Menschenrechte und kulturelle Identität - Ruhr

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Menschenrechte und kulturelle Identität
Die Geschichtsphilosophie, auch wenn sie im akademischen Sinne eine
eher marginale Disziplin sein mag, erweist sich nach dem Ende des
Kalten Krieges wieder einmal als der unentbehrliche Schauplatz, auf dem
die Hypothesen geboren werden, die unsere langfristige weltpolitische
Orientierung vorzeichnen. Sowohl Francis Fukuyamas Anleihe bei
Hegels Begriff vom „Ende der Geschichte“1 als auch Samuel
Huntingtons Perspektive des „Zusammenpralls der Kulturen“2 sind ja
Wiederaufnahmen klassischer geschichtsphilosophischer Entwürfe zum
Zweck der politischen Umsetzung kultureller Selbstreflexion. Ist die
„westliche“ Kultur eine unter mehreren und hat sie darum die
Rückbesinnung auf ihre spezifische Eigenart nötig, um sich für die
bevorstehenden Auseinandersetzungen mit den anderen Kulturen zu
rüsten? Oder sind die Lebensformen, die wir heute noch als die
„westlichen“
bezeichnen,
der
Grundinhalt
eines
Modernisierungsprozesses, auf den der ganze Erdball einzuschwenken
im Begriff oder zumindest willens ist, so daß, wer sich ihm
entgegenstellt, im Grunde den Gang der Geschichte aufhalten will? Mit
diesen
beiden
Polen
der
Selbstinterpretation
unseres
Geschichtsverständnisses sind auch die beiden extremen Perspektiven
entworfen, unter denen man den Menschenrechtsgedanken sehen kann:
Die Menschenrechte als Erzeugnis der „westlichen“ Kultur, also im Grunde
nur in ihrem Kontext verständliche und auf ihr „individualistisches“
Menschenbild angewiesene partikuläre Vorstellung vom richtigen
Zusammenleben oder aber als Horizont der weltweiten, im Grunde von allen
Erdenbürgern gewünschten Bändigung politischer Macht durch das
autonome Individuum.
Die Wirklichkeit dürfte zwischen diesen beiden extremen
Interpretationen liegen, aber sie wird durch sie und ihre Wirkung auf
unser Bewußtsein beeinflußt und womöglich mit entschieden werden.
1
F. Fukuyama: The End of History? In: The National Interest 16, Sommer 1989, 3-18;
unter Wegfall des Fragezeichens ausgearbeitet in Francis Fukuyama: Das Ende der
Geschichte. Wo stehen wir? München 1992. Vgl. G. W. F. Hegel: Die Vernunft in der
Geschichte, ed. Hoffmeister, Hamburg 19555, 243: „Die Weltgeschichte geht von Osten
nach Westen; denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte.“
2
S. Huntington: The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs 72, 1993, 22-49;
ebenfalls unter Wegfall des Fragezeichens ausgearbeitet in ders.: Der Kampf der
Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1996.
163
Einerseits bekennen sich fast alle Staaten der Welt zu den
Menschenrechten als Grundlage ihrer Verfassung und bietet die
Bezugnahme auf die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ von
1948 ein entscheidendes Hilfsmittel der Austragung ideologischer
Streitigkeiten;3 andererseits nehmen wir durchaus Konflikte wahr, die auf
eine Einschränkung oder mögliche Infragestellung der politischen
Grundbedeutung des Menschenrechtsgedankens schließen lassen können.
Der Streit um den „Schador“, die traditionelle Kopfbedeckung, die eine
Schülerin als Ausdruck ihrer religiösen und kulturellen Identität, ihre
Lehrerin jedoch als Symbol der Mißachtung der Rechte der Frau
empfand, ist ein inzwischen vielfach aufgetretenes Beispiel dafür. Ein
anderes bietet die Prügelstrafe, zu der ein junger Amerikaner in Singapur
– notabene aufgrund eines der englischen Kolonialherrschaft
entstammenden Gesetzes – verurteilt wurde und die in der
amerikanischen Öffentlichkeit auf schärfste Kritik und geradezu auf
Verachtung des kulturellen Niveaus stieße, auf das man sie zurückführte.
Und daß es im Spannungsfeld zwischen Rechtsschutz der Person und der
Achtung kultureller Identität nicht nur um die Bedürfnisse von
Minderheiten geht, zeigte der Fall des „Kruzifix-Urteils“, mit dem das
deutsche Bundesverfassungsgericht den Anspruch auf negative
Religionsfreiheit über eine Praxis der Gestaltung öffentlicher Räume
stellte, für welche sich die bayerische Regierung nicht etwa auf religiöse,
sondern auf die Prinzipien kultureller Identität gestützt hatte.
Philosophisch kann man zur Lösung solcher Konflikte sicher kein
Patentrezept entwerfen, aber zumindest zur Klärung der Frage
beizutragen versuchen, auf welcher Ebene überhaupt diskutiert werden
muß, wenn man ihrer Lösung oder wenigstens ihrer interkulturell
vermittelbaren Behandlung näherkommen will. Es geht also darum, sich
auf die Eigenart der hierzu in Betracht kommenden Diskursformen zu
besinnen. Unerläßlich bleibt die kultur- und geistesgeschichtliche
Betrachtungsweise, die das Verständnis vom Menschen, vom Verhältnis
von Individuum und Gemeinschaft und von den Fundamenten der
Rechtsordnung in den je verschiedenen Kulturkreisen vergleichend
analysiert und aufgrund dessen die Ursachen ideologischer und
philosophischer Streitigkeiten freizulegen versucht. Wo es um die
3
Vgl. dazu H. von Senger: Der Menschenrechtsgedanke im Lichte chinesischer Werte,
in: W. Schweidler (Hrsg.): Menschenrechte und Gemeinsinn – westlicher und östlicher
Weg? Sankt Augustin 1998, 267-293.
164
Menschenrechte im konkreten Sinne geht, muß aber der politische
Diskurs auch ganz direkt zum Medium der darstellenden Austragung des
Konflikts werden, muß man also versuchen, den politischen Gehalt jener
Antithesen – ob in grundsätzlicher Sympathie oder kritischer Distanz –
nachzuvollziehen, mit denen „östliches“ sich als Alternative eigenen
Rechts dem „westlichen“ Menschenrechtsverständnis entgegen- oder
gegenüberstellt. Zumindest bedacht werden müssen freilich auch
Diskursformen, die zu diesen eher herkömmlichen Betrachtungsweisen
bis zu einem gewissen Grad querstehen, so etwa die emanzipatorischfeministische Rekonstruktion der Menschenrechte als Medium der
Transformation der Bürgergesellschaft zum Zustand realer
Gleichberechtigung der Geschlechter4; vor allem aber auch der
ökonomische Diskurs, der auf der Basis einer funktionalistischen
Interpretation der Menschenrechte die fundamentale Basis
interkultureller Verständigung im koordinierten Streben nach
ökonomischem Vorteil und sozialer Modernisierung sieht und sich
Rationalität im Grunde nur als Nutzenkalkül vorstellen kann, der freilich
nicht unbedingt individualistisch gefaßt werden muß, sondern gegenüber
kulturell variablen Interpretationen des jeweiligen ökonomischen
Subjekts unter Umständen offen bleiben kann.5
In diesem Beitrag soll als Ausgangspunkt unserer Überlegungen zunächst
die Frage nach dem rechtlichen Diskurs als Austragungsort der
genannten Spannung gestellt werden. Wir versuchen also, das Problem
der Vereinbarung von Menschenrechten und kultureller Identität als
Angelegenheit des juristischen Diskurses und seiner Grenzen zu
begreifen. Gezeigt werden soll, daß auf dieser Ebene das Problem nicht
befriedigend zu bewältigen ist. „Kulturelle Identität“ läßt sich nicht
einfach als eines der „Menschenrechte“ begreifen und etwa in Form von
4
Vgl. dazu E. Mack: Sind Frauenrechte Menschenrechte? Ihre Bedeutung in einem
interkulturellen Dialog, in: W. Schweidler (Hrsg.): Menschenrechte und Gemeinsinn,
a.a.O., 47-64.
5
Dieser Ansatz wird skizziert von B. Hirsch: Menschenrechte aus ökonomischrationalem Interesse. Eine Rekonstruktion am Beispiel China, in: W. Schweidler:
Menschenrechte und Gemeinsinn, a.a.O., S. 65-88; vgl. zu dem genannten Verhältnis
zwischen individueller und kollektiver Interpretation des Rationalitätskalküls den
Begriff der „kollektiven Selbstverpflichtung“ bei K. Homann: Rationalität und
Demokratie, Tübingen 1988, 281 ff. und zu den gerade auch in diesen Ansatz durch den
Begriff des „Fortschritts“ eingesenkten massiven geschichtsphilosophischen
Voraussetzungen den Rückgriff auf Popper bei K. Homann: Die Interdependenz von
Zielen und Mitteln, Tübingen 1980, 171 ff., 183 f., 279.
165
Grundrechten positivieren, einklagen und gegen andere Rechtsgüter zur
Abwägung bringen. Versucht man dies, so erreicht man entweder zu
wenig, d.h. man formuliert Ansprüche, die bereits rechtlich konkretisiert
sind, oder zu viel, d.h. man relativiert dadurch genau die juristischstaatsrechtliche Grundlage, auf deren Basis man sich zu stellen glaubt.
Der Begriff der kulturellen Identität weist über die Grenzen des
rechtlichen Diskurses hinaus auf Formen des Denkens und Sprechens, in
denen der verantwortliche Umgang mit diesen Grenzen als indirekte, aus
ihm ausgeschlossene und trotzdem für ihn konstitutive Grundlage des
rechtlichen Diskurses selbst in Erinnerung gehalten werden muß.
