Referat in Chur 12.3.2010 Dickes Fell und dünne Haut. Ein Vita Parcours der besonderen Art für Dünne und Dicke und alle Anderen auch Ich danke Ihnen sehr für die Einladung, hier vor Ihnen zu sprechen. Ich befürchte , Sie haben sich in der Adresse geirrt. Denn ich bin keine Fachfrau für Diätfragen, keine Expertin für Fitnessverführungen aller Art, keine Gesundbeterin, keine Ärztin oder Sportlehrerin. Aber ich werde mir Mühe geben, Sie nicht zu enttäuschen. Aber garantieren kann ich für gar nichts. Schon gar nicht für hundertprozentige Political Correctness. Ich schlage vor, wir stürzen uns rein ins Vergnügen! Und da lasse ich Sie schon ein bisschen allein, gleich zeige ich Ihnen ein Bild und Sie passen einfach einmal auf, welche ersten Gedanken und Gefühle Ihnen bei diesem Bild kommen…… (Folie 1mit Gabourey Sidibe) Kleine Umfrage 5` Die Frau, die all das nun bei Ihnen in Gang gebracht hat heisst Gabourey Sidibe und 27 Jahre alt. Dass sie es auf die Titelseite der Schweizer Zeitschrift Annabelle geschafft hat, hat damit sie zu tun, dass Sie eine vielversprechende Schauspielerin ist. Wir werden sie demnächst im Film „Precious“ sehen. Da spielt sie eine geschundene junge Frau, die mehrfach inzestuös vom eigenen Vater vergewaltigt wurde , von ihm auch Kinder bekam, und sich trotz allem mit viel Lebenskraft, Resilienz sagen dazu die Fachleute- und mit enorm viel Herzenswärme ein würdiges Leben erkämpft. Als ich sie sah, dachte ich das, was ich oft denke, wenn Menschen sich mit so viel Polstern umgeben: -Wer es schwer hat, verkörpert das unter Umständen und macht sich schwer. -Wer angegriffen wird, schützt den Wesenskern mit Aufprallschutz -Wer anderen nichtig erscheint, schafft sich Raum, um nicht ganz übersehen zu werden. -Wer zu wenig Wertschätzung erfährt, verleiht sich selbst Gewicht. Die Precious Darstellerin könnte auch spindeldürr sein. Dann würde ich mir ähnliche Gedanken machen , einfach nur anders rum. Beispielsweise so: -Wer nicht geachtet wird, macht sich dünne und verkörpert so ein kleines zum Verschwinden gebrachtes Selbst. -Wer in seiner Weiblichkeit so angegriffen wird, hungert sich zum Neutrum runter. -Wer nichts bekommt, nimmt sich selbst auch wenig. Und so weiter. Sie sehen, mir ist die Verkörperung wichtig. Ohne nun das psychologische Deuten überstrapazieren zu wollen, gehe ich immer davon aus, das so wie es ist, ob dick oder dünn oder unscheinbar normal, es zunächst schon einmal richtig ist. Mir gefällt der Grundsatz der Bioenergetik: Ich bin ein Körper. Statt ich habe einen Körper. Denn dann ist man näher dran an der Sache glaube ich. Wer bin nun ich, die ich Ihnen körperlich gegenüber stehe? Ich bin eine Pädagogin und Fachredaktorin für Familienfragen, die stundenlang am Computer sitzt, Texte schreibt, Sendungen schneidet, E- Mails versendet und sich ausser Haus ,- ich muss es leider zugeben, vor allem auto-mobil bewegt und dabei rasant schnell einrosten würde, wäre da nicht das Fitnessabo und die damit verbundenen Stunden mit Fitgym, Power Yoga, Muscle Pump und die grosse Freude am Schwimmen. All das macht mir den Kopf frei, das Herz leicht, die Muskeln locker und den Körper konturiert, soweit das geht in meinem fortgeschrittenen Alter. Aber ich habe auch etwas dagegen, wenn Bewegung immer