Bettine Menke Kafkas Labyrinthe »Kafkas Labyrinthe« – das war der Titel, unter dem ich für die Tagung Research Avenues into Franz Kafka’s Das Schloss annonciert war, ein Arbeitstitel, der Erfüllung anzukündigen oder anzuweisen scheint, einer Anweisung, der nicht zu folgen, eine Erfüllung, die wegzuarbeiten ich mich im Folgenden bemühe. Labyrinthe sind Raum-Ordnungen,1 Architekturen der Zu-Gänge, Wege und Verschließungen,2 in Hinsicht auf die verschiedenen architektonischen Modellierungen in Kafkas Texten,3 wie sie mindestens seit Gilles Deleuzes’ und Félix Guattaris Kafka. Für eine kleine Literatur in den Fokus rückten,4 gedacht werden können. So kann auch gefragt werden, inwiefern und ob (überhaupt) die Topographie des Schlosses als Labyrinth erschlossen werden kann. Es gibt Texte Kafkas, etwa jener abgebrochene, den Max Brod Der Bau betitelte, der nicht nur mit dem vielleicht zu spitzfindigen »Eingangslabyrint« das Modell des Labyrinths zitiert, 5 und zwar als Ausschluss nach außen wie als Einschluss nach innen, als dädalisches Werk usw., um dieses Modell und seine Voraussetzungen vielfältig auseinanderzusetzen: die Position des Ich und des Anderen, die unauflöslich aporetisch aufeinander angewiesen sind, das integrierende Werk, das keinen Abschluss findet, sich vielmehr gegen den vermeintlichen Bauherrn versperrt, den auszuschließenden Anderen, der doch immer schon innen überall war, usw.6 Markiert im Bau das Wort Labyrinth eine Stelle metatextueller Anweisung, an der der Text sich in/auf sich selbst doppelt, und manifestiert in diesem die »potentielle Verwirrung von figurativer und referentieller 1 Übrigens ist schon dies auch falsch, weil kaum auszumachen ist, was das Labyrinth ist oder war, vgl. den »Labyrinthos«-Artikel in Paulys Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft, 23. Halbband, Stuttgart 1924, Sp. 312–326. Eine Ordnung im oder des Raume(s) wäre das Labyrinth auch als ein tänzerischer Vollzug, als zu lesende Konstellation der Eingeweide, usw., vgl. Gabriele Brandstetter: Tanzlektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1995, S. 319–324; vgl. Karl Kerényi: Labyrinth-Studien. Labyrinthos als Linienreflex einer mythologischen Idee (1940), 2. Aufl., Zürich 1950, S. 38ff.; Bettine Menke: »Lesarten des Labyrinths/Schemata des Lesens«, in: Christoph Hoffmann; Caroline Welsh (Hg.): Umwege des Lesens. Aus dem Labor der philologischen Neugierde, Berlin 2006, S. 185–206. 2 Vgl. für Vieles etwa Joseph P. Stern; John J. White (Hg.): Paths and Labyrinths. Nine Papers from a Kafka Symposium, London 1985. 3 Vgl. zuletzt Gerhard Neumann: »Chinesische Mauer und Schacht von Babel. Franz Kafkas Architekturen«, in: DVjs 83 (2009), S. 452–471. »Innerhalb solcher Bauwerke [wie Beim Bau der chinesischen Mauer] sind es Labyrinthe, die den architekturalen Kern von Mauern, Höfen, Palästen, Ein- und Ausgängen sowie Freitreppen bilden, wie in der Sage von der Kaiserlichen Botschaft« (ebd., S. 463). 4 Gilles Deleuze; Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a.M. 1976, insb. S. 100–111. 5 Vgl. NSF II 587. Diesem Text Kafkas widmete sich denn auch die Tagung Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn an der FU Berlin, Mai 2011, um »Modellanalysen« bez. der »Anschlussfähigkeit und praktische[n] ›Anwendbarkeit‹ verschiedener Raumkonzepte« zu veranlassen. Hinsichtlich dieser will eine aktuelle Überblicksdarstellung geben: Wolfgang Hallet; Birgit Neumann (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009. 6 Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text, München 2000, S. 29–135, z.B. S. 79–97. Aussage«,7 so tritt das Labyrinth aber in Kafkas Das Schloss -- was immer das ist und sein könnte -- wörtlich gar nicht auf. Allerdings findet sich ein »Labyrint« auf jenen Blättern, die Kafka zu den sogenannten Schloss-Heften zusammenstellte, anders: »verkehrt« (herum) – und wie viele andere Stücke nicht in den Romantext, der nicht einer und nicht ganz ist, integriert:8 »Wo ist F.? Ich habe ihn schon lange nicht gesehn. F? Sie wissen nicht, wo F. ist? F. ist in einem Labyrint, er wird wohl kaum mehr herauskommen. F? [F] Unser F? F. mit dem Vollbart? Ebender. I(m>n) einem Labyrint? Ja. (unveröffentlicht)« (S App. 36) Ist F. (wie K.?) am Orte des Minotauros, der dann nicht von Theseus getötet und vor das Labyrinth geschleppt wurde? Oder »in einem Labyrint« als ein gescheiterter Theseus? Oder wie Dädalos? der demnach nicht nur (wie bei Ovid) »kaum mehr« seines Bauwerks Schwelle wiederfand,9 sondern »wohl kaum« aus ihm heraus-finden würde. Kafkas Labyrinthe sind, wenn seine Texte denn solche wären, keine Labyrinthe in einem traditionellen Sinne. Und dennoch ist das Labyrinth als räumliche Ordnung geeignet, Kafkas Texte, ihre Architekturen und Architexturen, ihre Gänge und Fluchten zu diskutieren.10 Denn die kafkaschen Ausprägungen des Aufschubs, des Zögerns oder Zauderns legen nahe, 11 das Labyrinth und seine Konzepte für diese heranzuziehen, um sie allerdings nicht (nur) in Anspruch zu 7 Paul De Man: »Rhetorik der Tropen«, in: ders.: Allegorien des Lesens, übers. v. Werner Hamacher, Frankfurt a.M. 1988, S. 160; vgl. Menke, Prosopopoiia, a.a.O., S. 45–75, 126ff. 8 Schloss-Heft I, Bl. 14(v), Rückseite des letzten von 14 zusammen aus einem anderen Heft ausgerissenen und eingelegten Blättern (vor S 53 Bl 21(r); vgl. NSF II App. 97 (Zuordnung zu S 35, Z. 25–37, Z. 8). Sie werden eingeordnet als »drei kurze, mit dem Romantext inhaltlich nicht zusammenhängende, offenbar früher niedergeschriebene Texte; im Verhältnis zur Romanniederschrift kopfstehende Beschriftung« (S App. 35f.). Die sogenannten Fragmente sind in der KKA woanders veröffentlicht, in: NSF II 363f.; vgl. Kommentar von Jost Schillemeit, NSF II App. 96–99 mit Spekulationen zur Entstehung (vgl. auch zum »Irrwege«-Geduldspiel, NSF II 414f.; App. 109, sowie S App. 57). Dass der »Labyrint«-Eintrag keineswegs geschrieben worden sein musste, bevor der Text auf Bl. 14v. angekommen war; dass tatsächlich Kafka später diese Eintragung in der freien Fläche auf 14v. vorgenommen haben kann, nachdem der Text schon viel weiter fortgeschritten war und für den Autor womöglich die Anmutung eines Labyrinths angenommen hatte, darauf hat mich Malte Kleinwort hingewiesen; zu Fehleinschätzungen bez. der Einordnung von Aufzeichnungen in KKA, vgl. Malte Kleinwort: Kafkas Verfahren, Würzburg 2004, S. 111 (sowie auch dessen Beitrag im vorliegenden Band). 9 »[S]o füllt der Meister mit Irrnis all die unzähligen Gänge [innumeras errore vias, Anm. d. Verf.]. Er selbst vermochte die Schwelle [limen, Anm. d. Verf.] kaum mehr zu finden« (Ovid, Metamorphosen, 8. Buch, Vs. 161ff.). 10 Vgl. in dieser Hinsicht die Beiträge von Gerhard Neumann: »Franz Kafkas Architekturen – Das Schloss« und Joseph Vogl: »Brücke und Metapher. Die Schwellen zum Schloss« im vorl. Band. 11 Das Zögern (dazwischen) kennzeichnet P. Valéry zufolge die Poesie (auf der/als Schwelle); Über das Zaudern handelt Joseph Vogl, Berlin 2007. nehmen, sondern sie vielmehr in ihrer Reichweite, hier: anhand des Schlosses, zu diskutieren. Wie andere ziehe ich, der Einfachheit halber, zunächst, aber nur vorübergehend, Umberto Ecos bekannte Typologie der Labyrinth-Formen bei.12 Als dessen ersten Typus bestimmt Eco das Einweg-Labyrinth wie folgt: »[W]enn man das klassische Labyrinth auseinanderzieht, hat man einen Faden in der Hand, den Faden der Ariadne«; und: »In diesem Labyrinth kann sich niemand verirren«.13 Aber auch der eine Weg im klassischen Labyrinth ist keineswegs der gestraffte lineare Faden, sondern dieser zieht, vom Knäuel der Ariadne abgespult und ausgelegt, die Wege des Labyrinths (nach), und er bildet dieses sogar durch die vielfältigen Faltungen und Wendungen, die er choreographiert.14 Diese sind Um-Wege der Verzögerung und der Verwirrung. Labyrinthische Anordnungen suchen die möglichst unendliche Verlängerung des Weges durch dessen Faltungen auf engstem Raume, und erzeugen im Hin-und-her der Bewegungen Desorientierung im Raume, wie sie der Ovidsche Dädalus in seinem Labyrinth erfährt: »Wie der phrygische Maeander mit seinen klaren Wellen spielt [in undis ludit] und in zweideutigem Lauf [ambiguo lapsu] hin- und herfließt [refluitque fluitque], sich selbst begegnend die kommenden Wellen erblickt und bald zur Quelle, bald zum offenen Meer hin seinen unsteten Wasserlauf lenkt [incertas exercet acquas], so füllt Daedalus unzählige Wege mit Irrsal [innumeras errore vias] – kaum konnte er selbst zur Schwelle [limen] zurückfinden; so trügerisch ist das Bauwerk!«15 Umwegig, aufschiebend, verzögernd irritieren die Gänge die bestimmende Bezogenheit von Wegen auf ihr Ende, Ziel (telos) oder ihre Grenze (limen). Diese Labyrinth-Figur zitiert Kafkas Bau mit seinen Zickzack-Wegen: »ich habe dort ein kleines tolles Zickzackwerk von Gängen angelegt«, einen »Labyrintbau«, der »mir damals die Krone aller Bauten schien«, der »in Wirklichkeit aber eine viel zu dünnwandige Spielerei darstellt« (NSF II 586f.)16 – und im Hin-und-her-Laufen der Gedanken-Gänge. Die »frappante Ausführlichkeit« der Umberto Eco: Nachwort zum ›Namen der Rose‹, München 1984, S. 64ff., vgl. Vogl, Über das Zaudern, a.a.O., S. 84–86. 13 »Das klassische Labyrinth ist der Ariadne-Faden seiner selbst« (Eco, Nachwort zum ›Namen der Rose‹, a.a.O., S. 65; für die Unterscheidung des angeblich ursprünglichen ersten von den späteren Irrgängen vgl. Hermann Kern: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds. München 1999 (1982), hier S. 13. 