Seite 10/Freitag, 19. November 2004, Nr. 271 Die Gegenwart Frankfurter Allgemeine Zeitung La Bildung Von Professor Dr. Birgit Sandkaulen Als eingangs des 19. Jahrhunderts die Universitäten in Deutschland revolutioniert wurden, stand ein neuer Bildungsbegriff Pate: Zweck in sich selbst, gleichwohl auf Praxis bezogen. Dieser Begriff der Bildung war jung und kritisch zugleich, ein entschiedener Einspruch gegen die Zweckrationalität und Funktionalität von Wissen. Als Studentin habe ich vor mehr als zwanzig Jahren ein Auslandsjahr in Poitiers verbracht, am dortigen „Centre de la Recherche sur Hegel et Marx“, wie die Einrichtung damals noch hieß (heute ist sie umbenannt in ein „Zentrum zur Erforschung des Deutschen Idealismus“). Ich studierte dort die „Phänomenologie des Geistes“, Hegels Hauptwerk, das er 1806 in Jena vollendet und mit knapper Not vor den Flammen des Napoleonischen Kriegs gerettet hat. In diesem Werk spielt der Begriff „Bildung“ eine hervorragende Rolle. Das ganze Buch handelt von der Bildung des Bewußtseins. Als individuelles wie als kulturelles Bewußtsein soll es auf dem Weg einer langen und breiten Erfahrungsgeschichte verstehen lernen, was es selber ist. Das aber kann nur gelingen, wenn das Bewußtsein begreift, auf welch mannigfache Weise es mit der geschichtlichen Welt vermittelt ist. Dieser Gedanke hat mich fasziniert, und ich beschloß, über Bildung bei Hegel eine Arbeit zu schreiben, auf Französisch, denn schließlich studierte ich in Frankreich. Nun machte ich eine verblüffende Erfahrung: Ein Wort, das im Französischen dem deutschen Ausdruck Bildung entsprochen hätte, fand sich nicht. Im Französischen braucht man eine Serie von Wörtern, um die vielfältigen Aspekte wiederzugeben, die in Bildung stecken und die alle in Hegels Verwendung des Begriffs eine Rolle spielen: formation (Gestalten oder als Produkt davon die Gestalt: die Kinder bilden einen Kreis, die Autos bilden eine Schlange), développement (Entwicklung: Pflanzen bilden Knospen aus), création (bildende Tätigkeit: Bildende Künste), fondation (Gründung: Bildung eines Staates), organisation (Aufbau: die Bildung eines Unternehmens, ein Unternehmensgebilde), éducation oder culture (Erziehung: Ausbildung) und schließlich noch connaissances (Wissen, etwa im Bildungskanon). Ökonomie von Zeit und Geld Da es lästig gewesen wäre, ständig alle diese Wörter aufzuzählen, habe ich es in meinem französischen Text kurzerhand bei dem deutschen Ausdruck Bildung belassen. So machte es im übrigen auch mein französischer Dozent. Noch heute höre ich ihn „la Bildung“ sagen, wenn er von einschlägigen Sachverhalten sprach. In der englischen Sprache ist es nicht anders. Auch hier sagt man „education“, wenn man Erziehung oder Ausbildung meint, und spricht andererseits von „formation“ und „development“, wenn man den Vorgang des Gestaltens, das Profil einer Gestalt oder aber derlei wie eine Entwicklung im Auge hat. Philosophen sind nicht zuletzt dazu da, um Begriffe zu klären – und darum ist es mir im Anschluß an diese Anekdote zu tun. Wir benutzen das Wort Bildung jeden Tag, als verstünde es sich von selbst. Kopfzerbrechen hingegen machen die „Bildungs-Reform“ oder die Frage „Bildung heute“. Was aber ist Bildung? Bei der Reform der Hochschulen kommt es offenbar nur auf einen Aspekt des Begriffs an. Was dort mit Bildung gemeint ist, heißt im Englischen „education“ und im Französischen „éducation“ – „Erziehung“ oder „Ausbildung“ an den dafür vorgesehenen „Bildungsstätten“, und damit einhergehend Curricula, Gebühren, Studiengänge. Das Wort hat einen geradezu technischen Klang angenommen, der präzise anzeigt, worum es vor allem geht: um Effizienz, Nutzenmaximierung, Abprüfbarkeit, um Chancen auf dem Arbeitsmarkt, um internationale Vergleichbarkeit und Exzellenz, um Ökonomie von Zeit und Geld. All das ist von Belang. Ressourcen sollten nicht verschwendet werden, auch nicht die eigene Lebenszeit. Jedoch wird, wenn man von Bildung und Bildungssystemen bis hin zu den Bildungsressourcen nur mehr in dieser technischen, letztlich instrumentalisierten Weise spricht, die Bedeutung des Ausdrucks auf eine Dimension reduziert, die der Komplexität der Sache unangemessen ist. Dabei ist das in andere Sprachen offenkundig nicht ohne weiteres übersetzbare Wort – das hat Bildung im übrigen mit dem Ausdruck Geist gemeinsam – seiner ursprünglichen Verwendung nach ein emphatisches Wort. Emphatisch gebraucht, zehrt es von inhaltlichen und durchaus normativen Vorstellungen: Bildung mit all seinen Bedeutungen, von formgebender Gestaltung und kreativer Tätigkeit, von dynamischer Entwicklung, aber auch von Fundierung und Struktur, von Ausbildung bestimmter Fähigkeiten und Einstellungen bis hin zum Gewinn von Wissen, ist nicht vorrangig ein Mittel zu einem äußerlichen Zweck, sondern in erster Linie Zweck in sich selbst. Was heißt das? Die Unterscheidung, ob etwas Zweck in sich selbst oder nur Mittel für etwas anderes ist, stammt von Aristoteles. Der griechische Philosoph kennzeichnete damit den Unterschied nicht etwa zwischen Theorie und Praxis, sondern zwischen Praxis und Technik. Technisch ist ein Verhältnis dann, wenn eine Tätigkeit unter Anwendung bestimmter Mittel auf die Herstellung eines Produkts gerichtet ist. Praxis hingegen zeichnet sich dadurch aus, daß sich der Handlungsvollzug und sein Ergebnis überhaupt nicht voneinander trennen lassen. In diesem Sinne ist Bildung als Zweck in sich selbst eine fundamentale Angelegenheit menschlicher Praxis. Nun ist „Bildung“ nicht nur sehr umständlich in andere Sprachen zu übersetzen. Im Deutschen ist das Wort erstaunlicherweise selber von vergleichsweise jungem Gebrauch. Erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts kam es als neues Grundwort in Umlauf. Und noch 1784 bezeichnete es der Aufklärungsphilosoph Moses Mendelssohn als einen „neuen Ankömmling in unserer Sprache … vorderhand bloß in der Büchersprache“, also in einer Sprache, die sich von der alltäglichen Umgangssprache unterscheidet. Von heute aus besehen, wo „Bildung“ geradezu inflationär gebraucht wird, mag man das nicht glauben. Prompt stellt sich die Frage, was wohl der Anlaß war, das neue Grundwort „Bildung“ in Umlauf zu bringen, und was es weiter war, das diesem neuen Wort dann zu der unübersehbaren allgemeinen Präsenz verholfen hat, von der wir heute noch zehren. Damit geraten Begebenheiten in Jena in den Blick, solche Begebenheiten nämlich, wie sie in der bedeutenden mitteldeutschen Universitätsstadt in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Epoche gemacht haben. Das Wort „Bildung“ hat seinen Ursprung im Althochdeutschen und verweist hier auf die Tätigkeit des „abbildens“, das „Bildnis“ sowie das „Gebilde“. Die Wurzel der „Bildung“ steckt demnach im Bild und im Gebilde als der Gestalt – und hat demzufolge