Referat in Chur 12.3.2010 Dickes Fell und dünne Haut. Ein Vita

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Referat in Chur 12.3.2010
Dickes Fell und dünne Haut. Ein Vita
Parcours der besonderen Art für Dünne und
Dicke und alle Anderen auch
Ich danke Ihnen sehr für die Einladung, hier
vor Ihnen zu sprechen. Ich befürchte , Sie
haben sich in der Adresse geirrt. Denn ich
bin keine Fachfrau für Diätfragen, keine
Expertin für Fitnessverführungen aller Art,
keine Gesundbeterin, keine Ärztin oder
Sportlehrerin. Aber ich werde mir Mühe
geben, Sie nicht zu enttäuschen. Aber
garantieren kann ich für gar nichts. Schon
gar nicht für hundertprozentige Political
Correctness.
Ich schlage vor, wir stürzen uns rein ins
Vergnügen!
Und da lasse ich Sie schon ein bisschen
allein, gleich zeige ich Ihnen ein Bild und
Sie passen einfach einmal auf, welche ersten
Gedanken und Gefühle Ihnen bei diesem
Bild kommen……
(Folie 1mit Gabourey Sidibe)
Kleine Umfrage 5`
Die Frau, die all das nun bei Ihnen in Gang
gebracht hat heisst Gabourey Sidibe und 27
Jahre alt. Dass sie es auf die Titelseite der
Schweizer Zeitschrift Annabelle geschafft
hat, hat damit sie zu tun, dass Sie eine
vielversprechende Schauspielerin ist. Wir
werden sie demnächst im Film „Precious“
sehen. Da spielt sie eine geschundene junge
Frau, die mehrfach inzestuös vom eigenen
Vater vergewaltigt wurde , von ihm auch
Kinder bekam, und sich trotz allem mit viel
Lebenskraft, Resilienz sagen dazu die
Fachleute- und mit enorm viel
Herzenswärme ein würdiges Leben
erkämpft. Als ich sie sah, dachte ich das,
was ich oft denke, wenn Menschen sich mit
so viel Polstern umgeben:
-Wer es schwer hat, verkörpert das unter
Umständen und macht sich schwer.
-Wer angegriffen wird, schützt den
Wesenskern mit Aufprallschutz
-Wer anderen nichtig erscheint, schafft sich
Raum, um nicht ganz übersehen zu werden.
-Wer zu wenig Wertschätzung erfährt,
verleiht sich selbst Gewicht.
Die Precious Darstellerin könnte auch
spindeldürr sein. Dann würde ich mir
ähnliche Gedanken machen , einfach nur
anders rum.
Beispielsweise so:
-Wer nicht geachtet wird, macht sich dünne
und verkörpert so ein kleines zum
Verschwinden gebrachtes Selbst.
-Wer in seiner Weiblichkeit so angegriffen
wird, hungert sich zum Neutrum runter.
-Wer nichts bekommt, nimmt sich selbst
auch wenig.
Und so weiter.
Sie sehen, mir ist die Verkörperung wichtig.
Ohne nun das psychologische Deuten
überstrapazieren zu wollen, gehe ich immer
davon aus, das so wie es ist, ob dick oder
dünn oder unscheinbar normal, es zunächst
schon einmal richtig ist. Mir gefällt der
Grundsatz der Bioenergetik:
Ich bin ein Körper. Statt ich habe einen
Körper.
Denn dann ist man näher dran an der Sache
glaube ich.
Wer bin nun ich, die ich Ihnen körperlich
gegenüber stehe?
Ich bin eine Pädagogin und Fachredaktorin
für Familienfragen, die stundenlang am
Computer sitzt, Texte schreibt, Sendungen
schneidet, E- Mails versendet und sich
ausser Haus ,- ich muss es leider zugeben,
vor allem auto-mobil bewegt und dabei
rasant schnell einrosten würde, wäre da
nicht das Fitnessabo und die damit
verbundenen Stunden mit Fitgym, Power
Yoga, Muscle Pump und die grosse Freude
am Schwimmen. All das macht mir den
Kopf frei, das Herz leicht, die Muskeln
locker und den Körper konturiert, soweit das
geht in meinem fortgeschrittenen Alter.