14 So ist der tänzerische Vollzug, nicht nur als eine Nach-, sondern auch als die Vorstellung des Labyrinths (überhaupt) aufzufassen. Jede Wiederholung (auch die von Labyrinth-Weg und -Faden) doppelt und spaltet (in sich selbst). 15 Ovid, Metamorphosen, 8. Buch, Vs. 161ff. 16 Zum einen gibt es den Vorbehalt des Bau-Herrn gegenüber diesem Anfang: »den ich aber heute wahrscheinlich richtiger als allzu kleinliche, des Gesamtbaues nicht recht würdige Bastelei beurteile« (NSF II 586f.); zum anderen belegt ein Notat aus dem Umkreis zum Bau den Zusammenhang von »Etwas Baumeistermässige[m]« und dem Labyrinth: »schon als Kind zeichnete ich Zick-zack- und Labyrinthpläne in den Sand und eilte im Geiste auf 12 Überlegungen oder Grübeleien (wie Grabungen), deren »Sinn«, so Walter Benjamin, »Verzögerung« sei, macht die Labyrinthik des Textes aus.17 Die, Maurice Blanchot zufolge, »endlosen Mäander der Reflexion«, die Kafkas Texte vorstellen,18 weisen die labyrinthische Organisiertheit als eine Arabeske aus, die nicht die Zutat zu einer zentralen mimetischen Darstellung abgibt. Diesem ersten Labyrinth-Modell entsprechend »führte« in Kafkas Schloss der Weg »nicht zum Schlossberg«, die Straße »führte nur nahe heran, dann aber wie absichtlich bog sie ab und wenn sie sich auch vom Schloss nicht entfernte, so kam sie ihm doch auch nicht näher. Immer erwartete K., dass nun endlich die Straße zum Schloss einlenken müsse« (S 21). 19 Derart nimmt »das Dorf« »kein Ende«. – Das muss jede Suche nach (Forschungs-)Wegen ins Schloss auf der Rechnung haben. Wenn dies nicht näher Kommen auf Dauer gestellt, end-los bliebe, dann handelt es sich um kein klassisches Labyrinth, das durch die Bezogenheit auf ein Ende, Zentrum und Ausgang bestimmt wäre. So ein-wegig es sein mag, ist aber doch auch das „klassische“ Labyrinth nicht die Anweisung auf die Sukzession der Abfolge am Faden, sondern es vollzieht mit seinen Knitterungen und Faltungen vielfältige Wendungen, Umbrüche, Diskontinuitäten. Die vermeintliche Kontinuität der Abfolge ist mit der Wendung, die die Linie eng sich faltend nimmt, bestimmt als Gleichzeitigkeit von Vorwärtsbewegung und Unterbrechung.20 J. Hillis Miller macht diese Wendung (in) der Linie aus: »In this turning it subverts its own linearity and becomes repetition […]; repetition is what disturbs, suspends, or destroys the linearity of the line«. 21 In der Wiederholung falten sich eine Differenz und eine Identität aufeinander, d.i. wie Derrida bemerkt das Gesetz aller textuellen Effekte.22 Jede Linie hat »slightly assymmetrical echoes«, 23 in denen sie sich unheimlich doppelt und von sich ohne identifizierbare Unterscheidung differiert. So haben die mythischen LabyrinthErzählungen ihre Wiederholungen, doppeln sie sich, in sich unabgeschlossen, in anderen, falten weichen Pfoten über die [schönen stillen Wege] ‹vielen Striche› hin.« (NSF II App. 430; vgl. Neumann, »Chinesische Mauer und Schacht von Babel«, a.a.O., S. 466ff.). 17 Walter Benjamin: »Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer«, in: ders.: GS II.2, S. 676-683, hier: S. 679. 18 Maurice Blanchot: Von Kafka zu Kafka, Frankfurt a.M. 1993, S. 56. 19 Dieses Modell ist auch in Kafkas Bestimmung der Unfreiheit des Wegs durch die Wüste (Borges zufolge ein anderes Labyrinth) zu erkennen: »Der Wille ist frei: er war frei, als er die Wüste wollte, er ist frei, da er den Weg zu ihrer Durchquerung wählen kann, […], er ist aber auch unfrei, […] da jeder Weg labyrintisch jedes [Stück] Fußbreit Wüste berührt.« (NSF II App. 231), eine der durchprobierten Varianten zu jenem Notat fasst die Wüste als »Leben« (vgl. NSF II 94f.). 20 So Brandstetter, Tanzlektüren, a.a.O., S. 326. 21 Joseph Hillis Miller: »Ariadne’s Thread. Repetition and the Narrative Line«, in: Critical Inquiry 3 (1976), S. 57–77, hier: S. 70, 68. »[T]he image of the line« »tends to be logocentric, monological«, aber »[it] subverts itself by becoming ›complex‹ – knotted, repetitive, doubled, broken, phantasmal« (ebd., S. 68f.) 22 Jacques Derrida: »La double séance«, in: ders.: La dissémination, Paris 1972, S. 199–317, S. 309; dt.: Dissemination, übers. von Hans Dieter Gondek, Wien 1995, S. 311. 23 Miller, »Ariadne’s Thread«, a.a.O., S. 62. sich in sich selbst und aufeinander – ohne ein abschließendes Ende.24 Derart ist die Textur oder das Netz bereits im Faden angelegt, in Ariadne echot Arachne, die Weberin,25 und insofern ist die Scheidung der Labyrinth-Typen unhaltbar, die insbesondere ein vermeintlich ursprüngliches Einweg-Labyrinth von den vermeintlich erst später sich hinzufügenden Wirrnissen des auf ein bloßes spätes Missverständnis der Labyrinthe zurückgehenden Irrgang-Labyrinthes scheiden und damit vor diesen bewahren will.26 Wie im Bau-Fragment die Gedanken-Gänge des grübelnden Tiers, die die Architektur auch demontieren und die die bauherrliche Instanz, die sie installieren, auch disseminieren, so sind auch im Schloss die Argumentationsgänge, die das Schlosses, die Verbindungen zu diesem und der Un-/Zugänglichkeiten erkunden,27 labyrinthisch in einem genauen Sinne, so etwa die K.s, wenn er der Wirtin des Brückenhofes, die Bescheid zu wissen sich anmaßt, entgegnet: »Denn Sie irren gewiss auch, wenn Sie glauben, dass Frieda von dem Augenblick an, wo ich auftrat, für Klamm bedeutungslos geworden ist. […] Durch mich kann in Klamms Beziehung zu Frieda nichts geändert worden sein. Entweder bestand keine wesentliche Beziehung – das sagen eigentlich diejenigen welche Frieda den Ehrennamen Geliebte nehmen – nun dann besteht sie auch heute nicht, oder aber sie bestand, wie könnte sie dann durch mich, wie Sie richtig sagten, ein Nichts in Klamms Augen, wie könnte sie dann durch mich gestört sein.« (S 83) Wenn K. derart, und immer wieder, der Undurchdringlichkeit des unbekannten Terrains durch Unterscheidungen beizukommen sucht, dann entwirft und exploriert sein Argumentationsgang (zunächst) ein Labyrinth des zweiten von Eco aufgeführten Typus, das »barock-manieristische Labyrinth, der Irrgarten« der Y-Gabelungen oder X-Kreuzungen. Wie solche »Kreuz- und Quergänge« des Baus so literal wie grübelnd unaufhörlich durchlaufen werden (NSF II 584), so werden im Schloss die »Briefgeschichte« »kreuz und quer« immer wieder durchgenommen (S 330) »endlos« (S 363). Wenn man, so Eco, das Irrgarten-Labyrinth »auseinanderzieht«, »erhält 24 Die Erzählung »has to be traced and retraced, thread over thread in the labyrinth, without ever becoming wholly perspicuous« (Miller: »Ariadne’s Thread«, a.a.O., S. 65). Es handelt sich um die Erzähl-Linien von Minos, Pasiphae, Minotauros, Daidalos, Theseus, Ariadne, Dionysos, Aphrodite, Phädra, Perdix, usw.. 25 Miller, »Ariadne’s Thread«, a.a.O., S. 66; vgl. ebd., S. 62. 26 Vgl. Kern, Labyrinthe, a.a.O., S. 13 u. 18 u.ö., dagegen werden die »Augen [von Dädalos in seinem Labyrinth] durch die verschiedensten gewundenen Umwege [wie »in zweideutigem Gleiten« des Mäander] in die Irre« geführt (Ovid, Metamorphosen, 8. Buch, Vs. 161ff.); nach einer anderem Version der Geschichte finden sich zuerst exzentrische Mäander-Ornamente und -Texturen (Richard Eilmann: Labyrinthos. Ein Beitrag zur Geschichte einer Vorstellung und eines Ornaments, Athen 1931), denen die sog. eigentliche Labyrinthform entstamme. Gegen die Verfallsgeschichte vgl. ausführlich Menke, »Lesarten des Labyrinths/Schemata des Lesens«, a.a.O., S. 200–205. 27 »Jede Information über die Funktionsweise der Behörde ist vielleicht auch oder nur ein Stück Schloß-Mythos; alle Andeutungen über den Daseinsgrund des Schlosses sind vielleicht nur oder auch Hinweise zum bloßen Überleben in ihr.« (Rüdiger Campe: »Kafkas Institutionenroman. Der Proceß, Das Schloß«, in: Campe, Rüdiger; Niehaus, Michael (Hg): Gesetz. Ironie: Festschrift für Manfred Schneider, Heidelberg 2004, S. 197–208, hier: S. 207). man eine Art Baum, ein Gebilde mit zahlreichen Ästen und Zweigen aus toten Seitengängen. Es hat einen Ausgang, aber der ist nicht leicht zu finden. Man braucht einen Faden der Ariadne, um sich nicht zu verirren. Dieses Labyrinth ist ein Modell des trial-and-error-Verfahrens.«28 Die zitierte Argumentation K.s entwirft zwar mit der Gabelung entweder-oder ein solches BaumSchema der Entscheidungen, aber die vermeintlich sich aufgabelnden Alternativen sind verschiedene Modi derselben Unmöglichkeit, »dass Frieda […] für Klamm bedeutungslos geworden ist«, sie machen keinen Unterschied und eröffnen keine Ent-Scheidung. Es muss hier nicht nur nicht entschieden werden, sondern es ist hier gar nichts zu entscheiden, denn umgekehrt ist, was ist, in sich selbst unentscheidbar gedoppelt/gespalten, das Wirkliche bekommt die Modalität des »sei es… sei es«, das es »als Zwischenraum artikuliert« (so Joseph Vogl).29 Wo keine distinktive Unterschiedenheit gegeben ist, differiert potentiell jeder Punkt unentscheidbar von/in sich selbst. Der Garten, in dem die Pfade sich verzweigen (se bifurcan), ist, wie Jorge Luis Borges vorstellt, der Raum der Gleichzeitigkeit aller sich gabelnder Möglichkeiten30 (hier auch der Unmöglichkeiten),31 die jede Wirklichkeit – als Vorbehalt gegen diese – begleiten und aushöhlen. Denn dieser untersteht nicht der von Eco, der von »Zweigen aus toten Seitengängen« weiß, unterstellten Hierarchie; vielmehr ist jedes (jeweilige) Wirkliche an deren Hintergrund der ausgeschlossenen Möglichkeiten verwiesen, und differiert derart von sich selbst. »Ich weiß nicht ob in Ihrem Fall eine solche Entscheidung ergangen ist – manches spricht dafür, manches dagegen – wenn es aber geschehen wäre, so wäre die Berufung an Sie geschickt worden und Sie hätten die große Reise hierher gemacht, viel Zeit wäre dabei vergangen und inzwischen hätte noch immer Sordini hier in der gleichen Sache bis zur Erschöpfung gearbeitet, Brunswick intrigiert und ich wäre von beiden gequält worden. Diese Möglichkeit deute ich nur an.