Bildung bei Herder und seinen Nachfolgern: Drei Begriffe Michael N. Forster Das Wort Bildung weist mehrere interessante Charakteristiken auf. Es ist eigentümlich deutsch, indem es einen Begriff (bzw. Begriffe) ausdrückt, der z.B. im Englischen nicht vorkommt. Dessen Gebrauch ist bei näherer Betrachtung sehr verwickelt, sodass man sich fast gezwungen fühlt, mehrere solche Begriffe zu unterscheiden.1 Und dessen Begriff ist (bzw. Begriffe sind) zum großen Teil verhältnismäßig neu, kaum vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu datieren.2 Wenden wir uns der wichtigsten Periode der Entwicklungsgeschichte des Wortes, dem Ende des 18. und dem Anfang des 19. Jahrhunderts zu. Das Wort weist während dieser Periode eine Menge von unterschiedlichen Bedeutungen bzw. Anwendungen auf. Manchmal bezieht es sich z.B. auf rein Körperliches, manchmal auf Geistiges. Und diese Bedeutungen bzw. Anwendungen sind nichts weniger als stabil; vielmehr sind sie erheblichen Änderungen unterworfen. Ich möchte in diesem Artikel drei besonders wichtige begriffliche Entwicklungen des Wortes bezüglich des Geistigen, die während dieser Periode stattfinden, unterscheiden und verfolgen. Alle drei stammen m.E. zum großen Teil von Herder. * Bis zu den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts wurde das Wort Bildung im geistigen Bereich fast ausschließlich auf menschliche Individuen bezogen, und 1 Eine genaue Behandlung dieses Themas würde m.E. eine Berücksichtigung der Semantik und insbesondere der Theorie vom semantischen Feld in Anspruch nehmen, die hier nicht zu leisten ist. Statt dessen werde ich in diesem Artikel auf solche Genauigkeit verzichten und eher naiv verfahren. 2 In allen drei Hinsichten ähnelt das Wort Bildung dem Wort Geist. Vgl. M.N. Forster: Ursprung und Wesen des Hegelschen Geistbegriffs, in: Hegel-Jahrbuch (2011), 2. Teil. 1 zwar hinsichtlich ihrer geistigen Entwicklung und Erziehung.3 Die erste Ausformung des Begriffs, die ich hier kurz skizzieren möchte, hält diese Grenze immer noch ein. Aber sie ist in anderen Hinsichten ganz originell. Pestalozzi und Wilhelm von Humboldt erfanden und verfochten gegen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts einen großenteils gemeinsamen und sehr einflußreichen Begriff von Bildung. Sie konzipierten Bildung im wesentlichen als die freie, eigentümliche, auf Sprache basierende Selbstentwicklung des menschlichen Individuums in einheitlich-ausgewogenen theoretischen, praktischen und ästhetischen Hinsichten, als etwas im Grunde Natürliches aber erst über Kultur und Erziehung Verwirklichtes und als den höchsten Zweck der Erziehung sowie gar des (möglichst minimalen) Staates insgesamt. Es gibt zwar manche Unterschiede zwischen Pestalozzis und Humboldts Fassungen des Begriffs – vor allem vertritt Pestalozzi z.B. eine fromme christliche Fassung desselben, während Humboldt vielmehr eine säkulare und klassizistische (besonders griechische) Fassung vertritt. Aber das oben beschriebene Gemeinsame ist letzten Endes auffallender. Diese auffallende Übereinstimmung ist m.E. zum großen Teil auf eine gemeinsame Quelle zurückzuführen, nämlich Herder. Die Pädagogik von Pestalozzis Frühschrift, Die Abendstunde eines Einsiedlers (1779/80), betont schon die natürliche Selbstentwicklung des Kindes in seiner Eigentümlichkeit. Aber sie macht das auf eine recht naive Weise, die eher Rousseauschen als Herderschen Einfluß verrät. Erst Pestalozzis spätere Schriften, insbesondere Wie Gertrud ihre Kinder lehrt (1801), entwickeln eine imponierende und einflußreiche pädagogische Theorie, indem sie die folgenden theoretischen Abänderungen und Zusätze miteinbeziehen: 1. dass die Natur durch Kunst bzw. Erziehung geleitet werden muß; 2. dass die Erziehung des Kindes bei dessen Warhnehmungen von alltäglichen Dingen anfangen soll, um sie zu formen; 3. dass die Erziehung eine Einheitlichkeit und Ausgewogenheit der verschiedenen Vermögen des Kindes anstreben soll, insbesondere eine Verbindung zwischen 3 Siehe R. Vierhaus: Bildung, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck, Stuttgart 1972, 508 ff. 2 Wissen einerseits und Wollen bzw. Können andererseits; und 4. dass die Sprache in diesem ganzen Verfahren eine grundlegende Rolle spielt, und zwar die Muttersprache, zunächst in ihrer mündlichen Form. Diese vier zusätzlichen Thesen, die Pestalozzi schon in Wie Gertrud ihre Kinder lehrt betont und fortan beibehält (z.B. in seinem Schwanengesang von 1826), stammen zum großen Teil von Herder. Herder hatte inzwischen Pestalozzis Roman Lienhard und Gertrud in 1792 gelobt und Pestalozzi 1797 in Zürich persönlich kennengelernt. Wie tief beeindruckt von Herder Pestalozzi war, leuchtet unter anderem daraus hervor, daß Pestalozzi sich noch mehrere Jahre nach Herders Tod dessen Werke für seine Bibliothek wünschte.4 Die vier erwähnten Thesen stimmen demgemäß auffallend mit Herderschen Thesen in Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778) und Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91) überein. Entsprechende Thesen kamen sogar schon bei Herder in der Pädagogik seines Journal meiner Reise im Jahr 1769 vor.5 Humboldt drückt den betreffenden Begriff von Bildung schon in seiner Frühschrift Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (geschrieben 1791/2, veröffentlicht 1851) aus. Dort schreibt er zum Beispiel: Der wahre Zweck des Menschen [...] ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung [...] Diese Kraft [der Individuen] und diese mannigfaltige Verschiedenheit vereinen sich in der Originalität, und das also, worauf die ganze Grösse des Menschen zuletzt beruht, wonach der einzelne Mensch ewig ringen muss, und was der, welcher auf Menschen wirken will, nie aus den Augen verlieren darf, ist Eigenthümlichkeit der Kraft und der Bildung 4 Pestalozzi Sämtliche Schriften, hg. v. E. Dejung, Zürich 1976, 28:416. Es gab mehrere Gründe zu einer tiefen Sympathie zwischen den zwei Denkern, z.B. ihre gemeinsame christliche Frömmigkeit, ihr gemeinsames Interesse an der Erziehung von Kindern, ihre gemeinsame arme Herkunft und damit verbundene Sorge um die Armen, ihre gemeinsame Einsicht in die Wichtigkeit der Familie für Kinder und ihre gemeinsame Betonung von christlicher Liebe. 5 Herders Sämtliche Werke [hinfort: S], hg. v. B. Suphan et al., Berlin 1877–, 4:368-9 (für These 1), 372 (für These 2), 386 (für These 3) und 388-9 (für These 4). 3 […] Ganz und gar […] hört es auf, heilsam zu sein, wenn der Mensch dem Bürger geopfert wird. Denn [...] so verliert auch der Mensch dasjenige, welches er gerade durch die Vereinigung in einen Staat zu sichern bemüht war. Daher müßte, meiner Meinung zufolge, die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen überall vorangehen. Der so gebildete Mensch müßte dann in den Staat treten und die Verfassung des Staats sich gleichsam an ihm prüfen. Nur bei einem solchen Kampfe würde ich wahre Verbesserung der Verfassung durch die Nation mit Gewißheit hoffen.6 Kurz nach dieser Frühschrift fing Humboldt an, der Sprache eine grundlegende Rolle in der Bildung zuzuschreiben, die hinfort immer stärker von ihm betont wurde.7 Humboldts Fassung dieses Begriffs von Bildung verdankt wiederum Herder sehr viel. Humboldt war im allgemeinen sehr stark von Herder beeinflußt.8 Dies gilt im besonderen für Humboldts vorhin zitierte Frühschrift,9 sowie auch für seine Schriften zur Sprache. Demgemäß gehen Humboldts Prinzipien der freien Selbstentwicklung, die zur Bildung gehört, und der dazugehörenden individuellen Eigentümlichkeit, der ausgewogenen Einheitlichkeit des gebildeten Geistes, der kulturell geleiteten Natürlichkeit von Bildung, der Sprachlichkeit derselben und des bloß instrumentalen Wertes eines (möglichst minimalen) Staats alle zum großen Teil auf Herder zurück. Als Humboldt von 1808 bis 1810 bei der Sektion der preußischen Regierung für den Kultus und öffentlichen Unterricht für das ganze Erziehungswesen Preußens zuständig wurde und tiefgreifende Reformen desselben (einschließlich der Gründung der Universität Berlin) unternahm, setzte er diesen mit Pestalozzi 6 Wilhelm von Humboldts Werke, hg. v. A. Leitzmann, Berlin 1903, 1:106-7, 143-4. Siehe schon Über das Studium des Altertums, und des griechischen insbesondere (1793), ibid., 264-6. 8 Siehe M.N. Forster: After Herder: Philosophy of Language in the German Tradition, Oxford 2010, Kapitel 7 und German Philosophy of Language from Schlegel to Hegel and Beyond, Oxford 2011, Kapiteln 3 und 4. 9 Man bemerke, dass sie unmittelbar nach der Veröffentlichung von Herders ähnlich betiteltem Hauptwerk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91) verfaßt wurde. 7 4 weitgehend geteilten Begriff von Bildung in die Praxis um.10 Hinfort war dieser Begriff nicht nur theoretisch sondern auch gesellschaftlich tief verankert.11 * Ich wende mich jetzt zwei weiteren begrifflichen Entwicklungen des Wortes Bildung zu, die wiederum ursprünglich auf Herder zurückzuführen sind. Die erste beschäftigt sich mit Kulturellem (es handelt sich hier in der Tat um die Geburt des betreffenden Begriffs des “Kulturellen”), die zweite eher mit Geschichtlichem. Letztere Entwicklung wurde nach Herder von Hegel übernommen und weitergeführt. Diese Verteilung der zwei Beiträge zwischen Herder eher allein einerseits und Herder mit Hegel andererseits reflektiert einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den zwei Philosophen: während sich Herder sowohl für interkulturelle Vergleiche als auch für geschichtliche interessiert, interessiert sich Hegel fast ausschließlich für letztere (oder genauer: für erstere nur insofern sie auch letztere sind). Fangen wir mit der ersten dieser Begriffsentwicklungen an.12 Herder hat nämlich eine führende Rolle in der Entwicklung unseres modernen ethnologischen Begriffs von “Kultur” (im Englischen “culture”) gespielt. Sein grundlegender Beitrag bestand nicht in der Verwendung eines einzigen Worts zu diesem Zweck, sondern vielmehr in der Entfaltung einer gewissen theoretischen Position, die er anhand von mehreren Wörtern zum Ausdruck brachte, wovon bei 10 Humboldt bezieht sich ausdrücklich auf Pestalozzi insbesondere hinsichtlich des elementaren Unterrichts. Siehe W. von Humboldt: Werke in fünf Bänden, hg. v. A. Flitner und K. Giel, Stuttgart 1982, 4:221, 227. (Pestalozzis Ideen wurden übrigens fast gleichzeitig auch von Fichte in Reden an die deutsche Nation (1808) vertreten.) 11 Es mag sich hier lohnen, Humboldts Fassung dieses Bildungsbegriffs vor ein Paar naheliegenden Einwänden und Mißverständnissen zu schützen. Erstens könnte sein Ideal von Selbstbildung egoistisch oder sogar eitel erscheinen. Dagegen sollte hervorgehoben werden, dass für Humboldt Selbstbildung auch dazu dient, die Selbstbildung von anderen zu motivieren. Demgemäß schreibt er in einem Brief an Georg Forster vom 16. August 1791: “Der wahren Moral erstes Gesetz ist: bilde Dich selbst und nur ihr zweites: wirke auf andere durch das, das Du bist”. Zweitens könnte die Rolle von Bildung als Selbstzweck des Staats andere wertvolle Zwecke auszuschließen scheinen. Das muß aber nicht der Fall sein, da etwas gleichzeitig sowohl Selbstzweck als auch Mittel zu anderen Zwecken sein kann. Und Humboldts pädagogische Schriften lassen in der Tat kaum die Deutung zu, dass für ihn Bildung nur als Selbstzweck fungiert. 