einfach eng zweckgebunden gesehen wird: Als Kalorienvrbrennungsbeschleuniger Als Gesundbrunnen Als Adipositasprophylaxe oder als Antidepressivum All das ist Bewegung natürlich, aber auch einfach und simpel ein Lebenszeichen. Wer sind Sie? Habe ich mich gefragt, als ich von Gionduno Simeon eingeladen wurde. Ich stelle mir vor, Sie wissen alles über Diäten und richtige Ernährung. Ich bin sicher, Sie kennen Ihre persönliche Energiebilanz und die ihrer Kinder. Ich stelle mir vor, sie kennen die Body Mass Index Formel im Schlaf und machen sich immer wieder konturierte Gedanken über das grosse Nahrungsangebot in unserer westlichen Welt und die durch technischen Fortschritt nie dagewesene Bewegungsarmut. Deswegen versuche ich hier nicht Eulen nach Athen zu tragen sondern lade Sie ein zu einem halbstündigen Vita Parcours der etwas besonderen Art. Nehmen wir den Vita Parcours einmal beim Wort! Vita Parcours heisst zu deutsch und ungewöhnlich übersetzt: Lebenslauf! Und schon merken wir: Sport ist nicht nur Sport. Bewegung nicht nur Bewegung. Wer einen Schritt tut setzt nicht nur einen Fuss vor einen anderen! Er kommt auch anderswie vorwärts. Wie sehr die Physis mit der Psyche verbunden ist zeigen ja schon die unzähligen Ausdrücke, die einerseits eine sportliche Bewegung beschreiben und gleichzeitig noch einen tieferen Sinn haben, eine seelische Bewegung , Motion und Emotion, motion and emotion! Jemand hat eine Hürde genommen. Ein anderer springt über seinen Schatten. Leider gibt es auch welche , die aus der Bahn geraten,andere werden überrundet und noch mal andere hängen in den Seilen und werfen das Handtuch. Man ist k.o oder geht in den Endspurt. Wie hoch darf die Latte gelegt werden, frage ich Sie? Damit ich selbst nicht in den Wettlauf mit der Zeit gerate, mache ich hier einmal einen Punkt. Natürlich gibt es noch viel mehr Beispiele. Genau diese Vielschichtigkeit von körperlichem, seelischem und sozialem wird auch in meinem Vita Parcours mit 6 Posten eine Rolle spielen. Ich möchte die Zusammenhänge von Bewegungsmangel und Sucht, Sport und seelischer Gesundheit aufscheinen lassen - so nach dem Motto: Schwimmen können ist wichtig, denn Trinker sind Menschen, die versuchen, sich mit Alkohol über Wasser zu halten! Fangen wir an: Vita Parcours Posten 1: Vom Anwärmen , der Nestwärme und dem Liebesnest. (Illu) Wer meint, ins kalte Wasser springen zu müssen, ist vielleicht ein Held, ein guter Schwimmer wird er wohl nicht. Wer meint aus dem Stand, grosse Sprünge machen zu können, ist zwar ein Träumer aber wahrscheinlich kein guter Athlet. Wer meint aus dem Nichts, ein heisser Gegenspieler zu sein, den wird es womöglich kalt erwischen. Mit anderen Worten ohne warme Muskeln geht sehr wenig im Sport. Und ohne Wärme wird es schwierig im Leben. Erst recht ohne Nestwärme. Kinder und Jugendliche brauchen viel davon in einer , wie ich finde, ziemlich kühl gewordenen Welt. Dass Liebe, erst recht die elterliche Liebe, nie nur Lippenbekenntnisse sind, sondern ein Ganzkörpergeschehen ist , das wissen Sie alle. Und auch da zeigt die Sprache überdeutlich den wahren Zusammenhang zwischen Körper und Seele. Kinder müssen getragen und manchmal auch ertragen werden. Sie müssen gehalten werden, damit sie Halt bekommen. Und versorgt werden mit