Aber ich habe auch etwas dagegen, wenn
Bewegung immer einfach eng
zweckgebunden gesehen wird:
Als Kalorienvrbrennungsbeschleuniger
Als Gesundbrunnen
Als Adipositasprophylaxe oder als
Antidepressivum
All das ist Bewegung natürlich, aber auch
einfach und simpel ein Lebenszeichen.
Wer sind Sie? Habe ich mich gefragt, als ich
von Gionduno Simeon eingeladen wurde.
Ich stelle mir vor, Sie wissen alles über
Diäten und richtige Ernährung. Ich bin
sicher, Sie kennen Ihre persönliche
Energiebilanz und die ihrer Kinder. Ich
stelle mir vor, sie kennen die Body Mass
Index Formel im Schlaf und machen sich
immer wieder konturierte Gedanken über
das grosse Nahrungsangebot in unserer
westlichen Welt und die durch technischen
Fortschritt nie dagewesene
Bewegungsarmut.
Deswegen versuche ich hier nicht Eulen
nach Athen zu tragen sondern lade Sie ein
zu einem halbstündigen Vita Parcours der
etwas besonderen Art.
Nehmen wir den Vita Parcours einmal beim
Wort!
Vita Parcours heisst zu deutsch und
ungewöhnlich übersetzt: Lebenslauf!
Und schon merken wir: Sport ist nicht nur
Sport. Bewegung nicht nur Bewegung. Wer
einen Schritt tut setzt nicht nur einen Fuss
vor einen anderen! Er kommt auch
anderswie vorwärts. Wie sehr die Physis mit
der Psyche verbunden ist zeigen ja schon die
unzähligen Ausdrücke, die einerseits eine
sportliche Bewegung beschreiben und
gleichzeitig noch einen tieferen Sinn haben,
eine seelische Bewegung , Motion und
Emotion, motion and emotion!
Jemand hat eine Hürde genommen.
Ein anderer springt über seinen Schatten.
Leider gibt es auch welche , die aus der
Bahn geraten,andere werden überrundet und
noch mal andere hängen in den Seilen und
werfen das Handtuch.
Man ist k.o oder geht in den Endspurt.
Wie hoch darf die Latte gelegt werden, frage
ich Sie?
Damit ich selbst nicht in den Wettlauf mit
der Zeit gerate, mache ich hier einmal einen
Punkt.
Natürlich gibt es noch viel mehr Beispiele.
Genau diese Vielschichtigkeit von
körperlichem, seelischem und sozialem
wird auch in meinem Vita Parcours mit 6
Posten eine Rolle spielen. Ich möchte die
Zusammenhänge von Bewegungsmangel
und Sucht, Sport und seelischer Gesundheit
aufscheinen lassen - so nach dem Motto:
Schwimmen können ist wichtig, denn
Trinker sind Menschen, die versuchen,
sich mit Alkohol über Wasser zu halten!
Fangen wir an:
Vita Parcours Posten 1: Vom Anwärmen ,
der Nestwärme und dem Liebesnest.
(Illu)
Wer meint, ins kalte Wasser springen zu
müssen, ist vielleicht ein Held, ein guter
Schwimmer wird er wohl nicht. Wer meint
aus dem Stand, grosse Sprünge machen zu
können, ist zwar ein Träumer aber
wahrscheinlich kein guter Athlet. Wer meint
aus dem Nichts, ein heisser Gegenspieler zu
sein, den wird es womöglich kalt erwischen.
Mit anderen Worten ohne warme Muskeln
geht sehr wenig im Sport.
Und ohne Wärme wird es schwierig im
Leben. Erst recht ohne Nestwärme. Kinder
und Jugendliche brauchen viel davon in
einer , wie ich finde, ziemlich kühl
gewordenen Welt.
Dass Liebe, erst recht die elterliche Liebe,
nie nur Lippenbekenntnisse sind, sondern
ein Ganzkörpergeschehen ist , das wissen
Sie alle. Und auch da zeigt die Sprache
überdeutlich den wahren Zusammenhang
zwischen Körper und Seele. Kinder müssen
getragen und manchmal auch ertragen
werden. Sie müssen gehalten werden, damit
sie Halt bekommen. Und versorgt werden
mit Nahrung, Windeln und mit Nestwärme
im familiären Liebesnest . Und wenn
niemand zu ihnen steht, sind sie auf
verlorenem Posten.