12 Vgl. Forster: After Herder: Philosophy of Language in the German Tradition, 210-12. 5 ihm noch keines für sich den betreffenden Begriff genau ausdrückte, einschließlich der Wörter Bildung, Kultur, Denkart, Volk und Nation. (Die Wörter Bildung und Kultur drücken bei ihm den betreffenden Begriff schon deswegen noch nicht vollkommen aus, weil sie noch nicht von ihm in relevanten Zusammenhängen im Plural verwendet werden, was wesentlich mit zu unserem modernen Begriff von Kultur [culture] gehört.13) Erst später ist die betreffende theoretische Position gleichsam zu dem einheitlichen Wort/Begriff von Kultur (culture) geronnen, das/den wir heutzutage fast als eine Selbstverständlichkeit annehmen und verwenden. Die betreffende theoretische Position besteht im wesentlichen aus den folgenden vier Thesen: (1) Es existieren eine große Vielfalt von eigentümlichen Sammlungen von Begriffen, Glauben, Gefühlsarten, Werten, Kunstformen, usw., die jeweils auf einer bestimmten Sprache basieren und einem bestimmten Volk an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit gehören. (2) Jede dieser Sammlungen hat als Ursachen erstens das gemeinsame biologische Wesen der Menschheit und zweitens – nicht Rasse (Herder lehnt den Begriff von Rasse als oberflächlich ab), sondern – zum Teil eine bestimmte Umwelt und vor allem eine bestimmte Geschichte und damit verbundene kulturelle Tradition/Erziehung.14 (3) Diese Sammlungen sind weder homogen noch unwandelbar: jede davon weist erhebliche Unterschiede zwischen Individuen auf15 und unterliegt beständiger Verwandlung,16 z.T. durch den Einfluß von anderen solchen Sammlungen.17 (4) Es gibt keine Rangordnung unter diesen Sammlungen; sie sind gleich wertvoll.18 13 Der erste mir bekannte relevante Gebrauch von Bildung im Plural kommt bei Hegel in Die Vernunft in der Geschichte (1830) vor (dort schreibt Hegel von des Geistes geschichtlichen “Bildungen und Produktionen”). Der erste mir bekannte relevante Gebrauch von Kultur im Plural kommt bei Nietzsche vor (siehe Unzeitgemässe Betrachtungen (1873) und Menschliches, Allzumenschliches (1878)). 14 Zu (1) und (2), siehe z.B. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (178491), Bücher 2, 7, 8, und 9. Vgl. D. Mühlberg: Herders Theorie der Kulturgeschichte in ihrer Bedeutung für die Begründung der Kulturwissenschaft, in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, 12 (1984), 21-3. 15 Siehe z.B. Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), S5:501-2. 16 Siehe z.B. S4:467. 17 Herder betont öfters die Rolle solcher Einflüsse (siehe z.B. Ideen, Buch 11 über den Einfluß der chinesischen Kultur auf die sie umgebenden Kulturen). Seine normative Haltung gegenüber solchen Einflüssen ist zwar ambivalent aber nicht negativ. Er lehnt zwar jede sklavische 6 Franz Boas, deutscher Einwanderer und Gründer der “anthropology” (d.h. Ethnologie) in den Vereinigten Staaten während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat alle vier dieser Thesen von Herder und seiner Tradition übernommen und zu seinem eigentümlichen und einflußreichen Begriff von “culture” gerinnen lassen, der für ihn ein zentraler und zwar krönender Begriff des Faches war.19 Demgemäß konzipiert auch Boas Kulturen als (1) eine große Vielfalt von eigentümlichen Sammlungen von Begriffen, Glauben, Gefühlsarten, Werten, Kunstformen, usw., die jeweils auf einer Sprache basieren und einem Volk gehören;20 (2) bedingt erstens durch das gemeinsame biologische Wesen der Menschheit und zweitens – nicht durch Rasse,21 sondern – zum Teil durch die Umwelt und vor allem durch eine bestimmte Geschichte und damit verbundene kulturelle Tradition/Erziehung;22 (3) weder homogen noch unwandelbar, sondern erhebliche Unterschiede zwischen Individuen aufweisend23 und beständiger Verwandlung unterliegend,24 insbesondere durch den Einfluß von anderen solchen Sammlungen;25 und (4) ohne Rangordnung, sondern alle gleich wertvoll.26 Und demgemäß schreibt Boas in einem frühen Aufsatz, “The History of Anthropology” (1904), eine Schlüsselrolle in der Entwicklung des modernen Begriffs von “culture” Herder zu: “Zur [zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts] gehören Herders Ideen zur Geschichte der Menschheit [sic], in denen vielleicht Nachahmung von anderen Kulturen ab. Aber er betrachtet andere Formen von Einfluß als natürlich und positiv. Siehe z.B. schon die folgenden frühen Bemerkungen aus dem Jahre 1769: “Von der Bildung einer Nation nach andern – sparsam [...] behutsam [...] Eine Nation läuft nicht blind an, als wenn sie blind und schlecht nachahmt. Beweis, daß immer falsche Nachahmung und Vermischung mit anderen Völkern Nationen verdorben hat [...] Eine Nation indessen bleibt unvollkommen, wenn sie gar nicht nachahmet. Also Reisen. Insonderheit heut zu tage für das Ganze des Staats unentbehrlich” (S4:477). 18 Vgl. Mühlberg: Herders Theorie der Kulturgeschichte, 22; G. Broce: Herder and Ethnography, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences, 22 (1986), 161. 19 Dieser Begriff bildet für Boas den dritten, krönenden Teil des Faches, wie man z.B. an dem Titel seines bekannten Sammelbands Race, Language, and Culture ablesen kann. 20 Boas besteht zwar darauf, dass Gruppen mit unterschiedlichen Sprachen dieselbe Kultur teilen können (siehe z.B. F. Boas: The Mind of Primitive Man, New York 1916, 132-3), aber das impliziert nicht, dass es eine Kultur geben könnte, die nicht auf Sprache basierte. 