Die Bedeutung der Kastration in Lenz´ Komödie „Der Hofmeister“

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Rudolf Käser:
Die Krankheit des “Hofmeisters“. J. M. R. Lenz am Schnittpunkt von Medizin- und
Literaturgeschichte.
Eine der Aufgaben literaturkritischer Textinterpretation ist die Bereitstellung griffiger Sinnmodelle,
welche die Rezeption komplexer und irritierender literarischer Texte erleichtern. Interpretatorische
Sinnmodelle, wenn sie einmal akzeptiert sind, können ein sehr langes und zähes Leben führen und
gehören schliesslich zum eisernen Bestand an Selbstverständlichkeiten, die den Blick auf den
Ausgangstext steuern. Gerade deshalb ist auch die kritische Revision von Sinnmodellen ein Teil des
literaturkritischen Tagesgeschäfts.
Die Selbstkastration Läuffers in Lenz´ "Lust und Trauerspiel" „Der Hofmeister“1 ist eine solche
komplexe und irritierende literarische Textur, die zudem stark emotionalisierte und tabuisierte
Sachverhalte anspricht. Was hat diese Szene zu bedeuten? Welches ist ihr Sinn? Dazu gibt es ein
Interpretationsmodell. Die herkömmlich Lesart fasst z. B. Kindlers Literaturlexikon wie folgt
zusammen: „ Als Marthe mit Gustchens Kind ins Schulhaus kommt und Läuffer es als das seine
erkennt, entmannt er sich in selbstanklägerischer Reue und Verzweiflung“.2 Die Bedeutung der
Selbstkastration wird als Selbstbestrafung aufgrund der Einsicht in die Schuldhaftigkeit eines von der
Norm abweichenden Sexualverhaltens verstanden. Die Normverletzung besteht in der ausserehelichen
Zeugung eines Kindes.
Doch diese These hat Schwächen. In ihrer Perspektive ist erstens die Integration der Szenenfolge zu
einer sinnvollen Handlungssequenz schwierig. Läufers auf die Selbstkastration folgende Liebe zu Lise
und die sich anbahnende Ehe erscheinen als eine nicht recht schlüssige und in den Text nicht voll
integrierte Zutat. Brecht, der in seiner Bearbeitung des Dramas die These der moralischen
Selbstbestrafung durch die These der opportunistischen Selbstanpassung ideologiekritisch
radikalisierte, hat diese neu aufflackernde Liebe zwischen Läuffer und Lise denn auch in der
Handlungssequenz nach vorne gezogen und die Selbstkastration nachfolgen lassen.3 Selbstkastration
signalisiert in den Bedeutungsgeflechten der westeuropäischen Moderne offenbar eine Strafe für
normwidriges sexuelles Begehren. Bei Lenz hingegen erwacht neues Begehren nach der
Selbstkastration. Dem ist das gängige Interpretationsmuster offenbar nicht gewachsen.
1
So die Gattungsbezeichnung in der Handschrift. Zitiert wird im folgenden nach: J. M. R. Lenz. Der Hofmeister.
Synoptische Ausgabe von Handschrift und Erstdruck. Hrsg. v. M. Kohlenbach. Basel, Frankfurt a. M.:
Stroemfeld / Roter Stern, 1986.
2
Walter Jens: J. M. R. Lenz. In: „Kindlers Neues Literatur-Lexikon.“ Bd. 10. München, 1992. S. 213.
3
Vgl. Bertold Brecht. Der Hofmeister von Jakob Michel Reinhold Lenz. Bearbeitung. In: „Werkausgabe Bertold
Brecht“. Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 6. Zürich: Ex Libris, 1975. S. 2330 – 2394. Die Kastration dort
in Akt 4, Szene 14.
Ein zweiter Schwachpunkt besteht darin, dass wiederholte exakte Zeitangaben im Text Läuffer als den
leiblichen Vater von Gustchens Kind eindeutig ausschliessen. „Hast nicht die geringste Nachricht von
Deiner Tochter?“ fragt der Geheime Rat in der ersten Szene des vierten Aktes seinen Bruder, den
Major (105). Dieser antwortet: „Ein ganzes Jahr – Bruder geheimer Rat – Ein ganzes Jahr – und
niemand weiß, wohin sie gestoben oder geflogen ist?“ (107) In der drauffolgenden zweiten Szene des
vierten Aktes wird diese Zeitangabe im Gespräch zwischen Gustchen und der blinden Marthe
bestätigt: Gustchen: „Liebe Marthe, bleibt zu Hause und seht wohl nach dem Kinde: es ist das
erstemal, dass ich euch allein lasse in einem ganzen Jahr.“ (109) Dieselbe Frist wird in der dritten
Szene des vierten Aktes von Wenzeslaus angegeben, der dem geheimen Rat gegenüber aussagt: „Er ist
eben ein Jahr in meinem Hause: ein stiller, friedfertiger, fleißiger Mensch.“ (111) Läuffer selbst
versichert in dieser Szene: „Ich habe sie (Gustchen) nicht gesehen, seit ich aus Ihrem Hause geflüchtet
bin“. (113) Gustchen hat ihr Kind zwei Tage vor Ablauf dieses Jahres geboren, wie übereinstimmend
an zwei Stellen gesagt wird. Als Gustchen nämlich nach der Niederkunft ihren Vater benachrichtigen
will, möchte Marthe die Wöchnerin nicht ziehen lassen und warnt: „[...] einmal hab ich´s versucht, den
zweiten Tag nach der Niederkunft auszugehen, und nimmermehr wieder; ich hatte schon meinen Geist
aufgegeben, wahrlich, ich könnt Euch sagen, wie einem Toten zu Mute ist.„ (109) Gustchen setzt sich
über dies Warnung hinweg und erleidet einen Schwächeanfall. Der Geburtstermin wird von Marthe
später noch einmal bestätigt: „zwey Tage nach ihrer Niederkunft, Mittags gieng sie fort und wollt´auf
den Abend wiederkommen“ (131).
Gustchen hat ihr Kind – wenn man die Zeitangaben des Texte genau nimmt – in der
zweiundfünfzigsten Wochen nach ihrem letzten Zusammensein mit Läuffer zur Welt gebracht. Läuffer
weiss so gut wie jedermann und jede Frau, dass die tatsächliche Dauer einer Schwangerschaft
erheblich kürzer ist. Wer diesbezüglich Zweifel hegt, kann sich z. B. im Zedlerschen Lexicon von
1735 informieren:
Dass dem menschlichen Geschlecht eine gewisse Zeit zu Gebären bestimmt sey, lehret nicht nur das
Vieh, welches nach aller Philosoporum Meynung seine gewisse Zeit zu gebären hat, sondern auch die
Menschen selbst: sintemal die Erfahrung bezeuget, dass alle Weiber in der ganzen Welt 9 Monathe
schwanger gehen, und nach Verflüssung gedachter Zeit endlich die Frucht zur Welt bringen; ob man
schon, die Wahrheit zu bekennen, nicht die Zeit gar zu gewiss bestimmen und sagen kann, sondern
gleichwie eine natürliche Geburt nicht leicht vor der 38. Woche zum Vorschein kömmt, also wird
schwerlich eine über 40 Wochen ausbleiben, dahero jede Geburt, so entweder über oder unter
gesetzter Zeit geschieht, vor eine widernatürliche zu halten ist.
Ob man nun mit 38 oder 40 Schwangerschaftswochen rechnet: Gustchens Kind wurde nicht von
Läuffer gezeugt, sondern etwa drei Monate nach der Trennung von ihm – von wem auch immer.
Soweit sage ich nichts Neues. Claus O. Lappe hat bereits 1980 in einem Aufsatz unter dem Titel „Wer
hat Gustchens Kind gezeugt?“ dem Hofmeister die biologische Vaterschaft abgesprochen.4 Allerdings
wurde seine Einsicht in der Lenz-Forschung nicht nachhaltig rezipiert und hat nicht dazu geführt, die
Bedeutung der Vaterschaftsfrage im Hofmeister, bei Lenz und im 18. Jahrhundert neu zu
durchdenken. Vielmehr hat man nach Lappes Entdeckung das Bedeutungsmodell beibehalten und
versucht, aus dem Text heraus einen Indizienbeweis zu führen, wer denn nun tatsächlich der
biologische Vater des Kindes hätte gewesen sein können, und als man nicht bündig fündig wurde, liess
man Lappes Einwände fallen und blieb der Einfachheit halber bei Läuffer. Das Interpretationsschema
aussereheliche Vaterschaft – sexualmoralische Reue – Selbstbestrafung durch Selbstkastration hat sich
gegen die explizite Zeitstruktur des Textes in der Rezeption durchgesetzt.
Dass Sinngefüge eines vereinfachenden Interpretationsmodells kann offenbar kaum dadurch
hinterfragt werden, dass man an einem bestimmten Punkt eine Detailkritik anbringt. Die
Geltungskonkurrenz von Deutungen entscheidet sich vielmehr an ihrer integrierenden und
totalisierenden Kraft. Man kann eine akzeptierte Lektüre nur dadurch hinterfragen, dass man ihr eine
andere Bedeutungskonstruktion entgegenstellt, die ein ebenso umfassendes Bedeutungsmodell an die
Hand gibt, mit den Sachverhalten der Textbasis besser in Übereinstimmung steht und möglicherweise
sogar erlaubt, noch offene Bedeutungsfragen in einen kohärenten Sinnentwurf zu integrieren. Wenn
man eine Lektüre des „Hofmeister“ entwickeln will, die davon ausgeht, dass Läuffer nicht der Vater
von Gustchens Kind ist, muss man in einem nächsten Schritt die moralische Bedeutung der
Selbstkastration hinterfragen. Läuffer hat kein Kind gezeugt. Seine Selbstkastration ist also keine
Selbstbestrafung wegen eines unehelich gezeugten Kindes. Was bedeutet sie dann? Dazu möchte ich
eine These in acht Sätzen formulieren und anschliessend erläutern.
