"Nur das Publikum hat sich verändert" Tänzerinnen in der dritten Lebensphase Das Zitat im Titel stammt aus einem Filmporträt über die Zürcherin Trudi Schoop (1903-1999) und lautet vollständig "Für mich war der Unterschied zwischen der Bühne und dem psychiatrischen Spital nie sehr gross. Ich hatte immer den Eindruck, nur das Publikum hat sich verändert".1) Ein Leben lang Tänzerin -- Trudi Schoop Trudi Schoop débutierte 1920 mit 17 Jahren am Pfauentheater mit eigenen Tanznummern und brach ihre lange Karriere als Tänzerin, Choreographin und Leiterin einer eigenen Tanzgruppe nach einer äusserst erfolgreichen Amerika-Tournee mit 45 Jahren abrupt ab. Nicht aus beruflichen, aus persönlichen Gründen wollte sie plötzlich nicht mehr auf der Bühne stehen. Sie übersiedelte nach Kalifornien und tanzte seit den 50er Jahren mit Patienten in psychiatrischen Kliniken. So erprobte und erfand sie in ihrer dritten Lebensphase ein ganz neues Tätigkeits- und Berufsfeld und wurde zu einer Pionierin der Tanztherapie. Doch für sie war der Wechsel von der künstlerischen zur therapeuthischen Arbeit nicht wichtig. Es ging ihr immer um die Gestaltung von Bewegungsausdruck aus einer freien Improvisation heraus und um das nonverbale Kommunizieren, das heisst um das Wahrnehmen und SichMitteilen durch Körpersprache. Aus ihrer Sicht blieb sie bis ins hohe Alter Tänzerin. Erst als sie mit weit über 90 Jahren bettlägerig wurde, fand ihr Tanzen ein Ende. Aber da war sie schon nicht mehr sie selbst. Passion als Lebensabschnittsberuf Mit ihrer Selbstwahrnehmung als lebenslange Tänzerin war Trudi Schoop die grosse Ausnahme. Sonst sehen sich alle Tänzerinnen gezwungen, auf die Frage nach einem Leben nach dem Tanzen eine Antwort zu finden. Selbstverständlich betrifft die Tatsache, dass Tanzen nur ein Lebensabschnittsberuf ist, auch Tänzer. Aber in einer Kunst, wo Jugend und Attraktivität zuerst ins Auge fällt und wo der Konkurrenzdruck unter Frauen viel grösser ist als unter Männern, sind die Tänzerinnen besonders schlimm dran. Keiner geht es gut, wenn sie nicht mehr tanzen kann, wenn sie also äusseren Anforderungen oder eigenen Ansprüchen an sich selbst nicht mehr genügt und wegen Verletzungen oder dem natürlichen Alterungsvorgang Abschied vom Theater nehmen muss. Der begrenzten Berufsdauer steht eine aussergewöhnlich frühzeitige, lange und harte Ausbildung gegenüber. Tänzerinnen und Tänzer verkörpern ihre Kunst unmittelbar. Sie verwandeln ihren Leib zum Instrument und lernen, durch rein körperliche Mittel eine Entkörperlichung der Aussage und Wirkung zu erreichen. Sie müssen Gegensätzliches in sich vereinen, das heisst Begabung, Haltung und Temperament von Kunstschaffenden und Disziplin, Kraft und Durchhaltevermögen von Spitzensportlern zum Einklang bringen. Wenn sie es geschafft haben, wird Tanzen zur Passion - bedeutet Selbstverwirklichung, Intensität, Euphorie. Bühnenauftritte stimulieren und berauschen wie Drogen. Doch die Tanzkarriere von klassisch trainierten Bühnentänzerinnen dauert kaum je bis zum Ende der 2. Lebensphase und ist bereits fertig, wenn sich andere Künstlerinnen erst einigermassen gefunden und noch viel Zeit zur Entfaltung ihrer Talente vor sich haben. Es gibt Ballettdirektoren, die finden, dass schon Tänzerinnen Ende 20 alt aussehen. Heinz Spoerli nennt als oberste Limite 35 Jahre. Maja Langsdorff hat in ihrem Buch "Ballett -- und dann?" Lebensbilder von Tänzern, die nicht mehr tanzen2), gesammelt. Sie beschreibt Schicksale, wo der Abschied von den Brettern, die die Welt bedeuten, nicht bewältigt werden konnte, berichtet aber auch von sehr erfolgreichen totalen Berufswechseln, so von Liane Simmel, die heute als führende Spezialärztin für Tanzmedizin arbeitet, doziert und publiziert, oder von Heide-Marie Härtel, die das Tanzfilminstitut Bremen gegründet und aufgebaut hat. (Derartige Spartenwechsel sind manchen verwehrt. Denn durch die Konzentration auf die Tanzausbildung fehlt es zwar nicht an vielen Fähigkeiten, aber oft an ausgewiesener Vorbildung.) Kreativ in tanznahen Berufen Wer sich zum Tanzen geboren fühlt, erfährt den Abschied von der Bühne zunächst wie ein Sterben und versucht, in der Tanzwelt zu bleiben und in einem tanznahen Beruf - sei es im Coaching, in Choreographie und Pädagogik -- zu überleben. Ich stelle Ihnen jetzt drei Tänzerinnen vor, denen es nach einer aussergewöhnlich langen Bühnenkrarriere vergönnt war, sich in der 3.Lebensphase exemplarisch künstlerisch weiterzuentwickeln: Galina Ulanova, Martha Graham und Susana. Traditionsvermittlung durch Coaching - Galina Ulanova Die russische Ballerina Galina Ulanova (1910-1998) beendete ihre Tänzerinnenlaufbahn erst 1962, also mit 52 Jahren. Von ihrer "Giselle"Interpretation als 46-jährige gibt es ein Filmdokument. Und auch Teenager ohne viel historisches Verständnis bewundern ihre absolut rollengerechte Tanztechnik und lassen sich von ihrer Jugendlichkeit und wie natürlichen Naivität bezaubern. Sie war ein Star, eine herausragende Künstlerin, sah sich selbst aber wie die meisten russischen Ballettkünstler als Glied einer Kette der mündlichen Überlieferung von Ballettwerken und ihren Interpretationen. So gab auch sie ihre kostbaren Erfahrungen der nächsten und übernächsten Generation direkt weiter. Im Video zeige ich Ihnen ein paar kurze Ausschnitte von Proben zu einer Wiederaufnahme von "Romeo und Julia" zur Musik von Serge Prokofiev auf der Probe-Bühne des Mariinskij Theaters in St.Petersburg. Galina Ulanova hatte die Rolle in diesem Theater 1940 bei der Uraufführung von Leonid Lavrovskijs Choreographie kreiert. Nach dem 2.Weltkrieg war sie dann am Bolschoj Theater in Moskau engagiert. Aber mit weit über 80 kam sie in ihre Heimatstadt zurück, um junge Ballerinen in ihrer Rolle zu coachen. Wir sehen Maja Dumtschenko mit Andris Liepa in den Titelrollen, zuerst bei der ersten Begegnung. Eine bestimmte Hebefigur macht Schwierigkeiten. Die immer noch trainierte und elastische Ulanova macht vor, wie diese Hebung technisch funktionert und was sie ausdrückt. Dieselbe Sequenz ist dann mit ihr und ihrem Partner der Uraufführungsbesetzung, Konstantin Sergejev, zu sehen. Dann folgt ein Fragment aus der Trauungsszene, wo die Ulanova zugleich den Part des Pater Lorenzo übernimmt und das junge Paar segnet. Für eine heutige Solistin ist die Rolle tanztechnisch nicht sehr schwierig. Umso detaillierter wird am Ausdruck gearbeitet. Galina Ulanova erklärt den Hintergrund, insinuiert die Emotionen, macht die Gestaltung vor und korrigiert feine Nuancen der Darstellung. Video3) Andere Rollen in neuartigen Choreographien -- Martha Graham 34 Jahre tanzte Galina Ulanovas die grossen Ballerinenrollen der Ballettklassik. Sonst tanzen höchstens nicht-klassische Tänzerinnen