21 Siehe, z.B. ibid., 127 ff. 22 Siehe z.B. ibid., 159 ff. 23 Siehe z.B. ibid., 112-14. 24 Siehe z.B. F. Boas: Primitive Art, New York 1955, 6-7. 25 Siehe z.B. ibid. über die beständige interkulturelle Entlehnung von Kunstformen, Mythen, usw. 26 Zu (4) vgl. G.W. Stocking Jr.: Franz Boas and the Culture Concept, in seinem: Race, Culture, and Evolution: Essays in the History of Anthropology, Chicago 1982, 229. 7 zum ersten Male der Gedanke der Entwicklung der Kultur [culture] der Menschheit insgesamt klar zum Ausdruck kommt”.27 Boas Studenten – insbesondere Sapir, Lowie, Kroeber, Benedict (z.B. in ihrem einflußreichen Buch Patterns of Culture) und Mead – haben dann dieselben vier Thesen und denselben darauf basierenden Begriff von “culture” von ihm übernommen und in der amerikanischen Ethnologie verfestigt,28 woher sie auch in die weitere Gesellschaft übergingen. Eine auffallend ähnliche Geschichte hat sich in der britischen Ethnologie abgespielt. Deren Hauptgründer, der Pole Bronislaw Malinowski, stand unter Herders starkem Einfluß – sowohl über seinen eigenen Vater, der in Polen Experte für Linguistik und Volkslieder war, als auch über Wilhelm Wundt, bei dem er selbst in Leipzig “Völkerpsychologie” studierte und der ein ausgesprochener Herder-Verehrer war. Dementsprechend hat auch Malinowski “culture” zum zentralen Begriff der Ethnologie gemacht29 und darunter dieselben vier Thesen verstanden (auch Malinowski konzipiert z.B. Kulturen als eine große Vielfalt von eigentümlichen Sammlungen von Begriffen, Glauben, usw., als wesentlich sprachbedingt,30 als beträchtliche Unterschiede zwischen Individuen aufweisend31 und als gleich wertvoll). Nachher haben Malinowskis Studenten – insbesondere Evans-Pritchard, Firth und Leach – denselben Begriff von ihm übernommen und weitervermittelt. * Ich wende mich jetzt schließlich und etwas ausführlicher der dritten Entwicklung eines Bildungsbegriffs zu, und zwar eines geschichtlichen. 27 A Franz Boas Reader, hg. v. G.W. Stocking Jr., Wisconsin 1996, 24. Vgl. Reinventing Anthropology, hg. v. D. Hymes, New York 1974, 19. 28 Vgl. ibid., wo Hymes zusätzlich darauf hinweist, dass Sapir, Lowie und Kroeber ähnliche explizit dankbare Bemerkungen über Herder wie die vorhin zitierte von Boas machen. 29 Siehe insbes. B. Malinowski: Culture, in: Encyclopaedia of the Social Sciences, 4 (1931); und A Scientific Theory of Culture, in seinem: A Scientific Theory of Culture and Other Essays, Chapel Hill 1944. 30 Siehe z.B. A Scientific Theory of Culture, 132 ff. 31 Siehe z.B. B. Malinowski: Baloma; the Spirits of the Dead in the Trobriand Islands, in seinem: Magic, Science, and Religion and Other Essays, Prospect Heights, IL 1992, 240-54. 8 Wie schon eingangs erwähnt, wurde das Wort Bildung in seiner geistigen Bedeutung bis zu den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts fast ausschließlich auf Individuen bezogen; es bedeutete im Grunde genommen die Entwicklung und Erziehung des individuellen Geistes. Dieser Gebrauch des Wortes bestand natürlich auch nachher fort. Aber im Jahr 1774 hat Herder sein berühmtes Buch, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit veröffentlicht, in dem (wie dessen Titel schon verrät) das Wort Bildung auch auf die Menschheit insgesamt in ihrer geschichtlichen Entwicklung bezogen wurde. Es gibt laut Herder nicht nur eine Bildung des menschlichen Individuums, sondern auch eine Bildung der Menschheit insgesamt.32 (Diese Erweiterung der Anwendung des Wortes wurde z.T. durch eine prominente Metapher im Buch erleichtert: das Buch vergleicht die Phasen der menschlichen Geschichte ständig mit den Menschenaltern eines Individuums, z.B. die angeblich anfängliche morgenländische Patriarchie des Alten Testaments sei das Kleinkind, pharaonisches Ägypten sodann der Knabe, Griechenland späterhin der Jüngling, usw.33) Außerdem behauptet Herder in seinem Buch, dass die Bildung bzw. Entwicklung der Menschheit insgesamt eine mehr oder weniger gradlinige und kumulative gewesen ist: Nachdem die morgenländischen Patriarchen des Alten Testaments eine autokratische Hirtenkultur besessen hätten, sei sie unter Abwandlungen and Bereicherungen von den Ägyptern übernommen worden, deren Kultur sodann von den Phöniziern geborgt, abgewandelt und weiterentwickelt worden sei, sodass sie die daraus gewachsene Kultur den Griechen hätten weiterreichen können, deren Kultur sodann später den Römern zugute gekommen sei, usw. bis schließlich wir modernen Europäer dementsprechend unsere Kultur zum großen Teil dieser ganzen vorangegangenen Reihe von Kulturen verdankten.34 Diese Theorie impliziert, dass die Bildung eines Vgl. schon Herders Journal meiner Reise im Jahr 1769, S4:353: “Universalgeschichte der Bildung der Welt”. 33 Siehe insbes. S5:489. 34 Siehe insbes. S5:512-13. Vgl. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Buch 9, zur “Kette der Bildung”. 