Nahrung, Windeln und mit Nestwärme im familiären Liebesnest . Und wenn niemand zu ihnen steht, sind sie auf verlorenem Posten. Klar, oder? Aber das mit der Liebe, das mit der Nestwärme im familiären Liebesnest fällt nicht immer leicht. Hand aufs Herz, haben Sie ihren Sprössling im Geiste nicht auch schon auf den Mond geschossen oder ins Pfefferland gewünscht? Ich glaube das alles gehört zur Liebe und ist wohl unter Reibungswärme abzubuchen, bei der durchaus, wenn’s ganz heiss wird, auch mal Feuer im Dach sein kann. Bei der Liebe von Erwachsenen zu Kindern könnten deshalb zwei Fairplay Regeln hilfreich sein: 1. das Verhalten vom Menschen trennen und 2. das Bemühen um un-bedingte Liebe. Zu 1: zur Trennung von Verhalten und Mensch, sprich Kind. -Ein Kind , das zum x ten Mal auf die Nase fällt, ist kein Tollpatsch mit zwei linken Füssen, sonder ein Kind das Schritte wagt, dabei manchmal strauchelt, aber bisher immer wieder aufgestanden ist. - Ein Junge, der das Trainingsziel nicht erreicht, ist kein Versager, sondern ein Junge, der noch einmal einen Anlauf nehmen kann. - Ein Mädchen, das die Sportstunde schwänzt, ist keine Schwänzerin, sonder eine, die grade anderen Bewegungen den Vorrang gibt. Sie verstehen, was ich meine. Liebe geht eben oft flöten, wenn ein spezifisches Verhalten mit der ganzen Person verwechselt wird und nur das Defizit gesehen wird. Und schon wird es kühl und die Nestwärme ist futsch. zu 2: zum Bemühen um un-bedingte Liebe. Das ist ein wichtiges Bemühen. Denn wir leben in einer materialistisch geprägten Welt und da spielt so oft die Gleichung >Liebe gegen Leistung< eine grosse Rolle. Auch schon im Leben mit den Kindern. Und natürlich auch im Sport. Anerkennung nur für die in den vordersten Rängen. Erlauben sie mir zum Thema "un- bedingte Liebe" eine persönliche Geschichte zu erzählen. Sie handelt von meinem Vater. Er war von Berufes wegen Schönschreiber. Ein Buchstabenfanatiker, sage ich Ihnen, einer der in Begeisterung ausbrechen konnte ob der Schönheit eines B`s oder G`s. Ich war eine Linkshänderin . Mit einer Sauklaue. Meine Hefte waren verschmiert und die Zeugnisnote in Schönschrift war ungenügend. Natürlich war ich traurig darüber. Ich hätte gerne schöner schreiben können wollen. Denn ich mochte die Buchstaben auch . Ich gab mir alle Mühe. Aber die Mühe fruchtete nicht. Als mein Vater die ungenügenden Note sah, umarmte er mich und weil er wusste , dass ich gerne Musik hatte und gerne tanzte, ging er mit mir in die Stadt kaufte Petite Fleur von Chris Barber und liess mich später, wieder daheim, auf seinen Füssen tanzen. So habe ich gelernt, dass Liebe ganz besonders unter die Haut geht, wenn sie leistungsunabhängig ist, un- bedingt eben. Selbstverständlich könnte man diese Geschichte über unterschiedliche Fähigkeiten in der Feinmotorik auch übertragen in die Grobmotorik. Dann wäre zu bedenken , mit wie viel Liebe ein bewegungsmuffliges Kind mit zwei linken Füssen rechnen könnte, wenn seine Eltern Sportasse sind. Soviel zum Posten 1. Vom Anwärmen, der Nestwärme und dem Liebesnest. Weiter geht’s im Vita- Parcours mit dem 2. Posten: Vom Start, vom Anfänger sein und vom Fehler machen dürfen. (illu) Aller Anfang ist schwer, sagt das Sprichwort. Richtig! Kommt dazu: Aller Anfang ist