SENSAI in der japanischen Kultur und sein Bezug zur modernen Architektur Vortrag von Architekt Shozo BABA am 13. Jänner 2005 in der Wiener Planungswerkstatt SENSAI ist ein wichtiges Schlüsselwort um japanische Kultur zu verstehen. Übersetzungen in andere Sprachen geben die eigentliche Bedeutung nicht richtig wieder. Es gibt im Deutschen die Wörter „fein“, „zart“, „kultiviert“, „elegant“, „raffiniert“ usw., die der Bedeutung nahe kommen, dennoch glaube ich, dass es schwierig ist, allein vom Wort her verstehen zu wollen. Der Grund dafür ist eine tiefe Verwobenheit mit der traditionellen Kultur. Auch in anderen Ländern und Kulturen gibt es solche Beispiele. Ich werde diese Besonderheit aus der Sicht der architektonischen Kultur Japans besprechen, so dass Sie nachvollziehen können, was SENSAI bedeutet. In der Architektur zeigt sich das japanische SENSAI am besten am Beispiel der Kaiservilla Katsura-Rikyu. Die Kaiservilla besteht aus drei schräg versetzten ShoinGebäuden, die zusammen mit dem Garten, in dem man zwischen Teichen und Quellen spazieren kann, eine Einheit bilden. Baubeginn war ca. 1620, zwei Generationen haben in ca. 50 Jahren durch Zu- und Umbauten die heutige Form geschaffen. Die Fußböden sind erhöht, die Struktur - bestehend aus Holzpfeilern, Balken usw. - ist äußerst verfeinert. Dem schließen sich SHOJI (japanische Papierschiebetüren) weiße Wände und ein Schindeldach an, die Proportionen sind sehr fein. Bruno Taut, der 1933 Japan bereiste, lobte diese einfache Schönheit über alle Maße und erklärte, dass sie das Ziel moderner Architektur sein müsse. Sicherlich verkörpert die Kaiservilla Katsura-Rikyu eine einfache Schönheit und verfügt über ideale Proportionen, wie es die moderne Architektur forderte. Das alleine ist es aber nicht. Von weitem stechen nur die klaren Proportionen hervor, tritt man näher, erkennt man auch das feine harmonische Zusammenspiel der Materialien. Die Holzpfeiler sind schlank, für sie wurde Holz mit gerade nach oben strebender Maserung gewählt. Es ist das die beste Holzqualität in Japan. Auch die Holzwände und großen Veranden im Innenbereich sind von schöner Maserung. Jedes Material ist sorgfältig ausgewählt. Das Papier der SHOJI -Schiebetüren wird aus dem KOZOBaum (Papiermaulbeerbaum) gewonnen. Durch die Platzierung weit hinter dem Dachvorsprung entsteht eine feine weiche Tönung, die nicht einfach nur weiß ist. An den weißen verputzten Wänden lassen sich die Handgriffe der Maurer noch erahnen. Sie sind auch weiß, aber nicht im gleichen Ton wie die SHOJI. Die TATAMI-Matten sind nicht einfach nur ein ebener Fußboden, das weiche Material des Strohs und die Einfassungen aus Stoff vermitteln sowohl optisch als auch bei Berührung ein weiches Gefühl. Das weite mit Schindeln gedeckte Vordach bildet durch die übereinandergelegten kleinen Holzteile einen leichten Bogen. Diese spannungsgeladene Balance des Ganzen ist SENSAI. Die natürlichen Materialien sind nicht des Dekors wegen ausgewählt. Die Kunst, sich geschickt die Charaktereigenschaften der Natur zunutze zu machen, schafft eine auf den Menschen beruhigende und unterhaltende Wirkung. Alle Materialien sind sehr heikel, deshalb können sie bei Unvorsichtigkeit leicht beschädigt werden. Ist beispielsweise eine Papiertüre der Kaiservilla beschädigt, so muss das Papier aller Türen im gesamten Bauwerk ausgetauscht werden. Die Architektur ist SENSAI, deshalb muss auch der Umgang mit ihr SENSAI sein. Das ist eine Besonderheit der japanischen Architekturkultur. SENSAI beschränkt sich bei der Kaiservilla Katsura-Rikyu aber nicht nur auf die Architektur. Auch in der Gartenanlage ist SENSAI ausgedrückt. Geht man vom Eingang auf das Gebäude zu, findet man beim Spaziergang durch den Garten allerorts feine Aufmerksamkeiten. Die Steine des Weges sind an manchen Stellen eng gelegt, an anderen nach Zufallsprinzip, immer an den Spaziergang und die betreffende Situation angepasst. Die Höhe der Bäume, die Position der Steine, die Aussichten auf Teich und Gebäude können als perfekte