32 9 modernen europäischen Individuums zum großen Teil aus einer Art Aneignung der bisherigen Bildung der Menschheit insgesamt besteht. Die soeben skizzierte Herdersche Position konstituiert die Voraussetzung für Hegels Begriff von Bildung in der Phänomenologie des Geistes (1807). Auch Hegel faßt Bildung nicht nur als individuelle Erziehung sondern auch als menschliche Geschichte auf. Demgemäß heißt es schon in der Einleitung, daß die Phänomenologie “die ausführliche Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft” darstelle.35 Ähnlicherweise schreibt Hegel in der (erst später verfassten) Vorrede: “Die Aufgabe, das Individuum von seinem ungebildeten Standpunkte aus zum Wissen zu führen, war in ihrem allgemeinen Sinn zu fassen und das allgemeine Individuum, der selbstbewußte Geist, in seiner Bildung zu betrachten”.36 Und auch Hegel konzipiert diese Bildung des menschlichen Geistes in der Geschichte als einen gradlinigen, kumulativen Prozeß. Das läßt sich z.B. an der innerlichen Entwicklung von jeder der drei Behandlungen der ganzen Geschichte, die in der Phänomemologie vorkommen (“Bewußtsein” bis “Vernunft”, “Geist” und “Religion”), klar erkennen.37 Diese ganze mit Herder geteilte Auffassung impliziert auch ein weiteres grundsätzliches Prinzip der Phänomenologie, das für ihre Darstellungsweise maßgebend ist: Da der geistige Inhalt des gebildeten modernen Individuums zum großen Teil die kumulativen Leistungen der Geschichte der Menschheit insgesamt widerspiegelt, kann eine Analyse des geistigen Inhalts des modernen Individuums mit einer Darstellung der Geschichte der Leistungen der Menschheit insgesamt im wesentlichen zusammenfallen. Dies ist ein Kernprinzip der Phänomenologie, das schon in dem vorhin gegebenen Zitat aus der Einleitung impliziert ist: “die ausführliche Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft” bedeutet nicht nur (a) die Geschichte der Entwicklung des menschlichen Geistes über die Jahrhunderte hin bis zu Hegels Wissenschaft als Leistung der Moderne, 35 G.W.F. Hegel Werke [hinfort: Werke], hg. v. E. Moldenhauer und K.M. Michel, Frankfurt a. M. 1970, 3:73. 36 Ibid., 31. 37 Für weitere Details, siehe M.N. Forster: Hegel’s Idea of a Phenomenology of Spirit, Chicago 1998. 10 sondern auch (b) die Sammlung von Schichten des gebildeten modernen Bewußtseins, die dessen kulminierende Erreichung von Hegels Wissenschaft ermöglichen und schließlich dazu führen. * Es kommt aber schon bei Herder noch ein weiterer wichtiger Gedanke zu “Bildung” vor. In dem Titel seines vorhin erwähnten Buches Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit bedeutet “zur Bildung” zweierlei: erstens zwar “über die Bildung”, aber zweitens auch “zwecks Bildung”. In diesem zweiten Sinne impliziert der Titel, dass die vom Buch angebotene Darstellung der Geschichte von vergangenen Kulturen in ihrer Entwicklung bis hin zu unserer modernen europäischen Kultur es Lesern ermöglichen wird gebildeter zu werden. Wie genau? Das Lesen einer Geschichte trägt natürlich in einem ganz alltäglichen Sinne zur Bildung des Lesers bei. Aber Herder meint dies hier auch in spezifischeren Sinnen. Einer davon (obwohl für uns hier nicht der wichtigste) betrifft eine gewisse vom Werke versprochene moralische Belehrung des Lesers.38 Aber Herder meint die vom Werke geleistete Bildung des Lesers auch in einem zweiten (für uns hier viel wichtigeren) spezifischen Sinn, nämlich im Sinne seiner berühmten “genetischen” Methode. Herder hatte diese Methode zunächst in den sechziger Jahren in Bezug auf lyrische Dichtung und Sprache entwickelt, um sie sodann später in dem hier besprochenen Buch auf die Geschichte von Kulturen insgesamt anzuwenden. Die Methode besteht im wesentlichen darin, eine moderne geistige Institution (z.B. unsere lyrische Dichtung, unsere Sprache oder unsere moderne europäische Kultur überhaupt) als das Ergebnis eines früheren Urprungs, der sich im Laufe der Geschichte mehrfach abgewandelt hat, bis er zur fraglichen modernen Institution geworden ist, darzustellen und in dieser Weise 38 Einerseits sollte der Leser dank dem Werk den Wahn aufgeben, dass wir modernen aufgeklärten Europäer die einzige oder die höchste Kultur besäßen, andererseits sollte er anhand des Werkes bescheiden einsehen, dass Gott trotzdem in der Geschichte einen (uns Menschen zwar im Detail unbekannten) Plan verfolgt, der sich in dem gradlinigen, kumulativen Charakter der geschichtlichen Folge von Kulturen verrät. 11 uns die betreffende Institution zu erklären bzw. verständlicher zu machen. Ich zitiere Herders klassische frühe Beschreibung der Methode in Fragmente die neueste deutsche Literatur betreffend (1767-8) (wo er die Methode auf Sprache anwendet): Mit dem Ursprung einer Sache entgeht uns ein Theil ihrer Geschichte, die doch so viel in ihr erklären muß, und meistens der wichtigste Theil. Wie der Baum aus der Wurzel: so wächst Kunst, Sprache und Wissenschaft aus ihrem Ursprunge herauf. In dem Saamenkorn liegt die Pflanze mit ihren Theilen; im Saamenthier das Geschöpf mit allen Gliedern: und in dem Ursprung eines Phänomenon aller Schatz von Erläuterung, durch welche die Erklärung desselben Genetisch wird. Woher sind so viel Verwirrungen entstanden, als weil man den späteren Zustand einer Sache, einer Sprache, einer Kunst für den ersten nahm, und den Ursprung vergaß? Woher so viel Irrthümer, als weil ein einiger Zustand, in dem man alles betrachtete, nichts anders als einseitige Bemerkungen, getheilte und unvollständige Urtheile geben mußte? Woher so viel Zwist, als weil jeder diese seine Begriffe und Regeln, so einseitig sie waren, für die einzigen ansahe, sie zu Lieblingsgedanken machte, nach ihnen alles entschied, und außer ihnen alles für Nichts, für Abweichung erklärte? Woher endlich so viel Selbstverwirrung, [als] daß man aus einer Sache, die nicht immer dieselbe blieb, immer verändert erschien, endlich nichts zu machen wußte – woher alles, als weil man den ersten Punkt nicht hatte, von dem sich das Gewebe der Verwirrung entspann, den Anfang nicht hatte, von dem sich nachher der ganze Knäuel so leicht abwickeln läßt, und den Ursprung nicht wußte, auf welchem die ganze Geschichte und Erklärung, wie auf einer Grundveste ruht.39 Obwohl Herder dies selbst nicht betont, impliziert seine Auffassung in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, wonach die geschichtliche Entwicklung von vergangenen Kulturen bis hin zu unserer modernen Kultur eine gradlinige und kumulative gewesen ist, dass unsere “genetische” Erforschung dieser Vergangenheit einigermaßen leichter sein wird, als sie sonst hätte sein können, da die betreffenden vergangenen Kulturen gewissermaßen in uns erhalten bleiben und uns deshalb schon bekannt sind. Alle drei der soeben besprochenen Herderschen Ideen – 1. dass eine Darstellung der Geschichte von vergangenen Kulturen bis hin zu unserer 39 S2:62-3. 