1. Die Selbstkastration Läuffers hat nicht den Sinn einer sexualmoralischen Selbstbestrafung,
sondern ist als therapeutische und präventive Massnahme aufgrund einer medizinischen
Selbstdiagnose zu verstehen.
2. Läuffer erkennt, dass er nicht der Vater von Gustchens Kind sein kann, obschon es zwischen
ihm und Gustchen zum Sexualverkehr gekommen ist und er mit einer Vaterschaft rechnete.
3. Läuffer schliesst daraus auf die Sterilität seines Samens.
4. Zusammen mit anderen Symptomen, namentlich Akne im Gesicht, Verdauungsproblemen,
Geistesabwesenheiten und melancholischen Zuständen, ergibt sich das im 18. Jahrhundert
wohlbekannte Krankheitsbild der Onanie.
5. Diese Selbst-Diagnose, die übrigens nur die Anhiebsdiagnose des Wenzeslaus subjektiv
nachvollzieht, ist die Auflösung jenes „schrecklichen Rätsels“, die Läuffer vor dem Spiegel in
Ohnmacht fallen lässt.
4
Claus O. Lappe: Wer hat Gustchens Kind gezeugt? Zeitstruktur und Rollenspiel in Lenz´ Hofmeister. In: DVjs
54. 1980. S. 14 – 46.
6. Onanie hat im 18. Jahrhundert eine infauste Prognose: Auszehrung, Epilepsie und Demenz
gelten als wahrscheinliche Endstadien, wenn die Verschwendung der Samenflüssigkeit nicht
gestoppt wird. Läuffer greift aus Reue über die Untat der Selbstbefriedigung, aus Angst vor
den möglichen weiteren Stadien des Übels und aus Verzweiflung über dessen wahrscheinliche
Unheilbarkeit zu einer drastischen medizinischen Kur und kastriert sich selbst.
7. Die anschliessende Heirat des kastrierten Läuffer mit Lise ist ein Zeichen der Heilung. Mit
dieser Szene fügt Lenz den zeitgenössischen Debatten um die Legitimität der Kastratenehe
einen neuen Aspekt hinzu: Vollzug des Geschlechtsaktes im Sinne der Penetration ist kein
notweniger Bestandteil einer legitimen Ehe.
8. Wahrscheinlich vollzieht Läuffer die Selbstkastration im Sinne einer Penis-Ektomie, nicht
aber im Sinne einer Entfernung der Testikel. Diese Variante der Selbst-Verschneidung stimmt
am besten mit dem Management der Konkupiszenz überein, die Lenz in seinen
moraltheologischen und ästhetischen Schriften fordert.
Nach der Präsentation der These nun die Präsentation des Belegmaterials aus dem Text des „Lust- und
Trauerspiels“, dessen Partitur wir mit gleichsam ärztlichem Blick als Krankengeschichte lesen. Was
tut der Arzt? Er beobachtet einen Fall und sammelt die Symptome im Hinblick auf ein Krankheitsbild,
das ihm und den Mitgliedern seines Diskurskollektivs bekannt ist. Jedes passende Symptom bestätigt
die Anhiebsdiagnose. Ab einer bestimmten Dichte der versammelten Zeichen geht diese über in einen
therapeutischen Plan und ein entsprechendes ärztliches Handeln.5 Deshalb wählen wir als
Darstellungsform des Textmaterials die Tabelle, wie sie einer Fallgeschichte aus der Praxis Dr. Tissots
oder eines seiner Jünger im 18. Jahrhundert zugrunde liegen könnte.
5
Vgl. dazu die Rekonstruktion der medizinischen Semiotik durch Roland Barthes: Semiologie und Medizin. In:
ders.: „Das semiologische Abenteuer“, Frankfurt am Main 1988, S.217f.: "Der Arzt verbindet all diese
Krankheitssymptome, das heisst diese Zeichen, mit einer Krankheit, die im nosologischen Rahmen aufscheint.
Der Ort des nosologischen Rahmens ist damit ganz einfach ein Name, die Krankheit als Name. Zumindest war
dies am Anfang der Klinik eindeutig so. Genau das hat Foucault erhellt, indem er die Rolle der Sprache bei der
Entstehung der Klinik aufzeigte; eigentlich heisst eine Krankheit lesen, ihr einen Namen verleihen; und von
diesem Augenblick an [...] gibt es eine perfekte Umkehrbarkeit, eben die der Sprache, eine schwindelerregende
Umkehrbarkeit zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat; die Krankheit wird als Name definiert, als
Zusammenspiel von Zeichen: aber dieses Zusammenspiel von Zeichen steuert nur auf den Namen der Krankheit
zu und vollzieht ihn in sich, es gibt einen endlosen Kreislauf. Die diagnostische Lektüre, das heisst die Lektüre
der medizinischen Zeichen, läuft anscheinend auf ein Benennen heraus: Das medizinische Signifikat existiert nur
als benanntes; hier stösst man wieder auf den Prozess des Zeichens, den derzeit einige Philosophen betreiben:
Wir können die Signifikate eines oder mehrerer Zeichen nur handhaben, indem wir diese Signifikate benennen,
aber durch diesen Akt der Benennung verwandeln wir das Signifikat wieder in einen Signifikanten. Was in der
Medizin dieser Art Rückgang oder Umkehrung des Signifikats in einen Signifikanten Einhalt gebietet, ist die
Tatsache, dass das Signifikat als Name der Krankheit erfasst wird und man dadurch das semiologische System in
ein Problem der Therapeutik umwandelt, die Krankheit zu heilen versucht und folglich von diesem Moment an
dieser Art schwindelerregendem Kreislauf zwischen Signifikat und Signifikant durch das Operatorische
entkommt, durch das Eindringen des Operatorischen, das ein Ausweg aus dem Sinn ist."
Patientenblatt
Name:
Läuffer, Hermann
Beruf:
Hofmeister
Diagnose:
Onanie
Symptome
Text
Akt,
Szene
Melancholie
Gustchen: Aber was fehlt Ihnen denn? Sagen Sie mir doch! So
II 2.
tiefsinnig sind Sie ja noch nie gewesen. Die Augen stehen Ihnen ja
immer voll Wasser: ich habe gemerkt, Sie essen nichts.
Läuffer: Lassen Sie mich - Ich muß sehen, wie ich das elende
II. 2
Leben zu Ende bringe, weil mir doch der Tod verboten ist Geistesabwesenheit
Läuffer stützt sich mit der anderen Hand auf ihrem Bett, indem sie
II. 5
fortfährt seine Hand von Zeit zu Zeit an die Lippen zu bringen: Laß
mich denken... Bleibt nachsinnend sitzen.
Läuffer fällt wieder in Gedanken, nach einer Pause fängt sie
II. 5
wieder an ...
Wenzeslaus: Herr Mandel – Und darauf mußten Sie sich noch
III. 2
besinnen? Nun ja, man hat bisweilen Abwesenheiten des Geistes;
besonders die jungen Herren weiß und roth Akne
Wenzeslaus: Hofmeister – Legt das Lineal weg, nimmt die Brille ab III. 2.
und sieht ihn eine Weile an. [...] Nun nun, ich glaub´s Ihm, daß Er
der Hofmeister ist. Er sieht ja so roth und weiß drein.
Sie heißen unrecht Mandel; sie sollten Mandelblüthe heißen, denn
III. 2.
Sie sind ja weiß und rot wie Mandelblüthe. Nun ja freilich, der
Hofmeisterstand ist einer von denen, unus ex his, die alleweile mit
Rosen und Lilien überstreut sind [...]
An eine Frau hab´ ich mich noch nicht unterstanden zu denken,
weil ich weiß, daß ich keine ernähren kann – geschweige denn eine
drauf angesehen, wie Ihr jungen Herren Weiß und Roth –
III.2
Wenzeslaus: Ihr raucht doch eins mit heute?
III. 4
Läufer: Ich wills versuchen; ich hab´ in meinem Leben nicht
geraucht.
Wenzeslaus: Ja freylich, Ihr Herren Weiß und Roth, das verderbt
Euch die Zähne. Nicht wahr? Und verderbt Euch die Farbe: nicht
wahr? Ich habe geraucht, als ich kaum von meiner Mutter Brust
entwöhnt war; die Warze mit dem Pfeiffenmundstück verwechselt.
He he he! Das ist gut wider die böse Luft und wider die bösen
Begierden ebenfalls.