mit dem heute vorherrschenden Aspekt der Erziehung und Ausbildung zunächst nichts zu tun. Bestimmend für die Bedeutung des Ausdrucks sind vielmehr die Hinsichten, die sich im Assoziationsfeld kreativen Gestaltens bewegen. Dazu paßt, daß die Substantivform Bildung im Spätmittelalter durch Meister Eckhart geprägt worden ist. Im Kontext einer hochspekulativen Theologie deutet der dominikanische Mystiker das Bibelwort, wonach Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat, als Akt einer Bildung. Diese hat nicht ein für allemal am Anfang der Welt stattgefunden, sondern vollzieht sich jederzeit in der menschlichen Seele. Indem Gott sich der Seele ein-bildet, wird die Seele zum Bild Gottes. Mit Pädagogik hat das nicht das mindeste zu tun. Weit eher träfe es offenkundig den Punkt, wenn man Bildung und Einbildungskraft assoziierte. Zugleich jedoch steckt in diesem ursprünglich theologisch-religiösen Sinn der Bildung ein Moment, das dem Verdacht Vorschub zu leisten scheint, daß es nichts tauge, sich an ältere Bedeutungsschichten dieses Wortes zu erinnern: Gemeint ist Bildung als Vorgang innerhalb der Seele. Solcher Innerlichkeit steht das Äußere, die ganze äußere Welt als scheinbar unbedeutend entgegen. So einfach liegen die Dinge nicht. Denn daß Bildung im 18. Jahrhundert zu einem neuen Grundwort werden konnte, lag vor allem daran, daß Bildung zunächst einen inneren Vorgang bezeichnete. Als solcher barg der Begriff kritisches Potential. Er wurde zum Verständigungswort all derer, die sich gegen den Rationalismus der Aufklärung wandten. Worauf die Epoche der Aufklärung so stolz war, das entzifferte Johann Gottfried Herder in seiner Streitschrift von 1774 mit dem Titel „Auch eine Geschichte zur Bildung der Menschheit“ als die verkehrte Gestalt einer lediglich äußerlichen Bildung. In ganz mechanischer Weise richte sie sich allein auf den Zuwachs an Wissen, auf den Fortschritt einer bloßen Verstandeskultur. Übersehen werde dabei, so Herder, daß weder der Gang der menschlichen Geschichte noch die Erfüllung menschlichen Lebens an solch einseitigen, „künstlich“ genannten Errungenschaften hängt. Der Aufstieg der Bildung zum neuen Grundwort verdankt sich also dem kritischen Einspruch gegen die ausschließliche Zweckrationalität des Wissens und dem Einspruch gegen den „Wahn“, unter Beigesellung von „Furcht und Geld“ das Leben beherrschbar zu machen. So verkommen wir zu Funktionen eines „politischen Kalküls“, wir werden zu „Maschinen“. Wohlverstandene Bildung setzt sich von solch mechanistischem Unwesen ab. Ihr Weg ist die organische Entfaltung und Entwicklung aller individuellen Kräfte, die das lebendige Leben im Ganzen in Anspruch nimmt. Bildung wird zu einem dynamischen Prozeß, der jetzt, bezogen auf das einzelne Individuum und die Gesellschaft, eine innere Entwicklung und deren äußere Darstellung übergreift. Ihr Ziel ist nicht das ablösbare Produkt einer Bildungstechnik, sondern die Verwirklichung von Humanität. „Der Begriff der Bildung, der damals zu beherrschender Geltung aufstieg, war wohl der größte Gedanke des 18. Jahrhunderts.