« (S 110f.) Derart wird die Wirklichkeit, die bereits eingetreten ist und insofern abgeschlossen wäre, gar nicht über die kontingenten Möglichkeiten (gemäß der Entgegensetzung von Weg und Abweg) Eco, Nachschrift zum ›Namen der Rose‹, a.a.O., S. 64f.; William H. Matthews analysierte die Wegenetze (Hampton Court und Hatfield House) durch deren Darstellung als ›straight-line diagram‹ von Abzweigen, Sackgassen und Loops (Mazes and Labyrinths, London 1922, S. 187); als Entscheidungs-Baum oder Graph ist es Gegenstand der Mathematik. 29 Vogl, Über das Zaudern, a.a.O., S. 77f. und 107 (mit S 87); vgl. S. 76ff.. 30 Jorge Luis Borges: El jardín de senderos que se bifurcan (1941; sowie in ders.: Ficciones, 1944); vgl. Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock (1988), Frankfurt a.M. 2000, S. 102-105. 31 Die K. ins Kalkül ziehen muß: »Wenn es, wie Sie sagen, für mich unmöglich ist, mit Klamm zu sprechen, so werde ich es eben nicht erreichen, ob man mich bittet oder nicht. Wenn es aber doch möglich sein sollte, warum soll ich es dann nicht tun, besonders da dann mit dem Wegfall Ihres Haupteinwandes auch Ihre weiteren Befürchtungen sehr fraglich werden. Freilich unwissend bin ich, die Wahrheit bleibt jedenfalls bestehn und das ist sehr traurig für mich, aber es hat doch auch den Vorteil, dass der Unwissende mehr wagt […]. Diese Folgen [der Unwissenheit, Anm. d. Verf.] treffen aber doch im Wesentlichen nur mich [...]. Was fürchten Sie also?« (S 91) Es folgen Neuaufnahmen und Verschiebungen. 28 entschieden haben. Sie ist vielmehr im Modus des Konditional II, »wenn es aber geschehen wäre«, „suspendiert“.32 Nach dem Labyrinth-Modell des sog. Irrgartens, der der Hierarchie von Weg und Ziel, von Sackgasse und Zielführung untersteht und diese umgekehrt aus- und vorführt, entspricht die Lösung des Rätsels, das das Irrgang-Labyrinth zu stellen scheint, dem Umwege-Modell, das schon durch das klassische Labyrinth als einer Organisation des Verzögerns, des Aufschubs der Ankunft realisiert ist. Das Rätsel der Irrgänge ist durch das Regeln oder Algorithmen folgende Abschreiten (notfalls) aller Wege zum Zentrum oder Ausgang prinzipiell, immer lösbar.33 Verfahren weisen einen (möglicherweise) uneleganten, da langwierigen, im Versuch viele Fehlgänge begehenden, aus ihnen zurückkehrenden, in wiederholten Versuchen und Revisionen des Irrgehens sich verlängernden, allenfalls einem möglichen Zeitproblem erliegenden, Weg zum Auffinden des Zentrums oder Ausgangs. Trial and error – als Lösungsweg – setzt allerdings voraus, dass jeweils im Irrweg als »totem Seitengang« um- und »zum Ausgangspunkt« zurückgekehrt werden kann. Das nimmt sich bei Kafka aber (zuweilen) anders aus, 34 so etwa in den Forschungen eines Hundes, einem jener kürzeren Texte, die Kafka, den Schloss-Roman abbrechend, an dessen Stelle und als dessen Supplement schrieb: »Aber auch das Zögern unserer Urväter glaube ich zu verstehen, […]. Als unsere Urväter abirrten, dachten Sie wohl kaum an ein endloses Irren, sie sahen ja förmlich noch den Kreuzweg, es war leicht wann immer zurückzukehren und wenn sie zurückzukehren zögerten, so nur deshalb, weil sie noch eine kurze Zeit sich des Hundelebens freuen wollten, es war noch gar kein eigentliches Hundeleben und schon schien es ihnen berauschend schön, wie musste es erst später werden, wenigstens noch ein kleines Weilchen später und so irrten sie weiter. Sie wussten nicht, […] dass sie, als sie das Hundeleben zu freuen begann, schon eine recht althündische Seele haben mussten und schon gar nicht mehr so nahe dem Ausgangspunkt waren, wie es ihnen schien oder wie ihr in allen Hundefreuden schwelgendes Auge sie glauben machen wollte.« (NSF II 456f.) Insofern wird eine größere Reichweite absehbar für den von Rainer Nägele der Eingangsformel zu Kafkas „Ein altes Blatt“: „Es ist als wäre“) abgelesenen Befund: „das ’ist’, das im ‚wäre’ suspendiert […] scheint“ („Es ist als wäre. Zur Seinsweise eines alten Blattes“, in: Isolde Schiffermüller, Elmar Locher (Hg.): Franz Kafka, Ein Landarzt. Interpretationen, Bozen 2004, 61-72, hier: 65). 33 Vgl. die in Labyrinth-Erkundung lösenden Algorithmen des Fernmeldetechnikers Charles Pierre Trémaux (1886) und des Mathematikers Gaston Tarry; Eco übernahm es für die Detektive im Bibliotheks-Labyrinth (Der Name der Rose, München 1983, S. 223f.); vgl. Peter Berz: »das labyrinth – spiel des wissen«, in: Bodo-Michael Baumuk; Margret Kampmeyer-Käding (Hg.): 7 Hügel. Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts, VII: träumen. Sinne, Spiele, Leidenschaften: Über die subjektive Seite der Vernunft, Berlin 2000, S. 112–114, hier: S. 113f.; ders.: Programm und Umgebung. Zwölf Studien zur historischen Medientheorie. Habilitationsschrift an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2006, S. 214 – 222 u. S. 228/9. 34 Vgl. auch die Struktur und »Bauart« der die »winzige Oase« ganz ausfüllenden »allerdings riesenhaft[en]« »Karawanserei«: »Es war für einen Fremden, so schien es mir wenigstens, unmöglich sich dort zurechtzufinden.« (NSF II 355). 32 Die »Abirrung«, Eco zufolge, ein »toter Seitengang«, ist, um der »Hundefreuden« willen, derart zum Verzögern einer Rückkehr zum »Kreuzweg« geworden, dass der supponierte »Ausgangspunkt« vor dem Abzweig ins »Hundeleben« gar nicht mehr einnehmbar wäre: »als sie das Hundeleben zu freuen begann«, mussten sie »schon eine recht althündische Seele haben [Herv. d. Verf.]«. Es handelt sich ums »endlose Irren«, das das ganz un-melancholische SichFreuen am »Hundeleben« ist. Umgekehrt kann man sich im Irrgarten der Scheidewege gar nicht verlieren, weil es Verfahren gibt, nach deren Vorschrift man immer (irgendwann) aus dem Labyrinth herausfinden wird, denn für diese gilt, so Peter Berz, »die jeweilige Struktur bleibt unverändert«, oder anders: solange die Struktur stabil bleibt und damit endlich ist35 Das ist im Schloss nicht der Fall. Wenn jedes Kalkül möglicher Fälle beantwortet werden kann: »›Es gibt noch andere Möglichkeiten, viel wahrscheinlichere‹«, »›dass er z.B. Sie stehn lässt und weggeht‹« (S App. 225),36 so vervielfältigt das nicht nur die Knoten und Scheidewege. Vielmehr wird dadurch, dass die Problemlage sich ständig verändert haben wird, »der vermeintliche Irrgarten eine immer neue Struktur« annimmt (P. Berz), die Auflösung ins Endlose aufgeschoben.37 Dann aber handelt es sich nicht mehr um das Labyrinth (des zweiten Typus), für das Regularien des trial-and-error den Lösungsweg angeben. Die dritte und letzte der Labyrinth-Formen ist Eco zufolge das Netz oder mit dem Begriff von Deleuze/Guattari das Rhizom. Das »Rhizom-Labyrinth«, so Eco, lässt als vieldimensionale Vernetzung die Anordnung von Zentrum und Peripherie, die geregelte Relation von Aufschub und Ankunft, die sowohl das klassische als auch des Irrgarten-Labyrinth ausmacht, zurück.38 Es hat keinen Eingang und keinen Ausgang,39 kein abgeschiedenes Innen und kein Außen. Das Netz oder Rhizom ist zum einen die überbietende Realisierung des Labyrinths, das (so Deleuze) 35 Peter Berz (per Email): »Das Labyrinth schafft nur den Anschein eines Verirrens. Dagegen in der Wüste, auf See, fehlt diese feste Struktur«; oder: »im Labyrinth verirrt man sich, in der Wüste verliert man sich«. 36 Das ist die Entgegnung der Wirtin auf K.s Argumentation: »Für seine Antwort aber gibt es 3 Möglichkeiten, entweder wird er sagen: ›Es war nicht mein Wille‹ oder ›es war mein Wille‹ oder er wird schweigen. Die erste Möglichkeit schliesse ich vorläufig aus der Überlegung aus, zum Teil auch aus Rücksicht auf Sie, das Schweigen aber würde ich als Zustimmung deuten.‹« (S App. 225, bez. S 137/13). Die Trifurkation der Möglichkeiten wurde durch Dezision »vorläufig« reduziert, von den verbleibenden beiden wird die dritte auf die zweite zurückgeführt. 37 Peter Berz (per Email) »ein Aufschub der Auflösung trat ein, weil der vermeintliche Irrgarten eine immer neue Struktur annahm; vom Hundertsten aufs Tausendste, ein gelöstes Problem bringt zugleich das nächste hervor«; »die Sache wird nicht unlösbar, aber endlos; etwas, das als klar umrissenes Unternehmen beginnt, explodiert im Verlauf der Untersuchung und erlaubt keine Schließung mehr (nur noch den – vernünftig begründeten – Abbruch). Das ›Labyrinth‹ gibt demgegenüber ein gnädiges Bild: ich durchlaufe die ganze schwierige Arbeit, aber die Arbeit ist (nach und nach) überschaubar (besitzt eine feste Struktur) und vor allem zu bewältigen (gleich einer Prüfung).