Fehlerhafte Ernährung
Man ißt, trinkt, schläft, hat für nichts zu sorgen; sein gut Glas Wein III. 2
gewiß, seinen Braten täglich, alle Morgen seinen Kaffee, Tee,
Schokolade, oder was man trinkt, und das geht denn immer so fort
– Nun ja, ich wollte Ihnen sagen: wissen Sie auch, Herr Mandel,
daß ein Glas Wasser der Gesundheit eben so schädlich auf eine
heftige Gemütsbewegung als auf eine heftige Leibesbewegung;
aber freylich, was fragt Ihr jungen Herren Hofmeister nach der
Gesundheit – Denn sagt mir doch [...], wo in aller Welt kann das
der Gesundheit gut thun, wenn alle Nerven und Adern gespannt
sind und das Blut ist in der heftigsten Cirkulation und die
Lebensgeister sind alle in einer – Hitze. In einer -
Gewissensbisse
Wenzeslaus: [...] Aber wenn der Schulmeister Wenzeslaus seine
Verdauungsproblem
Wurst ißt, so hilft ihm das gute Gewissen verdauen, und wenn der
III. 4
Herr Mandel Kapaunenbraten mit der Schampignonsauce aß, so
stieß ihm sein Gewissen jeden Bissen, den er hinabschluckte, mit
der Moral wieder in Hals zurück: Du bist ein – [...] sagt mir einmal,
ist das nicht hundsvöttisch, wenn ich davon überzeugt bin. Daß ich
ein ignorant bin, und meine Untergebenen nichts lehren kann [...]
Appetitlosigkeit
Gustchen: [...] ich habe gemerkt, sie essen nichts.
II. 2
So eßt doch; Ihr mach ja ein Gesicht, als ob Ihr zu laxieren
III. 4
einnähmt.
Wenzeslaus. So eß Er doch; so sey Er doch nicht so blöde: bey der
III. 4
schmalen Mahlzeit muß man zum Kuckuck nicht blöde sein. Wart
Er, ich will ihm noch ein Stück Brot abschneiden.
Läuffer. Ich bin satt überhörig.
Ohnmachtsanfälle
Wie? Dies wären nicht meine Züge? Fällt in Ohnmacht
V. 1
Sterilität
Läuffer: Es könnte mir gehen wie Abälard –
II. 5
Gustchen: Du irrst Dich . Meine Krankheit liegt im Gemüt .
Niemand wird dich mutmaßen
Kastration
Wie? Dies wären nicht meine Züge? Fällt in Ohnmacht
V. 1
Wenzeslaus: Kur, die Euer ewiges Seelenheil befördern wird
V. 3
Einen kulturhistorischen und kulturkritischen Überblick über das Krankheitsbild der Onanie und
dessen Omnipräsenz in den Diskursen des 18. Jahrhunderts kann man sich heute leicht verschaffen.6
Es ist insofern nicht schwierig, den Onaniediskurs global als repressiv zu kritisieren, wo er sich offen
zu sich selbst bekennt. Schwieriger scheint es, ihn auch dort am Werk zu sehen, wo er
unausgesprochen wirkt. Es stellt an den Leser die Zumutung, sich selbst wenigstens probehalber die
inquisitorische Lese-Brille aufzusetzen und wenigstens probehalber zu unterstellen, dass literarische
Personen in einem Drama des 18. Jahrhunderts so konzipiert sein könnten, dass sie diesen Diskurs
ernst nehmen, ihn bejahen und auf sich selbst anwenden. Diese Standpunkt-Verschiebung wird den
Leserinnen und Lesern im Folgenden zugemutet.
Betrachten wir die Tabelle der Läufferschen Symptome durch die Brille des Onanie-Diskurses, fällt
auf, dass die Zeichen des Krankheitsbildes erst im zwetien Akt auftreten. Im ersten Akt erscheint
Läuffer körperlich fit, zumindest als Tänzer: „Wenigstens hab ich in Leipzig keinen Ball ausgelassen“
(15). Wenzeslaus, der ihm seine Unkenntnisse der lateinischen Sprache nachweist, nennt ihn nicht nur
einen „Ignoranten“ (97), sondern auch einen „Jungfernkecht“ (91), d.h. einen, der mit leichten
Mädchen sexuellen Umgang hatte. Diese Möglichkeit des Leipziger Studentenlebens fällt nun im
Hause des Majors zunächst dahin. Erst hier setzt offenbar Läuffers „Krankheit“ ein. Onanie gehört
demnach mit zu den mit bitterer Ironie gerügten „Vorteilen der Privaterziehung“. Als Läuffer endlich
wieder Sexualkontakt bekommen kann, ist es bereits zu spät: Die „Krankheit“ hat die Zeugungskraft
seines Samens vernichtet.
Dass Läuffer und Gustchen insgeheim sexuellen Kontakt hatten, und zwar wohl über längere Zeit,
erfahren wir aus ihrem Zwiegespräch im zweiten Akt. Läufer vermutetet, Gustchen sei schwanger.
„Läuffer. Es könnte mir gehen wie Abälard – Gustchen. Du irrst dich – Meine Krankheit liegt im
Gemüth. Niemand wird Dich muthmassen.“ (II.5, 67) Läuffers Vergleich mit Abälard bringt zwar das
Motiv der Kastration vorausdeutend ins Spiel. Man sollte aber die Kastration Abälards nicht
Hinweisen möchte ich auf das Kapitel „The Face of the Sufferer: Physiognomy, Disease, and the Genitalia“ in:
Sander L. Gilman: „Sexuality. An Illustrate History”. New York etc.: Willey, 1989. S. 203 – 210. Meine hier
ausgearbeitete These zur Onanie Läuffers habe ich erstmals in Sander L. Gilmans DAAD-Sommerkurs „Disease
an Sexuality in German Cultures“ an der Cornell University im Sommer 1989 skizzenhaft vorgetragen. Sander
L. Gilman verdanke ich u. a. den Hinweis auf die medizinhistorische Arbeit von H. Tristram Engelhardt, Jr (vgl.
Anm. 18). Eine umfassende kulturkritische Darstellung und Dokumentation der Onanie-Diskurse bietet Ludger
Lütkehaus: „O Wollust, o Hölle“. Die Onanie - Stationen einer Inquisition. Franfurt a. M.: Fischer, 1992.
6
unbesehen als Interpretationsmodell für den Text von Lenz akzeptieren.7 Abälard kann seine Schülerin
- zwar gegen den anfänglichen Widerstand der Familie - zunächst heiraten. Der strafende Eingriff der
Familie erfolgte erst, als diese aufgrund eines Missverständnisses annehmen musste, Abälard wolle
Héloise abschieben und mit dem Kind sitzen lassen. Diese Ehrverletzung wurde nicht mehr toleriert.
Dieses Modell der strafenden Kastration durch den Clan der Frau passt nur in negativer Wendung zur
Geschichte Läufers: nach der Zeugung eines ausserehelichen Kindes wäre eine Heirat durchaus eine
Lösungsvariante gewesen. Der Major selber erwähnt diese Möglichkeit: „Hättest du mir nur ein Wort
vorher davon gesagt, ich hätte dem Lausejungen einen Adelbrief gekauft, da hättet ihr können
zusammen kriechen“ (IV.5, S. 119) Das aber geschieht nun nicht; denn Läufer ist nicht der Vater des
Kindes. An der Stelle des ersten Auftretens aber, in Szene II. 5, besagt die Anspielung auf Abälard
zunächst nur, dass es zum Geschlechtverkehr zwischen Läuffer und Gustchen gekommen ist und dass
Läuffer annimmt, Gustchen sei von ihm schwanger. Gustchen versteht diesen Gedankengang und
verneint den Sachverhalt.
Als Läuffer nach etwas mehr als einem Jahr das Kind Gustchen zu sehen bekommt, muss er sich
aufgrund einer einfachen Zeitrechung eingestehen, dass dieses erst kürzlich geborene Kind nicht von
ihm stammen kann, dass Gustchen zur Zeit ihres letzten Beisammenseins also tatsächlich nicht
schwanger war. Die positive Variante des Abälard-Modells – Heirat mit einer Adligen - fällt damit für
Läuffer dahin. Zu erklären bleibt der Grund für diese Enttäuschung. Wie liest sich die berühmte Szene,
in der Läuffer sich mit Gustchens Kind auf dem Arm im Spiegel betrachtet, unter dieser
Voraussetzung?
O Himmel! Welch ein Zittern – Ist das ihr Kind [...] Gebt es mir auf den Arm – O mein Herz!
Dass ich´s an mein Herz drücken kann – Du gehst mir auf, furchtbares Rätsel! (Nimmt das
Kind auf den Arm und tritt damit vor den Spiegel.) Wie? Dies wären nicht meine Züge? (Fällt
in Ohnmacht; das Kind fängt an zu schreien.)
Die bisher weitgehend akzeptierte Lesart dieser Szene nimmt an, Läuffer erkenne vor dem Spiegel die
Ähnlichkeit seiner Züge mit denen des Kindes etc. Aber bereits Lappe weist darauf hin, dass diese
Lesart aus mindestens zwei Gründen im Missverhältnis zum Wortlaut des Textes steht. Erstens passt
die Form des Frage-Satzes: „Wie? Dies wären nicht meine Züge?“ nicht zur Erwartung einer
Matthias Luserke: „Lenz-Studien. Literaturgeschichte – Werke – Themen“, St. Ingbert: Röhrig, 2001, erkennt
S. 115 dieses Problem: „Die Frage ist nun, wie es von der Kastrationsangst als Angst vor der Drohung des
väterlichen Verbots von sexueller Aktivität zur Selbstkastration, von der Angst zur Selbstbestrafung kommt?“
Aber er zieht daraus keine stringenten Konsequenzen. Erstens kann er sich offenbar nicht entscheiden, ob
Läuffer nun der Vater des Kindes sei: S. 101 nennt er die „Szene V/1: Anagnoresisszene, Läuffer erkennt sein
Kind“, S. 116 schreibt er hingegen: „ Läuffer erkennt sehr wohl, [...] dass Gustchens Kind nicht sein Kind ist.“
Zweitens bedenkt Luserke nicht, dass in der sozialen Realität des 18. Jahrhunderts mehrere Kompromissformen
möglich waren, falls das „väterliche Verbot“ einmal mit faktischen Konsequenzen übertreten worden war. Zum
Umgang mit Töchtern und Vätern vorehelich gezeugter Kinder vgl. Eva Labouvie: Andere Umstände. Eine
Kulturgeschichte der Geburt. Köln: Böhlau, 2000. S. XXX.
