verstehen und Nachvollziehen der Handlung sowie der Beweggründe und Funktionen der Romanfiguren. Der Einsatz produktiver Verfahren stellt lediglich einen methodischen Schwerpunkt dar, wobei es nicht vordergründig um die Bewusstmachung und systematische Einübung produktionsorientierter Verfahren geht. 225 Im Bewusstsein der entwicklungspsychologischen Voraussetzungen einer Klasse 10 (vgl. Kap. 1.2.2 der vorliegenden Arbeit), sowie den Erwartungen und Interessen dieser Altersgruppe liegt ein methodisch-didaktischer Schwerpunkt dieser Reihe ganz klar auf der Liebesbeziehung zwischen Hanna und Michael, insbesondere auf der Entwicklung derselben. Auch dem Thema 225 Natürlich setzen sich die SchülerInnen aber an geeigneter Stelle auch mit dem Sinn und dem Nutzen der Methode auseinander, so z. B. bei der Methode des Standbildbaus. 56 „Erwachsenwerden“/ „Adoleszenz“ wird der Altersgruppe entsprechend angemessen Raum zur Erarbeitung und Reflexion gegeben. Ein weiterer thematischer Schwerpunkt liegt auf dem Thema Analphabetismus als fehlender kultureller Schlüsselfunktion. Vernachlässigt werden innerhalb der Unterrichtsreihe die historischen Hintergründe des Romans, aber nur deshalb, weil sie parallel im Geschichtsunterricht und schwerpunktmäßig im Religionsunterricht („Kirche im Dritten Reich“; „Moral und Gewissen“) erarbeitet werden konnten (vgl. Kap. 1.2.3 dieser Arbeit).226 Der Komplex „Schuld“ und Umgang mit Schuld wird innerhalb der Unterrichtsreihe zwar behandelt, aber nicht so ausführlich bzw. so vertiefend wie es dagegen einer Oberstufenklasse angemessen wäre.227 Verzichtet wird auch auf eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem philosophischen Gedankengut des Romans – so erscheinen z. B. die Reflexionen des Protagonisten Michael über den Zusammenhang von Denken und Handeln aufgrund ihres philosophischen Gehalts für die Schüler dieser Altersstufe nur schwer nachvollziehbar.228 226 Zudem hatten einige SchülerInnen zu Beginn der Unterrichtsreihe (Kurz-)Referate zu folgenden Themen übernommen: „Konzentrationslager im Dritten Reich“; „Kriegsverbrecherprozesse“; „Analphabetismus“. Dazu hatte ich ihnen jeweils einen Lexikonartikel und diverse Internetadressen an die Hand gegeben, mit der Aufgabe, selbstständig weiterzusuchen. 227 So wird die Frage nach der Schuld der Nachgeborenen, die der Roman provoziert, zwar erarbeitet und reflektiert, aber die Frage, was die heutige Schülergeneration als dritte Generation mit den Verbrechen des NS-Regimes zu tun haben, wird nur gestreift und nicht vertieft (an dieser Stelle hätte die Verfasserin z. B. in einer Oberstufenklasse einen thematischen Schwerpunkt gesetzt). 228 Zu einzelnen Schwerpunktsetzungen bzw. didaktischen Reduktionen vgl. der im Folgenden beschriebene Verlauf der Unterrichtsreihe (Kap. 2.1). 57 2 Unterrichtspraktische Umsetzung 2.1 Tabellarischer Überblick über die Unterrichtsreihe229 Stunde Datum Stundeninhalt 1 30.04.2002 Lektüretest; Kartenabfrage: Spontanreaktionen und zentrale Themen des Romans 2 02.05.2002 Wer ist der junge Michael? – Fragebogen und produktionsorientierte Arbeitsaufträge 3 06.05.2002 Zeit- und Ereignisstruktur des Romans; Analyse der Erzähltechnik 4 07.05.2002 Michael und seine Familie 5 13.05.2002 Ablösung vom Elternhaus und Erwachsenwerden – früher und heute 6 14.05.2002 Die Entwicklung der Beziehung zwischen Hanna und Michael im ersten Teil des Romans (Vorbereitung der Standbilder) 7 16.05.2002 Die Entwicklung der Beziehung zwischen Hanna und Michael im ersten Teil des Romans (Auswertung der Standbilder) 8 23.05.2002 Schreibgespräch: „Beziehung“, Die Motive Michaels und Hannas für die Beziehung 9 27.05.2002 Michaels Prägung durch Hanna; Analphabetismus 10 28.05.2002 Hannas Analphabetismus 11 03.06.2002 Schuldproblematik I: Aspekte der Schuld Hannas und Michaels 12 04.06.2002 Schuldproblematik II: Die Schuld der ersten Generation (Täter) und der zweiten Generation (Täterkinder) 06.06.2002 6. Klassenarbeit: Literarische Erörterung 13 11.06.2002 Hannas Entwicklung während der Haft; Gründe für ihren Suizid 14 13.06.2002 Fragen an und Antworten des Autors Bernhard Schlink 2.2 Kurze Darstellung der einzelnen Stunden der Unterrichtsreihe Im Folgenden werden in einer kurzen Darstellung der einzelnen Unterrichtsstunden der 14stündigen Reihe jeweils das Stundenthema, die methodisch-didaktische Vorgehensweise und der jeweilige Verlauf der Stunde beschrieben. Zur Unterrichtsorganistion ist noch zu bemerken, dass –wie bereits beschrieben - einige SchülerInnen zu Beginn der Unterrichtsreihe (Kurz-)Referate zu folgenden Themen übernommen hatten: „Konzentrationslager im Dritten Reich“; „Kriegsverbrecherprozesse“; „Analphabetismus“. Dazu hatte ich ihnen jeweils einen Lexikonartikel und diverse Internetadressen an die Hand gegeben, mit der Aufgabe, selbstständig weiterzusuchen. Diese Schülerreferate halfen in den jeweiligen Stunden mit den entsprechenden Schwerpunktthemen, die historisch-gesellschaftlichen Hintergründe verständlich zu machen. Außerdem hatte ich den Schülern am Beginn der Erarbeitung der Lektüre die Möglichkeit der Gestaltung eines eigenen Lesetagebuches230 vorgestellt. Das Erstellen eines Lesetagebuches, 229 Die hervorgehobenen Unterrichtsstunden werden ausführlich dargestellt. 58 das eine sehr persönliche und vertiefte Auseinandersetzung mit dem Roman erlaubt, hatte ich allerdings nicht zur Pflichtaufgabe gemacht, da dies nach meiner Meinung nur aus eigenem Willen erfolgen kann. Dennoch war ich sehr erfreut, dass am Ende der Reihe von 27 SchülerInnen (und einem französischen Austauschschüler) immerhin fünf ein Lesetagebuch angelegt hatten. 1. Stunde: Einstiegsstunde: Lektüretest; Kartenabfrage: Spontanreaktionen und zentrale Themen des Romans231 Am Beginn der ersten Stunde der Unterrichtsreihe stand eine kurze Überprüfung des Inhalts der Lektüre als Inhaltssicherung. Wie bereits beschrieben, sollten die SchülerInnen den Roman schon in den Osterferien lesen und da sie wussten, dass wir erst nach der 5. Klassenarbeit, also Ende April, mit der Lektüre beginnen würden, hatten sie dafür auch genügend Zeit. Tatsächlich hatten auch die meisten SchülerInnen den Roman zu Beginn der Reihe gelesen. Die Lektüreüberprüfung am Anfang der Reihe bot als Inhaltssicherung eine Reihe von Vorteilen, z. B. war es den SchülerInnen selbst und auch mir möglich, sich über ihren Kenntnisstand rückzuversichern. Der eigentliche Einstieg in die Reihe erfolgte dann mittels einer Kartenabfrage. Die SchülerInnen erhielten zunächst je zwei vorbereitete Karten und den Auftrag, ihre positiven und negativen Leseeindrücke (Spontaneindrücke) stichwortartig zu notieren. Auf diese Weise konnte die Primärrezeption der Schüler erfasst und systematisiert werden. 232 Ich habe dieser Methode den Vorzug vor anderen Einstiegsmöglichkeiten gegeben, weil sie der subjektiven Rezeption der SchülerInnen Raum gegeben hat und auf diese Weise den SchülerInnen beim Vergleich ihrer Eindrücke zum Roman ein erster Sprechanlass über die Lektüre gegeben war. In einem nächsten Schritt wurden die Karten nach übergeordneten Kriterien – wie z. B. Charakterisierung der Hauptfiguren, Erzählstil, Analphabetismus usw. – von den SchülerInnen geordnet und auf einem Wandplakat fixiert. Auf diese Weise erarbeiteten die Schüler selbst eine Übersicht über die Hauptthemen des Romans und klärten, mit welchem Thema sie (sinnvollerweise) die Besprechung des Romans beginnen wollten. Eine Vertiefung wurde schließlich durch die nachbereitende Hausaufgabe, die folgenden Schreibauftrag beinhaltete, erreicht: 230 Zur Gestaltung eines Lesetagebuches zum Vorleser findet sich ein Vorschlag bei Greese/ Peren-Eckert, 2000, S. 143. Das dazugehörige Arbeitsblatt mit entsprechenden Fragen zur Bearbeitung findet sich – ebenso wie das Lesetagebuch einer Schülerin – im Anhang. 231 Die Einstiegsstunde wird in Kapitel 2.2.1 ausführlich beschrieben – hier erfolgt nur ein kurzer Überblick über Inhalte und Verlauf der Stunde! 232 Diese Idee für den Einstieg folgt einem Vorschlag aus dem Unterrichtsmodell von Greese/ Peren-Eckert, 2000, S. 19 f. 59 „Verfasse einen Brief an einen Brieffreund in Amerika, in dem du deinen Eindruck von Schlinks Roman Der Vorleser schilderst (beachte, dass der Roman in den USA sehr bekannt ist und dort monatelang auf den ersten Plätze der Bestsellerlisten stand)!“ 2. Stunde: Wer ist der junge Michael? Fragebogen und produktionsorientierte Arbeitsaufträge Die Stunde begann mit dem Verlesen einiger Hausaufgaben. Noch einmal hatten sich die SchülerInnen ihre eigenen Leseeindrücke vergegenwärtigt und hörten nun auch einige Meinungen und Eindrücke ihrer MitschülerInnen. Schon die schriftliche Fixierung ihrer Leseeindrücke auf den Karteikarten in der ersten Stunde der Reihe hatte von den Schülern eine genaue Selbstbefragung und damit eine intensive Auseinandersetzung mit dem Gegenstand erfordert. Diese und auch die in der Hausaufgabe geforderte Analyse und Reflexion der eigenen Meinungsbildung halte ich für sehr wichtig, wissen wir Lehrer doch aus dem Schulalltag, dass SchülerInnen auf die Frage, warum sie dieses und jenes gut (bzw. schlecht) finden, meist keine Antwort wissen.233 Die in der Hausaufgabe gewählte Briefform war dabei eine der subjektiven Rezeption der SchülerInnen angemessene Form, die meines Erachtens die Aufgabe zudem erleichterte. Stundenziel dieser zweiten Stunde der Unterrichtsreihe war nun die Charakterisierung des jungen Michael, d. h. die gemeinsame Erarbeitung des Romans erfolgt zweckmäßig mit einer Vergewisserung seiner Protagonisten, vorzugsweise mit Michael, der den SchülerInnen biografisch näher steht.234 Zu diesem Zweck erhielten die Schülerinnen ein Arbeitsblatt mit dem Fragebogen: „Wer ist der junge Michael?