optische Komposition bezeichnet werden. Wenn man schnell über die Wege läuft, gibt es Stellen, an denen man aufgrund der Art, wie die Steine verlegt sind, förmlich hängen bleibt. Unbewusst wird man zum Stehen bleiben angehalten, um auf einen wunderbar komponierten Ausblick aufmerksam zu werden. Das Hauptgebäude und die Pavillons sind im Garten so arrangiert, dass sich effektvolle Bilder ergeben. Es ist alles peinlichst genau konstruiert. Man kann sagen, die Kaiservilla Katsura-Rikyu verkörpert die Essenz des japanischen SENSAI. Nicht nur die Kaiservilla selbst, auch das Teehaus und der Teegarten zeigen Entfaltungen von SENSAI. Das Teehaus ist klein, nur etwa 5m² groß. Es war früher verboten, das Teehaus mit einem Schwert zu betreten. In einem Teehaus waren alle Klassen- und Rangunterschiede aufgehoben. Den Eingang nennt man NIJIRIGUCHI, er ist niedrig und eng, nur 65cm hoch und 60cm breit. Beim Eintritt muss man den Kopf senken. Dadurch wird man aufgefordert, das Teehaus mit Demut zu betreten. Die Wände sind aus dünnem Lehm. Im TOKONOMA, einer erkerähnlichen Wandaussparung, hängt ein KAKEJIKU, ein Rollbild, über einem Blumenarrangement. Alles ist sehr einfach, aber von unfehlbarer Schönheit. Außerhalb des Teehauses liegt in etwas Entfernung ein kleiner Stein mit einem Seil, KEKKAI genannt. Hier wird angezeigt, dass man sich mit dem Eintritt ins Teehaus in eine andere Welt begibt. Alles, was man hier sieht oder hört, muss diskret behandelt werden. Solche Rahmenbedingungen zeichnen die Kultur der japanischen Teezeremonie und des Gebäudes, in dem sie stattfindet, aus. Von den physikalischen Gegebenheiten bis zu den Regeln zwischenmenschlichen Zusammenseins – alles in der japanischen Kultur ist SENSAI. Auch KADO (die Kunst des Blumenarrangements) verkörpert SENSAI, auch wenn das nicht direkt mit Architektur zu tun hat. Es sind nicht nur einfach Arrangements, die nach einer gewissen Vorstellung gesteckt werden. Der Dialog mit den Blumen ist wichtig. Besonders geschätzt wird das spontane Arrangement, das von Gestalt und Farbgebung der Blumen abhängt. Bei Blumenarrangements im TOKONOMA entsteht eine Gesamtkomposition, bei der das Rollbild, der gesamte Raum, die jeweilige Jahreszeit usw. berücksichtigt werden. Es kann auch vorkommen, dass nur eine einzige Blume arrangiert wird. Ein klares und verfeinertes Gefühl für SENSAI ist dazu notwendig. All das entstand und reifte in Japan in langer Tradition, unterstützt von einer hochentwickelten Handwerkskunst, die imstande ist, kleine Feinheiten präzise umzusetzen. Das ist das Erbgut, das Gen, die DNS der Japaner, die seit Generationen weitergegeben wird. Ein Grund, warum sich diese so einzigartige Kultur entwickeln konnte, ist, dass Japan als Inselland lange Zeit als homogenes Volk leben konnte. Es gab keine schwerwiegenden Konfrontationen mit anderen Völkern, statt dessen konnte eine Kultur entstehen, die in einem friedlichen Umfeld Wert auf gesellschaftliche Beziehungen und Klassenunterschiede legte. Wie sieht nun dieses SENSAI in der gegenwärtigen Architektur aus? Nach der Meiji-Restauration 1868 wurde Japan dynamisch modernisiert. Auch im Bereich der Architektur hat man alle Kräfte aufgewendet, um europäische Baustile und Stein-, Stahl- und Betonbautechniken zu erlernen. Es sieht so aus, als wäre SENSAI während dieses Prozesses in Vergessenheit geraten. Aber das stimmt nicht. Man gestaltete vor allem öffentliche Gebäude nach westlichen Richtlinien. Die Architekturausbildung jener Zeit ignorierte die japanische Holzbauweise, man strebte danach, westliche Baustile und ihre Techniken zu erlernen. Im Gegensatz dazu fand aber das private Leben hauptsächlich in japanischen Gebäuden statt. Auch die Handwerkstechniken überlebten in diesem privaten Umfeld. Etwa 100 Jahre lang arbeiteten japanische Architekten mit diesem doppelten Standard. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 entwickelte sich die Modernisierung und Verwestlichung der privaten Architektur mit einem Schlag. Noch erhaltene japanische Häuser wurden unter Verwendung von Beton umgebaut, auch Holzgebäude westlich beeinflusst. Das war unter anderem durch die starke Zunahme von großen Wohnhausanlagen bedingt. Damals verlor SENSAI als wichtiges Element an Bedeutung und verschwand beinahe völlig. Das größte Problem war, dass damit auch das traditionelle Handwerk, die Stütze des SENSAI, verschwand. Die Verbindungen von Holzpfeiler und Balken sehen sehr einfach aus, sind aber im Detail technisch sehr präzise und kompliziert ausgeführt. Sie garantierten Erdbebensicherheit. Die RANMA (Oberlichten über den Schiebetüren) und vieles andere entstand ebenfalls durch feine Bearbeitung. Durch Übereinanderlegen verschiedener Farbschichten (untere, mittlere, obere Schichten) entstand eine spezielle Atmosphäre gestrichener Wände. Diese Techniken des SENSAI hatten im modernen Rationalismus keinen Platz. Man schätzte standardisierte Techniken, in denen einfache industrielle Teile aneinandergefügt wurden. SENSAI ging verloren. Allerdings lassen sich Gene nicht so einfach auslöschen. Der erste Sturm der Moderne verwehte, und als moderne Bauweise zum Standard wurde, kam das Gefühl auf, dass in einer Architektur, die nur aus rationellem Design und Technik besteht, etwas fehlt. Man bejahte zwar die Methode, dynamische Formen und industrielle Waren zusammenzusetzen, es wurde aber wieder der Ruf nach traditionellen Werten, nach SENSAI laut. Man forderte nicht die Wiederkehr traditioneller Architektur in ihrer früheren Form, sondern wollte traditionelle Werte und SENSAI im Rahmen zeitgenössischer Architektur wiederbeleben. Vielleicht ist das so nicht ganz richtig ausgedrückt. Man darf nicht vergessen, dass die Gene in vielen bedeutenden Architekten unbewusst arbeiteten, wenn sie moderne Architektur entwarfen – sie haben von ihrem SENSAI-Gefühl Gebrauch gemacht, wenn es um Größenverhältnisse, Proportionen und die Wahl von Materialien ging. Richtig ist also, dass das Gefühl von SENSAI unbewusst weitervererbt wurde und jetzt nach einiger Zeit wieder bewusst aktiviert wurde. Die Gesellschaft forderte SENSAI ein und die Architektur entwickelte sich den Anforderungen der Gesellschaft entsprechend. Es wäre also vielmehr richtig zu sagen, dass der Zeitgeist der Architekten diese latente Forderung antizipiert hat. Ein Grund für die gegenwärtig internationale Anerkennung japanischer Architektur ist, dass unbewusst die Werte des SENSAI geschätzt werden. Auch für die 10 Architekten dieser Ausstellung ist SENSAI ein Schlüsselwort, ist Teil ihrer Architektur. SENSAI in der heutigen Architektur ist nicht ident mit dem SENSAI in der traditionellen Architektur. Die Besonderheiten zeigen sich aber bei den Proportionen und den Anforderungen an das Material. Die Proportionen der Linien und Oberflächen sowie deren Beziehung zueinander sind wichtig. Bei den Linien sind Pfeiler und Balken als Strukturelemente - die Verkleidung der Türöffnungen usw. - möglichst schmal gehalten. Das Vordach ist möglichst dünn. Alles wird so zart gestaltet, dass die Funktion der Architektur gerade nicht beeinträchtigt wird. Das genaue Gegenteil von SENSAI ist YABO, was soviel bedeutet wie dick, solide und primitiv. Bei den Oberflächen sind die Wände so gestaltet, dass Proportion und Größe auf die funktionalen Anforderungen abgestimmt sind. Selbstverständlich ist auch hier die Beziehung zum Material und zu den Türöffnungen wichtig. Bei japanischen Bildern schätzt man die ausgesparte Fläche, die Schönheit des Nichts. Auch bei architektonischen Flächen scheut man die Leere nicht. Man erfreut sich vielmehr daran. Es wird als YABO angesehen, wenn leere Flächen hinter Schmuck und Verzierungen versteckt werden. Nicht zuviel sprechen, Understatement, auch das ist SENSAI. Was die Beziehung zweier Oberflächen zueinander betrifft, wird dem Niveauunterschied, der in der traditionellen japanischen Architektur CHIRI genannt wird, viel Sorgfalt und Aufmerksamkeit gewidmet. Ist CHIRI zu gering, wird der Niveauunterschied flach und ausdruckslos. Ist CHIRI zu groß, wirkt