Klar, oder?
Aber das mit der Liebe, das mit der
Nestwärme im familiären Liebesnest fällt
nicht immer leicht.
Hand aufs Herz, haben Sie ihren Sprössling
im Geiste nicht auch schon auf den Mond
geschossen oder ins Pfefferland gewünscht?
Ich glaube das alles gehört zur Liebe und ist
wohl unter Reibungswärme abzubuchen, bei
der durchaus, wenn’s ganz heiss wird, auch
mal Feuer im Dach sein kann.
Bei der Liebe von Erwachsenen zu Kindern
könnten deshalb zwei Fairplay Regeln
hilfreich sein:
1. das Verhalten vom Menschen trennen
und
2. das Bemühen um un-bedingte Liebe.
Zu 1: zur Trennung von Verhalten und
Mensch, sprich Kind.
-Ein Kind , das zum x ten Mal auf die Nase
fällt, ist kein Tollpatsch mit zwei linken
Füssen, sonder ein Kind das Schritte wagt,
dabei manchmal strauchelt, aber bisher
immer wieder aufgestanden ist.
- Ein Junge, der das Trainingsziel nicht
erreicht, ist kein Versager, sondern ein
Junge, der noch einmal einen Anlauf
nehmen kann.
- Ein Mädchen, das die Sportstunde
schwänzt, ist keine Schwänzerin, sonder
eine, die grade anderen Bewegungen den
Vorrang gibt.
Sie verstehen, was ich meine. Liebe geht
eben oft flöten, wenn ein spezifisches
Verhalten mit der ganzen Person
verwechselt wird und nur das Defizit
gesehen wird. Und schon wird es kühl und
die Nestwärme ist futsch.
zu 2: zum Bemühen um un-bedingte Liebe.
Das ist ein wichtiges Bemühen. Denn wir
leben in einer materialistisch geprägten Welt
und da spielt so oft die Gleichung >Liebe
gegen Leistung< eine grosse Rolle. Auch
schon im Leben mit den Kindern. Und
natürlich auch im Sport. Anerkennung nur
für die in den vordersten Rängen.
Erlauben sie mir zum Thema "un- bedingte
Liebe" eine persönliche Geschichte zu
erzählen.
Sie handelt von meinem Vater.
Er war von Berufes wegen Schönschreiber.
Ein Buchstabenfanatiker, sage ich Ihnen,
einer der in Begeisterung ausbrechen konnte
ob der Schönheit eines B`s oder G`s.
Ich war eine Linkshänderin . Mit einer
Sauklaue. Meine Hefte waren verschmiert
und die Zeugnisnote in Schönschrift war
ungenügend.
Natürlich war ich traurig darüber. Ich hätte
gerne schöner schreiben können wollen.
Denn ich mochte die Buchstaben auch . Ich
gab mir alle Mühe. Aber die Mühe fruchtete
nicht.
Als mein Vater die ungenügenden Note sah,
umarmte er mich und weil er wusste , dass
ich gerne Musik hatte und gerne tanzte, ging
er mit mir in die Stadt kaufte Petite Fleur
von Chris Barber und liess mich später,
wieder daheim, auf seinen Füssen tanzen.
So habe ich gelernt, dass Liebe ganz
besonders unter die Haut geht, wenn sie
leistungsunabhängig ist, un- bedingt eben.
Selbstverständlich könnte man diese
Geschichte über unterschiedliche
Fähigkeiten in der Feinmotorik auch
übertragen in die Grobmotorik. Dann wäre
zu bedenken , mit wie viel Liebe ein
bewegungsmuffliges Kind mit zwei linken
Füssen rechnen könnte, wenn seine Eltern
Sportasse sind.
Soviel zum Posten 1. Vom Anwärmen,
der Nestwärme und dem Liebesnest.
Weiter geht’s im Vita- Parcours mit dem 2.
Posten:
Vom Start, vom Anfänger sein und vom
Fehler machen dürfen.