“235. Im Plenum wurden zunächst die Arbeitsaufträge und die Bearbeitungsmöglichkeiten vorgestellt. Dann wurde die Klasse in sieben 4er-Gruppen eingeteilt. Indem die Leitfragen des Fragebogens in den Gruppen stichwortartig beantwortet wurden, wurden zunächst Informationen zu der Person des jungen Michaels in einem gelenkten Textstudium gesichert und ergänzt. Gelenkt wurde das Textstudium an dieser Stelle zunächst aus Zeitgründen und zudem, um sicherzustellen, dass alle SchülerInnen die ersten wichtigen Textstellen zur Charakterisierung der männlichen Hauptfigur in ihrem Buch markiert hatten. Darauf aufbauend sollten diese Informationen in eine Darstellung der Figur überführt werden, wobei sich die Lernenden in die Figur hineinversetzten bzw. sie aus der Außensicht greifbar und damit für sich und andere begreifbar machten. Die Gruppen konnten sich jeweils selbstständig entscheiden, welche Form der Bearbeitungsmöglichkeit sie für die Vorstellung Michaels wählen Eine „Erziehung“ mit dem Ziel der Reflexion und Kontrolle der eigenen Urteilsbildung halte ich für elementar – auch im Sinne der Verhinderung von unreflektierter Vorurteilbildung und damit möglicherweise der Entstehung von Feindbildern. 234 Dies war auch eine der Motivationsmöglichkeiten dieser Stunde – der junge Protagonist als Identifikationsfigur. 235 Siehe im Anhang. Das Arbeitsblatt wurde in leicht veränderter Form entnommen aus Greese/ Peren-Eckert, 2000, S. 25. 233 60 wollten: Zur Auswahl standen ein Steckbrief in Form eines Plakats, ein Selbstporträt in der IchForm oder die Darstellung Michaels aus der Sicht anderer Personen, an dieser Stelle vorzugsweise der Eltern. Nur eine Gruppe erstellte schließlich ein Plakat mit Michaels Steckbrief236, fünf der Arbeitsgruppen lieferten ein Selbstporträt Michaels in der Ich-Form und nur eine Gruppe wagte sich an die sicherlich schwierigste Aufgabe, nämlich die Darstellung Michaels aus der Sicht seiner Eltern. Hierzu schrieb die Gruppe einen Dialog zwischen Mutter und Vater237, den die Gruppe erfolgreich als Rollenspiel mit sichtlichem Vergnügen im Plenum präsentierte. Nach der zwanzigminütigen Bearbeitung des Arbeitsblattes hatten die sieben Gruppen also jeweils etwa drei bis fünf Minuten Zeit, um ihren Mitschülern ihre Arbeitsergebnisse zu präsentieren und die Gruppenergebnisse untereinander zu vergleichen. Abweichungen wurde nachgegangen, indem Textbelege angeführt werden mussten. Da drei Gruppen ihre Ergebnisse nicht mehr vorstellen konnten, wurde deren Präsentation in die nächste Stunde verlegt. Alle Gruppen hatten dafür Sorge zu tragen, dass jedes Gruppenmitglied über eine schriftliche Version des gemeinsamen Ergebnisses verfügte (Mitschrift oder Kopie). Am Ende der Stunde wurde den SchülerInnen als Hausaufgabe für die nächste Stunde ein Arbeitsblatt mit einer vorstrukturierten Übersicht zur Zeit- und Ereignisstruktur im Roman ausgeteilt, das sie zur nächsten Stunde mit Bleistift auszufüllen hatten. 3. Stunde: Zeit- und Ereignisstruktur des Romans; Analyse der Erzähltechnik Nach der Präsentation der noch fehlenden Gruppenergebnisse erfolgte in dieser Stunde die Besprechung der Hausaufgabe, die die didaktische Funktion einer weiteren Inhaltssicherung erfüllte. Auf diese Weise sollten sich die SchülerInnen einen Überblick über die Romanhandlung, den zeitlichen Verlauf der Ereignisse, die Handlungsorte und die Struktur des Romans verschaffen. Zur Erreichung dieses ersten Stundenziels wurde die Übersicht zur Zeitund Ereignisstruktur im Roman238 als Folie aufgelegt. Die SchülerInnen nannten die Ereignisse, andere SchülerInnen ergänzten und die Ergebnisse wurden von mir auf die Folie eingetragen. 239 Da die SchülerInnen in ihrer Hausaufgabe ihre Ergebnisse zunächst mit Bleistift in die Übersicht eintragen sollten, fiel ihnen eine Ergänzung nicht schwer. In einem weiteren Unterrichtsschritt sollten die Schüler die Erzähltechnik des Autors anhand einer ausgewählten Textstelle analysieren. Als Teilstundenziel war vorgesehen, dass sich 236 Siehe Photo im Anhang. Ich nehme an, diese Bearbeitungsmöglichkeit stieß deshalb auf so wenig Resonanz, weil sie den Schülern zu einfach erschien. 237 Siehe Anhang. 238 Siehe Anhang. Bei der Erstellung dieser Übersicht habe ich mich an Köster, 2000, S. 128 orientiert. 239 Aus Gründen der Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit habe ich in dieser Unterrichtsstunde selbst die Folie beschrieben. 61 die Lerngruppe über die Wirkung der Erzähltechnik auf den Leser bewusst werden sollte. Zur Vorbereitung dieser Aufgabe wurden im Plenum zunächst die dazu erforderlichen Begriffe wiederholt (Erzählform, Erzählperspektive), die den SchülerInnen aus den beiden vorangegangenen Unterrichtsreihen (Analyse fiktionaler und expositorischer Texte) bestens vertraut waren. Dann bekamen die SchülerInnen den Arbeitsvortrag S. 54, 2. Absatz bis S. 57 (ohne Gedicht) zu lesen, in Partnerarbeit die Erzählform und die Erzählperspektive zu bestimmen und die entsprechenden Stellen im Text anzustreichen. In der Phase der weiteren Erarbeitung und Ergebnissicherung im Plenum nannten die SchülerInnen die Ich-Erzählform und die personale Erzählperspektive. Zur didaktischen Reduktion in dieser Stunde gehörte, dass ich an dieser Stelle nicht die Unterscheidung zwischen erlebendem und erzählendem Ich einführte, sondern mich darauf beschränkte, die Wirkung auf den Leser an den eben analysierten Textstellen beschreiben zu lassen (der Leser erlebt mit, rätselt mit; ist konfrontiert ist mit den Deutungsversuchen des Erzählers). Schließlich sollten die Schüler die Wirkung der Sichtweise des Erzählers während der gesamten Romanhandlung bestimmen und beobachteten richtig, dass außer dem Erzähler selbst alle anderen Personen in Außensicht dargestellt werden und der Leser somit nichts über die Gedanken und Gefühle der anderen Figuren, insbesondere Hannas, erfährt und damit zum Nachdenken über die Beweggründe Hannas aufgefordert ist. Im Anschluss an dieses Unterrichtsgespräch wurde das Ergebnis in Form eines Tafelbildes240 festgehalten und die SchülerInnen hatten den Auftrag, es in ihr Heft zu übernehmen und anschließend – als Lernerfolgskontrolle - noch einmal mündlich zu verbalisieren. Als vorbereitende Hausaufgabe für die nächste Stunde erhielten die SchülerInnen schließlich noch folgenden Arbeitsauftrag: „Untersuche Kapitel 7 unter folgenden Fragestellungen: 1. Was erfährst du über die Familie Berg und die einzelnen Familienmitglieder? 2. Welches Verhältnis hat Michael zu seiner Familie?“ 4. Stunde: Michael und seine Familie Zu Beginn dieser Stunde habe ich den Schülern die Idee der Erstellung eines persönlichen Lesetagebuches241 vorgestellt und ihnen freigestellt, ob sie ein solches führen möchten. Da es sich um eine freiwillige Aufgabe handelte, wurden die Lesetagebücher selbstverständlich nicht benotet. Außerdem habe ich in dieser Stunde drei Kurzreferate zu den Themen „Konzentrationslager im Dritten Reich“, „Kriegsverbrecherprozesse“ und „Analphabetismus“ vergeben242, mit deren Hilfe die Referenten ihre mündliche Note verbessern konnten. Diese 240 Siehe Anhang. Siehe hierzu Arbeitsblatt und Lesetagebuch einer Schülerin am Ende im Anhang. 242 Vgl. hierzu auch die Einleitung des Kapitels 2.1. 241 62 Referate wurden in den entsprechenden Stunden zur Verdeutlichung der historischgesellschaftlichen Hintergründe eingesetzt. Nach diesen „organisatorischen“ Dingen wiederholten wir die Ergebnisse der letzten Stunde. Die Schüler sollten innerhalb dieser Wiederholungsphase z. B. erklären, welche Konsequenz die Verwendung personalen Erzählens für das Bild des Lesers von Hanna hat (durch die Beschränkung des Erzählers auf die Außensicht erfährt man nichts über die inneren Beweggründe Hannas). Als Einstieg in das Stundenthema „Michael und seine Familie“ verlasen einige Schüler ihre Hausaufgabe, in der sie die einzelnen Familienmitglieder der Familie Berg beschrieben und insbesondere das Verhältnis Michaels zu seiner Familie untersuchen sollten. Die Erarbeitung von Michaels Familienverhältnissen mit den SchülerInnen ermöglicht gleichzeitig den Ablöseprozess Michaels sowie die Relevanz der Beziehung zu Hanna zu verdeutlichen. Dieser Aspekt sollte aber auch deshalb im Unterricht thematisiert werden, weil das Elternhaus aus der Sicht der SchülerInnen, die sich mit dem erwachsen werdenden Michael identifizieren, eine wesentliche Rolle spielt. Um die Rollenverteilung in der Familie Berg deutlich herauszuarbeiten, wurde den SchülerInnen anschließend eine Schwarz-Weiß-Photographie (auf Folie) präsentiert, die eine konventionelle Familie der 50er-Jahre zeigt. Die SchülerInnen sollten das Photo zunächst beschreiben und den Eindruck schildern, den das Photo vermittelt. Beim Vergleich der typischen 50er-Jahre Familie mit Familie Berg, stellte sich heraus, das die Rollenverteilung bei den Bergs ebenfalls im Prinzip der Konvention der damaligen Zeit entspricht, wobei aber insbesondere der Vater als intellektueller, unnahbarer „Über-Vater“ eine besondere Position einnimmt. Als weiterer, augenfälliger Unterschied stellt sich heraus, dass das im Photo festgehaltene Familienideal der 50er Jahre – aus Michaels Sicht - nichts mit der Realität der Familie Berg zu tun hat. In der sich anschließenden Ergebnissicherungsphase wurde schließlich ein Tafelbild243 erstellt, das die bisherigen Ergebnisse der Stunde zusammenfasste: Im Zentrum des Tafelbildes steht Michael, um den herum die restlichen Familienmitglieder gruppiert werden. Die Abstände zwischen Michael und den Mitgliedern seiner Familie sind dabei so gewählt, dass sie ein eher enges (z. B. Michael – Mutter) bzw. ein distanziertes (z. B. Michael – Vater) symbolisieren. In diesem Zusammenhang ergab sich in der Klasse eine rege Diskussion bezüglich des Vater-Sohn-Verhältnisses – einige SchülerInnen führten an, dass es doch schließlich der Vater gewesen sei, den Michael später wegen Hanna um Rat fragte. Schließlich einigte man sich aber darauf, dass Michael sich zwar ein von Zuwendung und Nähe geprägtes Verhältnis zu seinem Vater wünscht, dass die Realität diesem Wunsch allerdings nicht standhält. 