wichtig. Auf den Start kommt es an. Wer den vermasselt , hat es schwerer, gut im Rennen zu bleiben und die Kurve zu kriegen. Im Leben und auf der Rennbahn. Auf dem Parcours de la vie. Kinder sind Lebensanfänger. Dauernd tun sie etwas zum ersten Mal. Unendlich viel müssen sie lernen. Durchschlafen und den Pudding selber in den Mund schieben. Zum Spielzeug krabbeln und aus eigener Kraft die Treppe hoch. Sie müssen lernen "Ich" zu sagen und "Nein" und andere wichtige Wörter. Sie lernen vom Dreirad zum Zweirad zu kommen, sie fangen an mit austeilen und einstecken, wagen und zögern, gewinnen und verlieren. Wenn sie 7 sind und zur Schule kommen haben sie weit aus mehr gelernt als wir zwischen 30 und 70. Die Lebensstarter lernen nämlich besser, leichter, schneller und nachhaltiger als wir. Punkto Lernfähigkeit schlagen sie uns alle um Längen. Wir können uns getrost geschlagen geben. Wir können einfach schon zu viel und liegen deswegen, lernmässig gesehen, verglichen mit den Lebensanfängern ziemlich oft auf der faulen Haut. Macht nichts, denn wir können viel tun für die kleinen Durchstarter. Beispielsweise anwesend und fehlerfreundlich sein. Kinder brauchen die Chance, Fehler machen zu dürfen. Immer und immer wieder. Was sie nicht brauchen ist stetige Besserwisserei oder gar höhnische Kommentare. Nützlicher ist der Versuch, einen Fehlschlag so mit ihnen zu besprechen, dass sie fürs nächste Mal etwas daraus lernen und sich nicht einfach nur dumm und untüchtig fühlen müssen. Das ist mehr als Trost. Das ist Ermutigung. Ich mag das Sprichwort: Aus Fehlern wird man klug, drum ist einer nicht genug. Und Winston Churchill, der als Legastheniker, Linkshänder uns Schwergewicht weiss Gott so etwas wie eine Fehlerkultur haben musste, damit er es einmal zum Staatsmann bringen konnte, sagte in Bezug auf Fehler und Kind sein: "Es ist ein grosser Vorteil im Leben, die Fehler, aus denen man lernen kann, möglichst früh zu begehen". Das heisst, ein Fehlstart ist keine Katastrophe sondern eine Aufforderung zum Neuanfang. Der Parcours geht weiter, schon sind wie am 3 Posten angelangt. Vom Fairplay, Gewinnen und Verlieren (Illu) Im Sport geht es immer ums Ganze, sonst geht es um nichts. Im Spiel auch. Sonst ist es ein langweiliges Spiel. Ich erinnere mich an meine Kindheit mit dem Sommerspiel "Uri Schwyz und Unterwalden" einem Ballspiel im Garten, dass meine Geschwister , die Nachbarskinder und mich regelmässig vereinte. Da hatte am Anfang jeder 5 Leben. Am Schluss waren alle tot. Ausser dem Sieger. Eben, - es ging spielerisch gesehen ums Ganze, um Leben und Tod, um Gewinnen und Verlieren, um drin bleiben oder draussen sein. Das ist einfach wunderbar wertvoll. Da wird so viel Lebensnotweniges gelernt. So viel Gewaltund Suchtpräventives: man ist wer in der Gemeinschaft. man anerkennt die Regeln der Gemeinschaft, weiss bald was Fairplay ist, wer will schon ein Spielverderber sein? Man lernt den Frust aushalten, wenn man verliert. Und die Freude geniessen über einen Sieg, eine gelungene Leistung. Man lernt, den eigenen Körper kennen, und lernt , dass der Spass manchmal erst nach der Anstrengung kommt, lernt so , dass das Glück oft eine Überwindungsprämie ist und so länger anhält als der Instant Fun, der manchmal so schnell schal wird. So wird