(illu)
Aller Anfang ist schwer, sagt das
Sprichwort. Richtig! Kommt dazu: Aller
Anfang ist wichtig. Auf den Start kommt es
an. Wer den vermasselt , hat es schwerer,
gut im Rennen zu bleiben und die Kurve zu
kriegen. Im Leben und auf der Rennbahn.
Auf dem Parcours de la vie.
Kinder sind Lebensanfänger. Dauernd tun
sie etwas zum ersten Mal. Unendlich viel
müssen sie lernen. Durchschlafen und den
Pudding selber in den Mund schieben. Zum
Spielzeug krabbeln und aus eigener Kraft
die Treppe hoch. Sie müssen lernen "Ich" zu
sagen und "Nein" und andere wichtige
Wörter. Sie lernen vom Dreirad zum
Zweirad zu kommen, sie fangen an mit
austeilen und einstecken, wagen und zögern,
gewinnen und verlieren. Wenn sie 7 sind
und zur Schule kommen haben sie weit aus
mehr gelernt als wir zwischen 30 und 70.
Die Lebensstarter lernen nämlich besser,
leichter, schneller und nachhaltiger als wir.
Punkto Lernfähigkeit schlagen sie uns alle
um Längen. Wir können uns getrost
geschlagen geben. Wir können einfach
schon zu viel und liegen deswegen,
lernmässig gesehen, verglichen mit den
Lebensanfängern ziemlich oft auf der faulen
Haut. Macht nichts, denn wir können viel
tun für die kleinen Durchstarter.
Beispielsweise anwesend und
fehlerfreundlich sein.
Kinder brauchen die Chance, Fehler machen
zu dürfen. Immer und immer wieder. Was
sie nicht brauchen ist stetige Besserwisserei
oder gar höhnische Kommentare.
Nützlicher ist der Versuch, einen Fehlschlag
so mit ihnen zu besprechen, dass sie fürs
nächste Mal etwas daraus lernen und sich
nicht einfach nur dumm und untüchtig
fühlen müssen. Das ist mehr als Trost. Das
ist Ermutigung.
Ich mag das Sprichwort:
Aus Fehlern wird man klug, drum ist einer
nicht genug.
Und Winston Churchill, der als
Legastheniker, Linkshänder uns
Schwergewicht weiss Gott so etwas wie eine
Fehlerkultur haben musste, damit er es
einmal zum Staatsmann bringen konnte,
sagte in Bezug auf Fehler und Kind sein:
"Es ist ein grosser Vorteil im Leben, die
Fehler, aus denen man lernen kann,
möglichst früh zu begehen".
Das heisst, ein Fehlstart ist keine
Katastrophe sondern eine Aufforderung zum
Neuanfang.
Der Parcours geht weiter, schon sind wie am
3 Posten angelangt.
Vom Fairplay, Gewinnen und Verlieren
(Illu)
Im Sport geht es immer ums Ganze, sonst
geht es um nichts. Im Spiel auch. Sonst ist
es ein langweiliges Spiel. Ich erinnere mich
an meine Kindheit mit dem Sommerspiel
"Uri Schwyz und Unterwalden" einem
Ballspiel im Garten, dass meine Geschwister
, die Nachbarskinder und mich regelmässig
vereinte. Da hatte am Anfang jeder 5 Leben.
Am Schluss waren alle tot. Ausser dem
Sieger. Eben, - es ging spielerisch gesehen
ums Ganze, um Leben und Tod, um
Gewinnen und Verlieren, um drin bleiben
oder draussen sein. Das ist einfach
wunderbar wertvoll. Da wird so viel
Lebensnotweniges gelernt. So viel Gewaltund Suchtpräventives:
man ist wer in der Gemeinschaft.
man anerkennt die Regeln der
Gemeinschaft,
weiss bald was Fairplay ist,
wer will schon ein Spielverderber sein?
Man lernt den Frust aushalten, wenn man
verliert.
Und die Freude geniessen über einen Sieg,
eine gelungene Leistung.
Man lernt, den eigenen Körper kennen, und
lernt , dass der Spass manchmal erst nach
der Anstrengung kommt, lernt so , dass das
Glück oft eine Überwindungsprämie ist und
so länger anhält als der Instant Fun, der
manchmal so schnell schal wird. So wird
man auch einmal begreifen, dass Slow Food
besser schmecken kann als Instant Drinks
und Fast Food.