Warum also läßt sich „kulturelle Identität“ nicht einfach als
Menschenrecht, also als personaler Rechtsanspruch begreifen, der vom
Staat den Bürger oder möglicherweise ganzen Gruppen seiner Bürger zu
gewährleisten ist und gegen andere Menschenrechte jeweils abgewogen
und im Kontext mit ihnen konkretisiert werden muß? Die Antwort kann
sich nur aus der Analyse des Ortes ergeben, der innerhalb des
Gesamtkontextes des rechtlichen Diskurses dem Menschenrechtsbegriff
zukommt.
Worin besteht die Eigenart des rechtlichen Diskurses? Den für unseren
Zusammenhang entscheidenden Gesichtspunkt hat Kant in der Einleitung
zur Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten“6 hervorgehoben, indem er
den rechtlichen Zwang als „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit
nach allgemeinen Gesetzen“ definiert: Der rechtliche Diskurs ist
wesentlich als Negation einer Negation strukturiert. Er findet statt, wo
Beziehungen gestört sind, die durch die mit ihm verwobenen
Institutionen wieder in Ordnung bzw. zur Geltung gebracht werden
sollen. Daß solche Beziehungen bestehen, setzt Kant voraus, wenn er den
Zustand, in dem die Freiheit nach allgemeinen Gesetzen organisiert ist,
den „bürgerlichen Zustand“7 nennt, „in welcher jedem das Seine erhalten
werden kann“8. Diesen Zustand einzugehen und in ihm zu verbleiben ist
uns nach Kant durch ein nicht weiter ableitbares „Postulat der Vernunft“ 9
aufgegeben. Diese Begründung soll in unserem Zusammenhang nicht
6
I. Kant: Die Metaphysik der Sitten, in: Werke in 6 Bänden, Bd. IV, Darmstadt 1983, AB 35.
Ebd., § 8, vgl. § 15 (die „bürgerliche Verfassung“).
8
Ebd., Einteilung, AB 43 f.
9
Vgl. ebd., AB 28 f.
7
166
weiter diskutiert werden.10 Die auf ihr beruhende Analyse aber kann den
Ausgangspunkt für unsere Erörterung bilden. Das Recht im Sinne der
gesetzlichen Ordnung eines souveränen Staates ist im Wesen ein System
der Verhinderung von Eingriffen in Beziehungsverhältnisse, aufgrund
derer Menschen gegen ihre Mitbürger und in einem gewissen Maß gegen
alle Mitmenschen überhaupt etwas zusteht. Im Rechtsdiskurs setzt man
einen konkreten Adressaten, einen Anspruchsgegner voraus, in bezug auf
welchen gesetzlich geregelte Zwänge eingeklagt werden, und man
identifiziert diesen Gegner vermöge der Handlungen oder
Unterlassungen, durch die er die vom Gesetz zu schützenden bzw.
wiederherzustellenden Beziehungen gestört hat.
Das Gesetz konkretisiert sich also als Negation von Unrecht, nicht als
Schöpfung von Recht. Weniger als im Wortlaut drückt sich diese
Grundtatsache in der Struktur des Systems unserer Gesetze aus, die ihre
Logik aus den Formen möglichen Unrechts bezieht – und nicht etwa aus
einer vorgegebenen quasi-rechtlichen Ordnung, die durch das Gesetz
etwa in die gesellschaftliche Realität zu übersetzen wäre. Was beim
Strafrecht evident ist, gilt im Kern nicht weniger für das Bürgerliche
Recht: Es ist im Kern ein Katalog von Störungsbeseitigungen.
Unmöglichkeit, Verzug, Sachmangel, Schadensersatz, auch noch die
Formvorschriften des Sachen- oder Erbrechts sind Teile eines Systems
von Vorschriften, das relativ auf bestimmte geschichtlich konkretisierte
Typen von Konfliktsituationen bürgerlichen Zusammenlebens
Verletzungen verhindert, Störungen beseitigt, Verstöße gegen einen Sinn
sozialer Verhältnisse berichtigt, der seinerseits nur in Form von
Gesetzen, also in Form der Negation seiner Negation konkreten sozialen
Bestand gewinnt. Sogar das Familienrecht beginnt mit dem Satz: „Aus
einem Verlöbnisse kann nicht auf die Eingehung der Ehe geklagt
werden“ und: „Das Versprechen einer Strafe für den Fall, daß die
Eingehung der Ehe unterbleibt, ist nichtig.“11
Diese in sich negative Konstitution des Gesetzes ist gerade für
demokratisches Staatsverständnis von entscheidender Bedeutung. Daß
alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, besagt eben nicht, daß das Volk
zwischen Führern zu wählen hätte, die mit konkurrierenden
10
Vgl. dazu mein Buch: Geistesmacht und Menschenrecht. Der Universalanspruch der
Menschenrechte und das Problem der Ersten Philosophie, Freiburg i.Br./München 1994,
insbes. §§ 18 bis 21.
11
BGB § 1297.
167
Ordnungsentwürfen vor es hintreten, sondern daß es Regierende nur
einsetzt, um einen Entwurf zu schützen und zu verwalten, den es sich
selbst schon vorher und unabhängig von ihnen gegeben hat und der
zuletzt der Entwurf der Menschen ist, aus denen er besteht. Nur deshalb
geht es in der demokratischen Auseinandersetzung um den Erlaß neuer
Gesetze regelmäßig um die Frage, ob die bestehenden Gesetze nicht
schon „ausreichen“. Wenn der Gesetzgeber nicht zeigen kann, wo im
gesetzlichen Anspruchsgefüge der Bürger etwas in Unordnung ist, hat er
kein Recht, ein neues Gesetz zu erlassen.
Was folgt aus dieser strukturellen Ausgangsfeststellung der in sich
negativen Konstitution des bürgerlichen Gesetzes für die Frage nach
seiner legitimatorischen Basis? Es folgt daraus, daß man Recht nicht aus
Eigenschaften oder Strebungen des Menschen ableiten kann, sondern nur
aus menschlichen Verhältnissen und Beziehungen. Rechte beruhen daher
auch nicht auf Interessen; es ist gerade eine Hauptschwäche des Begriffs
„Interesse“, daß er die Differenzen zwischen faktischen und relationalen
Gegebenheiten verwischt.12 Gerade hier aber – und nicht zwischen
„Sein“ und „Sollen“ – verläuft die entscheidende Trennlinie. Man kann,
wie es etwa Alan Gewirth tut13, das Verhältnis gegenseitiger
Anerkennung, durch das ein Mensch überhaupt erst den Rechtsanspruch
eines anderen wahrnehmen kann, als den logischen Schritt von der
Tatsachen- zur Sollensaussage und insofern als die „Lösung des SeinsSollens-Problems“ betrachten. Aber man muß sich dann darüber im
Klaren sein, daß dieser Schritt wiederum in konkret existierenden
„seienden“ Institutionen real gegeben sein muß und nicht durch eine
abstrakte Theorie der gesellschaftlichen Realität quasi hinzugefügt
werden kann. Man könnte insofern auch umgekehrt sagen, daß die für
rechtliche Verhältnisse konstitutive intersubjektive Anerkennung gerade
darauf beruht, daß wir uns einen Diskurs geschaffen haben, in dem wir
bestimmte
Sollensanforderungen
zum
Bestandteil
unserer
Selbstbeschreibung – als „Personen“ oder eben Rechtssubjekte –
gemacht haben, wodurch wir die Unbegründbarkeit unseres
Selbstverständnisses aus gänzlich unrelationalen Fakten von vornherein
festgehalten und institutionalisiert haben. Nicht ob Rechte sich aus
12
Vgl. dazu D. Birnbacher: Sind wir für die Natur verantwortlich, in: ders. (Hrsg.):
Ökologie und Ethik, Stuttgart 1980, 103-139, insbes. 125 f.
13
A. Gewirth: The „Is-Ought“ Problem Resolved, in: ders.: Human Rights. Essays on
Justification and Applications, Chicago 1982, 100-127, insbes. 120.
168
„Seiendem“ ableiten lassen, sondern ob die relevanten Tatsachen
faktische Eigenschaften oder interpersonal konstituierte Relationen sind,
ist die Frage, auf die es für die philosophische Frage nach der
Begründung von menschlichem Recht letztlich ankommt.
Von der Feststellung faktischer Eigenschaften oder Interessen eines
isolierten Individuums zur Anerkennung von Rechten gibt es in der Tat
keine logische Brücke. Daraus, daß ich zwei Arme habe und sie behalten
möchte, folgt nicht, daß ich das Recht habe, sie zu behalten. Gegen
meine Eigenschaften kann nicht „verstoßen“, meine Interessen können
(wenn man die Sprache korrekt verwendet) nicht „verletzt“ werden. Nur
wenn zwischen mir und anderen Menschen ein Verhältnis besteht,
aufgrund dessen mein Bestreben, meine beiden Arme zu behalte, ihnen
als ein ihnen und mir gemeinsames, sie mit mir auf genuin menschliche
Weise verbindendes Bestreben wahrnehmbar wird, nur dann kann ihnen
auch die Anerkennung dieses Bestrebens als Implikation bestehender
Tatsachen wahrnehmbar werden. Gegen die Erhaltungsbedingungen
eines Verhältnisses, gegen die Existenzvoraussetzungen einer
gemeinsamen Beziehung kann zwischen Menschen sehr wohl
„verstoßen“ werden, und erst vor dem Hintergrund dieser Möglichkeit
bekommt die Forderung einen Sinn, daß die durch einen solchen Verstoß
hervorgerufenen Störungen zu verhindern oder wiedergutzumachen sind.