7
bejahenden Antwort. Die Negation des Konjunktiv irrealis lässt eher auf die Erwartung einer
negativen Antwort rückschliessen. Zweitens: Wenn Läuffer von einer Vaterschaft ausgehen würde,
welches sollte dann das furchtbare Rätsel sein, das ihm aufgeht? Es würde ja nur bestätigt, was er
selbst schon zugleich befürchtet und erhofft. Eine Vaterschaft hätte den Konflikt mit der Familie
sicher zunächst eskalieren lassen, aber am Ende hätte auch die Heirat und das Adelspatent als Lösung
stehen können.
Wenn Lappe meint: „In der schrecklichen Erkenntnis, dass ein anderer der Vater von Gustchens Kind
sein müsse, fällt er in Ohmacht“, wird das dem Wortlaut des Textes an dieser Stelle und dem
Zusammenbruch des Abälard-Modells zwar gerecht. Aber der Zusammenhang mit dem Folgenden,
mit der Selbstkastration, bleibt dunkel. Warum soll sich Läuffer dafür kastrieren, dass ein anderer
Gustchens Kind gezeugt hat? Das ist nicht plausibel. Da fehlt noch ein Stück. Es ist nicht Eifersucht
oder Liebesenttäuschung, was Läuffer in die Knie zwingt, vielmehr dämmert ihm eine Erkenntnis, die
nicht nur seine Männlichkeit, sondern seine Gesundheit und sein Leben zutiefst in Frage stellt: Ich
habe mit ihr geschlafen – und das Kind ist nicht von mir – ich bin also offenbar unfruchtbar – und ich
weiss auch warum! Dies ist der Inhalt des Rätsels, der ihm vor dem Spiegel aufgeht und der ihm das
Bewusstsein raubt.
Vom Befund der Zeugungsunfähigkeit lässt sich ein Brücke zur Selbstkastration finden, wenn man die
Personendarstellung und das Handlungsgefüge des Dramas auf das zeitgenössische Krankheitsbild der
Onanie bezieht. Sterilität des Samens wird im Rahmen dieses Diskurses als eine der wahrscheinlichen
Folgen von Onanie genannt. Kastration wir im engeren diskurshistorischen Umfeld Lenz´ nicht als
dramatische Strafe gesehen und kann in Fällen der sexuellen Entkräftung als Therapie heilsam sein,
weil dadurch der Samenverlust gestoppt wird. Dies gilt es im Folgenden zu belegen.
Geprägt wurde das Krankheitsbild der Onanie für das 18. Jahrhundert vor allem von zwei Texten: Im
Jahr 1700 erschien in Holland der Traktat „Onania: or, the Heinous Sin of Self-Pollution“, der in den
darauf folgenden Jahren in zahlreiche Sprachen übersetzt und immer wieder aufgelegt wurde.8 Eine
deutsche Übersetzung erschien im Jahr 1736. Im Jahr 1758 veröffentlichte der Lausanner Arzt
Samuel-Auguste Tissot seinen Traktat „Tentamen de Morbis ex Mastupratione“, den er 1760 unter
dem Titel „L´Onanisme“ in französischer Sprache publizierte und der bis weit ins 19. Jahrhundert
hinein in Europa und Amerika den Diskurs über das Krankheitsbild Onanie prägte. Beide erwähnen
Sterilität des Samens nachdrücklich und an prominenter Stelle in ihren Fallschilderungen. Der Traktat
„Onania“, der mir in einer englischen Version der sechszehnten Auflage von 1737 vorliegt, spricht in
drastischen Bildern von der „Barrenness“ der Onanisten:
8
Diese Angaben nach Sander L. Gilman, a. a. O. S. 206. Lütkehaus, a.a.o. S. 21 geht davon aus, dieser Traktat
stamme von einem Arzt Namens Bekkers und sei erstmals 1710 in London erschienen.
In some men of very strong Constitution, the Mischiefs may not be so visible, and themselfs
perhaps capable of marrying. And jet the Blood and Spirits impair´d, and the Seed rendered
unfertile, so as to make them unfit for Procreation, by its changing the crasis of the spermatick
Parts, making them become barren, as Land becomes poor by beeing overtill´d.9
Tissot schildert ab der dritten Auflage seines Buches „L´Onanisme“ als Beispiel von Sterilität erneut
einen Fall von „fureur génital“, den er in der lateinischen Erstauflage erwähnt, dann aber in der
französischen Erstübersetzung wohl wegen der direkten Benennung indiskreter Sacherhalte
weggelassen hatte:
Un homme âgé de cinquante ans en était atteint depuis plus de vingt-quatre; et dans ce long
terme, il n’avait pas pu se passer vingt-quatre heures de femme ou de l´horrible supplément de
l´onanisme, et il réitérait ordinairement les actes plusieurs fois par jour. Le sperme était âcre,
stérile.10
Onanie gilt als eine sehr gefährliche Krankheit, die nach dem Urteil der zeitgenössischen
medizinischen Autoritäten schwer behandelbar ist und eine erschreckend schlechte Prognose aufweist.
Ihre Endstadien sind Auszehrung, epileptische Anfälle und Debilität. Das Krankheitsbild umfasst eine
breite Palette von Zeichen und Symptomen und integriert sie als Syndrom in ein relativ kohärentes
kausales Erklärungsschema.11 Erklärt werden die Krankheitszustände aus übermässiger sexueller
Betätigung, die - so vor allem Tissot – aus zwei Gründen schädlich ist. Erstens stellt der Samen einen
sehr konzentrierten Körpersaft dar, der in etwa der vierzigfachen Menge Blut entspricht. Jede
Abführung dieses Saftes entziehe dem Körper die entsprechende Menge Kraft. Zweitens gilt der
Orgasmus als Form eines epileptischen Anfalls, der das Nervensystem zerrütte, besonders bei zu
häufiger Wiederholung. Den Zusammenhang zwischen der humoralpathologischen und der
neurologischen Erklärung bildet die alte anatomische Auffassung, wonach die Samenflüssigkeit direkt
aus dem Gehirn stamme, über das Rückenmark in die Samenkanäle geführt und dort konzentriert
werde.12 Die Samen entstehen für diese Auffassung nicht in den Testikeln, ihnen wird dort nur die
Hitze hinzugefügt, welche sie zur Zeugung fähig macht. Jede Ejakulation schädige deshalb direkt das
Nervensystem und damit das Gedächtnis und das Denkvermögen. Aufgrund mechanischer,
humoralpathologischer und nervöser Kausalität könne Onanie deshalb der Grund sein von so
unterschiedlichen leiblichen und seelischen Zuständen wie: Phimose, Paraphimose, Hodenkrebs,
Strangurie, Priapismus, Gonorhea, Erektionsverlust, Ejaculatio präcox, Unfruchtbarkeit,
9
Onania: or, the Heinous Sin of Self-Pollution. The Sixteenth Edition. London. Printed for and now sold only by
J. Isted. 1737. S. 14.
10
Samuel-Auguste Tissot. L´Onanisme. Préface de Christophe Calame. Paris: Différence, 1991. S. 189.
11
Vgl dazu H. Tristram Engelhardt, Jr.: The Disease of Masturbation: Values and the Concept of Disease. In:
“Concepts of Health and Disease. Interdisciplinary Perspectives”. Ed. by A. L. Caplan et al.. London etc:
Addison-Wesley, 1981, S. 267 – 280.
12
Vgl. dazu Sander L. Gilman, a.a.O., S. 91.
Verdauungsstörungen, Akne, Auszehrung, Ohnmachtsanfälle, Epilepsie, Debilität, Gewissensnot,
Melancholie, Angst und Verzweiflung.
Es ist nicht nur die Sterilität seines Samens, die Läuffer im Kontext des damaligen
Krankheitsverständnisses als Onanisten ausweist, es werden im Text mehr oder weniger beiläufig auch
mehrere andere Symptome erwähnt, die zum Krankheitsbild gehören. Das auffallendste steht Läuffer
ins Gesicht geschrieben, wird vom Schulmeister Wenzeslaus auch sofort erkannt und diagnostiziert.
Offenbar leidet der Hofmeister Läuffer unter einer für Hofmeister typischen Unreinheit der Haut: er
trägt Akne im Gesicht.
Wenzeslaus: Herr Mandel – Und darauf mußten Sie sich noch besinnen? Nun ja, man hat
bisweilen Abwesenheiten des Geistes; besonders die jungen Herren weiß und roth – (89)
Hier benennt Wenzeslaus in einem Atemzug zwei Symptome der Krankheit Onanie.