243 Siehe Anhang. 63 Die Stunde endete mit der Vergabe der Hausaufgabe: Die SchülerInnen sollten einen Steckbrief von Hanna Schmitz erstellen. 5. Stunde: Ablösung vom Elternhaus und Erwachsenwerden – früher und heute Da ich in der vorangegangen Stunde erlebt hatte, dass bei den SchülerInnen reger Gesprächsbedarf bezüglich der Themen Ablösung vom Elternhaus und Aufnahme einer Partnerschaft bestand, hatte ich beschlossen, diesen Themen in dieser Stunde einen breiteren Raum zur Verfügung zu stellen. Um miteinander ins Gespräch zu kommen und eine angenehmere Gesprächssituation herzustellen, fand diese Stunde im Sitzkreis statt. Nachdem zu Beginn der Stunde das Verhältnis Michaels zu seiner Familie noch einmal thematisiert worden war, sollte die Distanz Michaels zu seiner Familie mit dem Eintritt Hannas in sein Leben in Verbindung gebracht werden. Deshalb stellte ich die Frage, warum Michael die Existenz Hannas vor seiner Familie geheim hält. Daraufhin wurde im Plenum vertiefend erörtert, was es für einen Jugendlichen bedeutet, sich einem Partner bzw. einer Partnerin zuzuwenden, welche Konflikte dabei im Elternhaus entstehen können und wie schwierig es ist, sich von den Eltern zu lösen. Schließlich stellte sich die Frage, was es allgemein bedeutet, das „Erwachsenwerden“, und um ihre Assoziationen zu diesem Thema zu sammeln, forderte ich die SchülerInnen auf, ihre Ideen nach der Methode des Clustering zu sammeln.244 Um auf die besondere Situation Michaels in seiner Zeit zurückzukommen, fragte ich die SchülerInnen nach ihren Kenntnissen von der „Wirtschaftswunderzeit“ und erarbeitete schließlich mit ihnen anhand eines Arbeitsblattes245, das die SchülerInnen sehr amüsierte, die Gepflogenheiten in Partnerschaft und Sexualität in den 50er-Jahren. Als Hausaufgabe sollten die SchülerInnen schließlich folgende Aufgabe bearbeiten: „Untersuche die Beziehung zwischen Michael und Hanna im ersten Teil des Romans!“ 6. und 7. Stunde: Die Entwicklung der Beziehung zwischen Hanna und Michael im ersten Teil des Romans246 Am Beginn der 6. Unterrichtsstunde innerhalb der Reihe sollten die Schüler die wesentlichen Ergebnisse der vergangenen Stunde wiederholen und ihre Aussagen mit entsprechenden Textstellen belegen. Um das soziale Gefälle zwischen Michael und Hanna zu bestimmen, charakterisierten die SchülerInnen jeweils die Lebenswelten der beiden und kontrastierten dazu z. B. die Wohnsituation der Bergs und die Hannas. Dies führte zum Schwerpunkt dieser und Siehe Cluster zum Thema „Erwachsenwerden“ im Anhang. Siehe im Anhang. Das Arbeitsblatt wurde entnommen aus: Lamberty, Michael: Literatur-Kartei „Der Vorleser“. Schülerarbeitsmaterial für Sekundarstufen. Mülheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr 2001, S. 16. 246 Die siebte Stunde – die Stunde der Präsentation der Gruppenarbeitsergebnisse - wird in Kapitel 2.3.2 ausführlich dargestellt. 244 245 64 auch der folgenden Stunde, der Analyse der Entwicklung der Beziehung zwischen Hanna und Michael. Die Entwicklung der beiden Protagonisten (bei Michael die Entwicklung von anfänglicher Abhängigkeit und Unterwürfigkeit hin zu Eigenständigkeit und Distanz, bei Hanna von scheinbarer Unabhängigkeit und Distanz zu zunehmender Abhängigkeit und Schwäche) sollte in arbeitsteiliger Gruppenarbeit mit der Methode des Standbildbaus erarbeitet werden. Nachdem die SchülerInnen von mir in die für sie neue Methode eingeführt worden waren, organisierten sich vier Gruppen, die jeweils eine andere Textstelle in ein Standbild umzusetzen versuchten. Dazu erhielten die Gruppen Arbeitsblätter247, die die Gruppenarbeiten anleiteten und strukturierten. Bis zum Ende der Stunde arbeiten die SchülerInnen in ihren Gruppen, lasen die entsprechenden Textstellen, tauschten sich über ihre Eindrücke aus und bauten ihre ersten Standbilder. Die Präsentation und Deutung der Standbilder erfolgte in der darauffolgenden siebten Unterrichtsstunde.248 Zunächst wurden die SchülerInnen über die „Regeln“ bei der Auswertung der Standbilder informiert. Wichtig war, dass die Standbilder in beliebiger Reihenfolge präsentiert und besprochen wurden und die darstellende Schülergruppe ihre Textgrundlage zunächst geheim hielt. Denn nach der Präsentation sollte die Beobachtergruppe die Standbilder interpretieren, die zugehörigen Textstellen nennen und schließlich alle vier Standbilder in die richtige Reihenfolge bringen. Die Ergebnisse der Deutung der Standbilder wurden dabei von mir sukzessive an der Tafel festgehalten. In der sich anschließenden Phase der Sicherung und Bündelung der Ergebnisse, in der die Beziehungsentwicklung als Ganzes reflektiert wurde, wurde das Tafelbild schließlich fertiggestellt. Als vertiefende Hausaufgabe wurde nach den Beweggründen von Hanna und Michael gefragt, die sie dazu verleiteten, sich auf diese komplementäre Beziehung einzulassen: „Welche Beweggründe haben Michael und Hanna, sich auf die Beziehung einzulassen? Worin besteht die gegenseitige Anziehungskraft?“ 8. Stunde: Schreibgespräch „Beziehung“; Die Motive Michaels und Hannas für die Beziehung Stundenziel dieser Stunde war eine Klärung der Motive, die Michael und Hanna zu ihrer ungewöhnlichen Beziehung veranlasst hatten. Als Stundeneinstieg sollten die SchülerInnen in einem gemeinsamen Schreibgespräch notieren, welche Erwartungen, Hoffnungen, Wünsche und realen Gründe sie zum Eingehen einer Beziehung führen könnten.249 Mit dieser Methode treten die SchülerInnen in einen schreibenden Dialog ohne die Notizen der anderen zu kommentieren. Zu dieser Aufgabe sollten sich die SchülerInnen in Kleingruppen mit zwei bis vier Beteiligten 247 Siehe im Anhang. Die Arbeitsblätter wurden entnommen aus Greese/ Peren-Eckert, 2000, S. 34-37. Die Standbilder wurden auch photographisch dokumentert (siehe Anhang). 249 Siehe die Schülerarbeit „Schreibgespräch“ im Anhang. 248 65 zusammenfinden und auf einem leeren Blatt ihr „Gespräch“ beginnen. Durch diese Methode waren die SchülerInnen optimal vorbereitet, um sich im Anschluss mit Michaels und Hannas teilweise sehr ungewöhnlichen Beweggründen zu beschäftigen. In der darauf folgenden Erarbeitungsphase nannten die SchülerInnen entsprechende Beweggründe, die Hanna und Michael zu ihrer Beziehung veranlasst haben. Ihre Nennungen sollten die SchülerInnen mit entsprechenden Stellen aus dem Text belegen. Da die Motivsuche bereits in der Hausaufgabe vorbereitet worden war, konnte ein entsprechendes Tafelbild 250 rasch entwickelt werden und es blieb noch genügend Zeit, interessante Textstellen genauer zu besprechen, die die SchülerInnen schon länger beschäftigt hatten und sie jetzt zu weiterführenden Fragestellungen veranlassten. So diskutierten die SchülerInnen beispielsweise, inspiriert durch die Erinnerung des Ich-Erzählers, dass ihn schon seine Mutter früher gebadet hatte251, inwiefern die Beziehung zur Mutter/zum Vater die späteren Liebesbeziehungen beeinflusst. Anlass zur Diskussion gab auch Hannas Aussage während der Verführungsszene (Kap. 6, S. 26: „Darum bist du doch hier!“) – handelt es sich nun hierbei um eine unbeabsichtigte Verführung oder um einen sexuellen Übergriff im Sinne einer Vergewaltigung?252 Die große Mehrheit der Klasse sah in Hanna allerdings die „unschuldige Verführerin“.253 Grundsätzlich sahen jedoch die meisten SchülerInnen in der Partnerschaft zwischen einer 36-jährigen Frau und einem 15-Jährigen wegen des Altersunterschiedes ein Problem. In der nachbereitenden, produktionsorientierten Hausaufgabe sollten die SchülerInnen die Bedeutung der Beziehung für Hanna vertiefen: „Was könnte Hanna über diese Freundschaft zu Michael und ihre Beweggründe, diese intime Beziehung auszuleben, sagen? – Wähle einen der folgenden Schreibanlässe aus: a) Hanna führt ein Telefongespräch mit einer ihr nahe stehenden Person; b) Hanna führt Tagebuch...“254 Außerdem sollten sich die SchülerInnen mit Hilfe eines Lexikons klären, was man unter „Analphabetismus“ versteht. 9. Stunde: Michaels Prägung durch Hanna; Analphabetismus In Anknüpfung an die vorherige Stunde wurden in dieser Stunde zunächst die Hausaufgaben verlesen und im Zuge dessen vor allem Hannas Beweggründe für die Beziehung mit Michael 250 Siehe Anhang. Vgl. Der Vorleser, S. 28 f. 252 Schließlich besagt § 182 des deutschen Sexualstrafrechts, dass sexueller Missbrauch (Vergewaltigung) von Jugendlichen dann vorliegt, wenn eine Person über einundzwanzig Jahren mit einer Person unter sechzehn Jahren sexuelle Handlungen ausführt, da die fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausgenutzt werde. 