Natürlich folgt auch aus der bloßen Tatsache, daß ein Verhältnis existiert,
nicht, daß es weiter existieren solle. Aber „die Tatsache“, daß ein
Verhältnis existiert, ist nicht in der Weise gegeben, daß sie in einem
Augenblick vorhanden und im nächsten ausgelöscht sein könnte, wie
eine faktische Eigenschaft isolierter Individuen. Zwischenmenschliche
Verhältnisse von der Art, die zu schützen den Sinn des Rechts ausmacht,
existieren als Gefüge strukturell koordinierter Entscheidungen, durch
welche die Glieder dieser Verhältnisse, also die menschlichen Personen,
gezwungen werden, deren künftiges Bestehen als Implikation
augenblicklicher Entscheidungen anzuerkennen. Das Gesetz hat gerade
den Sinn, diese Implikation zu bewahren, so daß wir prinzipiell natürlich
frei sind, die zugrundeliegenden Verhältnisse als ganze zu zerstören,
jedoch dazu gezwungen werden, uns ihnen, wenn wir vor dieser
Gesamtkonsequenz zurückscheuen, ganz zu fügen. Die Entscheidung
selbst, durch welche dieses Gefüge insgesamt aufrechterhalten wird, sind
allerdings letztlich individuelle Akte autonomer Personen. Auch wenn
der Inhalt der für das Recht konstitutiven Verhältnisse interpersonal
konstituiert wird, so trägt die Verantwortung für die Aufrechterhaltung
169
dieser Verhältnisse letztlich immer der einzelne Mensch, und er als
personaler Rechtsträger ist die letzte Legitimationsquelle ihrer
gesetzlichen Aufrechterhaltung.
Daß es sich bei diesem augenblicksübergreifenden, institutionellen
Gefüge um eine genuin menschlichen Zusammenhang handelt, zeigt sich
letztlich daran, daß ich als Mensch gegen nichtmenschliche Wesen keine
Rechte habe. Ein Bär, der mir einen Arm abbeißt, verletzt nicht mein
Recht auf körperliche Unversehrtheit, auch wenn die Konsequenzen, die
sich daraus für meine Ausstattung mit individuellen Eigenschaften
ergeben, die gleichen sind wie wenn mir ein Mensch den Arm abschlägt.
Die Elster, die sich mit meinem Ring davonmacht, verletzt nicht mein
Eigentumsrecht. Tiere können die genuin menschliche Beziehung, die
wir mit unseren Gesetzen anerkennen und schützen, nicht stören, was
immer sie uns antun, während hingegen zwischen Menschen immer
anerkannt gewesen ist, daß ein bestimmtes Verhalten gegenüber Tieren
auch die Störung genuin menschlicher Rechtsbeziehungen bedeuten
kann. Es ist somit eine Grundeinsicht in die paradoxe Konstitution des
Menschseins, daß wir uns wesentlich aus der Verhinderung von
Störungen eines Beziehungsgefüges definieren, was gerade durch die
Möglichkeit seines Gestörtwerdens konstituiert ist, so daß wir wesentlich
durch eine Möglichkeit, die wir beständig zu verhindern suchen, die
Differenz zu allen natürlichen Wesen konstituieren, die nicht sind wie
wir.14
Ebensowenig wie die Rechte im allgemeinen sind nun aber die
Menschenrechte durch ein bestimmtes Ensemble von Eigenschaften oder
Interessen konstituiert. Ebenso wie die Rechte im allgemeinen erhalten
die Menschenrechte ihre Realität durch eine spezifische Beziehung und
deren mögliche Verletzung, also durch potentielles Unrecht. Man darf
also nicht meinen, es seien eine Anzahl besonders schützenswerter
Eigenschaften an uns, durch die im Unterschied zu weniger wichtigen
Eigenschaften die ganz besonders wichtigen Rechte definiert wären, die
wir „Menschenrechte“ nennen. Wieder kann die Verletzung ein und
desselben Schutzgutes eine Menschenrechtsverletzung sein oder nicht.
Wenn ein Verbrecher mich foltert, um mich zu zwingen, das Versteck
14
Vgl. hierzu die inhaltlich analogen Gedankenfiguren der konfuzianischen
Unterscheidung von Mensch und Tier bei H.-G. Möller: Die Präsenz des Menschen in
der antiken chinesischen Philosophie, in: W. Schweidler (Hrsg): Menschenrechte und
Gemeinsinn, a.a.O., 163-176.
170
meines Safeschlüssels preiszugeben, dann begeht er keine
„Menschenrechtsverletzung“, obwohl sich seine Tat äußerlich nicht von
der eines Polizisten unterscheiden mag, der mich foltert, um mich von
politischer Betätigung und freier Meinungsäußerung abzuhalten. Der Teil
des Rechtsdiskurses, innerhalb dessen der Menschenrechtsbegriff seine
Bedeutung erlangt und aus dem er nicht ohne irreführende Konsequenzen
herausgelöst werden kann, konstituiert sich durch ein Verhältnis, das
zwischen mir und dem Verbrecher nicht, wohl aber zwischen dem Polizisten
und mir besteht, nämlich durch die Beziehung zwischen der individuellen
menschlichen Person und der staatlichen Zwangsordnung, die
Herrschaftsanspruch über sie erhebt.
Mit dem Menschenrechtsbegriff wird zum Ausdruck gebracht, daß das
Verhältnis zwischen Bürger und Staat innerhalb der allgemein zwischen
Menschen bestehenden Rechtsverhältnisse nicht eines unter vielen ist,
sondern daß ihm eine konstitutive Bedeutung für die Aufrechterhaltung
derjenigen Beziehungen zwischen Menschen zukommt, von denen der
rechtliche Diskurs als ganzer getragen ist. Staatliches Unrecht bedroht
nicht bestimmte Schutzgüter, die dem „normalen“ Verbrecher aus
irgendeinem Grunde entzogen wären; sondern staatliches Unrecht
bedroht vielmehr die Erhaltungsbedingungen jenes vorgesetzlichen
Beziehungsgefüges, aufgrund dessen wir überhaupt von „Unrecht“,
„Rechtsverletzung“ und damit auch „Verbrechen“ sprechen können. Die
Inhalte der menschenrechtlichen Schutzgewährleistungen haben nicht den
Sinn, Recht zu definieren, sondern diejenige Institution, die als einzige die
Macht hat, die vorgesetzlichen Bedingungen für die Unterscheidung
zwischen Recht und Unrecht aus der Welt zu schaffen, nämlich den Staat,
um eben diese Macht zu bringen. Mit dem Begriff „Menschenrecht“ und
seinem semantischen Umfeld hat der Rechtsdiskurs die Bedingungen seiner
Referentialität in sich selbst aufgenommen, sie zu einem Teil seiner selbst
transformiert und dadurch zumindest teilweise die Herrschaft über, aber
auch die Verantwortung für die Rechtfertigung seiner selbst übernommen.15
Was bedeutet all dies nun für die Frage nach dem Verhältnis von
Menschenrecht und kultureller Identität? Es bedeutet zunächst, daß die
Berechtigung des Menschenrechtsdiskurses nicht davon abhängt, ob es
15
Vgl. zu dieser Transformationsleistung und dem Verhältnis zwischen
Menschenrechten und Grundrechten mein Buch: Geistesmacht und Menschenrecht,
a.a.O., § 43 und meinen Aufsatz: Die Menschenrechte als metaphysischer Verzicht, in
diesem Band.
171
eine kulturinvariante „Natur des Menschen“, ein kulturübergreifendes
„Menschenbild“ oder irgendeine andere Manifestation eines global
anerkannten Kataloges allen Menschen gemeinsamer Eigenschaften oder
Interessen gibt. Der Hinweis darauf, daß der Menschenrechtsdiskurs aus
einem soziokulturell und geschichtlich partikulären, bedingten Umfeld
hervorgegangen sei, ist zwar geistesgeschichtlich berechtigt, aber für die
Frage nach der universellen Geltung der Menschenrechte nicht
entscheidend. Nicht die Universalität einer „Natur des Menschen“,
sondern die Universalität der Formen staatlichen Unrechts begründet den
kulturübergreifenden
Anspruch
der
Menschenrechte.16
Die
Menschenrechte konkretisieren sich als Antithese zu Folter, willkürlicher
Verhaftung, sozialer oder anderweitiger Diskriminierung, Rede- und
Demonstrationsverbot,
Unterdrückung
der
Religionsausübung,
Massenvertreibung, Genozid und einer Reihe anderer Formen typischen
staatlichen Unrechts. Soweit wir heute sehen, gibt es hinsichtlich dieser
Formen keine kulturell geprägten Unterschiede von signifikanter
Bedeutung. Nur von solchen Unterschieden her wäre jedoch die
kulturelle Relativierung des weltweiten Gültigkeitsanspruchs der
Menschenrechte rational zu rechtfertigen.
Ob kulturelle Identität ein Schutzgut ist, das durch die Gewährleistung
der Menschenrechte umgriffen wird, ist daher nicht dadurch
herauszufinden, daß man fragt, inwieweit die Bewahrung oder der
Respekt vor kultureller Identität zu einer wie auch immer definierten
menschlichen Natur gehöre. Vielmehr geht es nur darum, ob die
Mißachtung kultureller Identität zu den weltweit virulenten Formen
staatlichen Unrechts gehört. Und diese Frage ist ohne große
16
Ernstzunehmen ist hier freilich der Hinweis auf die strenge Differenzierung in von
Natur aus Herrschende und Beherrschte in der altchinesischen Philosophie, vgl. H.-G.
Möller: Die Präsenz des Menschen in der antiken chinesischen Philosophie, a.a.O. Der
prinzipielle Ausschluß dieses Gedankens aus der politischen Philosophie, wie er von
Hobbes im 15. Kapitel des Leviathan (Frankfurt a.M. 1984) vorgenommen worden ist, stellt
zweifellos
einen
Meilenstein
der
Grundlegung
des
menschenrechtlichen
Staatsverständnisses dar. Doch andererseits ist wieder festzuhalten, daß die vorneuzeitliche
Tradition auch unter Zugrundelegung einer solchen Vorstellung der Dichotomie von
Herrschenden und Beherrschten selbstverständlich den Topos des Unrechts der
Herrschenden kannte; das Gesetz ist seit Platon und Aristoteles gerade als das Instrument
interpretiert worden, daß die Ungerechtigkeit der Herrschenden (christlich gesprochen: ihre
Pflichtverletzung gegenüber Gott) zu bekämpfen habe. Der Gedanke möglichen staatlichen
Unrechts ist insofern auch mit un- und vordemokratischem Herrschaftsverständnis durchaus
kompatibel.