in ihren eigenen Choreographien so lange. Die Protagonistin des amerikanischen Modern Dance, Martha Graham (1894-1991) debutierte als Denishawn-Tänzerin erst mit 25 und begann ihre selbständige Laufbahn als Choreographin, Tänzerin und Pädagogin nochmals 7 Jahre später. Aber sie trat bis über 75 in ihren Rollen auf. Das war möglich, weil sie in ihren eigenen Choreographien tanzte. In der grossen Bewegung des antiakademischen Tanzes des 20.Jh.s galt ja das Individuum als Basis, Stoff und Massstab des Kunstschaffens. Persönliches Erleben, innere Bewegtheit sollte in äusserer Bewegung sichtbar und spürbar gemacht werden. Martha Graham suchte eigenständige Bewegungsformen und schuf für sich und ihre Tanzgruppe daraus innovative Tanzwerke. Aus ihrer choreographisch-tänzerischen Körpererfahrung entwickelte sie im nachhinein eine übertragbare Technik. Bis zum Ende ihrer 2.Lebensphase probierte sie vor allem neues Bewegungsmaterial aus, bei Beginn der 3. war das Vokabular ihrer persönlichen Bewegungssprache dann einigermassen fixiert. Jetzt erweiterte sie die AnwendungsMöglichkeiten, suchte neue Erzählformen. Sie begann sich vermehrt mit antiker Literatur und Mythologie, mit Tiefenpsychologie und Rituellem auseinanderzusetzen. Und ab 1944 entstanden ihre Meisterwerke über grosse Frauengestalten wie Medea, Ariadne, Herodias, Judith und Klytemnestra. Hier möchte ich Ihnen "Night Journey" von 1947 vorstellen. Das Tanzwerk zeigt "König Ödipus" aus der Sicht der zentralen Frauengestalt. Iokaste erinnert sich im Moment des Selbstmords an einzelne Szenen. Erzählt wird nicht-linear, in der Rückblende. Im Zentrum der Bühne ist ein Objekt installiert, eine Skulptur aus zwei stilisierten Menschengestalten, Mann und Frau zusammen-geschmiedet. Es ist das Ehebett, wo der Inzest stattfindet. Wesentliches Requisit ist ein weisser Seidenstrang, der die Nabelschnur symbolisiert und mit dem sich Iokaste an Ende erhängt. Martha Graham schuf "Night Journey" mit 53 für sich und Erick Hawkins. Das Video wurde 1961 gefilmt. Martha Graham ist also 67, wirkt aber alterslos. Ich zeige Ihnen die Liebesszene. Ödipus hat den Mantel um sie geschlungen, als Zeichen der gemeinsamen Herrschaft über Theben. Das Paar nähert sich dem Ehebett. Im Vordergrund ist ein Rachegeist sichtbar. Die Furie pocht wie der Seher Tiresias und erinnert an den Schrecken, der aus der unmittelbar bevorstehenden Verbindung entstehen wird. Wir nehmen gleichzeitig verschiedene Zeitebenen wahr. Der folgende Paartanz besteht in der Konstituierung von gemeinsamen Formen, in Bewegungen in die gleiche Richtung und in der Inszenierung von Vereinigung. Dabei ändern die Machtverhältnisse ständig. Ein Hochzeitsritual unter Gleichberechtigten gleitet in wechselnde Abhängigkeiten. Bald verführt Iokaste den jungen Mann und spreizt fordernd die Beine weit auseinander, um ihre Paarungsbereitsschaft und Hingabe zu signalisieren, bald erniedrigt sie sich und lässt alles mit sich geschehen, bald wiegt und liebkost sie ihn wie ein Kind, beschützend und unbewusst mütterlich. Video 4) Auf dem Weg zu einer neuen Ausbildungsmethode -- Susana Bei Martha Graham war die pädagogische Arbeit immer ein wesentlicher Teil ihres Tanz-schaffens. Die meisten Tänzerinnen beginnen aber erst nach ihrer Tanzkarriere zu unter-richten und eignen sich dann im klassischen oder modernen Bereich eine