253 Zur Lösung dieser Problematik half den SchülerInnen der folgende Impuls: „Versetze dich in die Rolle des Regisseurs des Vorlesers – Welchen Eindruck würde Hanna in dem Augenblick machen, als Michael sie beim Umziehen beobachtet?“ Die meisten SchülerInnen meinten z. B. „natürlich“, „bemerkt nichts“, „weltvergessen“. 254 Siehe Anhang. 251 66 wiederholt. Im Unterrichtsgespräch wurde noch einmal herausgestellt, dass beide Protagonisten durch die Beziehung stärker werden. Denn beide verbindet ein gemeinsames Grundgefühl: Unsicherheit. Bei Michael rührt diese Unsicherheit von der Lebensphase her, in der er sich befindet: An dieser Stelle wiederholten die SchülerInnen den bereits eingeführten Begriff der Adoleszenz. In einem kleinen Tafelbild 255 wurden die Grundfragen festgehalten, denen sich ein Heranwachsender in dieser Phase seines Lebens (=Schwellensituation zwischen Kindheit und Erwachsensein) stellen muss (z. B. „Wer bin ich?“; „Was halten die anderen von mir?“; „Wo gehe ich hin?“). Gerade in dieser Schwellensituation kann Hanna einen großen Einfluss auf Michael auswirken, der sich auch in seinem späteren Leben als prägend bemerkbar macht. Die SchülerInnen nannten und erklärten anhand von Textbelegen die verschiedenen Bereiche, die in Michaels Leben von Hanna geprägt sind (Beziehungen zu anderen Frauen scheitern; er lebt sozial zurückgezogen; tritt auch beruflich eine Reise in die Vergangenheit an). 256 Auch diese Ergebnisse wurden an der Tafel gesichert. Schließlich kam ich noch einmal auf Hannas Unsicherheit zu sprechen, und die Frage, worin ihre Schwäche begründet liegt, führte zu Hannas Analphabetismus. Nachdem der Begriff im Plenum geklärt worden war (s. 2. vorbereitende Hausaufgabe), wurden die SchülerInnen durch ein Kurzreferat (ca. 15 min.) eines Mitschülers über Ursachen, Verbreitung, Erscheinungsformen und Gegenmaßnahmen des Analphabetismus informiert. Die SchülerInnen waren an diesem Thema sehr interessiert und hielten es teilweise für „unfassbar“, dass es in Deutschland Menschen gibt, die die eigene Sprache weder lesen noch schreiben können und es folgte eine lebhafte Diskussion, wie so etwas im deutschen Schulsystem möglich sein kann. Die Diskussion war eine gelungene Überleitung zur Hausaufgabe für die nächste Stunde, in der, wie ich den Schülern ankündigte, das Thema „Analphabetismus“ im Mittelpunkt stehen sollte. Die SchülerInnen sollten den ausgeteilten Text mit dem Titel „Ich will herausschreien, dass ich nicht lesen kann“ lesen und die drei dazugehörigen Fragen beantworten: 1. Wie gestaltet sich das Leben von Sue Torr als Analphabetin? 2. Was bedeutet es für die Entwicklung von Sue Torr, dass sie schließlich noch lesen und schreiben lernt? 3. Vergleiche die Entwicklung der Biografie von Sue Torr mit der Hannas. 255 256 Vgl. Anhang. Vgl. Tafelbild im Anhang. 67 10. Stunde: Hannas Analphabetismus Als Einstieg in diese Stunde hatte ich den SchülerInnen aus einem Buch in russischer Sprache eine Seite kopiert und als Folie aufgelegt. Die SchülerInnen sollten beschreiben, was sie sehen und die Frage beantworten, welche Wirkung das Gesehene auf sie hat. Der Einstieg hatte somit die didaktische Funktion, die SchülerInnen das Gefühl erfahren zu lassen, dass sie Zeichen, die offensichtlich eine Bedeutung tragen, überhaupt nicht entziffern können. Auf diese Weise wollte ich den SchülerInnen ein Hineinversetzen in die Situation einer Analphabetin erleichtern. Sodann begann die Erarbeitungsphase mit der Besprechung der Hausaufgabe. Ein dabei angestrebtes Lernziel war, dass die SchülerInnen Analphabetismus in einen Bezug zur heutigen Realität stellen. Bei der Beschreibung des Lebens Sue Torrs als Analphabetin sollten sie Begriffe wie alltägliche Angst vor Bloßstellung, Leben mit Lügen, Verheimlichung, Tricks und Ausweichmanöver nennen. Weiter sollten die SchülerInnen erklären, dass Alphabetisierung für Sue Torr „denken lernen“ bedeutet. Das führte zum Vergleich der Entwicklung Sue Torrs mit der von Hanna Schmitz, der den Stundenschwerpunkt, Hannas Analphabetismus, vorbereitete. Durch das Beispiel Sue Torrs sollten die SchülerInnen auf Ähnlichkeiten mit Hannas Analphabetismus gestoßen werden und dazu verschiedene Textstellen nennen. Die SchülerInnen nannten z. B. Hannas Wunsch, vorgelesen zu bekommen, als eine Erscheinungsform ihrer Schwäche. Durch die Nennungen der SchülerInnen entstand das im Anhang abgedruckte Tafelbild. Als Lernerfolgskontrolle stellte ich schließlich die Frage, welche Bedeutung der Analphabetismus für Hannas Leben hat (Analphabetismus als Unmündigkeit) und weiter, welche Bedeutung folglich dessen Überwindung für Hanna hat (Alphabetisierung als Mündigkeit). Zum Abschluss der Stunde wurde die Textstelle S. 126 verlesen: Michael entdeckt Hannas Analphabetismus. Diese Textstelle sollte den SchülerInnen den Ansatzpunkt liefern, um in Kleingruppen (2-4 SchülerInnen) einen Dialog zwischen Michael und Hanna257 zu entwerfen: Michael spricht mit Hanna, nachdem er ihr Geheimnis entdeckt hat... Diese Aufgabe sollten die SchülerInnen bis zur nächsten Stunde fertig stellen, mit dem Ziel, ihre Arbeitsergebnisse in der nächsten Stunde als kleines Rollenspiel zu präsentieren. 11. Stunde: Schuldproblematik I: Aspekte der Schuld Hannas und Michaels Nachdem die SchülerInnen zu Beginn der Stunde ihre Arbeitsergebnisse der vorangegangenen Stunde in Form eines Rollenspiels präsentiert hatten, eröffnete ich den SchülerInnen, dass das Thema dieser Stunde die Schuldproblematik im Roman sein würde.258 Der Schwerpunkt dieser 257 Siehe Anhang. Die beiden Schüler, die zu den Themen „Konzentrationslager im Dritten Reich“ und „Kriegsverbrecherprozesse“ je ein Kurzreferat angefertigt hatten, mussten diese (in dieser und den nächsten Stunden) zwar nicht vortragen, 258 68 Stunde lag auf der Analyse von Hannas und Michaels Schuld. Am Beginn dieser Thematik war es mir wichtig, zunächst den für die SchülerInnen womöglich abstrakten Begriff der Schuld zu klären. Deshalb sammelten wir zunächst mündlich, was unter dem Begriff Schuld zu verstehen sei. In der Auseinandersetzung mit dem Schuldbegriff ergab sich, dass „es einen Unterschied macht, ob ich mich für schuldig halte oder ob es die anderen sind, die mich schuldig sprechen“ (=Schüleräußerung). Es ist also zu unterscheiden zwischen „objektiver“ und „subjektiver Schuld“. Insgesamt wurde im Unterrichtsgespräch deutlich, dass es bei der Bewertung schuldhaften Verhaltens stets mehrere Beurteilungsinstanzen gibt: Das eigene Gewissen, andere Personen oder Gruppen oder auch in der Gesellschaft geltende Normen, Gesetzesregelungen oder religiöse Grundhaltungen. Dann stellte ich den SchülerInnen die Frage, welche Aspekte von Schuld in Schlinks Roman thematisiert werden. Genannt wurden Hannas Schuld, Michaels Schuld an Hanna, Michaels Schuld an Frau und Tochter, Michaels Schuldgefühl wegen der Liebe zu einer Verbrecherin. Auffälligerweise verblieben die SchülerInnen in ihren Antworten sehr auf der Ebene der Figuren – die nächsthöhere Ebene, die Schuld der Tätergeneration (und Hanna als eine Vertreterin derselben) sowie die Schuld der Nachgeborenen (und Michael als ihr Stellvertreter) sahen sie zunächst nicht. In der sich anschließenden Erarbeitungsphase sollten die SchülerInnen in einer arbeitsteiligen Gruppenarbeit jeweils Aspekte der Schuld Hannas und Michaels herausarbeiten. Insgesamt wurden nach dem Zufallsprinzip sechs Gruppen gebildet – drei Gruppen beschäftigten sich unter Bearbeitung einer vorgegebenen Textstelle mit jeweils einem anderen Schuldaspekt Hannas, die anderen mit jeweils einem Schuldaspekt Michaels.259 Die Gruppenergebnisse wurden schließlich vorgetragen und in einem Tafelbild gesichert, dass in dieser Stunde begonnen wurde und in der nächsten Stunde ergänzt werden sollte.260 Als vorbereitende Hausaufgabe für die nächste Stunde sollten die SchülerInnen den Text „Die außerpalamentarische Opposition“261 lesen und die Textinformationen zusammenfassen. 12. Stunde: Schuldproblematik II: Die Schuld der „ersten Generation“ (Täter) und der „zweiten Generation“ (Täterkinder) Da es sich bei dieser Stunde um die letzte Stunde vor der Klassenarbeit handelte, wurden zu Beginn der Stunde noch einige diesbezüglichen Fragen der SchülerInnen besprochen. 262 sondern sie sollten sich in den kommenden Stunden als „Experten“ bereit halten, denen zu ihren Themen von mir oder ihren MitschülerInnen Fragen gestellt werden konnten. Außerdem lagen mir alle Referate schriftlich vor. 259 Die genauen Arbeitsaufträge befinden sich im Anhang. 260 Siehe Tafelbild („Aspekte der Schuld im Roman Der Vorleser“) im Anhang. 261 Siehe Anhang. 262 Zur Klassenarbeit vgl. Kap. 2.3. 