“ Als Hans-Georg Gadamer diesen Satz 1960 formulierte, war er zugleich davon überzeugt, daß das Bildungsverständnis der Gegenwart „mit dem Jahrhundert Goethes noch immer wie gleichzeitig“ sei, während die Zeit davor wie eine „geschichtliche Vorzeit“ erscheine. Das hatte allerdings schon Theodor W. Adorno ganz anders gesehen, wie in seinem 1959 verfaßten Aufsatz über die Theorie der Halbbildung nachzulesen ist. Erst recht wird heute die Einstellung Gadamers niemand mehr teilen – auch die sogenannte Goethezeit ist uns inzwischen zur „Vorzeit“ geworden. Und daran mag man ermessen, mit welch rasanter Beschleunigung sich unsere Welt seither verändert hat. Sofern wir aber eine Vielzahl unserer Begriffe wie auch den der Bildung der geradezu revolutionären Modernität der damaligen Zeit verdanken, ist eine Erinnerung an diese Epoche der Orientierung dienlich. Damit bin ich nun bei den spezifischen Begebenheiten in Jena angelangt. Denn wenn sich nach Gadamer in der Epoche „zwischen Kant und Hegel … die durch Herder bewirkte Prägung“ des Bildungsbegriffs „vollendet“ hat, dann rückt Jena gleichsam von selbst in den Blick. Dort, in der Nachbarschaft Weimars mit Herder und Johann Wolfgang Goethe, haben sich damals die entscheidenden Debatten abgespielt. Herder hatte gegen die künstlich-mechanische „Maschine“ einer in seinen Augen pervertierten Aufklärung die organische Entfaltung des ganzen Lebens gesetzt. Bildung verstand er als ganzheitlichen Prozeß, der sich gleichsam als natürliches Geschehen abspielt. Das bestritten die beiden Jenaer Philosophen Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Sie beharrten darauf, daß menschliches Leben mit den Wachstumsprozessen natürlichen Lebens nicht vergleichbar sei. Es muß – unter geeigneten Umständen – aktiv bewältigt werden. Der Weg zur Partizipation Dieser bedeutsame Punkt wird gewöhnlich mit dem Unterschied zwischen Natur auf der einen und Kultur auf der anderen Seite bezeichnet. Menschen sind nicht nur Natur-, sondern wesentlich auch Kulturwesen. Allein schon, um überleben zu können, sind sie darauf angewiesen, daß sie die Welt gestalten, in der sie leben. So erschließen sie sich eine geistige Wirklichkeit, in der sie sich zu ihrem Leben in ein Verhältnis setzen: in der Verständigung über die Welt, aus der die Wissenschaften erwachsen, sowie in den spezifisch normativen Orientierungen ihres Zusammenlebens und deren Darstellung, in Recht und Moral, in Kunst, Religion und Philosophie. All das umfaßt der Titel „Kultur“. Ernst Cassirer hat dafür den Ausdruck geprägt, daß der Mensch im charakteristischen Unterschied zu den Tieren ein „animal symbolicum“ sei, ein Symbole schaffendes Tier. Nun haben nicht erst Fichte und Hegel um das Jahr 1800 den Gedanken formuliert, daß Menschen symbolschaffende Kulturwesen sind. Diese Einsicht war alt. Neu hingegen war, daß sie das Erfordernis aktiver Weltbewältigung mit dem Begriff der Bildung unter den Bedingungen der Moderne und ihres spezifischen Freiheitsverständnisses zusammenführten. Auch jetzt meinte Bildung keine Technik, sondern wie bisher bei Herder die Entfaltung und Entwicklung aller Kräfte und Anlagen. Und wie Herder verstanden die Jenaer Philosophen unter Bildung die Verwirklichung von Humanität. Aber es genügte nicht mehr, gegen die „Mechanik“ äußerlichen Wissens auf einen natürlich verlaufenden Bildungsprozeß zu setzen. Bildung wurde jetzt aufgeladen mit der Assoziation einer unvermeidlichen und jedermann zuzumutenden Anstrengung, mit der Erwartung an jeden einzelnen, in eine Auseinandersetzung einzutreten, in der das, was ein humanes, ein freies und erfülltes Leben sein soll, allererst erobert werden muß. Vor diesem Hintergrund erscheint Herders Konzept