172
Problematisierung zu bejahen: Die Unterdrükkung der Sprache und des
Brauchtums, der religiösen Institutionen und der eigenständigen Formen
von Erziehung und Bildung von nationalen Minderheiten oder sogar
ganzer Völker durch Regierungen gehört zum typischen Potential
staatlicher Mißachtung personaler Selbstbestimmung und muß ein
Angriffsobjekt im Kampf um die weltweite Durchsetzung und den
Schutz der Menschenrechte sein.
Aber so eindeutig diese Antwort ist, so unergiebig bleibt sie für unsere
anfangs skizzierte Problemstellung. So geht es ja bei dem erwähnten Fall
des Streits um die Kopfbedeckung eines islamischen Mädchens gerade
darum, ob der Respekt vor kultureller Identität so weit zu gehen hat, daß
ein den allgemeinen Freiheits- und Gleichheitsverbürgungen
entspringendes Recht wie das der Emanzipation im Verhältnis der
Geschlechter an ihm seine Grenze findet. Der eigentliche Hintergrund
der Frage nach dem Verhältnis von Menschenrecht und kultureller
Identität besteht nicht in einem Schutzbereich, dem bislang im globalen
Ringen um die Durchsetzung der Menschenrechte zuwenig
Aufmerksamkeit geschenkt worden wäre; sondern er besteht in
Änderungen unserer Formen des Zusammenlebens, und zwar
Änderungen im weltweiten Maßstab, die uns vor die Frage stellen, ob
nicht fundamentale Umgewichtungen unserer Rechtsbeziehungen als
ganzer notwendig sind und wie diese sich gegebenenfalls im
Menschenrechtsbegriff und im Menschenrechtsdiskurs auszuwirken
haben. Es geht hier um Änderungen, die möglicherweise auch das
Verhältnis zwischen dem Rechtsdiskurs und jenen vorgesetzlichen
Verhältnissen betreffen, den wir bei der bisherigen Ortsbestimmung des
Menschenrechtsbegriffs ständig vorausgesetzt und in Anspruch
genommen haben.
Wir müssen hier nun endlich die Natur der immer wieder
angesprochenen vorgesetzlichen Verhältnisse in den Blick nehmen. Zu
ihrer Charakterisierung brauchen wir den Begriff der „kulturellen
Identität“, und die sie betreffenden Veränderungen unserer sozialen
Realität sind es, die seine Thematisierung innerhalb des
Menschenrechtsdiskurses nötig machen. Man muß dabei zunächst auf
den Bedeutungswandel eingehen, den der Begriff „Kultur“ selbst in
neuerer Zeit durchlaufen hat. Die Aufklärung hatte ihn streng
universalistisch definiert: Kultur als der Zustand, zu dem die Menschheit
sich, aus dem Naturzustand heraustretend, aufgeschwungen hat, der nun
von einigen wenigen fortgeschrittenen Völkern und Nationen
173
exemplarisch verkörpert wird und in den wir die zurückgebliebenen Teile
der Menschheit hinüberzuziehen die moralische Pflicht haben.17 Dieser
strikte Universalismus entspricht weder dem ursprünglichen Sinn des
Wortes „Kultur“ – abgeleitet vom lateinischen „colere“ und immer
verbunden mit dem Genitiv: Kultur des Gartens, eines Hauses,
bestimmter menschlicher Fähigkeiten usw.18 – noch dem heute
herrschenden pluralistischen Kulturbegriff, der es überhaupt erst sinnvoll
macht, von „kultureller Identität“ zu sprechen. Der hier vorausgesetzte
Sinn ist der, in dem Oswald Spengler von den Kulturen spricht, deren
jede „ihre eigne Idee, ihre eignen Leidenschaften, ihr eignes Leben“
hat.19 Erst vor diesem Hintergrund kann man sinnvollerweise fordern,
daß Menschen die kulturelle Prägung anderer als ein zu schützendes Gut
anerkennen sollen und daß es eine prinzipielle Gleichwertigkeit
unterschiedlicher Kulturen auf der Welt gebe. Hinter dem pluralistischen
Kulturbegriff steht eindeutig eine andere Geschichtsphilosophie als hinter
dem universalistischen, und die Frage ist, wie diese Differenz sich im
Verhältnis zum Menschenrechtsbegriff auswirkt.
Zunächst muß man sich darüber im Klaren sein, daß der pluralistische
Kulturbegriff, wenn er sich nicht ins Unverbindliche auflösen soll, relativ
auf geschichtlich gewachsene menschliche Gemeinschaften wird. Ernest
Gellner definiert in diesem Sinne Kulturen als „Systeme von
Vorstellungen und Überzeugungen, an denen sich Denken und
Verhalten“ menschlicher Individuen im Kontext des sie umgreifenden
Sozialverbandes orientieren.20 Orientierung setzt die Gültigkeit
bestimmter Vorbildlichkeitsmaßstäbe und Verhaltensmuster voraus,
aufgrund derer sich die eine von einer anderen kulturell definierten
Gemeinschaft unterscheiden läßt. Man versteht fremde Kulturen gerade
nicht, wenn man nicht zumindest zu verstehen versucht, welche
Grundvorstellungen ihre Angehörigen dazu veranlassen, einander als
vorbildlich oder weniger vorbildlich, als näher- oder fernerstehend zu
betrachten. Ein pluralistischer Begriff von „kultureller Identität“ kann
überhaupt nichts anderes bedeuten als die interkulturelle Anerkennung
17
So spricht Kant im Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte, a.a.O., A 24, vom
Ziel einer „vollendeten Kultur“, zu der dann ein „immerwährender Friede“ gehören würde.
18
Vgl. dazu H. Maier: Natur und Kultur, in: ders.: Eine Kultur oder viele? Politische
Essays, Stuttgart 1995, 9-34, insbes. 26 ff.
19
O. Spengler: Der Untergang des Abendlandes, München 1980 6, 28 f.
20
E. Gellner: Pflug, Schwert und Buch. Grundlinien der Menschheitsgeschichte,
München 1993, 13.
174
einer Vielfalt solcher intrakulturell anerkannter Einheitsprinzipien. Und
eben solche Maßstäbe und Verhaltensmuster sind es, an denen sich das
Gesetz in seiner konstitutiven Funktion, die Störung des als richtig
anerkannten gesellschaftlichen Zusammenlebens zu beheben und zu
verhindern, ausrichtet.
Die vorgesetzlichen Verhältnisse, die wir ohne Gesetze nicht erhalten
hätten und die wir uns unabhängig von Gesetzen gar nicht vorstellen
können, die aber trotzdem immer schon in Anspruch genommen werden,
wenn Gesetze zur ihrem Schutz und ihrer Ausgestaltung erlassen werden,
sind kulturelle Strukturen, insofern sie eine Homogenität in zentralen
Überzeugungen und Lebensformen der die Rechtsordnung tragenden
Gemeinschaft von Menschen voraussetzen und auch zum Ausdruck
bringen.21 Wo der Wille einer konkreten geschichtlichen Gemeinschaft
von Menschen, miteinander zusammenzuleben und eine Rechtsordnung
nach innen durchzusetzen und nach außen zu verteidigen, fehlt oder
entfällt, dort bricht auch das Recht und mit ihm der Maßstab der
Rechtsverletzung und damit auch der Referentialität des
Menschenrechtsdiskurses zusammen. Zugleich aber kann diese
vorgesetzliche Homogenität vom Recht weder erzeugt noch in die
Gesetze inhaltlich integriert werden. Es ist kein Unrecht, wenn Menschen
zu der Überzeugung gelangen, daß sie nicht mehr zu der Gemeinschaft
gehören, deren Ordnung bisher für sie galt und wenn sie darum
beschließen, eine neue Gemeinschaft zu begründen oder als schon
entstandene anzuerkennen. Andererseits kann man sich nicht einfach mit
der Behauptung, man „gehöre nicht mehr dazu“, von einer gegebenen
Rechtsordnung
verabschieden.
Die
geschichtlich-kulturellen
Voraussetzungen, die zur internationalen Anerkennung neuer
Rechtsordnungen führen, sind notwendigerweise umstritten. Der
Menschenrechtsgedanke ist nicht stark genug, sie selbst noch einmal in
Als („relative“) Homogenität definiert E.-W. Böckenförde: Demokratie als Verfassungsprinzip, in: ders.: Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum
Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1991, 348 f., einen „sozialpsychologischen Zustand, in
welchem die vorhandenen politischen, ökonomischen, sozialen, auch kulturellen Gegensätzlichkeiten und Interessen durch ein gemeinsames Wir-Bewußtsein, einen sich aktualisierenden Gemeinschaftswillen gebunden erscheinen (...). Soweit relative Homogenität vorhanden ist, vermag sie eine Vielzahl von Spannungen und Unterschieden zu verarbeiten und
übergreifend auszuhalten, grenzt sich allerdings von dem ihr Fremden deutlich ab. Im
wesentlichen ist sie gleichbedeutend mit der vorrechtlichen Gleichartigkeit als der metarechtlichen Grundlage der demokratischen Gleichheit.“
21
175
Anwendungsfälle einer Rechtsordnung zu transformieren, denn in ihnen
stehen umgekehrt seine Grundlagen zur historischen Disposition. Will er
sich gegen diese historische Kontingenz Geltung und Unabhängigkeit
bewahren, dann muß er – unter der Bedingung, daß der aufklärerischuniversalistische Kulturbegriff durch den pluralistischen verdrängt und
gegen oder neben diesem nicht einfach zurückzugewinnen ist – eine
eigene geschichtsübergreifende Basis in Anspruch nehmen, die mit dem
Kulturbegriff in seiner pluralistischen Fassung ihrerseits nicht mehr zu
vereinbaren ist. Nur wenn es eine Art vorrechtlicher, aber nicht mehr
kulturell definierter Homogenität der Menschheit als ganzer gibt, dann
kann der Menschenrechtsgedanke auch noch beanspruchen, den
Vorgängen rechtliche Grenzen zu ziehen, die zur Bildung neuer
staatlicher Gemeinschaften auf der Welt führen. In dieser Begrenzungsfunktion des Rechtsdiskurses gegen die Implikationen des nicht mehr
universalistisch gefaßten Kulturbegriffs gründet die immer noch existente
Verpflichtung
des
Menschenrechtsgedankens
gegenüber
der
Naturrechtsidee.