69 Der Schwerpunkt dieser Stunde lag dann bei der Analyse der Schuld der Tätergeneration und der Schuld der Nachgeborenen. Nach der Wiederholung der Ergebnisse der letzten Stunde, wurden im Plenum zwei ausgesuchte Textstellen gelesen (S. 87 f. und S. 161), die den SchülerInnen einen weiteren Schuldaspekt des Romans verdeutlichen sollten. Die Schüler sollten anschließend erklären können, dass die Schuld der „ersten Generation“ zum einen in den NSVerbrechen selbst sowie im Mitläufertum besteht, zum anderen aber auch darin, sich nach 1945 nicht von Nazis und NS-Verbrechern distanziert zu haben. Um dieses Lernziel zu erreichen, sollten die SchülerInnen erklären, worin die Schuld der Tätergeneration besteht und was die „68er“ insbesondere kritisierten. Im diesem Zusammenhang wurden auch die Informationen, die die SchülerInnen aus dem Sachtext über die APO herausarbeiten sollten, besprochen und geklärt. Die Schülerergebnisse wurden in dem Tafelbild festgehalten, das in der vergangenen Stunde begonnen worden war. Um die Schuld der Nachgeborenen, der „zweiten“ Generation, zu erarbeiten, wurde ähnlich vorgegangen. Gemeinsam wurden diesmal die Seiten 161-163 aus dem Vorleser gelesen und die SchülerInnen sollten erläutern, inwiefern sich die „zweite Generation“ schuldig fühlt. An dieser Stelle sollten die SchülerInnen erläutern, dass die „zweite“ Generation vom Gefühl der Kollektivschuld und der Scham gekennzeichnet ist. Schließlich sollten die SchülerInnen die Kritik Michaels an seiner Generation erklären und richtig konnte herausgestellt werden, dass Michael im Nachhinein den Aufklärungseifer und die Selbstgerechtigkeit der „68er“ kritisiert. Auch diese Ergebnisse wurden im Tafelbild gesichert. Damit sich die Schüler schließlich zu ihrer eigenen Position im Hinblick auf die deutsche Geschichte kritisch äußern konnten, hatte ich das Gedicht „Gespräch mit einem Überlebenden“ von Erich Fried ausgeteilt, dass zunächst jeder für sich lesen sollte und das dann mit verteilten Rollen gelesen wurde.263 Im Anschluss sollten die SchülerInnen knapp die Kernaussage des Gedichts zusammenfassen (Das Gedicht problematisiert den Umgang mit Schuldzuweisungen an die Adresse der Mitläufer der Nazis und unterstreicht gleichzeitig die historische Verantwortung der Generation der Nachgeborenen, in kritischen Zeiten nicht nur zuzusehen, sondern aktiv zu werden, um politische Katastrophen künftig zu verhindern). Es fiel ihnen nicht schwer, den appellativen Charakter des Gedichts aufzugreifen und einen politisch aktuellen Bezug herzustellen: Die Gefahr des Ignorierens rechtsextremistischer Positionen (und Gewalttaten!) in der Gesellschaft. Da in der nächsten Stunde die Klassenarbeit geschrieben wurde, entfiel die Hausaufgabe. 263 Gerade, wenn das Gedicht mit verteilten Rollen gelesen wird, wirkt es sehr eindringlich und kommt bei SchülerInnen dieser Altersstufe – so meine Erfahrung – sehr gut an. 70 13. Stunde: Hannas Entwicklung während der Haft; Gründe für ihren Suizid Der Stundenschwerpunkt dieser Stunde lag auf den Interpretationsansätzen für die Entwicklung Hannas während der Haft anhand der Analyse ausgewählter Textstellen. Stundenziel war es, dass die SchülerInnen die äußeren Aspekte der Entwicklung Hannas benennen können und verschiedene Interpretationsansätze für diese Entwicklung kennen lernen. Nachdem ich den SchülerInnen zu Stundenbeginn das Stundenthema und den Stundenablauf vorgestellt hatte, begann die erste Erarbeitungsphase, die Analyse Hannas während der Haft. Dazu teilte ich die Klasse in zwei Gruppen auf, die in Einzelarbeit arbeitsteilig Kapitel 8 bzw. Kapitel 10 lesen sollten (Arbeitsauftrag: „Lest Kapitel 8 bzw. 10 und markiert die äußeren Veränderungen Hannas während der Haft sowie eventuelle Gründe oder Folgen!“). Im Anschluss an diese Gruppenarbeitsphase wurden die Ergebnisse gesammelt und an der Tafel264 festgehalten (im Tafelbild: „äußere Aspekte der Entwicklung“). In der darauffolgenden zweiten Erarbeitungsphase ging es um die Interpretation der Entwicklung Hannas während der Haft. Zunächst sollten die SchülerInnen im Unterrichtsgespräch mögliche innere Entwicklungen erläutern, die mit Hannas Analphabetisierung zusammenhängen (Einsicht und Anerkennung der Schuld). Dann sollten die SchülerInnen erklären, welche möglichen Konsequenzen sich aus den inneren Entwicklungen ergeben (Rückzug nach innen, Testament als Wiedergutmachung; Selbstmord als Buße). Die Antworten, die mit Textbelegen gestützt werden sollten, wurden sodann gesammelt und an der Tafel festgehalten. Im nächsten Unterrichtsschritt sollten die SchülerInnen erläutern, welchen Stellenwert Bildung für Hanna hat und im Hinblick darauf erklären, welche Bedeutung die Alphabetisierung für Hanna zudem noch hat (Eröffnung der geistigen Welt). Sodann sollten die SchülerInnen erklären können, dass aufgrund der Eröffnung der geistigen Welt die auf körperlicher Attraktivität beruhende Beziehung zu Michael für Hanna nicht mehr so wichtig ist, und sie Michael somit freigeben kann. In diesem Zusammenhang war es den SchülerInnen möglich, den Selbstmord Hannas als endgültige Loslösung und Distanzierung von Michael zu interpretieren. Auch diese Ergebnisse wurden gesammelt und an der Tafel festgehalten. Dann sollten die SchülerInnen mögliche Zusammenhänge zwischen den an der Tafel festgehaltenen Ergebnissen und Hannas körperlicher Vernachlässigung erläutern (Hannas körperliche Vernachlässigung als Folge der Schuldeinsicht oder als Folge des ihr nun möglichen Zugangs zur geistigen Welt, in der der Körper nicht mehr so wichtig ist). Als weitere Deutungsmöglichkeit für Hannas körperliche Vernachlässigung nannten die SchülerInnen die Enttäuschung Hannas über Michaels Verhalten (keine Briefe, äußerliche Veränderung, Distanz). Aus diesem Interpretationsansatz heraus deuteten die SchülerInnen die Tatsache, dass Hanna 264 Tafelbild siehe Anhang. 71 Michael keinen Abschiedsbrief hinterlässt als Bestrafung Michaels und ihren Selbstmord als finale Distanzierung von Michael. Als Lernerfolgskontrolle erfolgte schließlich eine Reflexion und Zusammenfassung der Ergebnisse auf Metaebene (Impuls: „Fasst unsere Ergebnisse auf einer abstrakteren Ebene zusammen!“): Es gelang den SchülerInnen zu erkennen, dass keine eindeutige Interpretation der Entwicklung Hannas in der Haft möglich ist und das somit eine Leerstelle entsteht (vgl. Ergebniskästchen im Tafelbild). Der produktive Arbeitsauftrag der nachbereitenden Hausaufgabe sollte die SchülerInnen schließlich dazu motivieren, einen der erarbeiteten Interpretationsansätze durch eine veränderte Perspektive genauer zu verfolgen: „Bei der Durchsicht der Sachen in Hannas Zelle findet sich doch noch ein Abschiedsbrief an Michael. Schreibe diesen Brief!“265 14. Stunde: Fragen und Antworten des Autors Bernhard Schlink In dieser letzen Stunde der Unterrichtsreihe266, in der es um den Autor des Vorlesers, Bernhard Schlink, gehen sollte, hatten wir den Direktor des Marie-Luise-Kaschnitz-Gymnasiums, Herrn Dr. Fischer, zu Gast. Schon oft hatten mir SchülerInnen im Laufe der Reihe Fragen zum Autor gestellt – z. B. interessierte es sie brennend, ob Bernhard Schlink in diesem Roman autobiographische Erfahrungen beschrieben hat. Deshalb konnte ich in dieser Stunde auch mit einer entsprechenden Motivation der SchülerInnen rechnen. Nachdem ich am Anfang der Stunde das Stundenthema präsentiert hatte, sollten sich die SchülerInnen vorstellen, dass am nächsten Tag Bernhard Schlink zu einem Interview an ihre Schule kommen würde und sich entsprechende Fragen an den Autor überlegen („Welche Fragen fallen euch spontan ein?“; „Was würdet ihr gerne von Bernhard Schlink erfahren?“). Nachdem die meisten SchülerInnen der Klasse eine oder mehrere Fragen formuliert hatten (z. B. „Ist das Werk autobiographisch zu verstehen?“; „Wie sind Sie auf die Buchidee gekommen?“; „Wie kamen Sie zum Schreiben?“; „Haben Sie Kinder?“ usw.), lies ich die SchülerInnen die beiden großen Bereiche unterscheiden, zu denen Sie Fragen formuliert hatten, nämlich zum einen zur Person des Autors und zum anderen zum Werk. Im nächsten Unterrichtsschritt hatten die SchülerInnen nun die Aufgabe, sich in Partnerarbeit je drei bis vier Fragen zu jedem der beiden Bereiche zu überlegen. Inzwischen hatte ich an der Tafel267 das zweispaltige Tafelbildraster vorgegeben und die SchülerInnen kamen nach der Partnerarbeitsphase (nach ca. 3 min.) nach 265 Siehe Anhang. In dieser letzten Unterrichtstunde der vorgestellten Reihe verzichtete ich zu Beginn der Stunde auf die Kontrolle und das Vorlesen der Hausaufgabe und sammelte stattdessen am Ende der Stunde die Hefte ein, um mir ein abschließendes Bild der Hausarbeiten der Schüler zu machen und nicht zuletzt, um einige Schülerarbeiten für den Anhang dieser Arbeit zu kopieren. 267 Tafelbild siehe Anhang. 266 72 vorne und schrieben ihre Fragen an. Nachdem also jeder Schüler der Klasse seine Frage an Bernhard Schlink formuliert hatte, war es Zeit, den SchülerInnen Antworten zu geben.268 Nachdem sie sich dazu geäußert hatten, wie sie sich Bernhard Schlink vorstellten, habe ich ein Bild des Autors an die Wand projiziert, damit sie sehen konnten, wem sie ihre Fragen gestellt hatten. Dann erhielten die SchülerInnen einen kurzen Text mit biographischen Angaben (und dem gleichen Photo des Autors), den sie nach dem gemeinsamen Lesen im Plenum daraufhin untersuchten sollten, welche der an der Tafel festgehaltenen Fragen der Text beantwortet (diese Antworten sollten jeweils im Text unterstrichen werden) und welche Fragen der Text darüber hinaus noch zusätzlich klärt. So verfügten die SchülerInnen nach dieser Unterrichtsphase schon über die wichtigsten Informationen über den Autor (und hatten diese vor allem im Kopf und nicht nur im Kurzzeitgedächtnis abgelegt). Am Ende dieser ersten Erarbeitungsphase, die ca. 15 min. gedauert hatte, stellten die SchülerInnen einige biographischen Parallelen zwischen Michael Berg und Bernhard Schlink fest (beides Juristen, beide aus einer Professorenfamilie, beide schreiben). Nun kündigte ich den SchülerInnen (= Beginn der 2. Erarbeitungsphase) an, dass ich ihnen ein „echtes“ Interview mit Bernhard Schlink mitgebracht hatte: Eine Kassettenaufnahme eines Interviews, das der Journalist Dr. Rudolf Schock mit Bernhard Schlink geführt hatte und das 1996 vom Saarländischen Rundfunk aufgezeichnet worden war.269 Dazu hatte ich ein Arbeitsblatt mir vorformulierten Fragen270 vorbereitet, auf dem die SchülerInnen während des Hörvortrages die Antworten Schlinks mitskizzieren konnten. Auf diese Weise gelangten die SchülerInnen nicht nur zu einem visuellen, sondern auch zu einem auditiven Eindruck Bernhard Schlinks. Nach dem Hören des Interviews verlasen und verglichen die SchülerInnen „ihre“ Antworten und endlich konnte im Plenum auch die Frage nach dem autobiographischen Gehalt des Buches geklärt werden, die die SchülerInnen so interessiert hatte: „Darauf kommt es nicht an.