man auch einmal begreifen, dass Slow Food besser schmecken kann als Instant Drinks und Fast Food. Viel Gründe also , Kinder in Sport und Spiel zu unterstützen . Und da es dazu immer mehrere braucht, ist wichtig, dass in Schulen und Vereinen, Clubs und Freizeitgruppen Sport und Spiel gepflegt werden, weil viele Familien so klein geworden sind, dass es einfach keinen Spass macht. Völkerball zu dritt geht nicht, ebenso wenig wie eine Stafette zu zweit. Da verliert jeder, auch wenn er gewinnt, schnell einmal die Lust. So weit so klar . Und doch möchte ich in Sachen Fairplay, Gewinnen und Verlieren noch einen Gedanken nachschieben. Peter Bichsel hat mich auf die Idee gebracht. Ich hatte mit ihm einen gemeinsamen Auftritt . Es ging um Fussball. Um Kultur und Fussball. Bichsel sagte da, dass er, hätte er mehr Puste und nicht zwei linke Füsse gehabt, wohl nie Schriftsteller geworden wäre. Nur weil er im Fussball eine Niete war ,wurde er zum buchstabenverliebten Bücherwurm , zur weltabgekehrten Leseratte und später zu einem wunderbaren Schriftsteller. "Ich hatte", so sagte Bichsel in diesem Gespräch" zum Glück Eltern, die mich sahen , wie ich wirklich war, und die nichts aus mir machen wollten, das ich niemals hätte werden können." Das hat mich sehr beeindruckt. Es wird schon einen Sinn haben so wie es ist. Das ist eine andere Haltung als das weitverbreitete : Da muss was passieren! Ran an den Speck! Ab die Post! Zurück zum Fairplay , etwas altmodischer gesagt, zurück zur Gerechtigkeit, heisst das: Gerecht kann nie nur heissen: das Gleiche für alle. In unserem Fall viel Bewegung, Spiel und Sport für alle Kinder. Gerecht muss immer auch heissen: einem Kind gerecht zu werden. Und nicht für alle Kinder ist das, was für die meisten gut ist , auch gut. Wäre Bichsel zu Sport und Spiel verpflichtet worden, hätte er wohl früh sein Selbstwertgefühl verloren und wir wären um einen bedeutenden Schriftsteller ärmer. Apropos Selbstwertgefühl: Sie wissen ja so gut wie ich, dass das der Dreh- und Angelpunkt ist für Sucht- und Gewaltanfälligkeit. Wer gut um sich weiss, ist weniger gefährdet. Eine Garantie gibt es nicht, wie auch das Beispiel Bichsel zeigt. Weiter zum Posten vier im Vita Parcours. Vom Kraftraining und vom Wert des Widerstands. (illu) Im Kraftraum meines Fitnessstudios exerziert mir dreimal wöchentlich eine Gruppe ächzender , schwitzender , tief atmender Frauen und Männer eine Lebenswahrheit vor: Widerstand mach stark. Sie kämpfen mit Gegenkräften und legen sich an mit Gewichten, erweitern ihre Grenzen. So etwas ähnliches ist auch gut für Kinder. Auch Kinder brauchen Widerstand. Auch Kinder brauchen Gegenkräfte. Auch Kinder müssen ihre Grenzen ausloten und erweitern dürfen. Nicht als Kraftakt im Kraftraum . Sondern im Leben. Tag für Tag. Das Ich wächst nur am Du. Und das Du sind die Mütter, die Väter , Geschwister und andere Bezugspersonen. Und da gibt es natürlich die ganze Zeit Kräftemessen. Und Konflikte. Und Unbequemes, das einem zum ächzen, schwitzen und tief atmen bringt. Gut so, denn es gehört dazu. Weichgespültes hat einfach wenig Kontur. An Gummiwände kann man sich schlecht anlehnen. Ich mache ein Beispiel. Kinder wollen viel. Mal dies , kurz darauf das. Mal in den Malkurs, und dann zum Judo, mal ins Ballett