Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis Ralf Kellermann Sommersemester 2013 Der Essay im Ethikunterricht: Produktion, Analyse und didaktische Vermittlung Donnerstag, 16.15 – 17.45 Uhr Der Ethikunterricht soll nicht allein über Sachen aufklären, sondern die Schüler und Schülerinnen auch persönlich ansprechen. Neben der argumentativen Stützung von Meinungen geht es immer wieder auch darum, sich über Wünsche, Hoffnungen und Aversionen zu verständigen und die blind im Hintergrund wirkenden Einstellungen über ethische Probleme in den Blick zu nehmen. Anders als die neutral und sachlich orientierte Erörterung bietet das Schreiben und Lesen von Essays eine interessante Möglichkeit, Argumente und Emotionen gemeinsam zu artikulieren, zu reflektieren und zu kommunizieren. Im Seminar verständigen wir uns zunächst darüber, was unter den Begriffen „Essay“ und „Essayismus“ zu verstehen ist. Ist der Essay eine Textsorte mit benennbaren sprachlichen und formalen Eigenschaften? Oder spricht man angesichts der Schwierigkeiten einer Definition des Essays vielleicht besser vom Essayismus als einer Haltung, die sich in ganz unterschiedlichen Textformen artikulieren kann? Diese Fragen führen zum Teil in die Gefilde der Germanistik, zu einem guten Teil betreffen sie jedoch jene philosophischen und ethischen Fragen, die uns im Seminar hauptsächlich interessieren. Zum einen geht es um die Frage, wie man schreibend und kommunikativ ethische Probleme artikuliert: wie man angemessen über menschliche Wahrnehmungen spricht, wie man die Analyse ethischer Probleme versprachlicht und wie man die Begründung für den Lösungsvorschlag in eine textuelle Form bringt. Der Essay bietet hier eine Alternative zu Sprachstil und Argumentationsmustern nüchterner deduktiver Ableitungen. Diese essayistischen Alternativen werden wir zum einen gemeinsam analysieren, zum anderen aber auch selbst praktisch erproben. Ein philosophischer Blick auf die subjektiv geprägte Schreibweise des Essays führt automatisch aber auch auf die Frage nach der Entstehung und der ethischen Relevanz von Subjektivität, Identität, Individualität und der Personalität. Es ist ein Topos der Essay-Forschung (bei Adorno, Schärf u.a.), dass sich im essayistischen Schreiben ein individuelles Subjekt artikuliert und bildet und dass eine solche Form der Individualität die Voraussetzung für eine freie Gesellschaft mündiger Bürger ist. Diese Vorstellung gilt es zum einen analysierend nachzuvollziehen, zum anderen aber auch kritisch zu hinterfragen. Eine mögliche Orientierung für die Infragestellung bietet die Systemtheorie Niklas Luhmanns, die es erlaubt, den Sinn subjektiven Schreibens aus kommunikationstheoretischer Sicht zu rekonstruieren. ______________________________________________________________________________________ Kommentiertes VV | SS 2013 | Kellermann Seite 1 Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis Ralf Kellermann Sommersemester 2013 Die Beziehung zwischen essayistischem Schreiben und Subjektivität führt schließlich auch zur didaktischen Dimension des Essayschreibens, auf die Frage, mit welchen Zielen und mit welchen Mitteln den Schüler in der Schule das Essayschreiben zu vermitteln ist. Während das subjektiv geprägte Schreiben einerseits weiterführende Perspektiven eröffnet, lässt sich kritisch einwenden, dass man den Schülern mit dem Essay eine Art Besinnungsaufsatz abfordert, den man in den 70er Jahren mit einem Recht als „Gesinnungsaufsatz“ – als aufdringliche Zumutung - kritisierte. Und kann man von Schülern verlangen, dass diese sich relativ „frei“ über ein Thema äußern? Verwickelt man sie damit nicht in eine paradoxe Beziehungsfalle? Schon hier wird deutlich, dass der Essay nicht nur ein Medium für die Artikulation ethischer Probleme ist, sondern selbst eine ganze Reihe ethischer Probleme provoziert und sichtbar macht. Diese Probleme sollen im Seminar im Dialog diskutiert und geklärt werden. Literatur zum Essay Theodor W. Adorno, Der Essay als Form. In: Th. W. A., Noten zur Literatur (Frankfurt a. M. 1981), S. 8–33. Max Bense, Über den Essay und seine Prosa. In: M. B., Plakatwelt. Vier Essays (Stuttgart 1952), S. 23–37. Georg Lukács, Über Wesen und Form des Essays. In: Ludwig Rohner (Hrsg.), Deutsche Essays – Prosa aus zwei Jahrhunderten. Bd. 1 (München: DTV 1972), S. 27–47. Georg Stanitzek, Essay – BRD (Berlin: Vorwerk 8, 2011). Peter V. Zima, Essay / Essayismus (Würzburg: Könighausen & Neumann 2012). Wolfgang Müller-Funk, Erfahrung und Experiment: Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus (Berlin: Akademie Verlag 1995). Christian Schärf, Geschichte des Essays: Von Montaigne bis Adorno (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999). Literatur zum Essay in der Schule Winfried Harst / Matthias Wasel / Dietrich Erlach / Bernd Schurf, Kursthemen Deutsch: Werkstatt »Essay«: Rezeption und Produktion (Berlin: Cornelsen 2012). Ralf Kellermann, Der Essay (Stuttgart: Reclam 2012). Ralf Kellermann, „Der Essay“ (= Deutsch betrifft uns, Heft 5, 2011; Aachen: Bergmoser und Höller). Matthias Thies, Judith S. Ulmer, Gerhard Thorn, Peter Merkel, Elke Anastassoff, Der Essay in der Schule: Theorie, Unterricht, Aufgabenstellung, Bewertung (Hohengehren: Schneider 2012). ______________________________________________________________________________________ Kommentiertes VV | SS 2013 | Kellermann Seite 2 Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis Ralf Kellermann Sommersemester 2013 Sterben, Tod und Trauer als Herausforderung für den Ethikunterricht Donnerstag, 14.15 – 15.45 Uhr Der Tod ist ein Problem für die Lebenden. Zunächst ist der eigene Tod eine Herausforderung. Im Ethikunterricht lässt sich darüber reden, wie man mit der eigenen Endlichkeit umgeht, ob der Tod das Ende ist oder ein Übergang, ob er Freiheit verheißt oder als Gegenteil vom Leben zu fürchten ist und welche Konsequenzen aus den möglichen Antworten auf diese Fragen zu ziehen sind. Im sozialen Leben ist der Tod dann ein Problem, wenn man sich zum absehbaren oder bereits eingetretenen Tod eines anderen verhalten muss. Ethisch relevant ist das Thema Sterbehilfe, bedeutsam ist aber auch die Frage, wie man mit Sterbenden und Angehörigen über das absehbare Ende redet - offen? schonend andeutend? gar nicht? - und wie man den absehbaren Tod gestaltet: daheim? im Krankenhaus? im Hospiz? Nach dem Tod stellt sich für die Hinterbliebenen die Frage, wie man angemessen von nahen Menschen Abschied nimmt. Die Bedeutung von Trauer zwischen Emotion und Ritual ist hier ebenso zu erörtern wie der Sinn und Unsinn gesetzlicher Bestattungsvorschriften und moderner Alternativen (Friedwald, anonymes Grab, Seebestattung usw.). Schließlich provoziert auch Suizid Fragen (nach Motiven, nach der Berechtigung, nach den Konsequenzen), die im Ethikunterricht zu erörtern sind. Im Seminar werden wir uns zum einen mit philosophischen Texten zum Thema Tod auseinandersetzen (u.a. Seneca, Freud, Heidegger) und diese mit religiösen Vorstellungen (Christentum, Islam) vergleichen. Daneben wird es darum gehen, schreibend und im Dialog die je persönliche Haltung zu Tod und Sterben (weiter) zu entwickeln. Und schließlich werden wir die Behandlung des Themas in Lehrwerken untersuchen und analysieren, mit welchen Methoden hier welche Ziele verfolgt werden. Literatur Schulbücher Wege Werte Wirklichkeiten 9/10 (München: Oldenbourg, erscheint 2013). Abenteuer Ethik, Bd. 3 (Bamberg: Buchner 2008). Zum Hintergrund Philippe Ariès, Geschichte des Todes (München: DTV 1993 u.a.). Zygmunt Baumann, Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien (Frankfurt/M., Fischer 1994). Thomas Bronisch, Der Suizid: Ursachen, Warnsignale, Prävention (München: Beck 1995). ______________________________________________________________________________________ Kommentiertes VV | SS 2013 | Kellermann Seite 3 Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis Ralf Kellermann Sommersemester 2013 Jacques Choron, Der Tod im abendländischen Denken (Stuttgart: Klett 1967). Sigmund Freud, „Jenseits des Lustprinzips“, in: Das Ich und das Es und andere metapsychologische Schriften (Ffm: Fischer 1960). Georg Schwikart, Tod und Trauer in den Weltreligionen (Topos Verlag 2010). Georg Scherer, Das Problem des Todes in der Philosophie (Darmstadt: WBG 1979). ______________________________________________________________________________________ Kommentiertes VV | SS 2013 | Kellermann Seite 4