“ – Doch: „Man kann nur über das schreiben, was man kennt, aber man schreibt nicht alles, wie es war.“271 Ob diese Antwort nun die SchülerInnen befriedigte? Jedenfalls wurde sie gemeinsam geklärt und die 10 a zeigte sich zufrieden. Diese Art der Vorbereitung auf die „Begegnung“ mit dem Autor hatte mehrere Vorteile: Die SchülerInnen waren wesentlich motivierter und neugieriger, etwas über den Autor zu erfahren, sie gingen bereits mit einem „Frageraster“ im Kopf an den Text über den Autor, den sie im Anschluss zu bearbeiten hatten, heran und konnten so die für sie wesentlichen Textinformationen viel schneller und sicherer „herauslesen“ und schließlich war das Thema der Stunde viel mehr zu ihrem Thema geworden. 269 Dieses Interview war mir zunächst von Frau von Tippelskirch, der Direktorin des Wirtschaftswissenschaftlichen Gymnasiums in Saarbrücken auf Cassette überlassen worden. Die SR-Redaktion von Herrn Dr. Ralph Schock hat mir dann dankenswerterweise für diese Arbeit eine CD mit dem Interview sowie die Verschriftlichung desselben mit der Erlaubnis zur Vervielfältigung geschickt (siehe Anhang). 270 Siehe im Anhang. 271 Bernhard Schlinks Antworten im Interview mit Dr. Ralph Schock. 268 73 Da es sich um die letzte Stunde dieser Reihe gehandelt hatte, wurde keine Hausaufgabe vergeben, aber es blieb den SchülerInnen natürlich freigestellt, einen Brief an den Autor zu formulieren, um sich die übriggebliebenen Fragen beantworten zu lassen... 2.3 Ausführliche Darstellung der Unterrichtsstunden 1 und 7 2.3.1 Die Einstiegsstunde Didaktische Reduktion Eine didaktische Reduktion erübrigt sich, da es in dieser Stunde darum geht, die Primärrezeption der SchülerInnen zu erfassen und zu systematisieren. Schwerpunkt Der Schwerpunkt der Stunde liegt in der Erfassung der ersten Leseeindrücke der SchülerInnen und in der Systematisierung derselben. Lernziele Stundenziel: Die SchülerInnen sollen ihre positiven und negativen Leseeindrücke vom Roman auf je verschiedenfarbige Karteikarten notieren, diese dann nach übergeordneten Kriterien systematisieren und somit selbst die Themen festlegen, die im Rahmen der Unterrichtsreihe behandelt werden sollen. Feinlernziele: Die SchülerInnen sollen 1. die Fragen des Lektüretest beantworten 2. auf gelben Karteikarten ihre positiven Leseeindrücke notieren 3. auf grünen Karteikarten ihre negativen Leseeindrücke notieren 4. im Unterrichtsgespräch ihre Leseeindrücke nennen 5. bei der Beschreibung der Leseeindrücke ihrer MitschülerInnen zuhören 6. ihre Leseeindrücke mit Tesafilm an den Seitentafeln fixieren 7. inhaltliche Kriterien, nach denen die Karten sortiert werden können, nennen 8. die benannten Gemeinsamkeiten einzelner Karten als übergeordnete Aspekte auf andersfarbige große Karteikarten schreiben, die jeweils als Überschriften fungieren 9. sowohl die größeren Karten als auch die zweifarbigen Karteikarten auf ein großes Wandplakat kleben und das Wandplakat an die Wand des Klassenzimmers hängen 10. weitere Fragen und Themen nennen, die sie gerne im Laufe der Reihe besprechen würden 74 11. in der schriftlichen Hausaufgabe einen Brief verfassen, indem sie ihre Eindrücke von der Lektüre schildern Motivationsmöglichkeiten Diese Stunde bietet eine Fülle an Möglichkeiten der Motivation. Zunächst motiviert der Einstieg in eine neue Unterrichtsreihe, in ein neues Thema. Durch die bereits erfolgte Lektüre des Romans sind die SchülerInnen sehr interessiert, über diesen interessanten und ungewöhnlichen Roman ins Gespräch zu kommen. Ein Lektüretest wirkt zwar auf den ersten Blick „abschreckend“, aber da er so konzipiert ist, dass man die Fragen – falls man den Roman gelesen hat – ohne Probleme beantworten kann, motiviert er auch diejenigen, die ihre Hausaufgaben gemacht haben; denn sein Wissen gibt man gerne preis. Die Kartenabfrage motiviert die SchülerInnen methodisch durch die Arbeit mit bunten Materialien, in diesem Falle mit verschiedenfarbigen Karteikarten. Auch die Gestaltung eines Wandplakates – ein für die SchülerInnen neues „Projekt“ finden die SchülerInnen gut, weil es ein Produkt von ihrer Hand ist, dass zudem noch über einige Wochen die sonst tristen, grauen Wände zieren wird. Äußerst anregend wirkt es zudem, dass die SchülerInnen nach ihrer Meinung gefragt sind und sich auch über ihren eventuellen Verdruss im Zusammenhang mit der Lektüre äußern dürfen. Sehr spannend ist es auch, auf diese Weise die Meinungen und Eindrücke der MitschülerInnen zu erfahren. Schließlich motiviert die Bewegung im Klassenraum und das gemeinsame Erarbeiten ihres Produkts. Gliederung der Stunde US Zeit Lerninhalt LZ Unterrichts- Medien verfahren 1 11.35 – Begrüßung und Einstieg: 11.47 Lektüretest 1 EA Arbeitsblatt EA, UG Karteikarten; (12’) 2 11.47 – Erarbeitung: 2, 3, 12.07 Kartenabfrage: Was hat dir an dem 4, 5, (20’) Roman gefallen? Was nicht? 6 Schüler schreiben jeweils einen Aspekt auf die Karten; dann UG: S. nennen ihre Leseeindrücke, fixieren Karten mit Tesafilm an Seitentafeln 75 Tafel 3 12.07 – Erarbeitung/Vertiefung: Nenne 5, 7, 12.17 inhaltliche Kriterien, nach denen wir 8, 9, Größere (10’) die Karten sortieren können und 10 Karten UG ordne die Karten zu! Karteikarten Wandplakat Fixieren der Karten auf Wandplakat; anhand der zwei Farben der Karten erkennbar, welche Themen die SchülerInnen besonders interessieren Welche weiteren Fragen und Themen würdest du gerne im Verlauf der UR besprechen? 4 12.17 – Hausaufgabenstellung und 12.20 Verabschiedung: „Verfasse einen (3’) Brief an einen Brieffreund in Amerika, 11 UG in dem du deinen Eindruck von Schlinks Roman Der Vorleser schilderst!“ Lernerfolgskontrolle: Eine Lernerfolgskontrolle ist in dieser Stunde recht schwierig zu konzipieren – lediglich die Frage nach weiteren Fragen und Themen stellte eine „kleine“ Lernerfolgskontrolle dar. Zu erwartende Schwierigkeiten und Lösungsmöglichkeiten Die einzige Schwierigkeit, die in dieser Stunde vorstellbar wäre, ist, dass eine zu große Unruhe in der Klasse entsteht, z. B. wenn die SchülerInnen an der Gestaltung des Wandplakates arbeiten. Dem kann vorgebeugt werden, wenn den SchülerInnen zu Beginn der Stunde heute eine besondere Arbeitsform angekündigt wird, die ihnen Spaß machen wird, die aber – im Falle von unerträglicher Lautstärke abgebrochen werden muss. Allgemein muss in dieser Stunde allerdings mit einer gewissen Unruhe gerechnet werden. Kommentar Dieser Möglichkeit des Einstiegs in die Lektüre hat den klaren Vorteil, dass es die SchülerInnen sind, die ihre Themen festlegen, so dass auch in den Folgestunden mit einer größeren 76 Grundmotivation gerechnet werden kann. Wie man sich denken kann, hat diese Stunde den Schülern auch sichtbar Spaß gemacht. Als wichtig erachte ich es außerdem, dass die SchülerInnen ganz bewusst „trainiert“ werden, einander zuzuhören. Eine weitere, interessante Möglichkeit des Einstiegs findet sich bei Köster272. Sie schlägt als Einstieg vor, die beiden Protagonisten Hanna und Michael mit Requisiten auszustatten: „Stellen Sie sich vor, Sie führten Regie bei der Verfilmung des Vorlesers. Überlegen Sie, welche Requisiten Sie zur Ausstattung der Protagonisten des Romans benötigen!“ Als Ergebnisse sind z. B. denkbar: Für Hanna Unterrock, schwarze Strümpfe, Nachthemd, Badetuch, Badewanne, Stiefel, Peitsche, Gürtel, Schlüssel, Fahrkartenlocher, Straßenbahnschaffnerinnen-Uniform. Für Michael Bücher, Schülermütze, Kohleschütte, Brille, Badehose, Mikrofon, Kassettenrekorder, Bleistift, Papier. In einem zweiten Schritt werden diese auf Karteikarten notierten Requisiten Themen zugeordnet, die den Roman überspannen: Hierbei werden einige Requisiten dem Thema Erotik und Sexualität, andere dem Thema Gewalt, Verbrechen, Konzentrationslager zugeordnet. Einige Requisiten sind nicht eindeutig zuzuordnen: So gehört der Gürtel zum Thema Erotik ebenso wie zu dem Thema Gewalt. Das Requisit Uniform verbindet die Schaffnertätigkeit Hannas mit der Funktion als KZ-Aufseherin. Im Romanzusammenhang wird deutlich, dass beide „Uniformtätigkeiten“ Hannas Folge ihrer Disposition als Analphabetin sind. Demgegenüber verweisen die Requisiten Michaels auf seine bildungsbürgerliche Herkunft – sie weisen den IchErzähler als Intellektuellen aus. 2.3.2 Die siebte Stunde: Die Entwicklung der Beziehung zwischen Hanna und Michael im ersten Teil des Romans – Präsentation und Auswertung der Ergebnisse Wie bereits in der Kurzbeschreibung der Stunden sechs und sieben beschrieben worden war, hatten die SchülerInnen in Stunde sechs in Gruppenarbeit mit der Methode des Standbildbaus die Entwicklung der beiden Protagonisten erarbeitet (vgl. Arbeitsblätter im Anhang). Dazu waren vier Gruppen gebildet worden, die sich mit Textstellen beschäftigten, die jeweils ein anderes Stadium der Beziehungsgeschichte zwischen Hanna und Michael zum Ausdruck bringen. In der sich anschließenden siebten Stunde sollte nun die Präsentation und Auswertung der Standbilder erfolgen. Didaktische Reduktion 272 Vgl. Köster, 2000, S. 72. 