Aristoteles hat diese Verknüpfung zwischen innergemeinschaftlicher und
allgemeinmenschlicher Homogenität auf den Begriff des „guten Lebens“
gebracht, indem er definierte, daß
„der Staat keine Gemeinschaft (...) nur zum Schutze wider
gegenseitige Beeinträchtigungen und zur Pflege des
Tauschverkehrs ist, sondern daß dies zwar da sein muß, wenn ein
Staat vorhanden sein soll, daß aber, auch wenn es alles da ist,
noch kein Staat vorhanden ist, sondern als solcher erst zu gelten
hat: die Gemeinschaft in einem guten Leben (...) zum Zwecke
eines vollkommenen und sich selbst genügenden Daseins“22.
Diese Bestimmung macht nicht unbedingt die Annahme einer invarianten
„Natur des Menschen“ notwendig, auch wenn Aristoteles selbst von einer
solchen ausgegangen sein mag. Meine Gemeinschaft kann die
Lebensformen und Überzeugungen, in denen sich die Auffassung einer
anderen Gemeinschaft vom „guten Leben“ ausdrückt, auch dann
akzeptieren, wenn sie sich von den unsrigen unterscheiden, solange sie
nur den einen grundlegenden proportionalen Anerkennungsakt zu leisten
fähig ist: der anderen Gemeinschaft zuzugestehen, daß für sie die ihrigen
22
Aristoteles: Politik, in: Philosophische Schriften, Bd. 4, übersetzt von E. Rolfes,
Darmstadt 1995, 1280 b.
176
Vorstellungen vom guten Leben eine entsprechende Bedeutung haben
wie für uns die unsrigen und daß diese Bedeutung eine
Verständigungsgrundlage bietet. Verständnis für und Verständigung über
die Gemeinschaft aller Menschen ist mit unaufhebbarer kultureller
Pluralität vereinbar. In diesem Leitfaden läßt sich die neuere Diskussion
des Aristotelischen Gedankens, ausgehend spätestens von Hegel23 und
von ihm her über Autoren wie Joachim Ritter24 und Leo Strauss25 bis zu der
sehr kritischen Aristoteles-Interpretation von Alasdair MacIntyre26, bündeln.
Die Abhängigkeit des Gedankens einer grundsätzlichen Einheit der
Menschheit von kultureller Homogenität kann durchaus zugestanden
werden, wenn man die Offenheit kulturell homogener Gemeinschaften
gegen die Pluralität möglicher Konkretisierungsweisen der humanen
Homogenität voraussetzt; und gerade im Ringen um diese Offenheit
entfaltet der Menschenrechtsgedanke dann seine kulturübergreifende Bedeutung auch auf dem Feld, auf dem die nichtgesetzlichen, konkretgeschichtlichen Grundlagen des Gesetzes sich bilden.
In eben diese ohnehin schon komplizierte Verknüpfung zwischen
vorgesetzlicher
Homogenität
und
übergesetzlichem
Legitimationsanspruch einer geschichtlich gewachsenen und immer auch
Hegels Analyse der „alten Welt“ als derjenigen, in der das Selbstbewußtsein noch
nicht zur Abstraktion der Subjektivität gekommen sei, in der Rechtsphilosophie (G. W.
F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke, Bd. 7, Frankfurt a.M.
1986), § 279 Anm., vgl. § 356, kann man als Markierung eben des Übergangs von der
Identifikation humaner Homogenität mit der der eigenen Gemeinschaft zur
Anerkennung einer Pluralität von Wahmehmungsweisen jenes einen menschheitlichen
Verpflichtungszusammenhanges lesen, ohne den auch nach Hegel die Einheit
staatlichen Rechts nicht legitimierbar ist.
24
Vgl. J. Ritter: „Naturrecht” bei Aristoteles. Zum Problem einer Erneuerung des
Naturrechts, Stuttgart 1961, 21, 32 ff., wonach die Verbindung zwischen dem
Lebensfeld der Polis und der politischen Theorie gerade durch die moderne Entzweiung
zwischen menschlicher Bedürfnis- und Sozialnatur zerrissen worden sei. Zugleich geht
Ritter von der universalen, d.h. im Hegelschen Sinne substanziellen Bedeutung
derjenigen griechischen Polis aus, auf welche die Theorie des Aristoteles geschichtlich
und kulturell relativ war, vgl. J. Ritter: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles
und Hegel, Frankfurt a.M. 1969, 102 ff.
25
L. Strauss: Naturrecht und Geschichte, Frankfurt a.M. 1989, vgl. 155 ff., 162 ff., hebt
insbesondere auf das in der Platonischen und Aristotelischen Ethik aufgebaute Spannungsverhältnis zwischen der notwendigen Einbindung des Bürgers in die Gemeinschaft (vgl.
157: die „offensichtliche Abhängigkeit des philosophischen Lebens von der Polis“) und
seiner gemeinschaftstranszendierenden Vollendung im Philosophieren ab.
26
A. MacIntyre: Geschichte der Ethik im Überblick, Königstein i. T. 1984, Kap. 7 und 8.
23
177
kulturell geprägten Rechtsordnung schiebt sich nun die Veränderung, vor
deren Hintergrund die Frage nach „kultureller Identität“ sich erst in ihrer
wirklichen Brisanz stellt. Man kann diese Veränderung als die Tendenz
zur kulturellen Enthomogenisierung bezeichnen, die zwar heute noch vor
allem die westlichen Industriegesellschaften betrifft, sich aber durch
weltweite Wanderungs-, Modernisierungs- und Medienentwicklungen zu
einem globalen Phänomen zu wandeln scheint. Es ist fraglich, ob unsere
bislang vollzogene Rekonstruktion des Verhältnisses von Menschenrecht
und kultureller Identität zur Bewältigung dieser Veränderungstendenz
genügt. Dies zeigt sich schnell, wenn wir das Fazit aus den bisher
gewonnenen Ergebnissen ziehen.
Wie kann und muß kulturelle Identität aufgrund der Eigenart des
Menschenrechtsdiskurses in diesen einbezogen werden? Die Antwort
lautet: So wie es schon der Fall ist! Die Freiheit des religiösen
Bekenntnisses, der Erziehung seiner Kinder, der Gestaltung der kulturell
geprägten Umwelt, der Respekt vor der Sprache und dem Brauchtum, all
das sind Güter, die jenseits jeglicher Reflexion über kulturelle Identität
bereits durch die bürgerlichen Freiheitsgewährleistungen und die
Grundgebote der staatsbürgerlichen Gleichheit (insbesondere also
Diskriminierungs- und Willkürverbot) gesichert sind – sofern der Staat
diese ernst nimmt. Umgekehrt lassen sich Verletzungen der
grundlegenden Schutzgüter kultureller Identität weitgehend als
Verletzungen individueller Menschenrechte und der Gleichheitsgebote
rekonstruieren. Es ist kaum zu sehen, inwiefern durch die Ausformung
eines „Menschenrechts auf kulturelle Identität“ hier zur Schutzaufgabe
und zu den Grundinhalten der Menschenrechte noch etwas Wesentliches
hinzugefügt werden könnte. Die einzige Ausnahme bietet der Bereich, in
dem die angeführten geschichtlichen Wandlungen sich abspielen, die zur
Veränderung der konkreten Gemeinschaften führen, von denen eine
rechtliche Ordnung getragen werden muß. Wo es zwischen Menschen
innerhalb eines existierenden Staates strittig ist, ob sie noch eine
zusammengehörige
Gemeinschaft
bilden,
wo
also
die
Bewußtseinsbildung über die zugrundeliegende kulturelle Realität selbst
ein entscheidender Faktor der Gestaltung dieser Realität ist, dort kann das
intransigente Festhalten an Freiheits- und Gleichheitsgewährleistungen
ein indirektes Mittel der Unterdrückung personaler Entfaltung von
Individuen darstellen. Die für alle Staatsbürger „gleiche“ Versorgung mit
den Erziehungs- und Bildungsmaßstäben einer herrschenden, aber eben
doch partikulären Mehrheitsbevölkerung kann gerade gegen die kulturell
178
geprägten Elemente des Selbstverständnisses einer Minderheit verstoßen,
die sich aus dem von der Mehrheit beherrschten Staat zu emanzipieren im
Begriff ist. Gleichheit der Behandlung aller Staatsbürger wird dann zum
formalistisch-ideologischen Vorwand für die Verweigerung der Chance
einer Minderheit, sich über ihre mögliche Sezession aus dem
Staatsverband ein eigenes Bewußtsein zu bilden.