Geistesabwesenheiten und Akne im Gesicht. Die Rede von den „jungen Herren weiß und roth“ wird
von Wenzeslaus wie ein Leitmotiv durchgeführt. Ich deute sie als spöttischen Hinweis auf die Pickel
im bleichen Gesicht Läuffers. Solche Stigmata werden in den Onanietraktaten immer wieder als
sichtbare Zeichen des geheimen Lasters erwähnt und von den betroffenen bitter beklagt.
Tissot: "Les premiers symptômes maladifs furent beaucoup de butons au visage.» (50) «Une pâleur
plus ou moins considérable […] souvent des boutons qui ne passent pas que pour faire place à
d´autres, et se reproduisent continuellement par tout le visage, mais surtout au front , au tempes et prés
du nez.» (47f.) «On voit non seulement des boutons au visage, c’est un symptôme des plus communs,
mais même de vraies pustules suppurantes sur le visage, sur le nez, sur la poitrine, sur les cuisses […].
(42)
Aus „Onania“: "About nine Months since I was full of pimples in my Face (31)” “My Nose is full of
red spots, and sometimes it is very sore; I have likewise a Knob of Flesh risen in my forehead […]
When I am told about the breaking out of my Face, which sometimes I am, it forces me to say it is the
Heat of the Fire, though some will feign a laughter, and say I have the foul Disease, as if they said it
out of Game; but God knows whether they did or no, for I do solemnly declare, I never had carnally to
do with any Woman, and am twenty-two Years old this Month.” (26)
Die weiss-rote Gesichtslandschaft des Onanisten macht sein geheimes Laster öffentlich sichtbar und
unterwirft ihn dem Zugriff des medizinischen, diätetisch-moralischen Kontroll-Diskurses der Ärzte
und Erzieher. Der Anspruch dieser Diskurse ist allumfassend und total, jedermann ist angesprochen;
denn wer hatte noch nie Pickel im Gesicht, etc. Zudem wird durch die Hervorhebung der Stigmata im
Gesicht ein Zusammenhang hergestellt zwischen dem Onaniediskurs und den älteren
Syphilisdiskursen. Dadurch wird ein enormes kollektives Angstpotential und ein enormes
stigmatisierendes Zeichenrepertoire anschliessbar gemacht und ein entsprechend dringlicher
Rechtfertigungsbedarf geschaffen.13
Wenzeslaus führt Akne als Onanie-Symptom und damit die Onanie selbst auf eine zu reichliche, zu
verfeinerte und damit die Hitze der Leibessäfte übersteigernde Ernährung zurück. Damit erweist er
sich als Schüler Tissots. Läuffer fühlt sich von der Diagnose Wenzeslaus getroffen und bestätigt damit
wohl auch ihre unausgesprochenen Voraussetzungen: „Der wird mich noch zu Tode meistern – Das
Unerträgliche ist, daß er recht hat.“ (III. 4, S. 103)
Kastration wurde von alters her bei allen möglichen Geschlechtskrankheiten als letzter Ausweg ins
Auge gefasst. „Erasmus von Rotterdam fühlte sich aufgrund der sich ausbreitenden Lustseuche
(Syphilis) veranlasst, alle Syphilitiker kastrieren und sogar verbrennen zu lassen. Auf diese Krankheit
reagierten die Männer mit Panik, und einige entmannten sich sogar aus Angst, sich anzustecken –
damals offenbar die einzige Prophylaxe!“14. Syphilis-Diskurse geben in manchen Punkten das Modell
ab für alle späteren Diskurse, dies sich auf Geschlechtskrankheiten beziehen. Die Betonung der Akne
bei Onanie wird ausdrücklich in Beziehung gebracht mit ähnlichen Zeichen der Syphilis. Es
verwundert deshalb eigentlich nicht, dass mit der Rückkehr der sichtbaren Stigmata im Gesicht auch
der Gedanke einer Stigmatisierung an den unsichtbaren Geschlechtsteilen zurückkehrt.
Wenn alle Symptome der Onanie letztlich auf Samenverlust zurückzuführen sind, liegt es nahe, hier an
drastische chirurgische Massnahmen zu denken. Tissot selber erwähnt sie allerdings nicht. Seine
Medizin folgt dem Brownianischen Schema von Sthenie und Asthenie, von Übererregung und
Abspannung. Seine Kuren zielen einerseits auf schonende Stärkung durch angepasste Diät,
andererseits auf Dämpfung der Erregungszustände durch opiumhaltige Medikamente.
Der ältere Onanie-Traktat ist medizinisch im Vergleich zu Tissot nahezu substanzlos. Das Buch ist
eine Propagandaschrift zum Vertrieb eines Universalheilmittels gegen alle Folgen der Onanie. Der
Text liefert dazu die seelenzerknirschende Predigt und dringt auf Reue, Busse und ein “Life of
Mortification“. Im Rahmen dieser drastischen Buss- und Strafpredigt fällt dann auch mit einem
Bibelzitat die Anspielung auf die Opferung eines Gliedes: „People must courageously resolve to
overcome themselves, it being much better to deny themselves in those Things, and to cross their own
Inclinations for a Time, than by pursuing them, to perish eternally: It is profitable that One of their
13 Auf diese semiotischen Verfahren und Strategien hat Sander L. Gilman, a.a.O. S.,206f. hingewiesen.
14 Piotr O. Scholz: Der entmannte Eros. Eine Kulturgeschichte der Eunuchen und Kastraten. Düsseldorf u.
Zürich: Artemis u. Winkler, 1997. S. 244 (ohne Quellenangabe).
Members should perish, and not that their whole Body should be cast into Hell.” Hier wird die
leibliche Kastration absehbar als Strafe für sündhaftes Verhalten und Rettung der Sele vor Höllenpein.
Im Jahr 1772 publizierte der in Oberpahlen lebende Pastor und aufklärerische Publizist August
Wilhelm Hupel seinen Traktat „Origines oder von der Verschneidung“, den er im Untertitel als „Ein
Versuch zur Ehrenrettung einiger gering geachteten Verschnittenen“ ankündigt. Hupel, der schon
verschiedentlich als möglicher Kontext Lenz´ diskutiert wurde, nimmt zum Thema der Onanie und der
Kastration ein eigentümlich pragmatisches Verhältnis ein. Von der älteren Straf- und
Zerknirschungsrhetorik ist nichts zu finden, die medizinischen Ansichten Tissots werden – zwar mit
einiger Reserve – übernommen. Eigentümlich ist hingegen, dass Hupel die Kastration an sich
durchaus positiv beurteilt als eine sozial indizierte Massnahme zur Geburtenkontrolle in Situationen
der Armut.
Hupel klassifiziert das Phänomen der Verschneidung nach Math. 19.10 – 12 und unterscheidet drei
Kategorien: a) Verschnittene durch Geburt, b) Verschnittene durch den Menschen und c)
Verschnittene um des Himmelreiches willen. Er gibt zu den drei Kategorien je eine ausführliche
Kasuistik. Die humoralpathologischen Warnungen Tissots vor exzessiver sexueller Verausgabung
werden zwar ausführlich dargestellt, aber buchstäblich in Klammer gesetzt und als Rede eines
„Misogynen“ apostrophiert. Als Folgen häufigen Beischlafs nennt dieser: „Mattigkeit, Erschlaffung,
geschwächtes Denkvermögen, Traurigkeit, Entnervung, frühes Altern, zitternder Körper, verlorenes
Gedächtnis, schalgewordener Witz, tausend ebenso traurige als ekelhafte Krankheiten, ein früher
Tod.“ Hupel selbst setzt dagegen ein lockeres und bejahendes Verhältnis zur Sexualität: „Der
Beyschlaf bedarf keiner Lobrede, die ganze Natur hält sie ihm, alles gattet und paaret sich; [...] dass
die Lust im Beyschlaf durch öftern Gebrauch sich selbst verringert, gehört unter die alltäglichen
Schulmeistererinnerungen.“15 Trotzdem gilt die Onanie der „Jünglinge“ Hupel als grosse Gefahr: „sind
Sie nicht im Stande die wollüstigen Vorstellungen bald aus ihrer verwüsteten Seele ganz zu
verdrängen, so sind Sie ohne Hoffnung verlohren; ihr Wille wählt fehlerhaft; ihre Neigungen fallen
aufs schädliche; nur durch die äußerste Anstrengung der letzten Kräfte schleicht ihr wankender Fuss
mit schüchterner Sehnsucht unter dem Fenster der Buhlerinn vorbey; aber ihre Selbstbefleckung ist
tödlicher als Opium; ihre markleeren Knochen, ihre erschlafften Nerven sind untrügliche Vorboten
eines nahen Todes!“16
Im Zusammenhang mit Lenz interessiert besonders Hupels zweite Kategorie, nämlich die durch die
Menschen verschnittenen. Hupel nennt hier zunächst alle diejenigen Männer, die aufgrund äusserer
Umstände ihre sexuellen Bedürfnisse nicht befriedigen können oder wollen, obschon sie physiologisch
15
August Wilhelm Hupel: Origenes oder von der Verschneidung. Über Matth.19. v. 10-12. Ein Versuch, zur
Ehrenrettung einiger gering geachteten Verschnittenen. Riga: Hartknoch, 1772. S. 26f.