77 In dieser (wie schon in der vorherigen Stunde) geht es ausschließlich um die Entwicklung der Beziehung im ersten Teil des Romans (s. vorgegebene Textstellen), d. h. der zweite Teil des Romans kann völlig außer Acht gelassen werden. Schwerpunkt Der Schwerpunkt dieser Stunde liegt in der Präsentation und Auswertung der Standbilder. Lernziele Stundenziel Die SchülerInnen sollen die Entwicklung der beiden Hauptfiguren als eine Entwicklung von Abhängigkeit zu Unabhängigkeit (Michael) bzw. von Unabhängigkeit zu Abhängigkeit (Hanna) erkennen. Feinlernziele: Die SchülerInnen sollen a) Beobachergruppe 1. das Standbild beschreiben 2. erklären können, was es Wesentliche über die Beziehung aussagt 3. die Situation in den Romankontext einordnen b) darstellende Gruppe 4. erklären, was sie mit dem Standbild zum Ausdruck bringen wollen 5. die jeweilige Textgrundlage benennen können 6. erkennen und nennen, dass zu Beginn der Beziehung Hanna dominant, Michael aber abhängig ist 7. erkennen und nennen, dass am Ende der Beziehung Michael überlegen und Hanna schwach und passiv ist 8. die Entwicklung der Beziehung der beiden Hauptfiguren als eine Entwicklung von Abhängigkeit zu Unabhängigkeit (Michael) bzw. umgekehrt (Hanna) erklären können 9. die „Hotelszene“ als Wendepunkt der Beziehung erkennen und nennen Motivationsmöglichkeiten Sicherlich motiviert die SchülerInnen in dieser Stunde die für sie neue, produktionsorientierte Methode des Standbildbaus. Ihre Arbeitsergebnisse werden dabei auch photographisch dokumentiert, so dass den SchülerInnen auch dadurch die Besonderheit der Arbeitsform bewusst wird. Das Standbildbauen macht ihnen sichtlich Spaß und ist eine willkommene Abwechslung zu 78 dem im Vergleich hierzu langweiligen frage-entwickelnden Unterricht. Auch das Arbeiten in der Gruppe und der dazugehörige Gruppeneffekt schafft einen Gewissen Anreiz. Gliederung der Stunde US Zeit Lerninhalt LZ Unterrichts- Medien verfahren 1 8.50- Begrüßung ; Präsentation und 9.20 Deutung der Standbilder (30’) (Erarbeitungsphase) 1,2,3,4,5 UG Tafel Standbilder Beschreibe das Standbild. Was sagt es Wesentliches aus über die Beziehung der Personen? Ordne die Situation in den Romankontext ein! Was wollt ihr mit diesem Standbild zum Ausdruck bringen? Welches war die Textgrundlage? L: sukzessives Festhalten der Ergebnisse an der Tafel 2 9.20 – Ergebnissicherung und – bündelung: 6,7,8,9 9.33 Entwicklung der Beziehung (13’) zwischen Hanna und Michael vom UG Tafel Standbilder Anfang bis zum Ende des ersten Teils: Welchen Status nehmen die beiden Personen zu Beginn der Beziehung zueinander an? Beschreibe das Statusverhältnis am Ende der Beziehung! Wie entwickelt sich die Beziehung LEK hinsichtlich des Status der beiden Figuren also? Wo liegt der Wendepunkt in der 79 LEK Beziehung? L. hält die Ergebnisse an der Tafel fest 3 9.33 – Stellung der Hausaufgabe und UG 9.35 (2’) Verabschiedung: „Welche Beweggründe haben Michael und Hanna für die Beziehung? Worin besteht die gegenseitige Anziehungskraft? Lernerfolgskontrolle Als erste Lernerfolgskontrolle sollen die SchülerInnen die Entwicklung der beiden Hauptfiguren als eine Entwicklung von Abhängigkeit zu Unabhängigkeit (Michael) bzw. umgekehrt (Hanna) erklären. Als zweite Lernerfolgskontrolle sollen die SchülerInnen die „Hotelszene“ als Wendepunkt der Beziehung erkennen und nennen. Zu erwartende Schwierigkeiten und Lösungsmöglichkeiten Insgesamt empfiehlt sich für eine Erarbeitung von Themenstellungen mit der Methode des Standbildbaus eine Doppelstunde einzuplanen, um auch Raum für eventuell aufkommende Diskussionen zu lassen. Schwierigkeiten könnten sich ergeben, wenn die Methode für die meisten SchülerInnen neu ist und sie Hemmungen haben, sich körperlich auszudrücken. Deshalb empfiehlt sich generell eine Aufwärmphase mit kleinen Übungen, die den mimischen und gestischen Ausdruck schulen. Auch der Lehrer sollte dabei engagiert mitmachen, um die SchülerInnen zu ermutigen! Kommentar Das Verfahren des Standbildbaus macht den SchülerInnen viel Spaß und bietet die Chance, dass die im Kopf der SchülerInnen entstehenden Vorstellungen, die sie über die Lektüre gewinnen, sichtbar und damit einer Deutung und Diskussion zugänglich gemacht werden. 2.4 Lernerfolgskontrolle: Die Klassenarbeit Für die Bearbeitung der Klassenarbeit, einer literarischen Erörterung, hatten die SchülerInnen drei Unterrichtsstunden zur Verfügung. Dieser Zeitraum wurde allerdings nur von wenigen 80 vollständig in Anspruch genommen. Es handelte sich um die zweite literarische Erörterung, die die SchülerInnen in Klasse 10 als Klassenarbeit schrieben. Die erste hatten sie am Ende des ersten Schulhalbjahres zu Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan. geschrieben, insofern war ihnen diese Arbeitsform also schon vertraut. Ich hatte den SchülerInnen zwei Themen zur Auswahl gestellt, von denen eines zu bearbeiten war. Beide Themenstellungen hatten sowohl Anteile, die im Unterricht behandelt worden waren, als auch Fragestellungen, die über die Behandlung des Themas im Unterricht hinausgingen. In Thema 1 ging es um Michael und seine Familie, besonders um das Verhältnis zum Vater; bei der Bearbeitung des zweiten Themas hatten sich die SchülerInnen mit der Beziehung zwischen Hanna und Michael zu befassen.273 Es waren also zwei Themen gewählt worden, die sowohl Schwerpunkte bei der unterrichtspraktischen Aufbereitung der Lektüre gebildet hatten als auch den Interessen der SchülerInnen entgegenkamen. Von 28 SchülerInnen hatten 21 Thema 2 und nur 7 Thema 1 gewählt. Da Thema 2 produktionsorientiert erarbeitet worden war, werte ich dieses auch als Erfolg dieser Unterrichtsmethode – ich denke, dass die Standbilder, die zur Erarbeitung der Entwicklung der Beziehung von Hanna und Michael gebaut worden waren, besonders gut in der Erinnerung der SchülerInnen haften geblieben sind. Insgesamt erreichten die SchülerInnen in dieser Arbeit einen Notendurchschnitt von 2,6 – der beste Schnitt, der bisher in einer Deutsch-Klassenarbeit in diesem Schuljahr erreicht wurde. Die Notenverteilung sah wie folgt aus: 2x1, 9x2, 11x3, 3x4. Viele Schüler hatten sich verbessert; so schaffte ein Schüler, der bisher kontinuierlich „5“ geschrieben hatte, diesmal immerhin eine 4-. Auch bei anderen SchülerInnen ergaben sich erfreuliche Steigerungen. 273 Die genauen Aufgabenstellungen sowie eine sehr gute Klassenarbeit befinden sich im Anhang. 81 3 Kritische Auswertung der Unterrichtsreihe Die Lektüreauswahl habe ich auch im Nachhinein ganz und gar nicht bereut – nicht nur, dass die meisten meiner SchülerInnen von dem Roman sofort gefesselt waren. Wie bereits ausführlich beschrieben, halte ich den Roman sowohl thematisch als auch erzähltechnisch für als Schullektüre für außerordentlich geeignet – auch oder gerade für eine Klassenstufe 10. Besonders die Tatsache, dass die SchülerInnen zu Beginn des Romans auf einen etwa gleichaltrigen Protagonisten treffen, macht die Lektüre zu einem für die SchülerInnen attraktiven Leseangebot. Denn hier liegt ein Identifikationsanbot vor, dass zur Selbstaufklärung beitragen und zu Fragen führen kann wie: „Wie hätte ich gehandelt?“ „Wie hätte ich mich in den Ereignissen und Konflikten verhalten? Welche ethisch-moralischen Auffassungen vom Leben habe ich?“ Da der Roman schnell zugänglich ist, gab es bei den SchülerInnen tatsächlich keine Lesewiderstände. Diejenigen, die den Roman bereits in den Osterferien gelesen hatten, erzählten ihren MitschülerInnen nach den Ferien davon und die anderen beeilten sich, ihr „Lesedefizit“ aufzuholen, damit sie „mitreden“ konnten. Einige berichteten, noch nie so schnell ein Buch zu Ende gelesen zu haben. Dass sie es mit einem internationalen Bestseller zu tun hatten, begriffen sie spätestens auf der Klassenfahrt nach München, wo sie „ihren“ Vorleser in den Schaufenstern jeder größeren Buchhandlung wiedertrafen. Es machte sie merklich stolz, teilzuhaben am derzeitigen literarischen Leben in Deutschland und ich hörte häufiger, dass sie auch außerhalb des Unterrichts mit Eltern, Geschwistern und Freunden über das Buch diskutierten. Mein Hauptziel, die SchülerInnen zum Lesen zu motivieren, sehe ich somit als erreicht. Nach wie vor würde ich also diese Lektüre ohne Bedenken in einer Klasse 10 lesen – zumal wenn ein fächerübergreifendes Behandeln der NS-Problematik möglich ist. Doch diesmal würde ich den SchülerInnen – so denke ich – noch mehr „zutrauen“ als bei diesem ersten Versuch. Insgesamt ist meine Unterrichtsplanung doch sehr von dem Gedanken im Hinterkopf bestimmt gewesen, dass es sich ja eigentlich um eine „Oberstufenlektüre“ handelt. Natürlich unterBerücksichtigung des Leistungsvermögens der jeweiligen Klasse, würde ich bei einer erneuten Durchführung der Reihe den Unterrichtsschwerpunkt mehr in Richtung des zweiten Buches verschieben und mich z. B. mehr mit dem Prozessgeschehen und auch noch intensiver mit der Schuldproblematik beschäftigen. Ansonsten würde ich die Themenverteilung der Reihe durchaus beibehalten. Einbauen würde ich „beim nächsten Mal“ aber gerne noch eine Stunde über die Bedeutung der Kulturtechniken Lesen und Schreiben. 