Viel Gründe also , Kinder in Sport und Spiel
zu unterstützen . Und da es dazu immer
mehrere braucht, ist wichtig, dass in Schulen
und Vereinen, Clubs und Freizeitgruppen
Sport und Spiel gepflegt werden, weil viele
Familien so klein geworden sind, dass es
einfach keinen Spass macht. Völkerball zu
dritt geht nicht, ebenso wenig wie eine
Stafette zu zweit. Da verliert jeder, auch
wenn er gewinnt, schnell einmal die Lust.
So weit so klar .
Und doch möchte ich in Sachen Fairplay,
Gewinnen und Verlieren noch einen
Gedanken nachschieben. Peter Bichsel hat
mich auf die Idee gebracht. Ich hatte mit
ihm einen gemeinsamen Auftritt . Es ging
um Fussball. Um Kultur und Fussball.
Bichsel sagte da, dass er, hätte er mehr Puste
und nicht zwei linke Füsse gehabt, wohl nie
Schriftsteller geworden wäre. Nur weil er im
Fussball eine Niete war ,wurde er zum
buchstabenverliebten Bücherwurm , zur
weltabgekehrten Leseratte und später zu
einem wunderbaren Schriftsteller. "Ich
hatte", so sagte Bichsel in diesem Gespräch"
zum Glück Eltern, die mich sahen , wie ich
wirklich war, und die nichts aus mir machen
wollten, das ich niemals hätte werden
können."
Das hat mich sehr beeindruckt. Es wird
schon einen Sinn haben so wie es ist. Das ist
eine andere Haltung als das weitverbreitete :
Da muss was passieren! Ran an den Speck!
Ab die Post!
Zurück zum Fairplay , etwas altmodischer
gesagt, zurück zur Gerechtigkeit, heisst das:
Gerecht kann nie nur heissen: das Gleiche
für alle. In unserem Fall viel Bewegung,
Spiel und Sport für alle Kinder.
Gerecht muss immer auch heissen: einem
Kind gerecht zu werden.
Und nicht für alle Kinder ist das, was für die
meisten gut ist , auch gut.
Wäre Bichsel zu Sport und Spiel verpflichtet
worden, hätte er wohl früh sein
Selbstwertgefühl verloren und wir wären um
einen bedeutenden Schriftsteller ärmer.
Apropos Selbstwertgefühl: Sie wissen ja so
gut wie ich, dass das der Dreh- und
Angelpunkt ist für Sucht- und
Gewaltanfälligkeit. Wer gut um sich weiss,
ist weniger gefährdet. Eine Garantie gibt es
nicht, wie auch das Beispiel Bichsel zeigt.
Weiter zum Posten vier im Vita Parcours.
Vom Kraftraining und vom Wert des
Widerstands.
(illu)
Im Kraftraum meines Fitnessstudios
exerziert mir dreimal wöchentlich eine
Gruppe ächzender , schwitzender , tief
atmender Frauen und Männer eine
Lebenswahrheit vor: Widerstand mach stark.
Sie kämpfen mit Gegenkräften und legen
sich an mit Gewichten, erweitern ihre
Grenzen. So etwas ähnliches ist auch gut
für Kinder. Auch Kinder brauchen
Widerstand. Auch Kinder brauchen
Gegenkräfte. Auch Kinder müssen ihre
Grenzen ausloten und erweitern dürfen.
Nicht als Kraftakt im Kraftraum . Sondern
im Leben. Tag für Tag. Das Ich wächst nur
am Du. Und das Du sind die Mütter, die
Väter , Geschwister und andere
Bezugspersonen. Und da gibt es natürlich
die ganze Zeit Kräftemessen. Und Konflikte.
Und Unbequemes, das einem zum ächzen,
schwitzen und tief atmen bringt. Gut so,
denn es gehört dazu.
Weichgespültes hat einfach wenig Kontur.
An Gummiwände kann man sich schlecht
anlehnen.
Ich mache ein Beispiel. Kinder wollen viel.
Mal dies , kurz darauf das. Mal in den
Malkurs, und dann zum Judo, mal ins Ballett
und dann doch eher reiten. Daran ist nichts
falsch. Kindliche Neugier und
Experimentierlust sind ja sehr wertvoll.