nachträglich wie eine „Bildungsidylle“, aus der Fichte und Hegel die Menschen im Namen der Freiheit vertrieben. Nicht zu übersehen ist dabei, daß Fichte und Hegel nüchterner als Herder dem Umstand Rechnung trugen, daß moderne Gesellschaften kein naturwüchsig harmonischer Zustand, sondern das Resultat einer politischen Arbeit sind. Da gibt es beispielsweise das Erfordernis der Arbeitsteilung in je spezialisierten Berufen, über das Fichte bezeichnenderweise im Jahr 1794 in seiner Antrittsvorlesung nachdachte. Soll diese Spezialisierung nicht Ergebnis einer zwangsweise verordneten Zuweisung sein, sondern auf freier Berufswahl beruhen, dann ist die Bildung zur Freiheit eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß eine solche Wahl überhaupt begründet getroffen werden kann. Das wiederum setzt voraus, wie Fichte seinen mehr als fünfhundert Hörern einschärfte, daß jeder bereit sein muß, nicht nur das anderen mitzuteilen, was er seinen jeweiligen Anlagen und Fähigkeiten gemäß kann, sondern ebenso das von andern „empfangen“ zu wollen, was er von Hause aus nicht kann. Bildung ist demnach ein anspruchsvoller Sozialisierungsprozeß durch wechselseitigen Austausch. Im Ergebnis soll sie diejenige freie „Gleichheit“ erzeugen, die zur Basis einer freien Entscheidung für etwas Bestimmtes taugt; einer Entscheidung, so fügte Fichte hinzu, von der sich die Gesellschaft dann allerdings mit Recht einen Nutzen erwarten darf. Das sind, kurz nach der Französischen Revolution, für die feudale Ständegesellschaft in Deutschland revolutionäre Ansichten, die sich hier an einen umfassenden Bildungsbegriff knüpfen. Hegel ging auf diesem Weg noch weiter. Es genügt nicht, so hielt er in seiner „Phänomenologie des Geistes“ fest, das „Dafürhalten aus Autorität in Dafürhalten aus eigener Überzeugung“ zu verkehren. Denn ob die eigenen Überzeugungen wahr sind, ist durch die Abkehr von äußerlichen Dekreten nicht zwangsläufig garantiert. Wie bei Fichte wird der Begriff der Bildung emphatisch aufgeladen, und das in einer Zeit, in der die reale oder mögliche Ablösung der Aristokratie durch das Bürgertum zu Bewußtsein kommt. Nun muß darüber nachgedacht werden, unter welchen Umständen die Äußerung eigener Meinungen nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalt nach „frei“ genannt zu werden verdient. Die spätere Rede vom sogenannten „Bildungsbürgertum“ hat einen betont negativen Klang. Bildungsbürger werden seit Friedrich Nietzsches Rede vom „Bildungsphilister“ verbunden mit den Ausgaben der „Klassiker“ in ihrem Bücherschrank. Die Verklammerung von Bildung und bürgerlichem Selbstbewußtsein meint, wie bei Hegel zu sehen, das Gegenteil davon. Bildung ist der Weg zur politischen Partizipation. Deshalb ist sie im buchstäblichen Sinne Arbeit des Bewußtseins an sich selbst, und deshalb verlangt sie den Prozeß einer anhaltenden Erfahrung, die den einzelnen zwingt, aus dem, was ihm vertraut und sicher scheint, herauszutreten und sich dem Horizont ungewohnter Perspektiven und Erwartungen auszusetzen. Hegel geht sogar so weit, daß er die „Bildung und ihr Reich der Wirklichkeit“ als die „Welt des sich entfremdenden Geistes“ charakterisiert. Entfremdung: Auch für Hegel ist das etwas Negatives, etwas, das eigentlich nicht sein soll. Jedoch ist er ebenso fest davon überzeugt, daß wir nur durch die negative Erfahrung von Entfremdung, von Entäußerung hindurch begreifen lernen, was