16
Hupel, Origenes, S. 21.
zum Beischlaf fähig wären, z. B. Priester, die ein Keuschheitsgelübde abgelegt haben, Soldaten, die
keinen Zugang zu Frauen haben, Sklaven, Ehemänner kränklicher Frauen, Patienten, denen der Arzt
den Umgang mit Frauen aus gesundheitlichen Gründen untersagt. Als „moralisch verschnitten“ gilt
also hier jeder Mann, der sein Begehren nicht durch Beischlaf mit einer Frau befriedigen kann oder
will.17
Erst in einem zweiten Kapitel spricht Hupel dann von den „Entmannten oder physisch
Verschnittenen“. Hupel lässt hier Kastration als etwas durchaus Wünschbares, mit vielen Vorteilen
Verbundenes erscheinen. Kastration wird empfohlen als Heilpraktik gegen Lepra, Epilepsie und viele
andere Krankheiten (144f.). Mit Entrüstung wird das Beispiel eines Lüstlings erwähnt, der sich
verschneiden liess, um folgenlos lustbetonten Beischlaf - also „Hurerei“ zu betreiben. (147) Ein
„abgenützter Wollüstling“, der an allen Symptomen leidet, die auch Tissot für die sexuelle
Erschöpfung beschreibt, rettet sich durch Kastration und erhält seiner Familie den Ernährer. (117)
Kastration wäre für manchen jungen Geistlichen und Schulmeister zu empfehlen, der bei dürftigem
Lohn nicht weiss, wie seine Kinder zu ernähren wären. Hupel betont mehrmals, dass relative
Sorgenfreiheit des ledigen kinderlosen Standes für den kurzen Schmerz der Kastration hinreichend
entschädige und Kräfte freisetze für das Engagement in der Gemeinde. Die Frage der Ehre sei durch
Verschneidung überhaupt nicht tangiert (94f.). Ein Verschnittener könne und solle jedem Geschäft
nachgehen, dem andere ehrbare Bürger auch nachgingen. (106)
Wenn der soziohistorische Kontext bitterer Armut einige der Auffassungen Hupels zumindest
nachvollziehbar erscheinen lässt im Sinne einer sozial indizierten, auf den Mann fokussierten Praxis
der Geburtenbeschränkung, muten andere Stellen kurios an. Fast wie die Vorlage zu einer
ungeschriebenen Lenzschen Tragikomödie liest sich der von Hupel skizzierte „Roman“ eines jungen
Mannes, „der durch seinen schönen Körperbau, durch den Reiz seines Gesichts, die schmachtenden
Augen einiger wollüstiger Damen auf sich ziehet; aber eben hierdurch ihren Nachstellungen ausgesetzt
ist. Unter ihnen sollen auch solche sein, in deren Händen sein ganzes Glück stehet“. Eine typische
Hofmeister-Situation also! Aus Angst vor der Rache des Ehemanns wagt es der Jüngling nicht, den
sexuellen Nötigungen seiner Herrin zu entsprechen. Als Notlüge gibt er deshalb vor, kastriert zu sein.
Und aus der nunmehr aufsteigenden Angst, bei „etwaniger oculären Inspection“ vollends sein Gesicht
zu verlieren, vollzieht er an sich, was vorher nur Ausrede war.18 Hier wäre eine zeitgenössische,
kasuistische Antwort zu finden auf die Frage, wie denn die Angst vor der Bestrafung eines sexuellen
Normverstosses übergehen könne in Selbstkastration. Wo wir heute geneigt sind, von einem
eklatanten Unterdrückungszusammenhang zu sprechen, meint Huppel: „wie sollte ich wagen, einen
Diese Bedeutung der „moralischen Verschneidung“ macht es auch erklärbar, dass in dieser Kategorie
sexuelles Verhalten rubriziert werden kann, das wir heute wohl eher der männlichen Homosexualität zuschreiben
würden.
18
Hupel, a.a. O. S. 149 - 151
17
solchen Heroismus zu verdammen“ und überlässt es ausdrücklich seinen Lesern zu beurteilen, ob
dieser junge Mann nicht doch das bessere Teil ergriffen: Müssen wir angesichts dieser Kontexte nicht
doch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass auch Lenz auf ein derart gestelltes „Problema“ mit „Ja“
geantwortet hätte?
An einer Stelle verbindet Hupel ausdrücklich den Onanie-Diskurs mit dem Gedanken der
therapeutischen Kastration: „Manche klagende Mutter hätte ihren hoffnungsvollen Sohn nicht an einer
schreckbaren Krankheit in der Lebensblüte sterben gesehen, wenn sie ihn hätte entmannen dürfen.“19
Kastrationen wurden im 18. Jahrhundert zwar ausgeübt, man denke nur an die Kastratenkultur in
Italien, wo eine grosse Zahl kastrierter Knaben in Kauf genommen wurden, um einige wenige
Sopranisten herzustellen. Doch offiziell war der Eingriff durch kirchliche Erlasse verboten. Es ist
daher schwierig, für diesen Zeitraum publizierte medizinische Quellen zu finden, welche die
tatsächlichen Praktiken und Indikationen belegen. Das praktische Wissen wurde offenbar in Baderund Chirurgen-Familien mündlich tradiert. Es gibt erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von
namhaften Medizinern publizierte Fallgeschichten, welche die Anwendung der Kastration zur
Behandlung der Onanie belegen und empfehlen.20 Aus all diesem Material lässt sich jedenfalls der
Schluss ziehen, dass Kastration als Onanietherapie keinesfalls eine private Phantasie oder gar
individuelle Neurose des Autors Lenz ist. Sie ist als Möglichkeit im zeitgenössischen Diskurs über
Krankheiten des Geschlechts angelegt und wurde in Lenz´ unmittelbarem Kontext auch als solche im
Zusammenhang mit dem Krankheitsbild der Onanie diskutiert.
Eine ähnliche Relativierung der Bewertungsperspektive muss auch in Bezug auf Läuffers
Liebesbeziehung zu Lise ins Auge gefasst werden. Kastratenliebe und Kastratenehe war im 17. und
18. Jahrhundert ein viel diskutiertes, umstrittenes Thema.21 Kein Opernkomponist zwischen Händel
und Meyerbeer hat nicht für Kastraten komponiert. Kastraten waren an mehreren deutschen
Fürstenhöfen tätig, wo mit zum Teil exorbitantem Aufwand die italienische Oper gepflegt wurde. Nun
ist es nicht so, dass die engelhafte Sopranstimme gleichzusetzen wäre mit der Abwesenheit sexueller
Begierde. Kastraten gelten im 18. Jahrhundert im Gegenteil als hervorragende Liebhaber; offenbar
hatten sie ihr Begehren und ihre Erektionsfähigkeit behalten - und die Angst vor einer
19
Hupel, a.a.O. S. 123
Entsprechende Materialien hat Engelhardt, a.a.O. (Anm. 11), bes. 276f zusammengestellt: “Male masturbation
was […] treated by means of surgical procedures. Some recommended vasectomy, (Haynes, 1883), while others
found this procedure ineffective and employed castration (Marshal, 1883). One illustrative case involved the
castration of a physician who had been confined as insane for seven years and who subsequently was able to
return to practice. Another case involved the castration of a twenty-two year old epileptic “at the request of the
county judge, and with the consent of his father … the father saying he would be perfectly satisfied if the
masturbation could be stopped, so that he could take him home, without having his family continually humiliated
and disgusted by his loathsome habit.” (Potts, 1898)“.
21
Dieses lange Zeit vergessene und verdrängte Phänomen wird in Hubert Ortkemper: Engel wider Willen. Die
Welt der Kastraten, Berlin: Henschel, 1993 materialreich erforscht und für das kulturelle Gedächtnis wieder
zugänglich gemacht.
20
Schwangerschaft im Verkehr mit ihnen schwindet. Nun gab es einige Kastraten, die sich nicht mit
ihrer Rolle als Stimm- und Befriedigungsapparate begnügen wollten. Einige erlebten ihren Leib und
ihr Begehren offenbar nach wie vor als Medium personaler Kommunikation und Bindung, und sie
wollten heiraten. Hier aber hörte der Spass für Familien, Theologen und Juristen offenbar auf.
Gut dokumentiert ist der Fall des Kastraten Sorlisi, der als Sopranist an der Oper des Markgrafen Ernst
Christian von Brandenburg-Bayreuth in Dresden sang, dort offenbar so gut verdiente, dass er sich
1665 ein Rittergut kaufen konnte und 1666 in den Adelsstand erhoben wurde. Er verliebte sich in die
Tochter seines juristischen Ratgebers und liess im selben Jahr 1666 beim protestantischen
Konsistorium in Leipzig inkognito die Frage abklären, wie das Ehebegehren eines zeugungsunfähigen,
weil an den Hoden kastrierten Mannes zu beurteilen wäre.
Gegen die kirchenrechtliche Legitimität einer solchen Ehe spricht damals die allgemein akzeptierte
Definition des Ehezweckes. Dieser bestehe a) in der Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts und
b) in der Dämpfung und im Löschen der Lust. Die Ehe eines zeugungsunfähigen Kastraten gilt
dementsprechend als illegitim, da der Zweck der Kinderzeugung ja wegfalle und auch die Lust der
Frau nicht gelöscht werden könne und diese deshalb in ständiger Gefahr der Hurerei und des
Ehebruches sich befinde. Es gelte der Schluss: „Quod impotens ad copulam sit impotens ad
matrimonium“. Das Leipziger Konsistorium sollte zu diesem Urteil Stellung nehmen, und es machte
sich die Sache nicht leicht. Offenbar wurde genaue Erkundigungen über das Geschlechtleben des
Kastraten eingezogen, denn schliesslich kam das Konsistorium zum Schluss, die Ehe sei zu
legitimieren, da der besagte ehewillige Kastrat „ zu dem Excercitio venereo nicht gäntzlich untüchtig,
sondern daß er annoch erectionem penis empfinge, den congressum halten, auch einem Weibes-Bilde
satisfaction thun, und ihre Brunst stillen und extinguiren könne.“22 Sorlisi durfte also heiraten.