Aber ich denke, Eltern sollte nicht jede
Bewegung mitmachen. Eltern sollten etwas
dagegen halten, wie die Gewichte im
Kraftraum. Eltern tun gut daran die
schnellen Wünsche zu konturieren.
Woher ich das habe?
Von unserer jüngeren Tochter. Die ist nun
27 Jahre alt und spricht mit mir sehr gerne
über die Kindheit.
Kürzlich fragte ich sie, wann sie mich als
Mutter mal richtig gut fand. Und sie sagte:
"Als ich vier war, wollte ich doch unbedingt
eine Katze haben, und da ich wusste, dass du
Katzen auch sehr magst, war ich sicher, eine
zu bekommen. Aber du hast mir dann
gesagt, dass man eine Katze füttern , ihr ein
Körbchen herrichten und das Kistchen
putzen muss. Und dass ich das auch alles tun
müsse. Und dass das ein bisschen viel sei,
und dass ich vielleicht noch ein bisschen
üben müsse....."
Ich selbst erinnerte mich nicht an die Szene.
Ich erinnere mich nur noch, dass ich mit
meiner kleinen Hanna eine Zimmerpflanze
kaufen ging, und ihr ein halbes Jahr vor
ihrem Geburtstag die Aufgabe stellte, dies
Grün regelmässig zu giessen, damit es nicht
verdorre.
Der Deal war: wenn die Pflanze am 5.
Geburtstag noch grünt und womöglich sogar
blüht, dann ist Platz für das Kätzchen.
Mit anderen Worten, der kindliche Wunsch
wurde etwas geprüft, Verantwortung für
anderes Leben trainiert und Warten gelernt.
Offenbar war das, was damals auch Tränen
gab, auf die Länge gesehen lehrreich.
Jedenfalls in der Einschätzung meiner
Tochter.
Wissen Sie, ich glaube nicht , dass es die
kindliche Persönlichkeit günstig konturiert,
alles zu schnell zu bekommen und wenn
etwas nicht mehr ganz passt, es wieder
subito abzustreifen. Ich halte nicht sehr viel
vom Lebenszapping. Heute dies , morgen
das, heute hier , morgen fort.
Schwimmkurs und beim ersten Schluck
Wasser in den falschen Hals gleich doch
eher Judo.
Judo und beim ersten Konflikt mit dem
Lehrer doch eher frühenglisch.
Frühenglisch und bei der zweiten
Anstrengung doch lieber regelmässig
Fussballtraining.
Wie wäre es stattdessen mit kleinen
Verträgen. Kindergerechten Abmachungen.
Vom Geburtstag bis zum Namenstag dran
bleiben, oder gar von Geburtstag zu
Geburtstag und dann wieder neu sehen. Neu
abmachen, neu vereinbaren.
Es sei denn, es passiert etwas wirklich
Gravierendes.
Beispielsweise sexuelle Schummrigkeiten
in der Dusche, oder seltsame Griffe beim
Training. Das kommt vor. Leider nicht
selten. Und ist ernst zu nehmen und Grund
genug für schnelle
Kinderschutzmassnahmen.
Weiter im Parcours des Lebens , wir
kommen zum Posten 5:
Vom krummen Weg ins Ziel und vom
Wert der Rituale
(Illu)
In der Sportwelt gilt der Superlativ. Der
Schnellste gewinnt, der Stärkste ist der
Sieger. Wer am meisten punktet kommt auf
den ersten Rang. Da ist nichts schlechtes
dran , denn Wettbewerb kann weiss Gott
auch Spass machen. Und Superlative
sowieso.
Aber der schnellste Weg vom Start zum
Ziel, das Lineare ist nur eine Zeitwahrheit.
Es ist die modernere der Zeitwahrheiten. Die
altmodischere Zeitwahrheit ist rund. Immer
wieder kehrend. Nicht so vorwärtsgewandt
sondern eher zentriert. Ich rede vom
krummen Weg ins Ziel, ich rede von
Umwegen und vor allem von Ritualen.
Umwege haben einen schlechten Ruf in
unserer effizienzorientierten
Hochleistungswelt. Wer Umwege macht
,verliert wertvolle Zeit, denken viele. Ich
kenne ein arabisches Sprichwort über
Umwege. Ich mag es sehr, weil meiner
Meinung nach viel Wahrheit drin steckt. Das
Sprichwort heisst:
Umwege erhöhen die Ortskenntnis.