« 38 Eco, Nachschrift zum ›Namen der Rose‹, a.a.O., S. 64f. 39 Ebd. »etymologisch« »vielfältig« ist, »weil es viele Falten hat«, 40 – zum anderen aber Anti-Labyrinth,41 weil es die alle Labyrinthe organisierenden Gegensätze, die hierarchisierenden Oppositionen von Weg und Ziel, von Aufschub und Ankunft, Zentrum und Rand, von Innenraum und Ausgang, aussetzt und an die vervielfachten dezentrierten Verkettungen aller Wege suspendiert. Die die klassischen und barocken Labyrinthe bestimmenden Oppositionen können als Relation von Horizontalität und Vertikalität reformuliert werden. Die horizontale Ausformulierung des Labyrinths als einer Choreo-Graphie wird durch dessen Zentrierung durch das Monster oder durch das Entkommen, das Heil, vertikalisiert. Das doppelt sich in der architektonischen Ausführung als Türme, die das zu erreichende Zentrum einer Labyrinth-Anlage markieren konnten und jenen Aussichtspunkt boten, von dem her die Anordnung der Irr-/Wege in den Überblick, den das Begehen der Wege aussichtslos ausschloss, zu nehmen war. Aus dieser Perspektive wird der Blick, der versuchte der Linie in den Verflechtungen nachvollziehend zu folgen, auch beim Mäander-Labyrinth vor allem auf die Ornamentik und die Schwierigkeit des Linienwerks treffen, aber nicht am zentralen Ort deren Lösung finden.42 Das Labyrinth ist eine Figur des Lesen; es stellt eine Lesefrage nicht nur als Figur des Rätsels und der Verschlossenheit, sondern als ein Gewebe, das den Blick ans Ornament als Figur in der Fläche, und damit an die VerflechtungsOberfläche bindet, in der Figuren sich abzeichnen,43 der der Sinn impliziert ist und nicht ihr Jenseits oder Ausgang.44 Vielmehr vervielfacht ein Labyrinth die Modi des Lesens oder Sehens: als Ornament oder Arabeske, als Spur, lineare Anweisung, Grundriss, Flächenfigur, als ChoreoGraphie, die vollzogen sein will, und als Kenn- oder Gedächtnis-Zeichen usw.,45 und hält die Unentscheidbarkeit der Hinsichten oder deren Vexationen. 40 Deleuze, Die Falte, S. 11, vgl. S. 197 und S. 53f. So auch die Wüste; vgl. Jorge Luis Borges: Los dos reyes y los dos laberintos, in: ders.: El Aleph, Buenos Aires 1949; dt. Die zwei Könige und die zwei Labyrinthe, in: ders.: Das Aleph, übers. v. Karl August Hors; Gisbert Haefs Borges, Frankfurt a.M. 1992. 42 Auch nicht im Flug als der Flucht des Daidalos (Joseph Leo Körner: Die Suche nach dem Labyrinth. Der Mythos von Dädalus und Ikarus, übers. von Lore Brüggemann, Frankfurt a.M. 1983, S. 41), da diese keine endgültige war, er vielmehr wiederholend von Minos, durch Spiralgänge und sich windende Fäden, wieder eingeholt wird. 43 Vgl. die »Verkettungen« Leonardo da Vincis, »fantasia di vinci«, »a regular design of a series of knots«, Labyrinth-Studien und Teil seiner Beschäftigung mit Geheimschriften; vgl. Ananda K. Coomaraswamy: »The Iconography of Dürer’s ›Knots‹ and Leonardo’s Concatenation«, in: The Art Quaterly 7 (1944), S. 109–128; hier u.a. S. 109f., S. 113–116; vgl. Gustav R. Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst, Hamburg 1968, S. 98–100; Abb. 109ff. Auch barocke Labyrinth-Figurengedichte schreiben eine verschwierigte Leselinie vor und behaupten sich zugleich als Flächenfigur; Beispiele in: Kern, Labyrinthe, a.a.O., S. 284 (Abb. 356), S. 309–318; Jeremy Adler; Ulrich Ernst: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, 2. Aufl., Weinheim 1988, S. 169–173. 44 Da Vincis Verflechtungen stellen die ›Welten-Verknotung‹ vor; und mag eine auch eine Lösung aus den Knoten gesucht werden, so handelt es sich doch um »an omnipresent thread, immanent and transcendent« (Coomaraswamy, »The Iconography of Dürer’s ›Knots‹ and Leonardo’s Concatenation«, a.a.O., S. 117): »content and shape are indivisible« (ebd., S. 120f.). 45 Vgl. die bereits alten Diskussionen in »Labyrinthos«, Paulys Real-Encyclopädie, a.a.O., Sp. 316f; Kerény, Labyrinth-Studien, a.a.O., S. 55; Körner: Die Suche nach dem Labyrinth, a.a.O., S. 82; Eilmann, Labyrinthos, a.a.O., S. 59–65. 41 Wie einerseits die oppositive und hierarchische Struktur des klassischen und des Irr-Labyrinths in der Relation von horizontaler Anordnung (Mauern oder Bewegungen) und Turm dargestellt werden konnte, so gehört andererseits umgekehrt der Ikonographie des Babel-Turmbaus Labyrinthisches an (so im Gemälde Pieter Breughels d.Ä. als dessen Spiralanlage und deren UnVollendung und/oder Zerfall). Kafkas Texte Das Stadtwappen und Beim Bau der Chinesischen Mauer halten Mauer und Babel-Turm als Projekte der Konstitution von Einheit zusammen, die sie verschieden modellieren: als Ausschluss nach außen, der durch die Mauer dargestellt wird, und des Abschlusses, der im Innern statthabe, der im Turm wie im einen Namen sich her- und darstellen sollte. Die Texte vollziehen eine Art Umlegung des Turms als der vertikalen Ausrichtung der Zentrierung bzw. der Fundierung jener Einheit, für die der Babel-Turm steht, die er konstituieren und manifestieren sollte, in horizontale Bahnen.46 So etwas zeichnet sich in Kafkas Schloss bereits anfänglich, beim (durch die Schneeauflage, die die Kontur nachzieht, »noch verdeutlicht[en]«) »Anblick des Schlosses« ab, das »eine ausgedehnte Anlage« heißt: »hätte man nicht gewußt daß es ein Schloss ist, hätte man es für ein Städtchen halten können« (S 16f.); und »es war«, wie es dann heißt, »doch nur ein recht elendes Städtchen, aus Dorfhäusern zusammengetragen« (S 17).47 Derart greift die vermeintliche Peripherie des Schlosses über und usurpiert das vermeintliche Zentrum, durch das sie (als Peripherie) bestimmt und strukturiert wäre. Einerseits ist das Schloss dadurch entzogen, anderseits heißt es, »dass man im Dorf bereits im Schloss sei« (S 8),48 und umgekehrt ist unklar, wo »das Schloss« (S 16) und ob man »im Schloss« (S 8), in der horizontalen Anordnung der Kanzleien und der Barrieren, im Schloss wäre. Statt der Grenze wird, mit den Worten Walter Benjamins, eine »Zone« oder „Schwelle“, 49 oder ein »Schwellenraum, eine Grenze, die sich weitet und die man nicht übertritt«, so J. Vogl, organisiert.50 Die Topographie von Innen und Außen, die der Logik des Labyrinths zufolge dessen 46 Für die genaue Lektüre anstelle dieser sehr abgekürzten Formulierung vgl. Bettine Menke: »... beim babylonischen Turmbau«, in: Hansjörg Bay; Christof Hamann (Hg.): Odradeks Lachen. Fremdheit bei Kafka, Freiburg 2006, S. 89–114 (mit weiterer Lit.). 47 »Nur solange das Schloß sich den Blicken entzog, war es Emblem des Zentrums der Macht. [vgl. S 7] Als sichtbarer Bau ist es nur das, wovon es sich unterscheiden soll. Das Schloß ist eine Collage aus Stücken des Dorfes, das es vom inneren Außen der Institution her beherrscht. Der nach außen hin randlose Raum der Institution ist im Inneren von einer Grenze zwischen Herrschaftsgebiet und zentralem Ort der Herrschaft durchzogen, die es erst zum Territorium macht; die aber nur da ist, wenn man sie (wie K. zu Anfang, von der Brücke aus) nicht sieht.« (Campe, »Kafkas Institutionenroman«, a.a.O., S. 206; vgl. Vogl: Über das Zaudern, a.a.O., S. 79–81). 48 Vogl, Über das Zaudern, a.a.O., 81. »Zwischen den Bauern und dem Schloss ist kein Unterschied« (S 20) – »Und diese Auskunft bestätigt nur, was er vorher schon gesehen hat.« (Campe, »Kafkas Institutionenroman«, a.a.O., S. 206); d.h.: »Alle gehören zum Schloß und sind gleichzeitig durch einen nicht zu überbrückenden Abstand von ihm getrennt« (Friedrich Balke: »Fluchtlinien des Staates. Kafkas Begriff des Politischen«, in: ders.; Joseph Vogl (Hg.): Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, S. 150–178, hier: S. 168, vgl. S. 174). 49 Walter Benjamin: Passagen-Werk, in: ders.: GS V.1, S. 618 [O 2a, 1]. 50 Vogl, Über das Zaudern, a.a.O., S. 79. »Das Schloss ist nichts anderes als die Schwelle zum Schloss.« (Ebd., S. 81) oder die »Zone der Ununterscheidbarkeit im Verhältnis zu seiner Verbreitung in einem mikrologischen Gewebe« (Balke, »Fluchtlinien des Staates«, a.a.O., S. 168), artikuliert durch die »horizontale Kontiguität der Kanzleien« (ebd., vgl. S. 174 u. S. 165, sowie Vogl, Über das Zaudern, a.a.O., S. 82); »im Schloß tendieren die Innenräume der innere Struktur bestimmte, müsste als Strukturierung durch die im Innern sich wieder-eintragende vertikale Grenze sich ausmachen lassen (d.i. R. Campe zufolge die Struktur der Institution). 51 Das Vor-Bild dazu gäbe der Kirchturm der »alten Heimat«, der die zentrierte hierarchische Ordnung in räumlichem und zeitlichem Belang als eine Vertikalisierung vorträgt,52 während im hier durchgeführten Vergleich die ver-ziehende Beschreibung vom »Turm hier oben« (S 18) selbst das Medium der Dezentrierung und Deformation wird: »Der Turm hier oben – es war der einzige sichtbare –, der Turm eines Wohnhauses, wie sich jetzt zeigte, vielleicht des Hauptschlosses, war ein einförmiger Rundbau, zum Teil gnädig von Epheu verdeckt, mit kleinen Fenstern, die jetzt in der Sonne aufstrahlten – etwas Irrsinniges hatte das – und einem söllerartigen Abschluß, dessen Mauerzinnen unsicher, unregelmäßig, brüchig wie von ängstlicher oder nachlässiger Kinderhand gezeichnet sich in den blauen Himmel zackten.