Auf dem hier angesprochenen Gebiet des Schutzes von nationalen
Minderheiten und Volksgruppen sind Anstrengungen erforderlich, die
über den sonstigen Standard der Gewährleistung und Positivierung
bürgerlicher und sozialer Grundrechte hinausgehen, etwa was regionale
Selbstverwaltung, den Schutz der Sprache einer nationalen Minderheit im
Erziehungs- und Justizbereich angeht usw. Aber es wäre auf eine nicht
ungefährliche Weise irreführend, diese Bereiche unter dem Gesamttitel
eines „Menschenrechts auf kulturelle Identität“ zusammenfassen zu
wollen. Denn die Rechte, die ein Mensch aufgrund seiner Zugehörigkeit
zu einer Volksgruppe oder nationalen Minderheit beanspruchen kann,
entstammen ein und derselben Quelle wie seine bürgerlichen Freiheitsund Gleichheitsansprüche. „Das Volk“ ist also keinesfalls eine
zusätzliche Rechts- oder Legitimationsquelle staatlicher Macht neben der
individuellen Person. Daß wir trotzdem von „Volks-“ oder
„Volksgruppenrechten“ sprechen, ergibt sich aus der Einsicht, daß
bestimmte Bedrohungen der Rechte der Menschen gar nicht von ihnen
selbst, sondern nur von der politischen Gemeinschaft, zu der sie gehören,
abgewehrt werden können. Der Krieg, die Drohung mit Krieg,
internationale Erpressung, aber eben auch die soziale Diskriminierung
einer Gruppe aufgrund ihrer kulturell geprägten Eigenart, betreffen die
Person als Rechtsträger unter Umständen genauso zentral oder noch
gravierender als der rein individuelle Menschenrechtsverstoß. Und nur
insofern ihre Gemeinschaftsgebundenheit hier Ursache und Grundlage
ihrer Bedrohung ist, konkretisiert sich der Respekt vor der Person als
Schutz ihrer gemeinschaftlichen Identität. Man kann insofern sagen, daß
kulturelle Identität ein transitorischer Gesichtspunkt ist, der im
Menschenrechtsdiskurs genau dann zur Geltung gebracht werden muß,
wenn die Gewährleistung der universalen Menschenrechte einer
bestimmten Gruppe von Menschen eben wegen ihrer kulturellen Eigenart
ganz oder teilweise verweigert wird und der darauf abzielt, das
Diskriminierungs- und Willkürverbot im Verhältnis zwischen Staat und
179
allen Bürgern umfassend durchzusetzen.27 Die Verpflichtungsquelle
selbst, die dem Staat diesen Respekt gebietet, bleibt aber die menschliche
Person mit ihrem Anspruch auf gleiches Recht und gleiche Würde. Es ist
gerade nicht ihre kulturelle Prägung, sondern deren fälschliche
Inanspruchnahme, wodurch sich eine Verknüpfung zwischen den Rechten
und der gemeinschaftlichen Identität einer Person konstituiert.
Unser Fazit lautet somit, daß der Begriff der „kulturellen Identität“ jener
Veränderung, die sich durch den Prozeß der kulturellen
Enthomogenisierung geschichtlich gewachsener Gemeinschaften
abzeichnet, jedenfalls dann nicht gerecht wird, wenn man ihn unmittelbar
innerhalb des Menschenrechtsdiskurses als eine diesen ergänzende und
wesentlich mitge-staltende Kategorie zur Geltung zu bringen versucht.
Wenn wir von der Funktion des Menschenrechtsbegriffs als
legitimatorischer Rückbindung staatlicher Gewalt an vorgesetzliche
interpersonale Verhältnisse ausgehen, dann ist mit dem Einbezug des
Aspekts der kulturellen Identität in die Menschenrechtsforderungen
gerade deshalb nicht viel zu gewinnen, weil die vorgesetzlichen
Verhältnisse eben wesentlich kulturelle Verhältnisse sind und der Schutz
der menschlichen Person seit jeher unausdrücklich mit dem Schutz ihrer
kulturellen Identität weitgehend identisch gewesen ist. Wenn man daher
schon glaubt, Recht und kulturelle Identität einer neuen, bisher nicht
realisierten Zuordnung zuführen zu müssen, dann muß man bereit sein,
den Menschenrechtsbegriff selbst in Frage zu stellen und also das
gesamte Beziehungsgefüge, von dem unsere bisherigen Erörterungen
ausgegangen waren, zu problematisieren.
Eine
rechtlich
relevante
Eigenbedeutung
gegenüber
der
Menschenrechtsidee kann der Kulturbegriff nur gewinnen, wenn er dazu
anhebt, den aus seinem eigenen Anwendungsfeld verdrängten
aufklärerischen Universalismus auch noch aus der Domäne zu vertreiben,
in welche ihn der Menschenrechtsbegriff transformiert hat.
In diesem Sinne wäre darum nunmehr radikal zu fragen: Ändert sich mit
dem Übergang zu einer kulturell nicht mehr homogenen Gesellschaft,
also zu einer Gesellschaft, die ihre Identität nicht mehr im Ausgang von
einer ihr zugrundeliegenden gemeinschaftlichen Einheit, sondern eher
aus einem Geschehen der gegenseitigen Anerkennung einer Pluralität
27
Das ist genau die Funktion, die E. Mack: Sind Frauenrechte Menschenrechte? Ihre
Bedeutung in einem interkulturellen Dialog, a.a.O., dem Begriff der „Frauenrechte“ in
ihrem Verhältnis zu den Menschenrechten zuweist.
180
nebeneinanderstehender kultureller Identitäten findet, die Grundlage des
rechtlichen Diskurses? Anders gefragt: Wenn einerseits nur relativ auf
bestehende vorgesetzliche Maßstäbe des Zusammenlebens das Unrecht
identifizierbar ist, an dem der Rechtsdiskurs sein Maß zu nehmen hat,
und wenn andererseits diese vorgesetzlichen Maßstäbe sich dergestalt zu
wandeln im Begriff sind, daß multikulturelle Vielfalt an die Stelle geschichtlich gewachsener Homogenität tritt – muß dann nicht auch unser
Begriff vom Unrecht zwangsläufig ein „toleranter“, d.h. auf die
Überzeugungen der ihm unterworfenen Gesellschaftsmitglieder relativer
Be-griff werden? Und muß dann aber nicht auch die im
Menschenrechtsbe-griff implizierte Annahme universal anwendbarer
Maßstäbe für staatliches Unrecht fallengelassen und zur Disposition eines
gegenseitigen interkulturellen Anerkennungsgeschehens gestellt werden,
das sich auf eine noch schwer zu definierende Weise durch die
politischen Strukturen nationaler und internationaler Rechtssetzung
hindurch abspielt?
Auf diese Fragen ist eindeutig verneinend zu antworten, womit man
freilich die Spannung zwischen universalistischem Menschenrechts- und
pluralistischem Kulturkonzept auch nicht löst, sondern nur vollends
deutlich macht. Die wesentlichen Argumente für die verneinende
Antwort sind die folgenden:
l. Wir haben bisher vorausgesetzt, daß der Prozeß der gegenseitigen
Anerkennung kultureller Identität innerhalb unserer Gesellschaften und
auch im Verhältnis zwischen unserer und anderen Gesellschaften sich
nicht einfach naturwüchsig vollzieht, sondern daß er sich rational
rechtfertigen läßt und zumindest in Einklang mit unseren Vorstellungen
von Recht und Unrecht zwischen Menschen steht. Woher nehmen wir
eigentlich diese Überzeugung? Wodurch also ist die Forderung nach
pluralistischer Anerkennung einer Vielfalt von kulturellen Verhaltensmustern, nach kultureller Toleranz begründet? Wenn alle unsere
Vorstellungen vom richtigen Zusammenleben allein auf unsere – im
pluralistischen Sinne – „kulturelle“ Prägung zurückgingen, dann müßten
wir auch die Forderung nach kultureller Toleranz noch als kulturrelativ
und damit im Notfall aufgebbar ansehen. Dann müßten wir anderen
Kräften zugestehen, daß es „für sie“ richtig sein mag, wenn sie gegen
kulturelle Toleranz sind und kulturelle Pluralität auszurotten versuchen.
Diesen absurden Selbstwiderspruch kann man nur vermeiden, wenn man
auf die Frage nach dem Grund der kulturellen Toleranz eine universalistische Antwort gibt: Wir haben die kulturelle Identität anderer
181
Menschen zu respektieren, weil diese Menschen als Personen dieselbe
Würde und das gleiche Recht haben wie wir. Es ist eben nicht ihre Kultur
als solche, die wir ja auch dann respektieren wollen, wenn wir sie
eingestandenermaßen nicht wirklich verstehen, sondern es ist ihre
Freiheit und Gleichheit im Verhältnis zu uns, die wir uns anzuerkennen
genötigt sehen. Die Kultur für wichtiger zu erklären als den lebenden
Menschen: das wäre der eigentliche „Kulturimperialismus“. Unsere
Wertschätzung und Kenntnis fremder Identität mögen wir unserer Kultur
verdanken; aber die Überzeugung von der Richtigkeit und rationalen
Begründbarkeit solcher Wertschätzung und Kenntnis verdanken wir
jenem universalistischen Diskurs, dessen rechtliche Grundbedeutung der
Menschenrechtsgedanke zu explizieren versucht.
2. Auch und gerade wenn man keinen strikt universalistischen
Kulturbegriff vertritt, muß man doch von bestimmten gemeinsamen
Kriterien ausgehen, die eine menschliche Gemeinschaft erfüllen muß,
wenn man ihr eine eigene kulturelle Identität zubilligen können soll.
Nicht jedes Anderssein als solches ist gleich eine kulturelle Differenz.
Denn sonst könnte jeder Verstoß gegen die Würde menschlicher
Personen damit gerechtfertigt werden, daß der Täter erklärt, sein Umgang
mit dem Opfer entspräche nun einmal seinem kulturellen
Selbstverständnis und müsse deshalb respektiert werden. Für die
Beurteilung der Frage, wann das Verhalten von Männern gegenüber
Frauen einen Akt würdeverletzender sexueller Belästigung darstellt, kann
die kulturelle Identität der Beteiligten durchaus unter verschiedenen
Aspekten eine Rolle spielen, aber gewiß nicht in der Weise, daß den
sexuellen Belästigern der Status einer eigenen kulturellen Gemeinschaft
zugebilligt wird, deren Praktiken und Bedürfnisse nun einmal zu
respektieren seien. Die „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender
Willkür“28 schützt uns auch vor willkürlicher Usurpation des
Kulturbegriffs, aber eben deshalb kann sie nur durch einen
kulturübergreifenden Begriff des Rechts gesichert werden, wonach jeder
Mensch frei entscheiden können muß, ob er die Lebensformen eines
anderen mit diesem zu teilen bereit ist oder nicht.