Und Ortskenntnis brauchen wir in dieser
komplexen Welt, weiss Gott. Und Kinder
auch. Sie müssen sich früh schon
Weltwissen aneignen können. Und das nicht
in dem sie dauernd frühgefördert und
nonstop von Erwachsenen animiert und
beschäftigt werden , sondern auch indem sie
sich langweilen dürfen. Aus der Langeweile
entstehen oft so wunderbare Dinge wie
Tagträume, Spiele mit Nichts, kleine
Entdeckungen und die Vertiefung in sich
selbst. Schon manch einer hat so das Lesen
entdeckt. Langweile ist Leseförderung.
Auf die Suchtprophylaxe bezogen ist ein
gekonnter Umgang mit Langweile essentiell.
Wer gelernt hat mit weissen Zeiten in sich
umzugehen, braucht nicht gleich was von
aussen , damit er wieder ins Lot kommt.
Keinen Schokoriegel oder Bier. Keine
Zapperei oder einen Schuss.
Und noch etwas zur runden Wahrheit der
Zeitmessung. Sie findet sich auf jeder Uhr.
Der Zeiger dreht sich um die Mitte . Die
Armbanduhren mit den Digitalziffern, die
die Zeit als lineare Wahrheit darstellen, sind
interessanterweise längst aus der Mode
gekommen.
Die runde Wahrheit der Zeitmessung
spiegelt sich in Ritualen.
Wenn vieles so schnell immer wieder anders
wird, ist es gut, wenn manches ähnlich oder
gar gleich bleiben kann. Rituale schaffen
weiche Strukturen und lebensfreundliche
Ordnung.
Es sind Momente des Innehaltens und damit
verbunden des Innewerdens und der
Orientierung, der Sicherheit, der Ruhe und
eben der Geborgenheit.
Das Sonntagsfrühstück und der
wöchentliche Spielabend, die Gute
Nachtgeschichte und der regelmässige
Besuch bei lieben Leuten, die stille
Konzentrationsrunde vor dem Training und
das Saturday Night Fever , der
Hausaufgabentee und das
Feierabendgespräch, das
Körperpflegestündchen nach der grossen
Anstrengung, die Versöhnung nach dem
Streittag vor dem Schlafengehen, der
Ausgehabend der Eltern und das Heile Heile
Säge Lied, wenn das Kind sich verletzt hat.
Diese wunderbar versichernden
Kleinigkeiten haben die entlastende
Fähigkeit, dass sie Ordnung schaffen , ohne
dass zur Ordnung gerufen werden muss. Das
ist so meine ich Gold wert. Für kleine aber
auch für grosse Menschen.
Allerdings müssen auch Rituale
verhandelbar und wandelbar bleiben, damit
sie lebendig bleiben.
Zum sechsten und letzte Posten in unserem
halbstündigen Vitaparcours:
Von Vorgängern und Vorbildern
(Illu)
Wären wir jetzt wirklich gemeinsam
draussen unterwegs im Wald oder auf dem
Feld von Posten zu Posten dann gäbe es hier
eine sehr einfache Übung. Vorzugsweise
läge Schnee, oder es wäre sumpfig: Jemand
ginge voraus , und die anderen müssten in
seine Fusstapfen treten, so dass hinterher nur
ein paar Fusstritte sichtbar wären. Natürlich
ist der eigene Weg auch ein hoher Wert,
aber hier ginge es um Vorgängertum im
wahrsten Sinne des Wortes.
Wie schön ist es für Kinder , auch Menschen
um sich zu haben, die schon mehr
Welterfahrung haben als sie. Die schon
wissen , wie Schule sein kann , schon mal
im Krankenhaus waren, schon mal vor
Liebeskummer tränenblind und halb erstickt
dem Leben innerlich abschworen.
Vorgängerinnen und Vorgänger.
Eltern eben.