Doch auch nach der kirchlichen Eheschliessung lies man Sorlisi und seine Dorothea nicht in Frieden.
Denn das Ober-Konsistorium in Dresden beschäftigte sich erneut mit dem Fall, verwirft die liberale
Auffassung der Leipziger Behörden und verlangt die Annullierung der Ehe. Der Kurfürst selbst setzt
sich nun für Sorlisi ein, aber Dorotheas Stiefvater lässt nicht locker. Er fordert ein Gutachten der
Theologischen Fakultät der Universität Jena an, das am 25. Februar 1668 erstellt wird. Darin wird
festgestellt, „dass Dorothea als eine junge, zum Kindergebären tüchtige Weibs-Person, vermöge
göttlicher Stiftung des Ehestandes nicht befugt ist, in eine Ehe mit einer Mannes-Person, die zum
Kinderzeugen nachweislich untüchtig ist, einzuwilligen, und ist demnach auch ihre Einwilligung nach
demselben Rechte null und nichtig, Ist der Beischlaf mit einem, von dem bekannt ist, daß er seiner
Leibes-Beschaffenheit wegen nicht Kinder zeugen könne, eine Sünde wider das Gewissen.“
22
Zit. nach Ortkemper, a.a.o. S.194
Der Fall Sorlisi provoziert aber auch ein anderslautendes Gutachten. Aus dem preußischen Königsberg
schicken der Dekan und die Professoren der theologischen Fakultät eine Stellungnahme, welche die
Kastratenehe verteidigt, und zwar mit einer damals sehr unkonventionellen Begründung: Die Welt
habe sich seit der Zeit, in der die heilige Schrift aufgezeichnet wurde, geändert. In der heutigen Zeit,
also um 1670, sei die hauptsächliche Begründung für die Ehe „die Hintertreibung und Überwindung
der fleischlichen Lüste. Es ist das menschliche Geschlecht genugsam ausgebreitet, daß man auf
Vermehrung desselben nicht groß zu denken hat, daß also der Ehstand heutigen Tages vornehmlich ist
ein Heilmittel gegen unstete Begierden. [...] Daß man dieser Ehe widersprechen, den Ehleuten
Gewissens-Scrupel machen und auf die Trennung dringen wollte, auch so lange von dem Abendmahl
sie abhalten, bis sie getrennt werden, halten wir nicht allein für unbillig, sondern auch für ärgerlich.“ 23
1685 erschien eine Sammlung dieser Kontroverse in Halle als Buch unter dem Titel „Eunuchi
Conjugium oder Die Capaunen-Heyrat“. Das Problem wurde populär, und das Zedlersche Lexicon von
1735 widmet dem Problem der Kastratenehe eine längere Passage. Mit dem liberalen Königsberger
Gutachten kommen wir dem Lenzschen „Hofmeister“ wieder etwas näher; denn der bereits erwähnte
August Wilhelm Hupel hat in einer anderen Abhandlung Vom Zweck der Ehen, ein Versuch, die
Heuraht der Castraten und die Trennung unglücklicher Ehen zu verteidigen (Riga, 1771) diese
liberale Königsberger Linie weiter vertreten. Er nimmt darin ausdrücklich bezug auf das Königsberger
Gutachten und vertritt im Grossen und Ganzen dieselbe Position.24 Hupel darf also als Vermittler
sowohl des Kastrationsdiskurses wie der Kastratenehe für Lenz´ Hofmeister-Text in Anspruch
genommen werden.
Diesem Diskurs fügt Lenz durch sein Theaterstück allerdings einen neuen Aspekt hinzu. Denn mit der
Ehe zwischen Läuffer und Lise geht es ja nicht um die Ehe zwischen einer jungen Frau und einem
erektionsfähigen Kastraten. Läuffer kann den Beischlaf nicht vollziehen. Wenzeslaus bringt es auf den
Punkt:
Wenzeslaus. Aber dass dich der Kuckuck, er kann ja nichts – Gott verzeih mir meine Sünde, so laß dir
doch sagen.
Läuffer. Vielleicht fordert sie das gar nicht – Lise, ich kann bey dir nicht schlafen.
Lise. So kann Er doch wachen bey mir, wenn wir nur den Tag über so beysammen sind und uns so
anlachen und uns einsweilen die Hände küssen – Denn bei Gott! ich hab´ ihn gern. Gott weiß es, ich
hab´ ihn gern. (V.10. S. 169)
zit. nach Ortkemper, a.a.O., S.199.
August Wilhelm Hupel. Vom Zweck der Ehen, ein Versuch, die Heurath der Castraten und die Trennung
unglücklicher Ehen zu vertheidigen. Riga: Hartknoch, 1771. In Faksimile wiedergegeben mit einer Biographie
des Autors und rechtsgeschichtlichen Erläuterungen versehen von Clausdieter Schott. Frankfurt a. M.: Verlag für
Standesamtswesen, 1985. Zu den Königsberger Gutachten vgl. dort S. 36 u. S. 42.
23
24
Lises einfacher und ergreifender Satz „Ich hab´ ihn gern“ hat bei Wenzeslaus und seinesgleichen keine
Chance, verstanden zu werden. Läuffer muss dessen moraltheologischen Gehalt gleichsam
verdolmetschen und argumentativ an den juristischen Diskurs anschliessen:
Läuffer. Sehen Sie, Herr Wenzeslaus! Sie verlangt nur Liebe von mir. Und ist´s denn nothwendig zum
Glück der Ehe, daß man thierische Triebe stillt?
Damit überbietet Läuffer auch die liberalsten Königsberger Gutachten. Auf den Zweck der
Kinderzeugung konnte man allenfalls verzichten, am Zweck der Lust-Löschung, der Mortifikation
tierischer Triebe, hielt man allerdings fest. Dass eine Ehe auf das Gernhaben allein gründen könnte,
das erscheint hier neu und unerhört. Ehe ohne Triebauslöschung im heterosexuellen Geschlechtsakt:
undenkbar - jedenfalls für Wenzeslaus. Das traut man vor allem einer Frau nicht zu:
Wenzeslaus. Geht zum Sultan und laßt Euch zum Aufseher über ein Serail dingen, aber nicht zum
Hirten meiner Schafe. [...] Heiraten – Ei ja doch - als ob sie mit einem Eunuch zufrieden.
Warum es zwischen Läuffer und Wenzeslaus zum Zerwürfnis kommt, kann man im Horizont der
Hupelschen Klassifikation der Verschnittenen gut erläutern. Wenzeslaus erhofft sich in Läuffer einen
um des Himmelreiches willen Verschnittenen. Läuffer aber gesteht, dass er andere Beweggründe hatte.
Er hat sich aus therapeutischen Gründen entmannt, er sucht nicht das Heil, sondern Heilung von den
Folgen der Onanie. Und als ein therapeutisch Verschnittener geniesst er nun die Vorteile einer Ehe, die
auf Zuneigung gründet, kinderlos bleiben wird und damit ganz im Sinne Hupels zwar ärmlich, aber
ohne Last gelebt werden könnte.
Vielleicht darf man hier mit der Interpretation sogar noch einen Schritt weiter gehen. Denn das
Wesentliche wird in dieser Szene von der weiblichen Stimme gesagt, die zum Akademismus des
Diskurses, wie er zwischen Wenzeslaus und Läuffer herrscht, einen irreduziblen Kontrast bildet.25 Lise
ist zwar vielleicht naiv, aber nicht unerfahren. Sie kennt das „puf paf“ der Soldaten (163) und kann es
mit der Artigkeit der studierten Herren vergleichen. Was in der Beziehung Läuffers zu Lise vielleicht
zum Ausdruck zu kommen versucht, ist die Entdeckung einer Beziehungsqualität jenseits
heterosexuell genormter Leistungszwänge: „Läuffer. Lise, ich kann bey dir nicht schlafen. Lise. So
kann Er doch wachen bey mir“. Typisch für die Problemlage bei Lenz ist allerdings, dass dieser fragile
Aspekt, den Lise mit „Gernhaben“ umschreibt, in Lenz´ Drama im Hinblick auf den philosophischen
und moraltheologischen Kontext analytisch herauspräpariert und gleichsam auf dem Seziertisch der
Begrifflichkeit fein säuberlich von der „Befriedigung tierischer Triebe" getrennt werden muss. Die
Emanzipation des „Gernhabens“– und ich sage bewusst nicht des Begehrens, der Libido oder der
25
Wenn irgendow, dann ist hier in Lenz´ Werk das Prinzip der Dialogizität im Sinne M. Bachtins erfüllt. Vgl.
dazu die Gegenthese von Jaan Undusk, in diesem Band S.
Sexualität – erfolgt hier in einem Diskurszusammenhang der begrifflichen Klassifikation und damit
der Repression, in dem sie untrennbar verbunden wird mit der Repression anderer Aspekte des Leibes
wie Zeugung und Triebbefriedigung.