12 modernen Kultur zu unserer Bildung beiträgt, 2. dass dies zum großen Teil nach der “genetischen” Methode erfolgt, die eine Erklärung von modernen geistigen Institutionen aus ihrem Ursprung und dessen schrittweise Abwandlung bis hin zu den betreffenden Institutionen selbst leistet, und 3. dass die betreffende Darstellung bzw. Erklärung dadurch erleichtert wird, dass die fraglichen vergangenen Standpunkte gewissermaßen in uns erhalten bleiben und uns deshalb schon bekannt sind – spielen nachher eine große Rolle in Hegels Phänomenologie. Demgemäß lesen wir in einer Kernpassage der Vorrede des Werkes: Die Aufgabe, das Individuum von seinem ungebildeten Standpunkte aus zum Wissen zu führen, war in ihrem allgemeinen Sinn zu fassen und das allgemeine Individuum, der selbstbewußte Geist, in seiner Bildung zu betrachten. – Was das Verhältnis beider betrifft, so zeigt sich in dem allgemeinen Individuum jedes Moment, wie es die konkrete Form und eigene Gestaltung gewinnt. Das besondere Individuum ist der unvollständige Geist, eine konkrete Gestalt, in deren ganzem Dasein eine Bestimmtheit herrschend ist und worin die anderen nur in verwischten Zügen vorhanden sind. In dem Geiste, der höher steht als ein anderer, ist das niedrigere konkrete Dasein zu einem unscheinbaren Momente herabgesunken; was vorher die Sache selbst war, ist nur noch eine Spur [...] Diese Vergangenheit durchläuft das Individuum, dessen Substanz der höherstehende Geist ist, in der Weise, wie der, welcher eine höhere Wissenschaft vornimmt, die Vorbereitungskenntnisse, die er längst innehat, um sich ihren Inhalt gegenwärtig zu machen, durchgeht; er ruft die Erinnerung derselben zurück [...] Der Einzelne muß auch dem Inhalte nach die Bildungsstufen des allgemeinen Geistes durchlaufen, aber als vom Geiste schon abgelegte Gestalten, als Stufen eines Wegs, der ausgearbeitet und geebnet ist [...] Dies vergangene Dasein ist bereits erworbenes Eigentum des allgemeinen Geistes, der die Substanz des Individuums und so ihm äußerlich erscheinend seine unorganische Natur ausmacht. – Die Bildung in dieser Rücksicht besteht, von der Seite des Individuums aus betrachtet, darin, daß es dies Vorhandene erwerbe, seine unorganische Natur in sich zehre und für sich in Besitz nehme.40 Dass Hegel tatsächlich diesen ganzen Gedankengang Herder verdankt, dürfte ohnehin klar sein, aber dies wird durch eine Passage der späteren Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie bestätigt, wo Hegel auffallend ähnliche 40 Werke, 3:31-3. 13 Gedanken bezüglich der Geschichte der Philosophie zwecks deren Rechtfertigung entwickelt und mit einem expliziten Hinweis auf Herder schließt: Diese Taten des Denkens [in der Geschichte der Philosophie] scheinen zunächst, als geschichtlich, eine Sache der Vergangenheit zu sein und jenseits unserer Wirklichkeit zu liegen. In der Tat aber, was wir sind, sind wir zugleich geschichtlich [...] Der Besitz an selbstbewußter Vernünftigkeit, welcher uns, der jetzigen Welt angehört, ist nicht unmittelbar entstanden und nur aus dem Boden der Gegenwart gewachsen, sondern es ist dies wesentlich in ihm, eine Erbschaft und näher das Resultat der Arbeit, und zwar der Arbeit aller vorhergegangenen Generationen des Menschengeschlechts zu sein. So gut als die Künste des äußerlichen Lebens, die Masse von Mitteln und Geschicklichkeiten, die Einrichtungen und Gewohnheiten des geselligen und des politischen Zusammenseins ein Resultat von dem Nachdenken, der Erfindung, den Bedürfnissen, der Not und dem Unglück, dem Wollen und Vollbringen der unserer Gegenwart vorhergegangenen Geschichte sind, so ist das, was wir in der Wissenschaft und näher in der Philosophie sind, gleichfalls der Tradition zu verdanken, die hindurch durch alles, was vergänglich ist und was daher vergangen ist, sich als, wie sie Herder genannt hat, eine heilige Kette schlingt und [das,] was die Vorwelt vor sich gebracht hat, uns erhalten und überliefert hat.41 * Ein wesentlicher Bestandteil von Herders Auffassung der “genetischen” Methode und der dadurch ermöglichten Bildung des modernen Individuums besteht in der Idee einer gewissen darin geleisteten Entfremdung von den eigenen Begriffen, Glauben, Werten, usw., die es einem erlaubt, die zwar natürliche aber in der Regel falsche Annahme, dass sie die einzig möglichen bzw. allgemein geteilt seien, zu überwinden und ein genauere Einschätzung ihrer Eigentümlichkeit oder gegebenenfalls doch Allgemeinheit zu erreichen. Demgemäß impliziert Herder in der vorhin zitierten Passage aus Fragmente, dass die genetische Methode dem Problem steuert, dass “jeder diese seine 41 Werke, 18:21. Zum Verhältnis zwischen Herders genetischer Methode und Hegels Aneignung derselben in der Phänomenologie, vgl. M.N. Forster: Genealogy, in: American Dialectic, 2011 (im Erscheinen). 