er primitiv (YABO). Das rechte Maß liegt dazwischen. Japanische Architekten sind bemüht, im Millimeterbereich das rechte Maß zu finden. Dies ist ein grundlegendes Element in der japanischen Architektur und findet sich auch in der zeitgenössischen Architektur. Weiters spielt die Wahl des Materials eine große Rolle. Das Material sollte Rohmaterial sein. Zu den traditionellen Materialien Holz, Papier, Stoff, Lehm, Stein, Ziegel, Fliesen etc. kommen nun auch Eisen, Glas, Beton, Aluminium, Titan usw. Das Besondere an diesen Materialien ist, dass ihre Beschaffenheit an der Oberfläche sichtbar ist. Anstriche und Bemalungen werden – außer an bestimmten Stellen - als unschön empfunden. Man kann bei Anstrichen zwar Farben frei wählen um einen gewissen Ausdruck zu erzielen, die Materialbeschaffenheit ist dann aber nicht mehr sichtbar. Etwas, das von ferne schön aussieht, aber bei näherer Betrachtung oder bei Berührung nicht die feinen Nuancen des Materials spüren lässt, ist nicht wünschenswert. Petrochemische Produkte sind hier Grenzfälle. Auf jeden Fall werden Materialien ohne eigenen Charakter als unschön empfunden. In letzter Zeit gibt es viele Produkte, die den Charakter von anderen Materialien imitieren, zum Beispiel Holz- oder Steinimitate. Bei Berührung erkennt man aber den Unterschied, die Oberflächenbeschaffenheit ist anders als die des vorgetäuschte Materials. Das ist irritierend. Chemische Materialien, die kein anderes Material zu imitieren versuchen, zum Beispiel Polikarbonatplatten, sind allerdings als neue Materialien willkommen. Unverputzter Beton ist bereits als SENSAI-Material anerkannt. Beton drückt nicht nur Stärke aus, sondern kann auch sehr fein sein. Auch Stahl repräsentiert innere Stärke, kann aber durch Auftragen einer feuerfesten Schicht oder je nach Verwendung sehr schnell primitiv wirken. Bei den verputzten Wänden spielt eine wichtige Rolle, welche Oberflächenbeschaffenheit durch die spezielle Mischung des Materials und durch das Auftragen entsteht. Außenwände sind eher grob gehalten, Innenwände feiner. Was Aluminium betrifft, so sind feine Unebenheiten beliebter als glatte Flächen, da bei Lichteinfall besondere optische Effekte entstehen. Sowohl im Außenbereich als auch im Innenbereich wird auf Proportionen und Material größter Wert gelegt. Am wichtigsten aber ist das Zusammenleben mit der Architektur. SENSAI bedeutet auch, dass Architektur mehr ist als nur die Technik ein schönes Gebäude zu bauen, Architektur wird verstanden als Umfeld, in dem der Mensch lebt, sie soll für den Menschen angenehm sein, ihn erfreuen. In unserer Welt zählt viel zu sehr der Materialismus, es ist wieder Zeit für menschengerechte Architektur. Das der japanischen Kultur innewohnende SENSAI entwickelte sich in einer Zeit, als die Verfeinerung des inneren Ausdruckes wichtiger war als technischer Fortschritt. Man kann feststellen, dass die Wichtigkeit von SENSAI in direktem Verhältnis mit der Reife einer Gesellschaft wächst. Diese Ausstellung versucht nun, diese Besonderheiten in der zeitgenössischen Architektur zu finden. Die Ausstellung ist mit KAKEJIKU (japanischen Rollbildern) gestaltet – ebenfalls Ausdruck von SENSAI. Japanische Bilder werden in solchen KAKEJIKU aufgehängt. Es wird nicht der Größe des Bildes entsprechend ein Rahmen angefertigt, sondern man gibt ein Bild in einen bereits bestehenden Rahmen, dessen Größe festgelegt ist. Man meint, gerade in diesem begrenzten Rahmen kann künstlerische Freiheit unbegrenzt ausgelebt werden. Das zeitgenössische SENSAI soll bei dieser Ausstellung durch die Präsentation mit KAKEJIKU ausgedrückt werden. In heutiger Zeit wird international reger Kulturaustausch betrieben. Lokale Traditionen und Kulturen sind von großer Bedeutung und ihr Austausch gibt uns neue Nahrung, um die eigene Kultur zu bereichern. Es wäre schön, wenn ich Ihnen SENSAI, dieses Gefühl, das in einem friedlichen Zeitalter gereift ist, näher bringen und mit diesem Vortrag einen Beitrag zum Verständnis für eine fremde Kultur leisten konnte.