« (S 18) Es ist derart gerade der ›Abschluss‹ des Turms, an (der) Stelle seines baulichen »Abschlusses«, ein Abschluss im Sinne der begrenzend figurierenden Kontur, die als Zeichnung auf die Papierfläche zurückverweist, der derart zum Medium der Defiguration geworden ist: in diskontinuierlichen, wie zufällig hin- und fortgezogenen Linien: ›Fluchtlinien‹, entlang derer Kräfte sich verteilen (so Friedrich Balke mit dem Begriff Deleuzes/Guattaris )53 oder vielmehr »ein richtungsloses Gemenge von Strichen« (so Joseph Vogl).54 Statt Ordnung als Zentrierung im vertikalen Bezugs- und Bestimmungspunkt lokalisierend zur Darstellung zu bringen, zeigt sich das nach Gesetz Versperrte: »Es war wie wenn irgendein trübseliger Hausbewohner, der gerechter Institution dazu, das Ganze des verfügbaren Raumes einzunehmen und damit die Grenze selbst zum Verschwinden zu bringen«, oder vielmehr »Ihre Bedeutung ist mit Notwendigkeit vorausgesetzt, ohne daß es ein Kriterium ihrer Überprüfbarkeit gibt – kein Maß dafür, was und wie sie abgrenzt und unterscheidet.« (Campe, »Kafkas Institutionenroman«, a.a.O, S. 205f.). 51 Zur Topographie der Institution, zu der »Beobachtung ihres Innen und Außen, dem Verlauf der Grenze und der Regeln des Übertritts« sowie zum re-entry der Grenze, vgl. Campe, »Kafkas Institutionenroman«, a.a.O., S. 204–207. »Für den Roman wird das Territorium der Institution zur Innenwelt ohne Außenwelt. Die Grenze nach außen, deren berechtigte oder unberechtigte Überschreitung die Handlung bis zum Ende dirigiert, wird nie wieder sichtbar. Das ganze Gewicht der Grenzziehung verlagert sich auf die Binnengrenze zwischen Dorf und Schloß, zwischen beherrschtem Gebiet und beherrschender Instanz. [...] Die Evidenz der horizontalen Außengrenze ist ganz an die vertikale Binnengrenze verlegt. Ihrer Funktion nach ist diese Grenze ebenso scharf gezogen, wie sie zunehmend unsicher wird.« (Campe, »Kafkas Institutionenroman«, a.a.O, S. 206). 52 »Und er verglich in Gedanken den Kirchturm der Heimat mit dem Turm dort oben. Jener Turm, bestimmt, ohne Zögern, geradenwegs nach oben sich verjüngend, breitdachig abschliessend mit roten Ziegeln, ein irdisches Gebäude – was können wir anderes bauen? – aber mit höherem Ziel als das niedrige Häusergemenge und mit klarerem Ausdruck als ihn der trübe Werktag hat.« (S 18). 53 Balke, »Fluchtlinien des Staates«, a.a.O., S. 172–175, vgl. S. 170. »Im Turm ziehen sich alle deformierenden Kräfte, die das Schloß heimsuchen, zusammen und berauben ihn am Ende sogar seiner architektonischen Qualität, indem sie eine Ununterscheidbarkeitszone zwischen dem Architektonischen und dem Piktoralen einrichten«; »diagrammatische Linien« »entbinden« »die Kontur von der Aufgabe […], im Raum eine Form abzugrenzen« (ebd., S. 175). 54 Vogl, Über das Zaudern, a.a.O., S. 80. Weise im entlegensten Zimmer des Hauses sich hätte eingesperrt halten sollen« - wie der Minotaurus, »sich erhoben hätte, um sich der Welt zu zeigen.« (S 18). In dieser Ausstülpung ist die Struktur der Einschließung durch Ein-Faltungen disartikuliert, verstreut. Nicht nur wird derart im Schloss die Grenze von Innen und Außen, die das Labyrinth organisiert, durch deren re-entry als Staffelung im Innern re-artikuliert, wie mit R. Campe die Topographie der Institution (als gegliederter Zusammenhang von Schloss und Dorf) aufzufassen wäre, 55 vielmehr entzieht sich gerade an dieser Stelle die Form gebende Grenze, verzieht sich unverortbar (so wirksam sie auch ist), entlang anderer Linien, so »unregelmäßig«, so »brüchig« und »nachlässig« sie sich zickzacken mögen.56 Gibt es »hier« ein strukturierendes Zentrum, so abwesend,57 so entzogen es auch sei – und daher doch umso mächtiger wirksam? Die Beantwortung dieser Frage entschiede darüber, ob überhaupt oder inwiefern die Schloss-Struktur als der gegliederte Zusammenhang von Schloss und Dorf als Labyrinth gedacht werden kann. Denn Ecos Rede vom »Rhizom-Labyrinth« ist darin konzeptuell beschränkt, dass das Rhizom dadurch als Labyrinth, und sei es als dessen letzte ›Stufe‹, aufgefasst wird, und verfehlt darin, dass dieses damit doch noch – und sei es negativ – an die oppositive und hierarchische Ordnung gebunden wird, deren Formel das Labyrinth war.58 Sind nun die Anordnungen der Schloss-Welt durch ein Zentrum strukturiert, das seine Peripherie bestimmte und nur insofern dessen Zentrum wäre? Ein Hinweis, der in diese Richtung ginge, wäre, dass, so Ludo Verbeeck, »der beschriebene Komplex, samt der in ihm waltenden Behörde, entgegen allem Anschein ›Schloß‹ heißt«.59 »›Schloß‹«, das aktiviert als ein homonymer pun das »semantische Feld der Ein- und Ausschließungen«,60 und taugt derart als Metapher des Arkanums, das sowohl den Aus-, wie den Einschluss reguliert. »›Schloß‹« wird hier aber kenntlich als »arbiträr[er] Name«61 (für die leere Stelle62 oder das Beschrieben-Ausgeschriebene); die Metapher ist, so Anselm Haverkamp nach Derrida, der »alte Name«, das Paleonym (im Falle des »Schloßes«) der Allegorie der Abschließung,63 der im hermeneutischen Register stets die, und 55 Campe, »Kafkas Institutionenroman«, a.a.O., S. 204–206. Vgl. das »zigzag«, das des Z selbst wie der Wege der Fliege oder des Blitzes, in Gilles Deleuze: L’Abécédaire, Frankreich 1988–1989/1996, Konzeption und Interview: Claire Parnet. 57 Das wäre eine typische Modellierung, vgl. etwa Jacob Burnett: »Strange Loops and the Absent Center in The Castle« (zit. n. Stanley Corngold: »Ritartando in Das Schloß«, Beitrag im vorliegenden Band). 58 Insofern widerspreche ich auch der Wortverwendung von Joseph Vogl, der vom Rhizom als Labyrinth spricht, Über das Zaudern, a.a.O., S. 84–86, aber: S. 89f.; ders. in: Kluge, Alexander; Vogl, Joseph: Soll und Haben. Fernsehgespräche, Berlin 2009, darin: »Ein Labyrinth ohne Anfang und Ende«, S. 309–317, hier: S. 309. 59 Ludo Verbeeck: »Auswandern: Unnütze Prolegomena zu Kafkas Schloß«, in: ders. u.a.: Schloß-Geschichten. Zu Kafkas drittem Romanplan – eine Diskussion, Eggingen 2007, S. 11–64, hier: S. 31. 60 Ebd., S. 15. 61 Vgl. ebd., S. 31. 62 Das bezieht sich auf den suspendierten Eingang zum Schloß (S 7); vgl. dazu Vogls Beitrag im vorliegenden Band; ders., Über das Zaudern, a.a.O., S. 79; Campe, »Kafkas Institutionenroman«, a.a.O., S. 206. 63 Hier und das Folgende Anselm Haverkamp: »Kafkas Pannen: Poetik des Landstreichens im dichtgemachten 56 sei es die aufgeschobene, Eröffnung des Arkanums verspricht und durch dieses Versprechen bindet, der ›wiederholt‹ eine Durchstreichung erfährt, in der »überholenden Durchstreichung« aber lesbar bleibt, »das einzige, was lesbar geblieben ist oder doch nur – allfällig, allenfalls – den Anschein von Lesbarkeit beschwören kann«, wie Haverkamp fortsetzt. Man kann hier nicht auswandern, hat Verbeeck argumentiert;64 denn es gibt (von innen) kein distinktes Draußen jenseits einer verorteten Grenze. So befinden sich nach der Stagnation in der »Ankunft«, die die »Grenze« als »Schwellenraum« ermisst,65 der Text wie auch K. schon jenseits der (dann unverortbaren) Grenze; nachträglich scheint auch der (doch vermeintlich überraschenden) »Ankunft« K.s vorlaufend im Modus des Geredes immer schon vorgegriffen worden zu sein. »Schloss«, ein Name für Effekte, der Effekte zeitigt, stellt als der arbiträre, als der er sich zeigt, keine Verankerung (für eine Struktur), sondern führt als Wort in jene Zone der Landstreicherei, aus der auch der »Landvermesser« stammt, hervorgebracht (vielleicht) durch den »Lapsus«, wie/als ein »billiges Wortspiel«.66 Wörtlich insistieren im Schloss-Text die Schließungen und Abschlüsse, die als das »willkürliche« (S 110) und daher ver-endlosende (Nicht-)Abschließen und die durch deren Kontrollen aufgeschobene »schliessliche Entscheidung« durchgeführt sind (S App. 211).67 Das Wort beherbergt, ohne es einschließen zu können, als je schon gegen sich selbst verschobenes, das „›[g]ewissermaßen im Schloß‹ beschlossen[e]“ Außen,68 als das NichtIdentische der Signifikanten, die sich immer schon woandershin verkettet haben, lauert es (unentscheidbar) überall. Alle Wörter sind von der nicht kontrollierten, unabschließbaren Umherstreicherei im Gelände heimgesucht, das von keinem Zentrum kontrolliert wird, die als Text«, in: Ludo Verbeeck u.a.: Schloß-Geschichten. Zu Kafkas drittem Romanplan – eine Diskussion, Eggingen 2007, S. 110–118, hier: S. 113. 64 So, mit Bezug u.a. auf S 215ff., Verbeeck: »Auswandern«, a.a.O., S. 16–18, 24f.; es gebe »kein Draußen im Schloß« (ebd., S. 18). 65 Vgl. Vogl, Über das Zaudern, a.a.O., S. 79ff; ders., »Brücke und Schwelle«, im vorliegenden Band. 66 Was wenn der Landvermesser ›der Effekt eines Wortspiels wäre‹, fragt Verbeeck: »ein dem Kastellanssohn mit dem Ausruf ›Landstreichermanieren‹ (S 9) unterlaufener Lapsus, die – angebliche – Berufung K.s zum Landvermesser somit eine bloße Kaprize der Sprache? Ein billiges Wortspiel obendrein, wie es dieser Art Sprachspielen nun mal eigen ist.« (Verbeeck, »Auswandern«, a.a.O., S. 11f.). Vom zweiten Telephonat ist zu hören: »›Ein Irrtum also? […] Wie soll ich es aber jetzt dem Herrn Landvermesser erklären?‹ K. horchte auf. Das Schloss hatte ihn also zum Landvermesser ernannt. Das war einerseits ungünstig für ihn, denn es zeigte, dass man im Schloss alles Nötige über ihn wusste, die Kräfteverhältnisse abgewogen hatte und den Kampf lächelnd aufnahm. Es war aber andererseits auch günstig, denn es bewies seiner Meinung nach, dass man ihn unterschätzte und dass er mehr Freiheit haben würde als er hätte von vorneherein hoffen dürfen. Und wenn man glaubte durch diese geistig gewiss überlegene Anerkennung seiner Landvermesserschaft ihn dauernd in Schrecken halten zu können, so täuschte man sich, es überschauerte ihn leicht, das war aber alles.