Wie nun hat Läuffer sich den kurativen Schnitt genau gesetzt? Wenn man sich aus kulturhistorischem
Interesse mit Medizingeschichte beschäftigt, möchte man das ziemlich genau wissen. Allerdings ist es
schwierig und wohl fast unmöglich, in das unklar strukturierte semantische Feld von Eunuch, Kastrat,
Kapaun, Verschnittener, Halbverschnittener, Hämling, Mönch usw. letzte chirurgische Klarheit zu
bringen. Ich möchte deshalb die Frage anders stellen: Inwiefern ist die Selbstkastration Läuffers eine
literarische Antwort auf ein Problem der Lenzschen Moraltheologie?26 Welche Form der Kastration
entspricht Lenz´ anthropologischem Modell der Triebsublimierung am besten?
Ein zentraler Leitwert der Lenzschen Theologie wie der Lenzschen Ästhetik ist die Selbständigkeit des
Handelns: „der stolze Gedanke, das tatst du, das wirktest du, nicht das wirkte die Natur oder der
Zusammenstoss fremder Kräfte“. Dieser Gedanke erweist sich einer selbstzweiflerischen Überprüfung
oft als Selbsttäuschung, und trotzdem kann er nicht aufgeben werden. Lenz´ Anthropologie ist im
wesentlichen als psychologischer Diskurs konstruiert und enthält eine Lehre von den verschiedene
Seelenvermögen. Im Aufsatz „Meine wahre Psychologie“ unterscheidet er vier, nämlich
Empfindungsvermögen, Vorstellungsvermögen, Vernunft und die begehrenden Kräfte. Das Vermögen
zu handeln entsteht nach Lenz aus der vernünftigen Beherrschung und asketischen Stauung der
begehrenden Kräfte:
Je sparsamer wir diese Konkupiszenz, die sich am ersten bei tierischen Bedürfnissen äußert
und durch das erste Verbot Gottes so wie jetzt überhaupt durch Gesetz ihren Schwung erhält,
befriedigen, desto größer, stärker und edler wird sie, das heißt desto größer, stärker,
vielumfassender und edler werden unsere Entschliessungen und die drauf folgenden
Handlungen, desto edler wir, Helden, Halbgötter, Herkulesse, der Gottheit näher und ihrer
Gnade würdiger.27
Lenz findet eine Beglaubigung seiner psychologischen Konstruktion des Handlungsvermögens aus
Triebaufschub und Triebverzicht in seiner eigenwilligen Interpretation des biblischen Mythos vom
Baum der Erkenntnis. Die Fähigkeit, selbständig zu handeln, entsteht nach Lenz aufgrund des ersten
göttlichen Verbotes, die Regung eines natürlichen Triebes sogleich und ohne weiteres zu befriedigen.
26
vgl. dazu Rudolf Käser. Die Schwierigkeit, ich zusagen. Rhetorik der Selbstdarstellung in Texten des Sturm
und Drang. München etc: Lang, 1987, bes. S. 272 – 296, und neuerdings die Arbeit von Heinrich Bosse und
Johannes Lehmann. Sublimierung bei Jakob Michael Reinhold Lenz. In: „Kunst – Zeugung – Geburt.“ Hrsg. v.
D. Wellberry u. Ch. Begemann, Freiburg: Rombach (erscheint demnächst).
27
Jakob Michale Reinhold Lenz. Gesammelte Schriften. Hrsg. v. F. Blei, München und Leipzig 1909ff., Bd. IV.
S. 31.
Lenz exponiert diesen Gedanken in seinem „Supplement zur Abhandlung vom Baum des
Erkenntnisses Gutes und Bösen“ und lässt dort Gott selber sprechen:
Diese Konkupiszenz ist meine herrlichste Gabe, nur behaltet sie ungeschwächt, als ein Gefäß
mir zu Ehren, behaltet sie lebendig – damit sie euch durch eine Ewigkeit begleite, damit ihr
eine Glückseligkeit ohne Ende damit auflösen könnet. Sobald ihr aber esset – eure Velleität
der Konkupiszenz nachgibt, so wird diese Konkupiszenz nach kurzem Genuß eines ihrer nicht
würdigen Guts immer enger zusammenschrumpfen, immer weniger begehren, sterben – leerer
entsetzlicher Zustand, ihr begehrt, wünscht, hofft nichts mehr, ihr kehrt in Staub und
Verwesung zurück ihr sterbt des Todes.28
Jede Triebbefriedigung sei eine Schwächung des Begehrens. Das ist die Wendung ins Psychologische
des humoralpathologischen Onaniediskurses: jede Ejakulation schwäche den Körper. Das führt zum
haushälterischen Umgang mit den beschränkten Vorräten. Lenz treibt dieses Management der
Konkupiszenz in seinen moralischen und diätetischen Schriften, z. B. in seinen „Lebensregeln“, bis ins
kleinste Detail. Er verbietet sich nicht die sinnlichen Wünsche, aber er unterwirft sie einer Diätetik
weniger der vernünftigen Befriedigung als der streng dosierten Erregung. Die Befriedigung bleibt
immer versagt. Lange Zeit scheint Lenz eine aufgeschobene Triebbefriedigung im Ehestand noch
gebilligt zu haben, doch schliesslich negiert er auch diese Lebensform - konsequenterweise, kann man
aus seiner Sicht sagen, solange der einzig anerkannte Ehezweck die Löschung der Konkupiszenz sein
soll. Eheverweigerung bis in den Selbstmord wird als radikale Konsequenz dieser Haltung z. B. im
Drama Der Engländer imaginiert.
Lenz´ Anthropologie kennt keinen Dualismus von Leib und Seele. Es ist in seinem Denkansatz nicht
möglich, die Seele zu retten, indem man den Leib kasteit, aber es ist auch nicht möglich, die Seele zu
erheben und dem neutralen Leib das Seine zu gewähren. Auf dem steilen Weg des Menschen zur
Gottähnlichkeit muss bei Lenz der Körper mit. Das ist ohne Zweifel eine Überforderung. Es lauert
unter anderem die Gefahr der Onanie mit all ihren beängstigenden Folgen. Hier nun entwirft die
Komödie „Der Hofmeister“ einen Ausweg für die Schwachen. Insofern fügt Lenz´ KomödienDichtung dem Heroismus seiner moraltheologischen Schriften etwas Neues und Anderes hinzu: Es
geht nicht mehr darum, ein Held oder Halbgott zu werden. Läuffer darf als kleiner, recht
unbedeutender Mensch überleben. Wenn jemand nicht fähig sein sollte, dem Befriedigungsverbot aus
freien Stücken zu folgen, kann er sich durch einen Schnitt helfen. Dies ganz im Sinne des Aufklärers
Hupel. Allerdings müsste – so die Ergänzung des Sturm-und Drang-Dichters Lenz - dieser Schnitt
richtig gesetzt sein. Die Quellen des Begehrens wären zu erhalten, nur die Instrumente seiner
Befriedigung wären zu beseitigen. Penis-Ektomie bei gleichzeitiger Erhaltung der Testikel ist das
28
Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von S. Damm. München, Wien:
Hanser, 1987. Bd. 2. S. 516.
adäquate somatische Modell dieser moraltheologischen Kopfgeburt.29 Bei Läuffer scheint es - auf der
Bühne zumindest - als Kur recht gut anzuschlagen.
Dieser Befund lässt uns Abschied nehmen vom Klischee des sozial-revolutionären Lenz. Rebellion?
Wohl kaum. Zumindest nicht in einem aktivistischen Sinne des Wortes. Was wir lesend beobachten,
ist die Spiegelung zeitgenössischer Diskurse und ihrer Zwänge. Es ist eine konstruktiv-kritische
Weiterschreibung dieser Diskurse festzustellen, dann allenfalls eine Subversion durch literarische
Hyper-Konkretisierung, durch zugespitzte Variantenbildung und ins Paradoxe kippende Überbietung.
Was Lenz´ Hofmeister-Drama uns heute gibt, ist nicht etwa eine klar distanzierte öffentliche Kritik der
Diskurszwänge des 18. Jahrhunderts, verfasst von ideologisch unanfechtbarem Standpunkt aus. Lenz
als Dichter ist selbstlos, ist widerspiegelnde Folie: sein Standpunkt verschwindet in dem der dramatis
personae. An deren geprägtem Verhalten entzündet sich hie und da der utopische Vorschein einer
Alternative, die man dialektisch retten möchte aus den Trümmern ausweglos scheinender
Verstrickung. Was Lenz´ Dramentext uns heute ermöglicht, ist nicht die Identifikation mit einem
Poeten jenseits von Furcht und Tadel. Was der Text uns ermöglicht, ist vielmehr eine Lektüre, die zur
minutiösen Kontextualisierung auffordert und damit den Zugang eröffnet zu den springenden Funken
auf der Schattenseite einer kulturellen Formation, die wir gemeinhin das „Zeitalter der Aufklärung“
nennen.
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Ob auch Lichtenberg darauf anspielte, als wenn er in seinen Sudelbüchern die Literatur seiner Zeit sarkastisch
angreift: „Wenn eine andere Generation den Menschen aus unsern empfindsamen Schriften restituieren sollte, so
werden sie glauben es sei ein Herz mit Testikeln gewesen. Ein Herz mit einem Hodensack.“ Dass Lichtenberg
dabei konkret auch auch an den „Hofmeister“ gedacht haben könnte, lässt sich nicht beweisen. Allerdings fällt
auf, dass in diesem epochenkritischen Emblem Lichtenbergs der Penis fehlt.
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