der Unterschied zwischen Freiheit und Beliebigkeit ist. Die Anstrengung selbständigen Denkens Damit mag deutlich geworden sein, welches Potential im Begriff der Bildung steckt: ein Potential, das nichts mit der technischen Hinsicht auf Nutzenmaximierung zu tun hat, als Zweck in sich selbst verstanden aber sehr wohl auf die Praxis in einem umfassenden Sinn zielt. Das verknüpft die Jenaer Begebenheiten mit der gegenwärtigen Diskussion über die Studienreform. Um dieses Thema ging es damals nämlich auch. Denn unter dem neuen Bildungsbegriff konnte das Universitätssystem nicht bleiben, wie es war. Wer Bildung als Bildung zur Freiheit verstand, konnte die Studenten unmöglich dazu bringen wollen, ein vorgeschriebenes Tableau von Materien lediglich zur Kenntnis zu nehmen, ohne die eigene Urteilskraft an ihnen zu schärfen und dann zwangsläufig in die Gefahr bloßen Auswendiglernens zu geraten; und er konnte selbst unmöglich das Interesse haben, ein eingeführtes Lehrbuch in die Hand zu nehmen und aus diesem Buch buchstäblich vorzulesen und das Gelesene mit einigen Hinweisen zu kommentieren. Das aber war bis um 1800 die gängige Unterrichtspraxis an den Universitäten. Man muß wissen, daß noch Immanuel Kant seine Vorlesungen in Königsberg auf diese Weise bestritt, um ermessen zu können, welche universitäre Revolution in Jena inszeniert wurde. Fichte las nicht aus einem Lehrbuch vor, sondern entwickelte vor seinen Zuhörern eigene Gedanken, die er anschließend Bogen für Bogen in den Druck gab. Er hat es förmlich gehaßt, wenn die schulmäßige Erwartung an ihn herangetragen wurde, er solle in immer gleichen Begriffen reden, damit man die Terminologie besser behalten könne. Fichte wollte Studierende bilden, die selbständig und kritisch denken. Deshalb hat er bewußt seinen Begriffsgebrauch variiert. Er wollte vermeiden, daß ein Gedanke nicht selber durchdacht, sondern nur repetiert wird wie etwas, das für die nächste Prüfung lästigerweise präsent sein muß. Diese universitäre Revolution im Zeichen einer auch insofern nicht bequemen, sondern anstrengenden Bildung zur Freiheit hatte gewaltige Folgen. Denn aufgrund seiner Erfahrungen in Jena hat Wilhelm von Humboldt wenig später in Berlin die berühmte „Humboldtsche Universitätsreform“ ins Werk gesetzt. Anstatt vorzeitig nach anwendungsorientiertem Nutzen oder – wie in der Schule – nach „fertigen Kenntnissen“ zu schielen, sollten sich Lehrende und Studierende gemeinsam einer nie vollendeten Wissenschaft verschreiben. Mehr, so Humboldt, bedarf es nicht, womit er zugleich die Warnung verband, in diese gemeinsame, um ein Sachinteresse zentrierte Tätigkeit des Forschens, Lehrens und Studierens nur nicht hindernd einzugreifen. Um einen Elfenbeinturm reiner Wissenschaft, die sich von allen Erfordernissen des Lebens entfernt, ging es dabei keineswegs. Gerade weil es dem Staat wie der Menschheit nicht „um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln zu thun“ ist, ist diesem Ziel Humboldt zufolge am besten gedient, wenn Universitäten der Ort sind, an dem die Anstrengung freien und selbständigen Denkens gründlich geübt werden darf. Nicht zuletzt die heutigen amerikanischen Eliteuniversitäten lassen sich von diesen Gedanken leiten. * Die Verfasserin lehrt Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Luigi Veronesi: Erik Satie – Gnossienne n.2, 5. 1974-1994 © Courtesy Archivio Veronesi, Mailand 2003.