« (S 12f.) 67 So u.a. in einer gestrichenen Variante zu S 117/25: »Einer wirklichen (A>a)mtlichen Entscheidung gehen unzählige, kleine Erhebungen und Überlegungen voraus, es bedarf dazu der jahrelangen Arbeit der besten Beamten, [die nicht künstl abgekü] auch dann wenn etwa diese Beamten gleich anfangs die <schliessliche> [(x>E)entents] Entscheidung wussten. Und gibt es denn überhaupt eine schliessliche Entscheidung? Um sie nicht aufkommen zu lassen, sind ja die Kontrollämter da.‹ Absatz ›Nun ja‹ sagte K. ›es ist alles ausgezeichnet eingerichtet, wer zweifelt noch daran?« (S App. 210f.). 68 Nach Verbeeck, »Auswandern«, a.a.O., S. 18f.; Haverkamp, »Kafkas Pannen«, a.a.O., S. 114. »Landstreicherei«69 »lügnerisch« heißt (S 12), durchtrieben, ja intrigant wäre (S 381),70 aber aus jeder personalen oder intentionalen Zurechnung entlassen ist: »sinnlos arbeitend wie der Wind« (S 186).71 Das double der Worte, das der Lapsus aus der Latenz treten lässt, situiert jedes (Wort) zwischen den Stellen, an denen die sprachlichen Elemente vermutet werden, aber nicht fixiert werden können. Auch insofern ist die Schloss-Struktur oder die »amtliche Organisation«, die, so »[l]ückenlos[]« sie sei (S 417), doch ein »unübertreffliches Sieb« heißen kann,72 gewiß nicht dicht. Kennzeichnet das Labyrinth, dass man sich in ihm, so P. Berz, gar nicht verlieren kann, weil ›die je einzelne gegebene Struktur unveränderlich‹ bleibt, so ist dagegen die im Schloss-Text explorierte Schloss-Struktur eine ›ständig sich verschiebende‹, keine endliche Struktur. Weil/oder insofern der vermeintliche Irrgarten eine immer neue Struktur annimmt, wird »die Sache […] endlos«,73 handelt es sich um keine Struktur, die durch Zentrum und Peripherie, Innen und Außen, Weg und telos (Ende als Ziel) organisiert ist, und weiter (vielleicht) um gar keine (strukturalistische) Struktur mehr – so sehr das Schloss auch aus Versuchen besteht, die Undurchdringlichkeit als Struktur aufzuschließen; das bleibt in allem Unter-Scheiden undurchsichtig, endlos. Die Anordnung hier (von „Schloss“ und/als Dorf) ist eine solche, in der nicht (mehr) lokalisierbare Züge getan werden,74 vielmehr ihre Stellen, die durch die Struktur bestimmt wären, nicht sie selbst bleiben, sondern (noch) unvorhersehbar und (schon) unauffindbar sind. Ich beziehe mich damit (versteht sich) auf die bekannte Stelle der Darlegung des Gemeindevorstehers, der »auf eine besondere Eigenschaft unseres behördlichen Apparates zu sprechen« kommt: 69 Im Bau ist der feindliche Eindringling, »von meiner Art«, aber ein »Waldbruder, ein Liebhaber des Friedens, aber ein wüster Lump, der wohnen will, ohne zu bauen,« (NSF II 596), in einer gestrichenen Passage wird er »alle[n] Landstreicher[n] und Waldbrüder[n]« zugerechnet; »ich aber bin Baumeister« (NSF II App. 439). 70 Von den »Gehilfen« heißt es, dass sie »unkontrolliert umherstreichen und ihre Intrigen, für die sie besondere Anlagen zu haben schienen, frei betreiben« würden (S 381). 71 »Frei« ist hier kein Mensch, sondern eher das Schloss; »manchmal« ist es, »als beobachte er [K., Anm. d. Verf.] jemanden, der ruhig dasitze und vor sich hinsehe, nicht etwa in Gedanken verloren und dadurch gegen alles abgeschlossen, sondern frei und unbekümmert« (S 156). 72 Nach Auskunft Bürgels: »Was für ein sonderbar und ganz bestimmt geformtes, kleines und geschicktes Körnchen müßte eine solche Partei sein, um durch das unübertreffliche Sieb durchzugleiten. Sie glauben es kann gar nicht vorkommen? Sie haben Recht, es kann gar nicht vorkommen. Aber eines Nachts – wer kann für alles bürgen? – kommt es doch vor« (S 421); die Antwort liegt beim Zusammenhang von ›Körnigkeit‹ und »großen Zahlen« (S 421), der erlaubt, die »vollkommene Unwahrscheinlichkeit« (S 421) ins Kalkül zu ziehen. Das Schloss ist bestimmt durch Durchlässigkeiten, nicht nur durch Botschaften (die doch stets noch ans entzogene Zentrum binden), sondern auch durch Gucklöcher, Schlüssellöcher und Spalten (S 184f., 60ff. u.ö.). 73 Peter Berz (per Email), wie oben Fn. 36 zitiert. 74 Hier und das Folgende, vgl. Gilles Deleuze: Woran erkennt man den Strukturalismus?, Berlin 1992. »Entsprechend seiner Präcision ist er auch äußerst empfindlich.75 Wenn eine Angelegenheit sehr lange erwogen worden ist, kann es, auch ohne dass die Erwägungen schon beendet wären, geschehn, dass plötzlich blitzartig an einer unvorhersehbaren und auch später nicht mehr auffindbaren Stelle eine Erledigung hervorkommt, welche die Angelegenheit, wenn auch meistens sehr richtig, so doch immerhin willkürlich abschliesst.« (S 109f.) Solche Abschlüsse sind durch ihre Zufälligkeit das Medium der Endlosigkeit, wie im Schloss bezüglich der Brief-Geschichte gesagt wird: »die Briefe richtig zu beurteilen, ist ja unmöglich, sie wechseln selbst fortwährend ihren Wert, die Überlegungen, zu denen sie Anlaß geben, sind endlos und wo man dabei gerade Halt macht, ist nur durch den Zufall bestimmt, also auch die Meinung eine zufällige.« (S 363) Ich unterstreiche am zuvor Zitierten das Wort »Stelle«, und zwar in Bezug auf die Anordnung. Ständig geht es im Schloss um eine »Stelle« oder »Stellung«, z.B. die als Schuldiener (S 146), eine »vorläufige«, »vielleicht nicht die richtige«, »zu provisorisch« (S App. 263, 475, u.ö.), die »auszufüllen« (S 146), »an[zu]nehmen« (S 150) oder einzunehmen sei (S 152) oder auch verliehen wird (S 152). Wenn K. annehmen mag: »aber es war immerhin ein fester Ausgangspunkt« (in einer gestrichenen Variante, S App. 263), so kommt »es in diesem Buch immer wieder [darauf] an[], […] zu wissen, wo man sich befindet«, 76 aber es macht damit die Lokalisierbarkeit fraglich und suspendiert die Verortung. Es handelt sich um keine (strukturalistische) Struktur, in der Stellen durch die Anordnung aus Unterscheidungen und Relationen bestimmt sind. Über die »Stellen« werden auch die Texte aufgefasst, so der erste Brief (»vom Schloss«), der K. durch den Boten Barnabas erreicht (S 38f.), der im Schloss-Text im Wortlaut zitiert wird, wenn er seine zweite Lektüre erfährt (S 40–43), und zwar zitierend als »nicht einheitlich«: »Er war nicht einheitlich, es gab Stellen [Herv. d. Verf.] wo mit ihm wie mit einem Freien gesprochen wurde, dessen eigenen Willen man anerkennt […]. Es gab aber wieder Stellen, wo er offen oder versteckt als ein kleiner vom Sitz jenes Vorstandes kaum bemerkbarer Arbeiter behandelt wurde […]. Das waren zweifellos Widersprüche, sie waren so sichtbar daß sie 75 Der Schloss-Text weiß auch von »empfindliche[n] Stellen«, die jeder habe (vgl. S 128). Die Parallele im Bau akzentuiert den Ort: »dort [so das Tier/der Bauherr, Anm. d. Verf.] an jener Stelle im dunklen Moos [am Eingangsloch, Anm. d. Verf.] bin ich sterblich und in meinen Träumen schnuppert dort oft eine lüsterne Schnauze unaufhörlich herum.« (NSF II 577); durch deren Prätext: »Hier ist die Stelle, wo ich sterblich bin«, so der (vermeintlich) souveräne Herrscher in Schillers Don Karlos (I, 6, 865), ist die Fraglichkeit dessen was »mein eigen« wäre: die Sekundarität (immer schon) und die Versehrbarkeit durch die Angewiesenheit auf die Andere(n), akzentuiert. 76 Verbeeck, »Auswandern«, a.a.O., S. 15. beabsichtigt sein mußten. […] Vielmehr sah er darin eine ihm offen dargebotene Wahl, es war ihm überlassen, was er aus den Anordnungen des Briefes machen wollte[.]« (S 41f.) K. vollzieht hier eine Stellen-Lese, wie sie etwa Eva Geulen bestimmt hat;77 sie ist operativ als Zitation des Textes in seinen Teilstücken und kennzeichnet zugleich, »was er aus den Anordnungen des Briefes machen wollte«, als Wortspiel lesend, den Text als An-Ordnung. Es ist dies eine Anordnung, die offenbar ihre Elemente nicht auf ihre sie bestimmenden Stellen verpflichten kann. Erneut wird hier im Wege des Kalküls der mit den Widersprüchen des Brieftextes scheinbar zur „Wahl“ gestellten) Möglichkeiten (scheinbar als alternative von „scheinbar“ und im Ernst) deren Entscheidbarkeit suspendiert worden sein. 78 Wird dieser Brief im Weiteren einer Deutung durch den Vorsteher derart unterzogen (S 113f.), dass K. zufolge nichts als das »leere[] Blatt Papier« von ihm bleibt (S 114), so »hing« K. hier »den Brief an den Nagel«, von dem er zuvor ein Bild genommen hatte (S 43). Alle Stellen der Texte (im Roman und die des Romans) können hinsichtlich der Verstellbarkeit der Elemente ausgespielt werden, in Wortspielen, wie sie hier mit »Platz behaupten« (S 168), »folgen« (S 148/9; S App. 188f.), »Verkehr« mit –79, getrieben werden. Das Wortspiel manifestiert die Möglichkeit der Verstellbarkeit der durch ihre Stellen bestimmten Elemente, die nicht kontrollierte Ablösbarkeit der Elemente von ihren Stellen, so dass jede vermeintliche Entität als in und von sich selbst differierende kenntlich wird. Wenn allein die Zuordnung des Elements zur Stelle Sinn erzeugt, verweist das Wortspiel als »Spiel mit Umstellungen und Versetzungen des Elements« den Sinn »als der (konventionellen) Zuordnung von Element und Stelle« an den »Unsinn« von Stellung und Verstellbarkeit,80 indem es der Elemente »stumme Beweglichkeit, seine Iterierbarkeit andernorts, außerhalb der ihm zugewiesenen Position« aktualisiert: »Das Spiel 77 Eva Geulen: »Stellen-Lese«, in: MLN 3 (2001), S. 475–501; vgl. Stefan Willer: »Fallen, Stellen. Örter der Lektüre«, in: Stockhammer, Robert (Hg.): TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München 2005, S. 197–226. 