Leibliche oder soziale. Das ist nicht so
wichtig. Menschen einfach, die
Verantwortung übernehmen für den Weg,
den Vita Parcours. Menschen , die den
Kindern einiges aus dem Weg räumen,
ihnen aber durchaus mal ein Hindernis
zutrauen, indem sie ihnen zeigen, dass und
wie es überwunden werden kann. Menschen,
die ihre Gangart anzupassen wissen, ohne
ganz auf Sprünge zu verzichten. Menschen,
die ihr Tempo drosseln, wenn die
Nachfolgenden vom Weg abkommen.
Menschen mit Vorausblick und Rücksicht.
Gute Eltern eben.
Soviel zu den Vorgängern.
Vorgänger taugen oft zu Vorbildern
Apropos Vorbild:
Eine wahre Geschichte über den Pazifisten
Mahatma Gandhi.
Die Geschichte geht so:
Eine Mutter brachte ihren Sohn zu Mahatma
Gandhi und sagte: "Bitte Meister, sagt
meinem Sohn, er soll aufhören , Zucker zu
essen."
Gandhi schaute dem Jungen tief in die
Augen und antwortete der Mutter: "Bringe
ihn mir in zwei Wochen wieder."
"Aber Meister", sagte die Mutter " wir sind
einen weiten Weg hierher gekommen. Bitte
schickt uns nicht fort. Bitte sagt meinem
Sohn, er soll aufhören, Zucker zu essen."
Wieder schaute Gandhi dem Jungen tief in
die Augen, und wieder antwortete er:"
Bringe mir deinen Sohn in zwei Wochen
wieder."
Zwei Wochen später kehrten Mutter und
Sohn zurück. Wieder sagte die Mutter:"
Bitte Meister, sagt meinem Sohn er soll
aufhören, Zucker zu essen."
Gandhi schaute dem Jungen tief in die
Augen und sagte:
"Höre auf Zucker zu essen."
Die Mutter antwortete:" Oh danke Euch
Meister, danke. Aber bitte sagt mir, warum
ihr uns vor zwei Wochen erst fortgeschickt
habt. Warum habt ihr meinem Sohn nicht
schon vor zwei Wochen gesagt, er solle
aufhören, Zucker zu essen?"
Gandhi antwortete: "Vor zwei Wochen ass
ich selbst noch Zucker."
Soviel zum Thema Vorbild. Die Sache mit
dem Zucker liesse sich unschwer auch auf
andere Gebiete ausdehnen. Auf das Rauchen
zum Beispiel. Oder auf Couchpotato Abende
vor der Glotze Tag für Tag , oder auf
anderes. Sie verstehen schon.
Aufs Vorbild kommt es eben an. Und das
sind Sie so oder so. Ob Sie es wollen oder
nicht. Ihre Kinder schauen ihnen auf die
Finger und auf den Mund. Überhaupt überall
hin. Dauernd.
Vor allem dann , wenn sie es gar nicht
ahnen.
Pädagogisch gesehen ist das
Unbeabsichtigte ebenso wirksam wie das
Beabsichtigte.
Um Paul Watzlawik zu zitieren.
Man kann nicht nicht kommunizieren!
Damit sie nun aber ob diesem Parcours nicht
allzu sehr ins Schwitzen geraten oder gar
kopfscheu werden noch ein Letztes zur
Beruhigung, bewegungstechnisch gesehen
zum Entspannen:
Vorbildliche Eltern sind wichtig. Aber
vorbildlich heisst noch lange nicht perfekt.
Kinder brauchen nämlich keine perfekten
Eltern.
Genügend Gute sind genügend
vorbildtauglich . Oder wie der weltberühmte
englische Kinderarzt und Psychotherapeut
Donald Wood Winnicott es einmal
formulierte: Genügend Gute sind gut genug.
Und genügend gut sind die, die für die
Kinder das Gute wollen:
und das ist wie alle Italiener wissen ein
Synonym für Liebe. Da sagt man ja nicht
nur "Ti amo" , ich liebe dich, sondern auch
"Ti voglio bene" , ich will für dich das Gute.
Und schon sind wir wieder beim Posten 1,
sie erinnern sich, da ging es um die
Nestwärme.
Wir sind am Ziel. Der Vita Parcours ist zu
Ende. Ich hoffe , sie sind nicht allzu sehr
ausser Atem geraten. Danke dass sie mich
auf diesem etwas besonderen Weg begleitet
haben.
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