82 Auch der Einsatz produktiver Methoden wirkte sich in der Unterrichtsreihe durchaus so positiv aus, wie ich es mir vorgestellt hatte, jedoch stellte die zu knappe Zeit bei der Bearbeitung und Auswertung der Aufgaben häufig ein Problem dar. Wenn in einer Unterrichtsstunde an einer produktiven Aufgabe gearbeitet wurde, war oft kaum Zeit für eine eingehende Präsentation und Besprechung möglichst vieler Schülertexte. Hier wären Doppelstunden sehr hilfreich gewesen. Auf diese Weise hätte auch für die Bearbeitung der Aufgaben selbst mehr Zeit zur Verfügung gestanden. In dieser Unterrichtsreihe wurden produktive Verfahren häufig zur Vertiefung von im Unterrichtsgespräch erlangten Ergebnissen eingesetzt. Dies hatte den Vorteil, dass auch schwächere SchülerInnen den Anschluss nicht verloren, und dass durch die intensive Beschäftigung mit bestimmten Aspekten des Romans auch leistungsstärkere Schüler angesprochen wurden. Mein Eindruck, dass die SchülerInnen von den produktionsorientierten Aufgaben motiviert wurden, wurde durch die Rückmeldung der SchülerInnen bestätigt. Mehrfach äußerten sie sich dahingehend, dass sie froh über die Abwechslung bezüglich der Arbeitsformen im Unterricht seien und es war schön zu sehen, dass sie verschiedene produktive Verfahren bald selbstverständlich einforderten. Dieselben SchülerInnen, die zu Beginn des Schuljahres größte Bedenken bei dem Gedanken äußerten, vor ihren MitschülerInnen ein Gedicht vortragen zu müssen, machte es am Ende scheinbar kaum noch Sorgen, vor der Klasse zu agieren. Besonders das Rollenspiel hatte es ihnen angetan, und als ich die Klasse auch im Fach Politik für eine Unterrichtsreihe übernahm, war es selbstverständlich, dass auch hier ein Rollenspiel „eingebaut“ werden musste. Natürlich waren sich die SchülerInnen auch bewusst, dass wir ein Buch lasen, dass sonst eher in ein bis zwei Jahren auf dem Plan stehen würde, und ich glaube, dass machte sie auch ein bisschen stolz. Am Ende möchte ich noch die Ergebnisse einer kleinen „Umfrage“ bekannt geben, für die ich einen Teil der Zugfahrt auf der Klassenfahrt nach München nutzte: Positiv am Roman fanden die SchülerInnen: Michael lässt Hanna nicht im Stich. Bis zum Schluss entstehen immer neue Fragen. Die Fragen, die Michael sich stellt und sich zu beantworten versucht. Den kurzen prägnanten Satz zur Kapiteleinleitung. Die gut verständliche Sprache. Die Schreibweise Schlinks. Man konnte die Gefühle Michaels gut nachvollziehen. Den Titel (aber erst im Nachhinein!). Michael liest Hanna vor, weil sie nicht lesen kann. Michael ist immer für Hanna da. 83 Negativ fanden die SchülerInnen dagegen: Den Schluss (Selbstmord Hannas). Michaels Leben wird durch Hanna gestört. Manchmal die komplizierte Rhetorik; das hat mich dann aus dem Lesen gebracht. Die Gedankensprünge im zweiten Kapitel. Hanna kann nicht zugeben, dass sie Analphabetin ist. Fazit: Die Lektüre des Vorlesers in der Klassenstufe 10 kann mit gutem Gewissen empfohlen werden. 84 4 Literaturverzeichnis Primärliteratur Schlink, Bernhard: Der Vorleser. Zürich: Diogenes 1995. Schlink, Bernhard: Liebesfluchten. Zürich: Diogenes 2000. Sekundärliteratur Baacke, Dieter: Die 13- bis 18jährigen. Einführung in die Probleme des Jugendalters. Weinheim und Basel: Beltz 2000. Bantel, Otto/Schaefer, Dieter: Grundbegriffe der Literatur. Frankfurt a. M.: Hirschgraben-Verlag 1991. Bernhard Schlink in seiner Rede zur Verleihung des Fallada – Preises der Stadt Neumünster 1997. In: Salatgarten, Heft 1 1998. Bühler, Charlotte: Das Seelenleben der Jugendlichen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.): Jugendsexualität 2000. Wiederholungsbefragung von 14-17jährigen und ihren Eltern im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Ergebnisse der aktuellen Repräsentativbefragung. Köln 2000. Christoph Stölzl, Ich hab`s in einer Nacht ausgelesen. Laudatio auf Bernhard Schlink. In: „Die Welt“ vom 13.11.2000. Christoph Stölzl, Ich hab`s in einer Nacht ausgelesen. Laudatio auf Bernhard Schlink. In: „Die Welt“ vom 13.11.2000. Filtner, Andreas: Lernen...mit Kopf, Herz und Hand. In: Lernen. Ereignis und Routine. Friedrich Jahresheft IV. Velber 1986. Greese, Bettina und Almut Peren-Eckert: Bernhard Schlink, Der Vorleser. Paderborn: Schöningh 2000 (= Reihe Einfach Deutsch). Gudjons, Herbert: "Ich will halt anders sein wie die anderen." Neue Befunde zur Pubertät. In: Pädagogik. Heft 7-8, 07-08/2001. Haas, Gerhard, Menzel, Wolfgang, Spinner, Kaspar H.: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. In: Praxis Deutsch. Zeitschrift für Deutschunterricht. Sonderheft: „Handlungsorientierter Literaturunterricht“. Seelze: FriedrichVerlag 2000, S. 7 – 15. Haas, Gerhard: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. Theorie und Praxis eines „anderen“ Literaturunterrichts für die Primar- und Sekundarstufe. SeelzeVelber: Kallmeyer`sche Verlagsbuchhandlung 2001. Köster, Juliane: Bernhard Schlink, Der Vorleser. München: Oldenbourg 2000, S. 89ff. 85 Köster, Juliane: Bernhard Schlink: „Der Vorleser“ (1995) – Eine Interpretation für die Schule. In: Der Deutschunterricht 4/1999, S. 70 – 81. Krause, Tilmann: Welt – Literaturpreis für Schlink. Liebe zu guten Geschichten: Ein Porträt des Berliner Schriftstellers. In: „Die Welt“ vom 16.10.1999. Lamberty, Michael: Literatur-Kartei „Der Vorleser“. Zürich: Verlag an der Ruhr 1997. Milhoffer, Petra: Das pubertäre Chaos der Gefühle. Entwicklungspsychologische Merkmale und sexualpädagogische Herausforderungen. In: Pädagogik. Heft 7-8, 07-08/2001. Möckel, Magret: Erläuterungen zu Bernhard Schlink. Der Vorleser. Hollfeld: Bange 2001 (=Königs Erläuterungen und Materialien, Band 403). Moers, Helmut: Bernhard Schlink, Der Vorleser. Freising: Stark 1999 (= Reihe Interpretationshilfe Deutsch). Oerter, Rolf, Dreher Eva: Jugendalter. In: Oerter, Rolf, Montada, Leo (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union 1995. Reisner, Peter: Bernhard Schlink, Der Vorleser. Stuttgart: Klett 2001. Schäfer, Dietmar: Bernhard Schlink, Der Vorleser. München: Mentor Verlag 2000. Sigrid Löffler im Literarischen Quartett im Dezember 1995. Abgedruckt als Zusatzmaterial bei Peren-Eckert/Pohsin, 2000. Spinner, Elisabeth/ Spinner, Kaspar, H.: Kinder- und Jugendliteratur. In: Baurmann, Jürgen/ Hoppe, Otfried (Hrsg.): Handbuch für Deutschlehrer. Stuttgart 1984, S. 362 – 378. Spinner, Kaspar H.: Die eigenen Lernwege unterstützen. Die sogenannte kognitive Wende in der Deutschdidaktik. In: Spinner, Kaspar H.: Neue Wege im Literaturunterricht. Informationen, Hintergründe, Arbeitsanregungen. Hannover: Schroedel 1999, S. 4-9. Spinner, Kaspar H.: Entwicklungsspezifische Unterschiede im Textverstehen. In: Spinner, Kaspar H. (Hrsg.): Identität und Deutschunterricht. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1980, S. 33-51. Spinner, Kaspar H.: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. In: Bogdal, Klaus-Michael, Korte, Hermann: Grundzüge der Literaturdidaktik. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2002, S. 247 – 257. Spinner, Kaspar H.: Neue und alte Bilder von Lernenden. – Deutschdidaktik im Zeichen der kognitiven Wende. In: Müller-Michaels, Harro/ Rupp, Gerhard (Hrsg.): Jahrbuch der Deutschdidaktik 1994. Tübingen: Narr 1995, S. 127 – 144. Spinner, Kaspar H.: Produktive Verfahren im Literaturunterricht. In: Spinner, Kaspar H. (Hrsg.): Neue Wege im Literaturunterricht. Informationen, Hintergründe, Anregungen. Hannover: Schroedel-Verlag 1999, S. 33 – 41. 86 Thomas Wirtz, Immer nur lebenslänglich. Bernhard Schlink verhängt Liebesstrafen. In: FAZ vom 12.02.2000. Urban, Cerstin: Bernhard Schlink, Der Vorleser. Kommentare, Diskussionsaspekte und Anregungen für produktionsorieniertes Lesen. Hollfeld: Joachim Beyer Verlag 2000 (= Reihe Blickpunkt Text im Unterricht). Urban, Cerstin: Bernhard Schlink, Der Vorleser. Kommentare, Diskussionsaspekte und Anregungen für produktionsorientiertes Lesen. Hollfeld: Joachim Beyer Verlag 2000. Waldmann, Günter: Produktiver Umgang mit Literatur im Unterricht. Grundriss einer produktiven Hermeneutik. Theorie – Didaktik – Verfahren – Modelle. In: Lange, Günter, Schuster, Karl, Ziesenis, Werner (Hrsg.): Deutschdidaktik aktuell. Band 1. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag: Hohengehren 2000. Wandrey, Ute: Frau mit Peitsche. Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ – Protokoll der Gefühle. In: Das Sonntagsblatt vom 15.12.1995. Wangerin, Wolfgang: Romane im Unterricht. In: Lange, Günter/ Neumann, Karl/ Ziesenis, Werner (Hrsg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Grundfragen und Praxis der Sprach- und Literaturdidaktik. Band 2. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 1998, S. 600-620. Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Kröner 1989. Lehrpläne Lehrplan Deutsch. Gymnasium. Klassenstufen 9+10. Saarland: Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft 1990. Vorläufiger Lehrplan Geschichte. Gymnasium. Klassenstufen 9+10. Saarland: Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft 1990. Vorläufiger Lehrplan Grundkurs Geschichte Gymnasium/Gesamtschule. Jahrgangsstufe 13. Saarland: Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft 1990. Lehrplan Evangelische Religion. Gymnasium. Klassenstufen 9 und 10.Saarland: Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft 1988. saarländischen Lehrpläne für die Klassenstufen 5 und 6 im Zuge der Einführung von G 8. Interviews / Gespräche Bernhard Schlink im Interview mit Dr. Ralph Schock am 12. 10. 1996 bei SR 2 Kulturradio (Vgl. Transkription im Anhang). Spiegel-Gespräch mit Bernhard Schlink: „Ich lebe in Geschichten“. In: Der Spiegel vom 24.01.2000. 87 Internet [email protected] und www.alphabetisierung.de; www.alphabetisierung.de . http://homepages.strath.ac.uk/~hfs97115/bibvorle.htm . Microsoft Encarta. Enzyklopädie 2002, Suchbegriff "Pubertät". 88 5 Anhang 89