28
Kants Definition des Menschenrechts in der Metaphysik der Sitten, Rechtslehre,
Einteilung, B 45, a.a.O.
182
3. Judith N. Shklar hat in ihrem Buch „Über Ungerechtigkeit“29 die
Bedeutung herausgestellt, die für die Feststellung von Unrecht der
Perspektive der von ihm betroffenen Opfer zukommt. Nicht alles
Unrecht, für das ich Verantwortung zu übernehmen habe, beruht auf
meinem vorangegangenen aktiven Tun. Es gibt auch „passives Unrecht“,
und zwar dann, wenn ich aus Feigheit oder Bequemlichkeit
gesellschaftliche Mißstände wie z.B. Korruption oder Behördenwillkür,
solange sie mir selbst nicht schaden, hinnehme und zulasse, daß durch sie
die berechtigten Erwartungen anderer Menschen enttäuscht werden. Eine
Gesellschaft, in der diese Art von Gleichgültigkeit gegenüber dem
Unrechtsbewußtsein der potentiellen Opfer herrscht, kann auf Dauer
nicht bestehen. Aber andererseits kommen wir auch nicht um die
Beurteilung der Frage herum, wann Unrechtsbewußtsein berechtigt ist
und wann nicht; denn sonst könnten wir zwischen dem Unglück, das
jemandem zustößt, und dem Unrecht, das ihm zugefügt wird, nicht mehr
unterscheiden. Es bliebe seiner Willkür unterlassen, was er als Unglück
und was als Ungerechtigkeit empfindet. Diese Willkür würde sich aber
ebenso einstellen, wenn wir von der völligen Kulturrelativität des
Unrechtsbewußtseins und damit auch der genannten Grenze zwischen
Unrecht und Unglück ausgingen.
Dann wäre unsere Bereitschaft, für gesellschaftliche Zustände, durch die
andere sich benachteiligt fühlen, Verantwortung zu übernehmen, einfach
deshalb irrelevant, weil das einzige Maß für die Beantwortung der Frage,
welche gesellschaftlichen Zustände denn nun wirklich als ungerecht
anzusehen seien, durch unser eigenes Unrechtsbewußtsein definiert
würde. Die Bereitschaft, die genuine Perspektive der Opfer ungerechter
gesellschaftlicher Verhältnisse gelten zu lassen, verliert ihren Wert, wenn
die Definition, wer Opfer ist, in die Willkür der Gesellschaftsmitglieder
gestellt wird. Dann besteht das Unglück benachteiligter Gruppen eben
da-rin, daß ihre Angehörigen mit einem nur ihnen selbst nachvollziehbaren Unrechtsbewußtsein ausgestattet sind, und für dieses Unglück trägt
man keine Verantwortung. Vor solcher Willkür kann wiederum nur eine
Rechtsordnung schützen, bei deren Gestaltung das Unrechtsbewußtsein
aller Mitglieder der Gesellschaft zu einem gerechten Ausgleich und in
ein sie gegenseitig verpflichtendes Gesamtverhältnis gebracht wird. Hier,
auf dem Feld der gesetzgeberischen Auseinandersetzung um die adäquate
29
J. N. Shklar: Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl, New
Haven/London 1990, deutsch Berlin 1992, vgl. insbes. 69 ff., 135 ff.
183
gesetzliche Umsetzung der durch die Lebensformen der
Gesellschaftsmitglieder
vorgegebenen
zwischenmenschlichen
Beziehungen und Verhältnisse, muß die Kompromißleistung erbracht
werden, auf der alle innergesellschaftliche Toleranz schließlich erst
aufbauen kann.30 Die Grenzlinie zwischen Opfer, Täter und Neutralem
muß zwar in einem offenen, von Toleranz getragenen gesellschaftlichen
Rechtsfindungsprozeß gefunden werden, dann aber in Form
unverrückbarer gesetzlicher Ordnung jeglicher Willkür entzogen bleiben.
Nur unter dieser Voraussetzung kann dann wieder im demokratischen
Staat um die Veränderung dieser Grenzlinie geworben und gerungen
werden.
Diese Argumente machen es unmöglich, das Gebot des Respekts vor
kultureller Identität gegen die Forderung einer auf eindeutig
identifizierbarem Unrecht beruhenden Gesetzesordnung und damit auch
gegen die Fundierung des Verhältnisses von Gesetz und Recht im
Gedanken der unrelativierbaren Menschenrechte auszuspielen. Die
Kompetenz zum kulturübergreifenden Rechtsdiskurs ist ihrerseits eine
Bedingung der Rationalität von Diskursen, innerhalb derer sich
Menschen über ein Nebeneinander von Lebensformen verständigen, das
sich innerhalb der durch die Rechtsordnung zugelassenen
Toleranzgrenzen abspielen kann. Insofern ist Jürgen Habermas
zuzustimmen, wenn er in der „Multikulturalismus“-Diskussion mit
Charles Taylor festhält, daß die Verpflichtung gegenüber der kulturellen
Identität anderer Menschen „aus Rechtsan-sprüchen und keineswegs aus
einer allgemeinen Wertschätzung der jeweiligen Kultur“31 folgt und daß
der kulturelle Kontext, aus dem die Rechtsordnung einer Gemeinschaft
hervorgegangen ist, der unaufgebbare Horizont bleibt, „innerhalb dessen
die Staatsbürger, ob sie es wollen oder nicht, ihre ethisch-politischen
Selbstverständigungsdiskurse führen“32. Die kulturell differenzierten
Selbstverständigungsdiskurse innerhalb einer Gesellschaft müssen
respektiert werden, aber weder ihre Ergebnisse noch ihre Erhaltungs- und
30
Weshalb der formale Wert der Toleranz auch nicht die inhaltliche Auseinandersetzung um Menschenrechte und Gerechtigkeit ersetzen kann; vgl. dazu meine Kritik:
Toleranz: legitim oder legitimierend?; zu W. Becker: Toleranz als Grundwert der
Demokratie, in: Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur, 8,
1997, Heft 4, 457-460.
31
J. Habermas: Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat, in: C. Taylor:
Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Princeton 1992, 147 ff., hier 172 f.
32
Ebd., 169.
184
Gelingensbedingungen können ein Begrenzungsprinzip des rechtlichen
Diskurses bilden. Auch der Respekt vor fremder kultureller Identität ist
zuletzt Ausdruck unserer Überzeugungen von Menschenrecht und
Menschenwürde.
Das Fazit dieser Überlegungen muß darum lauten, daß „kulturelle
Identität“ direkt überhaupt nicht zu den Menschenrechten in Beziehung
gesetzt werden kann. Faßt man sie als eines der Menschenrechte auf, so
bewegt man sich in einem bereits vom Rechtsdiskurs weitgehend
bewältigten Bezirk und wiederholt eher das Problem, als daß man der
Lösung näherkäme; führt man sie aber gegen den universalen, alle
gesellschaftlichen Gruppen verpflichtenden Anspruch des rechtlichen
Diskurses ins Feld, dann zerstört man die Rationalitätsbedingungen der
eigenen Argumentationsbasis. Nichtsdestoweniger bleibt das Problem,
das sich durch die „multikulturelle“ Enthomogenisierung rechtlich
geordneter Gesellschaften stellt, bestehen. Die Spannung, die wir durch
den begrifflichen Gegensatz zwischen Menschenrecht und kultureller
Identität zu rekonstruieren versuchten, ist nicht aufgelöst. War unser
Ergebnis insofern rein negativ? Ist der Begriff der „kulturellen Identität“
schlicht ungeeignet, möglicherweise sogar kontraproduktiv für ihre
Aufarbeitung und müssen wir uns also nach einer gänzlich anderen Kategorie umsehen?
Die kritischen Einwände, die vor allem Gregor Paul gegen den Begriff
„kulturelle Identität“ erhoben hat,33 sind ernstzunehmen. Sobald man
dieses Konzept normativ versteht und es zur Bezeichnung einer
angeblich dem einzelnen vorgegebenen, durch Einsicht in den künftigen
Gang der Geschichte feststellbaren Gemeinschaft einsetzt, ist seine
totalitäre oder doch diktatorische Dynamik mit Händen zu greifen. Wer
die Definitionsmacht für eine derartige zukunftswirksame kulturelle
Identität beansprucht, reklamiert damit auch die Macht, den Bürgern
seines Staates vorzugeben, wo und wie sie ihr Leben im Dienst an ihr zu
führen haben. So gefaßt, ist der Begriff ein ideologisches Instrument, um
die Wirklichkeit, aus der er sich rechtfertigt, erst durch nicht mehr zu
rechtfertigende Faktenschaffung herbeizuführen. Aber diese diktatorische
Dynamik teilt der Begriff mit vielen anderen, die, wie etwa der der
Vgl. G. Paul: Universalität und Kritik: „Westliche Prinzipien”, in: W. Schweidler
(Hrsg.): Menschenrechte und Gemeinsinn, a.a.O., 139-160, sowie G. Paul: Kulturelle
Identität: ein gefährliches Phantom? Eine kritische Begriffsanalyse, in: T. Ogawa u. a.
(Hrsg.): Philosophische Beiträge zum interkulturellen Gesprach, Berlin 1998.
33
185
„Nation“34, der „Gemeinschaft“ und durchaus auch der der
„Gesellschaft“, doch unentbehrlich zur Kennzeichnung der
vorgesetzlichen Grundlagen des Rechts sind. Ebenso wie bei diesen
bleibt auch beim Begriff der „kulturellen Identität“ Raum für eine
deskriptive, strikt retrospektiv orientierte Interpretation, die geschichtlich
gewachsene
Strukturen
menschlichen
Zusammenlebens
und
unaufgebbare Elemente des Selbstverständnisses personaler Individuen
festhält, ohne die wir beispielsweise die Emanzipations- und
Anerkennungskämpfe in multiethnischen Gemeinwesen oder zwischen
den Angehörigen verschiedener Rassen nicht beschreiben könnten.