14 Begriffe und Regeln, so einseitig sie waren, für die einzigen ansahe, sie zu Lieblingsgedanken machte, nach ihnen alles entschied, und außer ihnen alles für Nichts, für Abweichung erklärte”. Und in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778) schreibt er ausführlicher zum selben Problem: Wie es eine allgemeine Menschenempfindung gibt, so muß es auch eine allgemeine Menschendenkart [...] geben; mit keinem Wort aber treiben die moralisch philosophische Philister ärgere Schleichwaare, als mit diesem. Wenn jeder, wo der Schuh sein Hünerauge drückt, sich gleich auf allgemeinen Menschenverstand und Menschenempfindung bezieht: so ehrt er den Genius der Menschheit, den er in sein Hünerauge verwandelt, wahrlich nicht [...] Ich könnte hier über den allgemeinen Menschenverstand manch Mährchen erzählen, als z.B. von jenem klugen Mann, der alle Schiffe im Hafen zu Athen sein glaubte und sich dabei sehr wohl fand [...] Freilich muß es einen allgemeinen Menschen[verstand] [...] geben; ich fürchte aber, daß ein einzelner, zumal siech- und preßhafter des Geschlechts, darüber schwerlich Auskunft geben, und die Höhe, Tiefe, Breite und Länge desselben zeichnen könnte [...] Die allgemeine Menschenvernunft, wie wir das Wort gern nehmen möchten, ist Bemäntelung unsrer Lieblingsgrillen [...] Und was wahre Menschenvernunft, Menschenempfindung und Bedürfniß ist und ewig seyn wird, davor schließen wir Augen und Ohren.42 Auch diese Position spielt eine wichtige Rolle in Hegels Auffassung derselben Methode und der dadurch ermöglichten Bildung des modernen Individuums. Das kommt vielleicht am klarsten in einer bekannten Schulrede aus dem Jahr 1809 (also rund zwei Jahre nach der Veröffentlichung der Phänomenologie) zum Vorschein. Dort heißt es, dass theoretische Bildung eine gewisse vorläufige Entfremdung von den eigenen Voraussetzungen verlange, die zu einer wahreren Einschätzung des darin liegenden Allgemeinen beitrage und die vor allem durch das Erlernen der Weltansicht und Sprache der Alten (d.h. der Griechen und Römer) zu leisten sei: Um aber zum Gegenstande zu werden, muß die Substanz der Natur und des Geistes uns gegenübergetreten sein, sie muß die Gestalt von etwas Fremdartigem erhalten haben [...] Für die Entfremdung, welche 42 S8:213-14. 15 Bedingung der theoretischen Bildung ist, fordert diese [...] den leicht[]en Schmerz und Anstrengung der Vorstellung, sich mit einem NichtUnmittelbaren, einem Fremdartigen, mit etwas der Erinnerung, dem Gedächtnisse und dem Denken Angehörigen zu beschäftigen. – Diese Forderung der Trennung [...] ist so notwendig, daß sie sich als ein allgemeiner und bekannter Trieb in uns äußert [...] Die Scheidewand aber, wodurch diese Trennung für die Bildung, wovon hier die Rede ist, bewerkstelligt wird, ist die Welt und Sprache der Alten; aber sie, die uns von uns trennt, enthält zugleich alle Anfangspunkte und Fäden der Rückkehr zu sich selbst, der Befreundung mit ihr und des Wiederfindens seiner selbst, aber seiner nach dem wahrhaften allgemeinen Wesen des Geistes.43 Hegels Fassung der fraglichen Position an dieser Stelle ist zwar weniger radikal als Herders, insofern Hegel die betreffende Entfremdung auf den theoretischen Bereich unter explizitem Ausschluß des praktischen beschränkt, während Herder in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit den letzteren geradezu betont hatte. Demgemäß schreibt Hegel hier: “Unglücklich der, dem seine unmittelbare Welt der Gefühle entfremdet wird; denn dies heißt nichts anderes, als daß die individuellen Bande, die das Gemüt und den Gedanken heilig mit dem Leben befreunden, Glauben, Liebe und Vertrauen, ihm zerrissen wird!”44 Aber diese Einschränkung ist bei Hegel kaum offiziell. Man soll sich diesbezüglich daran erinnern, dass Hegel hier eine Schulrede hält und in erster Linie von dem Schulunterricht handelt, wobei er sich natürlich um die Gefahr eines moralischen Verderbens der Schüler kümmern muß. Dementsprechend ist es auffallend, dass er in dem Kapitel der Phänomenologie “Der sich entfremdete Geist. Die Bildung” Bildung im Gegenteil mit einer Art Entfremdung oder gar Verkehrung gleichsetzt, die gerade moralische Werte in erster Linie betrifft und die insbesondere (in einer Art Vorwegnahme von Nietzsche) eine Verkehrung der Werte “gut” und “böse” mit einschließt.45 * 43 Werke, 4:321-2. Ibid., 321. 45 Siehe insbes. Werke, 3:384-6. 44 16 Bisher haben sich Herders und Hegels Fassungen dieses dritten Bildungsbegriffs fast vollkommen gedeckt. Aber Hegel entwickelt seine Fassung noch ein Stück weiter als Herder, indem er auch die vorgesehene endgültige Erhöhung des modernen Individuums über dessen anfänglichen Standpunkt und sogar über dessen von der Phänomenologie vermitteltes genetisches (Selbst)verständnis davon bis hinauf zur Hegelschen Wissenschaft (d.h. zum in der Enzyklopädie dargestellten System) als “Bildung” konzipiert. Man kann das schon an der oben zitierten Passage der Einleitung zur Phänomenologie über “die ausführliche Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft” ablesen. Und dieselbe Auffassung kommt gegen das Ende des Religionskapitels nochmals zum Vorschein, wo Hegel schreibt: “Daß der wahre Inhalt auch seine wahre Form für das Bewußtsein erhalte, dazu ist die höhere Bildung des letzteren notwendig, seine Anschauung der absoluten Substanz in den Begriff zu erheben und für es selbst sein Bewußtsein mit seinem Selbstbewußtsein auszugleichen, wie dies für uns oder an sich geschehen ist”.46 Diese Erhebung des modernen Individuums zur Wissenschaft, die von der Phänomenologie selbst an deren Ende vollzogen werden soll, verspricht dem modernen Individuum nicht nur einen besseren, wahreren Standpunkt im allgemeinen, sondern auch insbesondere ein tieferes (d.h. vor allem logisch vermitteltes) (Selbst)verständnis von seinem anfänglichen Standpunkt und dessen geschichtlichem Hintergrund als das genetische Verfahren allein leisten und mitteilen konnte.47 * Aber abgesehen von dieser eigentümlich Hegelschen Erweiterung, entwickeln Herder und Hegel wie gesagt fast denselben Begriff von Bildung: als nicht nur 46 Ibid., 556-7. Vgl. in der Vorrede 36-7, wo es heißt, zur Bildung reiche das Analysieren bzw. die Negativität des Verstandes nicht aus, sondern es müsse ein Flüssigmachen von Begriffen und eine Wiedervereinigung derselben mit dem Sinnlichen hinzukommen – sprich: Hegels Logik. 