78 Aus den »Widersprüchen« des Brieftextes macht K. die Unter-Scheidung, die ihm die »Wahl« einräumte zwischen einer Stellung als Dorfarbeiter oder als »scheinbarer [Herv. d. Verf.] Dorfarbeiter«, der »in Wirklichkeit« durch die möglichen kommenden oder ausbleibenden Nachrichten ans Schloss gefesselt wäre (S 42). Gegen die Gebundenheit des »scheinbaren Dorfarbeiters« ans Schloss, bzw. durch die möglichen Nachrichten ans abwesende Zentrum entscheidet K., aber paradoxerweise, weil nur »möglichst weit den Herren vom Schloss entrückt« »etwas im Schloss zu erreichen« sei (S 42), also indem er sich negativ doch ans Arkanum bindet. Zugleich begäbe er sich aber in die »Gefahr«, im »Arbeitersein« ›im Ernst‹ »ohne jeden Ausblick« zu sein (S 42f.); das erinnert ans Hund-SchonGeworden-Sein. 79 Der »Verkehr mit Behörden« (S 92; S 94f.) wird mit der Wortverwendung: »Frieda, die solange mit Klamm verkehrt hat,« (S 126f.) in seiner Zweideutigkeit ausgespielt (vgl. zu Amt und Leben S 93); vgl. auch die Verwörtlichung von »[d]er Segen war über Ihnen« (S 135); »der Tisch, der einem […] mit seiner schmutzverkrusteten Platte förmlich nachgestarrt hatte« (S 141), u.a. 80 David E. Wellbery: »Der Zufall der Geburt. Sternes Poetik der Kontingenz«, in: Gerhart v. Graevenitz; Odo Marquard (Hg.): Kontingenz, München 1998, S. 291–317, hier: S. 312f.; so bekanntlich auch Deleuze: Woran erkennt man den Strukturalismus?. der Ersetzungen hat keine externe Verankerung.«81 Die Wörter werden vielmehr in ihren Elementen an den Zu-Fall der Sprache, an die Zufälligkeit ihres Zutrags und ihrer Beziehungen verwiesen. Derart verfahrend ist ja auch Kafkas Text offenbar nicht (bauherrlich) ›von innen‹ regiert, nicht einer und nicht in sich geschlossen, sondern auf Verstellbarkeit als Grund der Fügung von disparaten Singularitäten angelegt.82 Erkundungen der Briefe haben wie die aller Schriftstücke, ihrer Formate und ihres Mediums Teil an der Verschiebung, bzw. der Ablösung von aller Deutung oder Auslegung, die das »Schloss« als Paleonym für die hermeneutische Frage figuriert, als Metapher für die Verschlossenheit, die die Eröffnung des Arkanums stets noch verspricht. Diese Verschiebung oder Ablösung wird in Kafkas Schloss an den Briefen durchgeführt, insofern deren Erkundungen weniger jenseits der Botschaft gehen als diesseits ihrer auf andere Dimensionen der Mitteilungen treffen, die des Mediums bis zum Blatt Papier, das zum Schiffchen gefaltet oder zerknüllt werden kann. 83 – Im überall wehenden Wind, der nicht zuletzt im Korridor des Gasthauses der Herren aus dem Schloss reißt und zerrt (S 184ff.), musste K. »den großen Briefbogen zum Lesen ganz klein zusammenfalten, um ihn vor dem Wind zu schützen. Dann las er [...]« (S 187). Dann las er aber notgedrungen nur Stellen oder Teilstücke, und er musste das zusammengefaltete Papier zum Lesen wohl immer wieder um- und wiedereingefaltet haben. Die Struktur der Stellen, die vielleicht keine mehr ist: nämlich keine Struktur, die die Stellen bestimmt, und keine von durch den Platz in der Struktur bestimmten Stellen, wird vielmehr als ein Kraftfeld vorgestellt, durchzogen von Spannungen, Kräften, Reizungen und Störungen, Irrungen und Winden, Vektoren der Defiguration.84 Die bereits zitierte Stelle, »dass plötzlich blitzartig an einer unvorhersehbaren und auch später nicht mehr auffindbaren Stelle eine Erledigung hervorkommt« (S 109f., Herv. d. Verf.in), verweist auf Vorgänge im »Apparat«, die in deren »unvorhersehbaren« Hervorkommnissen sich manifestiert haben werden, die nachträglich nur, in ihren so blitzartigen wie unvorhersehbaren Wirkungen,85 jene Spannungen, Reizungen und 81 Ebd.; das tritt auf als Kräfte wie der Wind, die hin- reißen (S 184ff.), zerren und reißen an (S 216). Gestrichene Passagen können, so Malte Kleinwort, in »Elementen« im weiteren Verlauf des Schreibens an anderen Stellen des Romans platziert werden, so dass bspw. die Wirtin zitiert, was im Gestrichenen über K. stand (vgl. ders. im Beitrag zum vorliegenden Band). Das »System der Teilbauten« oder »gelöste Glieder« sind dafür metatextuelle Metaphern; vgl. u.a. Menke, »... beim babylonischen Turmbau«, a.a.O., S. 110–112. 83 Die Frau des Vorstehers »spielte« »traumverloren mit Klamms Brief […], aus dem sie ein Schiffchen geformt hatte, erschrocken nahm es ihr K. jetzt fort« (S 119). Ein anderes Papier (»›Das könnte recht gut mein Akt sein‹«) wird im Korridor vom Bureau-Diener zerrissen (S 438). 84 »[D]ass hier Kräfte im Spiel sind« (S 390), »dass es Dich zu ihnen [den Gehilfen] zieht« (S 390), auch: »konnte ich mich nicht halten«, »zog mich hinaus« (S 393), »riß der Wind […] an ihnen« (S 184), fortzerren (S 186), »wo alle an mir reissen« (S 216). 85 Die Nicht-Feststellbarkeit der Stellen überbietet noch Sigmund Freuds Auffassung des Witzes: »Auf welcher Seite sich uns der Witzcharakter zeigt, dort wollen wir ihn weiter verfolgen und versuchen, seiner habhaft zu werden.« (Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, in: ders.: Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud, Frankfurt a.M. 1999 (1940), Bd. 6, S. 14f.), zwei »Ausgänge« jedoch, »durch die ihm der ›Witz‹ 82 Verknüpfungen erraten lassen (damit zitiere ich Sigmund Freud),86 die diese hervorgebracht haben werden: »viel später« und durch anderswo verortete Kontroll-Instanzen werden die Hervorkommnisse zu Feststellungen: zu spät (S 110f.),87 so dass das Verhältnis aller Apparatinternen Vorgänge zum Wissen (von diesen) gelöst ist. Was als umwegige, verzögerte und selbst verzögernde Ausrichtung aufs Zentrum (oder Ziel) mit der alten und so altehrwürdig fortgeführtenMetapher des Weges88 im hermeneutischen Register der Zentrierung, der Verschließung, von Ein- und Ausschluss gefasst ist, wird ›hier‹ (das ist immer die Schloss-›Welt‹, die keine ist, und der Text) mit dem Wort »Weg« einer doppelten Verschiebung unterzogen: Zum einen als der Weg nicht von Subjekten der Entscheidung oder Wahl, sondern als der der Akten, hinsichtlich dessen, anders als zunächst mit der Rede vom »richtigen Weg« und vom »falschen Weg« unterstellt,89 eben diese Unterscheidung, die »endgiltige« Entscheidbarkeit über »Fehler«, suspendiert ist.90 Zum andern in der Verkettung, Metonymie, Verschiebung (displacement) von Wegen, Übertragungen, Verbindungen zu »Berührungen«. »[D]er einzige Weg [so heißt es], der für Sie [K.] zu Klamm führt, [geht] hier durch die Protokolle des Herrn Sekretärs […]. Aber ich will nicht übertreiben, vielleicht führt der Weg nicht bis zu Klamm, vielleicht hört er weit vor ihm auf, […] Jedenfalls aber ist es der einzige Weg der für Sie wenigstens in der Richtung zu Klamm führt.« (S 177) [immer] entwischen könnte« (Sarah Kofman: Die lachenden Dritten. Freud und der Witz, München 1990, S. 50). 86 Freud, Der Witz, S. 142. 87 »Es ist als hätte der behördliche Apparat die Spannung, die jahrelange Aufreizung durch die gleiche vielleicht an sich geringfügige Angelegenheit nicht mehr ertragen und aus sich selbst heraus ohne Mithilfe der Beamten die Entscheidung getroffen. Natürlich ist kein Wunder geschehn und gewiss hat irgendein Beamter die Erledigung geschrieben oder eine ungeschriebene Entscheidung getroffen, jedenfalls aber kann wenigstens von uns aus, von hier aus, ja selbst vom Amt aus nicht festgestellt werden, welcher Beamte in diesem Fall entschieden hat und aus welchen Gründen. Erst die Kontrollämter stellen das viel später fest, wir aber erfahren es nicht mehr, es würde übrigens dann auch kaum jemand noch interessieren.« (S 110, Herv. d. Verf.). »Nun sind wie gesagt gerade diese Entscheidungen meistens vortrefflich, störend ist an ihnen nur, dass man, wie es gewöhnlich die Sache mit sich bringt, von diesen Entscheidungen zu spät erfährt.“ (S. 110f.) das ist der Hintergrund der oben zitierten Bemerkung: »Ich weiß nicht ob in Ihrem Falle eine solche Entscheidung ergangen ist – […] – wenn es aber geschehen wäre, […]«. 88 Vgl. etwa das Notat zum »Weg« als »Zögern« als disparates Element in der Nähe zu Kafkas babylonischem Turmbau (NSF II 322), neben vielen anderen, vgl. Gerhard Neumann: »Umkehrung und Ablenkung. Franz Kafkas ›Gleitendes Paradox‹«, DVjs 42 (1968) (Sonderheft), S. 702–744. 89 »[W]enn, wie es die Regel ist, ein Akt den richtigen Weg geht, gelangt er an seine Abteilung spätestens in einem Tag und wird am gleichen Tag noch erledigt, wenn er aber einmal den Weg verfehlt, und er muss bei der Vorzüglichkeit der Organisation den falschen Weg förmlich mit Eifer suchen, sonst findet er ihn nicht, dann dauert es freilich sehr lange« (S 101). 90 Dem »lächerliche[n] Gewirre« (S 102) ist durch »Kontrollbehörden« überhaupt nicht beizukommen; der Vorsteher stellt fest: »›Es gibt nur Kontrollbehörden. Freilich, sie sind nicht dazu bestimmt, Fehler im groben Wortsinn herauszufinden, denn Fehler kommen ja nicht vor und selbst wenn einmal ein Fehler vor kommt, wie in ihrem Fall, wer darf denn endgiltig sagen, dass es ein Fehler ist.‹« (S 104). Der »einzige Weg« ist »vielleicht eine Art Verbindung mit Klamm« »durch das Protokoll« (S 181, vgl. S 180), aber diese »Verbindung« wird nicht durchs Lesen erzeugt, Klamm wird das Protokoll nicht lesen, das ist weder »nötig«, noch wäre das überhaupt »wünschenswert«, besteht nicht in »wortwörtlich[er] Kenntnis« (S 182) und schon gar nicht in irgendeiner (und sei es einer konjunktivischen, sich in ihrer Ankunft verzögernden) Botschaft (des Kaisers). Eben mit dieser »Art Verbindung« »durchs Protokoll«, das nicht gelesen werde, das »in die Dorfregistratur Klamms« komme (S 182), sei doch eben das »erreich[t]«, was K. sich erhofft habe: »vor Klamm zu sprechen, auch wenn er Sie nicht ansehn und Ihnen nicht zuhören würde«, »zumindest dieses, vielleicht aber viel mehr?