Wiederum
wäre
es
Ausdruck
ideologisch
verkappter
Emanzipationsverweigerung, wenn wir
uns
den konkreten
Benachteiligungserfahrungen, aber auch Beteiligungserwartungen von
Menschen, die sich durch kulturelle Differenz zu einer Mehrheit oder
einer Anzahl von ihnen verschiedener innergesellschaftlicher Gruppen
wesentlich geprägt erfahren, durch Ignoranz gegenüber ihrer
Selbstbeschreibung entziehen wollten. Insofern könnte die
Zurückweisung der Kategorie der „kulturellen Identität“ ebenso
diktatorische Implikationen haben wie ihre normative Überspitzung. Die
Frage, wie wir unser Insistieren auf einer für alle Gesellschaftsmitglieder
gültigen, auf eindeutig identifizierbaren Unrechtskriterien basierenden
Rechtsordnung mit dem Bewußtsein der Relevanz kultureller
Identitätsverschiebungen zu verbinden vermögen, läßt sich so nicht
beiseite schieben.
Der Ausweg aus der Einsicht, daß dieses Problem besteht und daß es
gleichwohl nicht durch die direkte Konfrontation zwischen rechtlicher
Zwangsordnung und kulturellem Selbstverständigungsdiskurs zu
bewältigen ist, kann nur in dem Versuch bestehen, zu einer indirekten
Zuordnung der beiden Seiten zu gelangen. Wenn der kulturelle
Selbstverständigungsdiskurs ein Feld beschreibt, das für die rechtliche
Gestaltung
unseres
gesellschaftlichen
Zusammenlebens
von
fundamentaler Bedeutung ist, von dem aus jedoch dieser rechtlichen
Gestaltung keine aus sich selbst heraus legitimierbare Grenze gezogen
werden kann, dann ergibt sich die Konsequenz, daß der indirekte
Einbezug wesentlicher kultureller Identitätsverschiebungen nur in Form
der verantwortlichen Selbstbe-grenzung des rechtlichen Diskurses
34
Vgl. dazu etwa R. Poole: Freedom, Citizenship, and National Identity, in: The
Philosophical Forum, Vol. XXVIII, No. 1-2, 1996/97, 125-148, insbes. 137 ff.
186
legitim vollzogen werden kann und daß sich gerade in dieser Aufgabe
eine der entscheidenden Erweiterungen der Funktion und Bedeutung des
Menschenrechtsbegriffs vollziehen müssen wird. Wir können kulturelle
Identität nicht zu einem Interpretationskriterium des Inhalts der
Menschenrechte machen, aber wir müssen ihr in der Besinnung auf die
Grenzen gerecht zu werden versuchen, die unserem Umgang mit dem
Menschenrechtsbegriff als Gestaltungsprinzip der gesellschaftlichen
Beziehungen gezogen sind. Das heißt: Die Verantwortung gegenüber den
kulturellen Erhaltungsbedingungen unserer Rechtsordnung zeigt sich
wesentlich in den sozialen Gestaltungsakten, in welchen wir auf die
Implementierung des Menschenrechtsbegriffs und der mit ihm
verbundenen Konsequenzen der Verrechtlichung zwischen-menschlicher
Verhältnisse gerade verzichten.
Wenn es der Sinn des Menschenrechtsgedankens ist, staatliche Macht sich
durch die Begrenzung ihrer selbst gegenüber dem Anspruch des
Individuums auf eigenverantwortliche Lebensführung legitimieren zu
lassen, dann muß sich dieser Sinn auch noch in der Selbstanwendung des
Gedankens zeigen. Als verfassungsmäßig konkretisierte Grundrechte sind
die Menschenrechte selbst noch ein Teil der staatlichen
Zwangsgesetzgebung. Bändigung staatlicher Macht und Begrenzung ihres
eigenen Anspruchs fallen in diesem Bereich zusammen. In einem
menschenrechtlich legitimierten Staat kann es keine Autorität geben, die
über derjenigen stünde, welche für die Rückbindung aller staatlichen
Gewalten an die Menschenrechte kompetent ist. Aber diese staatliche
Gewalt übernimmt auch die Verantwortung für die Selbstbegrenzung der
Grundrechte im Kontext der Gesamtgestaltung der menschlichen
Verhältnisse, auf denen die staatliche Rechtsordnung beruht. Zu dieser
Verantwortung gehört wesentlich die Einsicht, daß die natürlichen
Näheverhältnisse, ohne die es keinen Zusammenhalt einer menschlichen
Gemeinschaft gibt, nicht vollständig in rechtliche Zwangsregelungen
transformiert werden können. Man kann im Kontext einer schon
bestehenden Gemeinschaft soziale Verpflichtungen – wie etwa die Pflicht
der Kinder, ihre Eltern zu pflegen, die Treuepflicht der Ehegatten oder die
Solidarität zwischen den Regionen des eigenen Landes – durch die
umfassende Ausdehnung des gesetzlichen Anspruchsgefüges regeln,
steuern, konservieren, wohl auch weitgehend ersetzen. Aber man muß dazu
individuelle Vorteilserwartungen mobilisieren, die mit jenen ursprünglichen
Nähebeziehungen nichts mehr zu tun haben, auf welchen nicht nur die so
kompensierten Verpflichtungen, sondern auch die Identität der Gemein187
schaft, die die kompensierende Rechtsordnung trägt, beruhten. Die
Menschenrechte gefährden ihre eigene Grundlage, wenn sie zum Prinzip der
Kompensation jener geschichtlich geprägten gemeinschaftlichen Identität
werden, die doch die rechtlich nicht mehr einholbare Basis der Beziehungen
bildet, ohne die es eine die Menschenrechte konkretisierende gesetzliche
Ordnung nicht geben kann.
Nicht der Gegensatz zwischen dem „Guten“ und dem „Gerechten“ steht
hinter dem Spannungsverhältnis zwischen rechtlichem und kulturellem
Diskurs, wohl aber ein zwischenmenschliches Anspruchsgefüge, das im
Recht immer schon vorausgesetzt wird und das in der Tat einer eigentlich
„ungerechten“ Ordnung entstammt, nämlich der Ordnung der Nähe,
durch die ein Mensch einem anderen in einer Weise verpflichtet wird, die
sich geschichtlicher und sozialer Kontingenz verdankt und letztlich eine
Ordnung des Glücks ist. Eine gerechte Gesellschaft und Rechtsordnung
kann es nur geben auf der Basis einer sie tragenden Gemeinschaft, die
ihren Halt in demjenigen findet, was ein Mensch nur für die Seinigen und
niemals für alle tut. Charles Taylor hat in der Diskussion mit Habermas
darauf hingewiesen, daß hierin der eigentliche Sinn der
vielbeschworenen Verantwortung für die „künftigen Generationen“
besteht. „In multikulturellen Gesellschaften bedeutet“, so Habermas,
„die gleichberechtigte Koexistenz der Lebensformen für jeden
Bürger eine gesicherte Chance, ungekränkt in einer kulturellen
Herkunftswelt aufzuwachsen und seine Kinder darin aufwachsen
zu lassen, die Chance, sich mit dieser Kultur auseinanderzusetzen,
sie konventionell fortzusetzen oder sie zu transformieren (...)“.35
Damit ist präzise der Horizont bezeichnet, innerhalb dessen der
rechtliche Diskurs auch das interkulturelle Zusammenleben regieren
kann. Zu diesem aber gibt es einen nicht deckungsgleichen anderen Horizont, einen historischen Längsschnitt gewissermaßen, zu dem die
Beziehung zu den gegenwärtig lebenden Menschen und ihrer
Gesellschaft nur einen Querschnitt bildet. Taylor führt hier das Beispiel
Quebec an, jene Politik der „survivance“, die das von jedem
quebecianischen Gesetzgeber verfolgte Bemühen bezeichnet, die
frankophone Prägung künftiger Generationen zu erhalten. Was diese
Politik trägt, das sind nicht Rechtsbeziehungen, sondern etwas anderes.
„Es geht hier nämlich“, so Taylor,
35
In: C. Taylor: Multikulturalismus, a.a.O., 175.
188
„nicht nur darum, das Französische für diejenigen verfügbar zu
halten, die sich dafür entscheiden (...). Vielmehr will die Politik
der survivance sicherstellen, daß es auch in Zukunft eine Gruppe
von Menschen gibt, die von der Möglichkeit, die französische
Sprache zu nutzen, tatsächlich Gebrauch macht. Diese Politik ist
aktiv bestrebt, Angehörige dieser Gruppe zu erzeugen, indem sie
zum Beispiel dafür sorgt, daß sich auch künftige Generationen als
Frankophone identifizieren. Man kann nicht behaupten, daß eine
solche Politik nur darauf aus sei, einer bestehenden Bevölkerung
eine bestimmte Möglichkeit zu eröffnen.“36
Wo die derzeit lebende Generation sich über die Prägung der
Lebensformen derjenigen Menschen verständigen muß, die sich ihr
gegenüber nicht mehr zu dieser Prägung werden äußern können, dort
kann uns der rechtliche Diskurs allein nicht mehr die Entscheidungen
vorgeben. Dort ist er selbst auf das angewiesen, was er durch den
Menschenrechtsbegriff der ihm tragenden Gemeinschaft abverlangt,
nämlich freiwillige Machtbegrenzung. Und eben weil der Einsatz für die
Realisierung der Menschenrechte die Grundform bildet, in der der
rechtliche Diskurs dieses Verlangen gegenüber den ihn tragenden
Verhältnissen durchsetzt, können die Menschenrechte nicht selbst noch
einmal die letzte Verständigungsbasis der Selbstbegrenzung des
rechtlichen Diskurses gegenüber kultureller Identität und ihrem Wandel
sein.
36
Ebd., 52.
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