47 Ein weiterer bemerkenswerter Unterschied zwischen Hegels Begriff von Bildung und Herders liegt darin, dass Hegel Bildung als einen Bruch mit dem Natürlichen konzipiert, während Herder hier eher Kontinuität sieht. Dementsprechend beschreibt Hegel Bildung in der Phänomenologie als eine “Entfremdung des natürlichen Seins” (Werke, 3:364). 17 das Individuum sondern auch die Menschheit insgesamt betreffend; als ein gradliniges, kumulatives Verfahren in der Menschheit insgesamt, das späterhin im modernen Individuum gleichsam rekapituliert wird; und als ein dadurch ermöglichtes “genetisches” Selbstverständnis seitens des modernen Individuums miteinbeziehend, das unter anderem eine Art Entfremdung zwecks genauerer Einschätzung der eigenen Eigentümlichkeit und Allgemeinheit als wesentlichen Bestandteil hat. Bei Hegel kommt dann schließlich diese Idee eines noch höheren “wissenschaftlichen”, d.h. auf Logik fußenden, (Selbst)verständnisses hinzu. Der pathetische und stark valorisierte deutsche Bildungsbegriff des 19. bis 21. Jahrhunderts ist bestimmt kein einheitlicher, und er hat sicherlich mehrere Quellen und Vorbilder (einschließlich der besonders wichtigen eingangs skizzierten Pestalozzi-Humboldt Version). Aber vermutlich verdankt er sein außerordentliches Gewicht zum großen Teil diesem Herder-Hegelschen Modell, das ihm insbesondere eine geschichtliche, psychologische und (bei Hegel) sogar logisch-metaphysische Tiefe leiht, oder zu leihen verspricht, die ihm sonst abgehen würde.48 * Wir kommen jetzt zum Schluß. Ich habe hier die Entwicklung von drei wichtigen und nahe verwandten modernen Begriffen von “Bildung” einigermaßen zu verfolgen versucht: Bildung als Erziehungsideal à la Pestalozzi und Humboldt; Bildung als culture à la Boas und Malinowski; und geschichtliche Bildung à la Hegel. Wie wir gesehen haben, schreiben sich alle drei Begriffe ursprünglich zum großen Teil von Herder her. Heutzutage hört man öfters eine ziemlich pauschale Skepsis über den Bildungsbegriff. Ich teile diese Skepsis nicht. Im Gegenteil finde ich viel Wertvolles an jeder der drei hier unterschiedenen Versionen des Begriffs. Trotzdem halte ich sie für anfällig gegen eine gemäßigtere Art von Kritik. 48 Als Beispiel eines etwas späteren einflußreichen Gebrauchs des Bildungsbegriffs, der wenigstens die ersten (Herderschen) Stufen dieses eigentümlichen Herder-Hegelschen Modells beibehält, siehe L. von Ranke: Weltgeschichte, Leipzig 1888, 9/1:270-1, 9/2:XIV-XV. 18 Meine obige Darstellung hat hervorgehoben, dass es sich in allen drei Fällen gleichsam um zu Begriffen geronnene Sammlungen von Thesen handelt. Hoffentlich hat diese Einsicht wenigstens zu einem besseren Verständnis der betreffenden Begriffe beigetragen (auch wenn die fraglichen Sammlungen hier sozusagen maximal dargestellt worden sind und Abzüge bzw. Abweichungen davon zugunsten bescheidenerer Varianten häufig vorkommen). Aber diese Einsicht ist auch deswegen wichtig, weil sie die Möglichkeit einer bestimmten Art von Kritik an diesen Begriffen eröffnet. Thesen sind entweder wahr oder falsch, und ähnliches gilt demgemäß für Begriffe, die implizit aus Sammlungen von Thesen bestehen: sie können wahr oder falsch oder teilweise wahr und teilweise falsch sein. Ich habe hier nicht vor, eine solche Kritik an den betreffenden Begriffen zu üben. Aber die Art von Fragen, die dabei eine zentrale Rolle spielen würde, dürfte wenigstens jetzt klarer geworden sein: Zum Beispiel, was Bildung als Erziehungsideal à la Pestalozzi und Humboldt betrifft, ist es wahr, dass der betreffende geistige Zustand von eigentümlicher Einheitlichkeit und Ausgewogenheit Freiheit voraussetzt?, dass er Sprache voraussetzt?, dass er im Grunde genommen natürlich ist aber von Kultur und Erziehung geleitet werden muß? und dass er als Selbstzweck der Erziehung und gar des Staats fungieren soll? Was Bildung als “culture” betrifft, ist es wahr, dass die fraglichen Sammlungen von Begriffen, Glauben, Gefühlsarten, Werten, Kunstformen, usw. eine Vielvalt aufweisen?, dass sie jeweils auf Sprache basieren?, dass sie nicht nur biologisch sondern auch zum großen Teil durch Geschichte, Tradition und Erziehung bedingt sind? und dass sie keine Rangordnung zulassen? Und was geschichtliche Bildung à la Hegel betrifft, ist es wahr, dass die Geschichte von Kulturen gradlinig und kumulativ gewesen ist, sodass das gebildete moderne Individuum die Leistungen von vergangenen Kulturen gleichsam automatisch erhält?, dass seine Verfolgung derselben im Geiste der genetischen Methode zu einem besseren Selbstverständnis führt? und dass ein noch tieferes, logisches Selbstverständnis auch zu erreichen ist? Vermutlich werden die Antworten auf diese Fragen letzten Endes unterschiedlich ausfallen, manche positiv, manche 19 negativ. Und dementsprechend werden die betreffenden Begriffe teilweise beizubehalten und teilweise zu revidieren sein.49 49 Ich möchte mich herzlich bei Ralf Beuthan und Klaus Vieweg für ihre Einladung zur Teilnahme an der Tagung “Bildung und Freiheit” und für stimulierende Gespräche zu deren Thema bedanken. 20