vorhandene Methodik an oder übernehmen mindestens ein erprobtes didaktisches Vorgehen. Bei Susana war das ganz anders. Was sie weitergeben wollte, existierte nicht. Und so erarbeitete sie einen eigenen, präzis strukturierten Lehrgang für Spanisch-Tanz. Die Bernerin Susana (*1916) fand spät zu der ihr gemässen tänzerischen Ausdrucksform, dem Flamenco, hatte aber seit ihrer ersten Tournee 1948 mit dem Katalanen José da Udaeta sofort Erfolg. Als Susana y José wurde das Tanzpaar weltberühmt. Sie übertrugen die Volkstänze vieler spanischer Regionen und den Flamenco aus Andalusien auf die Bühne und machten sie zu einer neuen Kunstform, wobei das ursprüngliche Wesen auch in den experimentellen Werken stets erhalten blieb. In Zusammenarbeit mit dem Ostpreussen Antonio Robledo(alias Armin Janssen 1922*, Heirat 1958), der im Musikbereich als Komponist und Interpret analog vorging, wagten sie sogar, mit dem Elementen der Folklore und des Flamenco kurze Geschichten zu erzählen. Nach 22 Jahren mit rund 2000 Vorstellungen auf fünf Kontinenten trennten sich Susana und José. In der dritten Lebensphase blieb die Tänzerin schöpferisch tätig, erfand eine neuartige Pädagogik für Spanischtanz mit einem klaren Aufbau aus einer Folge von Exercices. Susana unterrichtete an zahllosen Sommerkursen und regelmässig an Maurice Béjarts Mudra-Schule in Brüssel und an der National Ballet School of Canada in Toronto. Über diesen Unterricht drehte Cynthia Scott 1983 den Dokumentarfilm "Flamenco at 5:15", der 1984 einen Oscar gewann. Wir sehen einen Ausschnitt mit Susana und Antonio Robledo. Das Wecken und Verfeinern des Rhythmusgefühls ist ein Schwerpunkt ihrer Pädagogik. Und wir sehen, wie es ihnen gelingt, die Ballettschülerinnen und schüler für den Flamenco zu begeistern. Video 5) Aus dem Freundschaftsknäuel der Schülerinnen um Susana entstand übrigens 1984 die Tanzgruppe "Flamencos en route". Hier entdeckte und entfaltete die 68-Jährige eine weiteres Talent und schuf mit einer Reihe von abendfüllenden Werken eigenständiges zeitgenössisches Tanztheater aus dem Geist der spanischen Volkskunst. Heute leitet Susanas Meisterschülerin Brigitta Luisa Merki die Truppe und führt weiter, wofür Susana den Boden bereitet hat. Quellen: 1)Zitat aus dem Filmporträt "Die Eroberung der Leere. Begegnung mit Trudi Schoop" von Claudia Wilke, 1992 2)Maja Langsdorff: Ballett -- und dann? Lebensbilder von Tänzern, die nicht mehr tanzen, Stuttgart 2005 3)Video aus der Sendung des russischen Fernsehens "Hinter den Kulissen des Mariinskij Theaters" zur Wieder-Einstudierung von "Romeo und Julia" Ch: Leonid Lavrovskij, M: Serge Prokofiev, UA: 1940 Kirov Theater, Leningrad mit Galina Ulanova und Konstantin Sergejev. Wiederaufnahme des Werks 1990, Sendung vermutlich 1994 oder 1995. 4)Video Martha Graham in Performance: "Night Journey" M: William Schumann, Ausstattung: Isamu Noguchi, UA: 1947 New York, Dauer: 30 Minuten. Mit Bertram Ross (Ödipus) und Paul Taylor (Tiresias) gefilmt 1961. 5)"Flamenco at 5:15" Dokumentarfilm über Susana und Antonio Robledo an der National Ballet School of Canada, Toronto. Regie: Cynthia Scott, 1983. Mit Oscar ausgezeichnet 1984 Vortrag in der Paulus-Akademie 19.Januar 2008 Tagung: Das Potential der späten Jahre -- Kunst und Kreativität in der 3.Lebensphase Dr.phil. Ursula Pellaton Lebernstr. 11, 8309-Nürensdorf [email protected]