‹« (S 182). Der Rhetorik des wirkmächtig Entzogenen, die der klassischen Repräsentation der Macht und des Zugangs zu ihr eignet, 91 entgegnet jene andere »Verbindung durchs Protokoll« präzise, und zwar insofern sie in die phatische Dimension verlegt wird, die auch die »scheinbaren Berührungen« »mit unseren Behörden« heißt. Diese sind hier gerade nicht den wirklichen entgegengesetzt (S 115), sondern, so akzentuiert Verbeeck: »sie existieren eben als scheinbare Berührungen und sind als solche zugleich wirklich. Sie umschreiben das Kraftfeld, nach dessen Vektor die Ereignisse im Schloss verlaufen und aus dem es kein Entweichen gibt.«92 Zwischen (immer) seinen Weg finden oder nur falsche Wege finden, kann (hier) nicht unterschieden werden, nicht zwischen dem weit entfernt Liegenden und dem ganz Nahen der Berührungen oder der »flüsternden Verständigung« (S App. 266). Bekanntlich kommentiert der Vorsteher mit der Formulierung von den (bloß) »scheinbaren Berührungen« K.s Berufung auf die Telephon-Auskünfte »aus dem Schloss«, die ihn als Landvermesser anerkannt haben.93 Der Auskunft des Vorstehers zufolge kann es Botschaften durchs Telephon (aus dem Schloss) nicht geben, weil die telephonische Verbindung die Lokalisierbarkeit und damit Identifizierbarkeit weder von Empfängern noch von Sendern erlaubt. Der Theorie des SchlossTelephons, die der Vorsteher vorträgt (S 115), zufolge, ist durch dessen Hörmuschel das »ununterbrochene Telephonieren« im Schloss – der Kanal selbst – als »Rauschen und Gesang« zu 91 Sie wird an dieser Stelle aufgerufen (S 183f.), organisiert durch die traditionelle Repräsentation der Macht, der K. an dieser Stelle aufsitzt: einer unter der Metapher des Adlers auftretenden Modellierung Klamms, einer der »traditionellen Vergleiche, in denen sich die Souveränität artikuliert« (Balke, »Fluchtlinien des Staates«, a.a.O., S. 152f.). K. unterliegt hier der wirk-mächtigen rhetorischen Produktivität der »Ferne« (diese ist das explizit »gemeinsame« tertium, S 184), des Entrücktseins (»seine uneinnehmbare Wohnung«), der Rhetorik des Arkanums, der Bindung durch das Entzogene. Der von der Wirtin gebrauchten Metapher des Löwen entgegnet K. an anderer Stelle: »Auch reden wir von keinem Löwen sondern von einem Bureauvorstand« (S App. 225). 92 Verbeeck, »Auswandern«, a.a.O., S. 33. 93 Die beiden Auskünfte, die es anfänglich, allerdings vermittelt über ein anderes Ohr und einen anderen Mund, zu geben scheint, sind widersprüchlich: »›Ich habe es ja gesagt‹, schrie er, ›keine Spur von Landvermesser, ein gemeiner lügnerischer Landstreicher, wahrscheinlich aber ärgeres.‹« (S 12); »›Ein Irrtum also? […] Wie soll ich es aber jetzt dem Herrn Landvermesser erklären?‹ K. horchte auf. Das Schloss hatte ihn also zum Landvermesser ernannt.« (S 12f.). hören.94 Derart ist es das Medium der als »scheinbare[n]« wirklichen »Berührungen«. 95 In dieser radikalen Nicht-Gestalt ist die Nicht-Botschaft vom Schloss, »dieses Rauschen und dieser Gesang«, als »das einzig Richtige und Vertrauenswerte, was uns die hiesigen Telephone übermitteln«, gegeben: der (ironisch) reine Kontakt (des Kanals). Diese phatische Dimension der Mitteilung spricht K. mit »Klappere Mühle Klappere« an. Als ein solches leeres Klappern vernimmt K. Bürgels Darlegungen, gerade wenn dieser (vermeintlich) »das Geheimnis«, der »seltenen, fast niemals vorkommenden Möglichkeit« enthüllen wird (die »Massen«, die großen »Zahlen« der Fälle): »K. nickte lächelnd, er glaubte jetzt alles genau zu verstehen, nicht deshalb weil es ihn bekümmerte, sondern weil er nun überzeugt war, in den nächsten Augenblicken würde er völlig einschlafen, diesmal ohne Traum und Störung; zwischen den zuständigen Sekretären auf der einen Seite und den unzuständigen auf der andern und angesichts der Masse der voll beschäftigten Parteien würde er in tiefen Schlaf sinken und auf diese Weise allen entgehn. An die leise selbstzufriedene, für das eigene Einschlafen offenbar vergeblich arbeitende Stimme Bürgels hatte er sich nun so gewöhnt, daß sie seinen Schlaf mehr befördern als stören würde. ›Klappere Mühle klappere‹, dachte er, ›Du klapperst nur für mich.‹« (S 419)96 K. hält sich hier hörend an das Medium der Mitteilung (von Geheimnissen) als an das Sinn-ferne Geräusch, das den derart Hörenden (wie ein Schirm) abtrennt vom Etwas der Mitteilung und ihm (auf dessen nächtlicher Seite) endlich das Schlafen, ein Sinken in und Entgehen ermöglichen wird;97 »man fragt sich nur, wie lange der Erzähler sich am dünnen Faden von Bürgels ausschweifenden Gedanken wird halten können, ehe der Text ins Chaotische ausbricht«, fragt »Aus der Hörmuschel kam ein Summen, wie K. es sonst beim Telephonieren nie gehört hatte. […] K. horchte ohne zu telephonieren« (S 36); »K. horchte dem Stimmklang nach und überhörte dabei fast die Frage« (S 37f.). 95 »›Und was das Telephon betrifft […]. In Wirtsstuben u. dgl. da mag es gute Dienste leisten, so etwa wie ein Musikautomat, mehr ist es auch nicht. Haben Sie schon einmal hier telephoniert, ja? Nun also dann werden Sie mich vielleicht verstehn. Im Schloss funktioniert das Telephon offenbar ausgezeichnet; wie man mir erzählt hat wird dort ununterbrochen telephoniert, was natürlich das Arbeiten sehr beschleunigt. Dieses ununterbrochene Telephonieren hören wir in den hiesigen Telephonen als Rauschen und Gesang, das haben Sie gewiß auch gehört. Nun ist aber dieses Rauschen und dieser Gesang das einzige Richtige und Vertrauenswerte, was uns die hiesigen Telephone übermitteln, alles andere ist trügerisch. Es gibt keine bestimmte telephonische Verbindung mit dem Schloss, keine Zentralstelle, welche unsere Anrufe weiterleitet; wenn man von hier aus jemanden im Schloss anruft, läutet es dort bei allen Apparaten der untersten Abteilungen oder vielmehr es würde bei allen läuten, wenn nicht, wie ich bestimmt weiss, bei fast allen dieses Läutwerk abgestellt wäre.« (S 115f.) 96 Traumlos realisiert dies, was, Freud zufolge, der Traum tut: Er »verdankt seine Zulassung dem einzig während des Nachtzustandes regen Bedürfnis zu schlafen« (Der Witz, a.a.O., S. 205); ders.: Die Traumdeutung, in: ders.: Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud, Frankfurt a.M. 1999, Bd. 2/3, S. 346ff.), wie auch der Witz weder eine bestimmte »Kritik« transportieren, noch eine bestimmte (sonst versagte) Lust gewinnen will, sondern der »besseren Einsicht in die psychischen Vorgänge des Witzes« zufolge, »[allgemeine] Erleichterung« ermögliche (Der Witz, a.a.O., S. 176). 97 Analoges geschieht im Bau-Fragment (NSF II 580, 601, 603), vgl. Menke, Prosopopoiia, a.a.O., S. 106–135. 94 Verbeeck,98 und rückt den Text selbst, dessen Verfasstheit in den Blick, wo (in ihm) Erzähllinien und Botschaften an andere Dimensionen der Sprache (wie zuvor der Schrift) suspendiert sind. Wird das anfänglich zitierte »Labyrint« als Meta-Kommentar zum Schloss-Schreibunternehmen aufgefasst,99 dann hat es F. wie K. im Schloss bleiben oder »kaum mehr herauskommen« lassen. Dass es kein Ende hat, hat seine Entsprechung darin, dass es kein in diesem sich vollendenden identifizierbaren verortbaren Anfang hat. »Ich kann [überall anfangen] die Untersuchung überall anfangen, wo es mir« findet sich eingetragen in einem der Hefte, die KKAS als »Schriftträger« des Schloss-Fragments bezeichnet,100 ohne dass es aber in den Textband von KKA „Das Schloss“ eingehen durfte. Die verschiedenen Seitenwege oder Supplemente zum Schreibunternehmen des Schlosses, dessen in Form kürzerer Prosatexte unternommenen Lösungsversuche, 101 haben zum entsprechenden Gegenstück die systematische Nicht-Geschlossenheit des Schlosses als jene disparate Fügung, die dieses ist, und als die es sich ständig entzogen haben, bzw. woanders auffinden lassen wird. 98 Verbeeck, »Auswandern«, a.a.O., S. 52. So kommentiert NSF II App. 96–99; zum Missverhältnis der Schloss-Organisation und der der KKA vgl. M. Kleinworts Beitrag im vorliegenden Band. 100 »Neunter Schriftträger« (Hungerkünstlerheft), S App. 55–58, hier: 57; bzw. NSF II 421; das Notat wie die anderen (Bl 1r-17v) parallel zur Schlossarbeit (vgl. NSF II App. 107f.) oder »wohl schon nach Aufgabe des ›Schloß‹Romans« entstanden (vermutet Schillemeit: NSF II App. 111), kann mit Forschungen eines Hundes (vgl. NSF II 423ff.), Stadtwappen und Bau in Verbindung stehen; vgl. auch den »Plan der selbstbiographischen Untersuchungen« (NSF II 373; vgl. S App. 56) als »Untersuchung und Auffindung möglichst kleiner Bestandteile« und als ein »mich« »aufbauen«, »womöglich aus dem Material des alten« Hauses (NSF II 373); das endet mit »Irrsinn«, einem »Kosakentanz« zwischen einem »halbzerstörte[n]« und einem »halbfertige[n]« Haus, »wobei der Kosak mit den Stiefelabsätzen die Erde solange scharrt und auswirft, bis sich unter ihm sein Grab bildet.« (Ebd.). 101 Auch das Bau-Vorhaben kann, wie im Voranstehenden, in dieser Hinsicht beigezogen werden: als eine Ausführung, die durch die architekturale Verhandlung von Bauherrschaft die Problemlage zu begrenzen versucht, bis zu deren Eingeholtwerden durch ihr anderes, das Geräusch. 99