und dann doch eher reiten. Daran ist nichts falsch. Kindliche Neugier und Experimentierlust sind ja sehr wertvoll. Aber ich denke, Eltern sollte nicht jede Bewegung mitmachen. Eltern sollten etwas dagegen halten, wie die Gewichte im Kraftraum. Eltern tun gut daran die schnellen Wünsche zu konturieren. Woher ich das habe? Von unserer jüngeren Tochter. Die ist nun 27 Jahre alt und spricht mit mir sehr gerne über die Kindheit. Kürzlich fragte ich sie, wann sie mich als Mutter mal richtig gut fand. Und sie sagte: "Als ich vier war, wollte ich doch unbedingt eine Katze haben, und da ich wusste, dass du Katzen auch sehr magst, war ich sicher, eine zu bekommen. Aber du hast mir dann gesagt, dass man eine Katze füttern , ihr ein Körbchen herrichten und das Kistchen putzen muss. Und dass ich das auch alles tun müsse. Und dass das ein bisschen viel sei, und dass ich vielleicht noch ein bisschen üben müsse....." Ich selbst erinnerte mich nicht an die Szene. Ich erinnere mich nur noch, dass ich mit meiner kleinen Hanna eine Zimmerpflanze kaufen ging, und ihr ein halbes Jahr vor ihrem Geburtstag die Aufgabe stellte, dies Grün regelmässig zu giessen, damit es nicht verdorre. Der Deal war: wenn die Pflanze am 5. Geburtstag noch grünt und womöglich sogar blüht, dann ist Platz für das Kätzchen. Mit anderen Worten, der kindliche Wunsch wurde etwas geprüft, Verantwortung für anderes Leben trainiert und Warten gelernt. Offenbar war das, was damals auch Tränen gab, auf die Länge gesehen lehrreich. Jedenfalls in der Einschätzung meiner Tochter. Wissen Sie, ich glaube nicht , dass es die kindliche Persönlichkeit günstig konturiert, alles zu schnell zu bekommen und wenn etwas nicht mehr ganz passt, es wieder subito abzustreifen. Ich halte nicht sehr viel vom Lebenszapping. Heute dies , morgen das, heute hier , morgen fort. Schwimmkurs und beim ersten Schluck Wasser in den falschen Hals gleich doch eher Judo. Judo und beim ersten Konflikt mit dem Lehrer doch eher frühenglisch. Frühenglisch und bei der zweiten Anstrengung doch lieber regelmässig Fussballtraining. Wie wäre es stattdessen mit kleinen Verträgen. Kindergerechten Abmachungen. Vom Geburtstag bis zum Namenstag dran bleiben, oder gar von Geburtstag zu Geburtstag und dann wieder neu sehen. Neu abmachen, neu vereinbaren. Es sei denn, es passiert etwas wirklich Gravierendes. Beispielsweise sexuelle Schummrigkeiten in der Dusche, oder seltsame Griffe beim Training. Das kommt vor. Leider nicht selten. Und ist ernst zu nehmen und Grund genug für schnelle Kinderschutzmassnahmen. Weiter im Parcours des Lebens , wir kommen zum Posten 5: Vom krummen Weg ins Ziel und vom Wert der Rituale (Illu) In der Sportwelt gilt der Superlativ. Der Schnellste gewinnt, der Stärkste ist der Sieger. Wer am meisten punktet kommt auf den ersten Rang. Da ist nichts schlechtes dran , denn Wettbewerb kann weiss Gott auch Spass machen. Und Superlative sowieso. Aber der schnellste Weg vom Start zum Ziel, das Lineare ist nur eine Zeitwahrheit. Es ist die modernere der Zeitwahrheiten. Die altmodischere Zeitwahrheit ist rund. Immer wieder kehrend. Nicht so vorwärtsgewandt sondern eher zentriert. Ich rede vom krummen Weg ins Ziel, ich rede von Umwegen und vor allem von Ritualen. Umwege haben einen schlechten Ruf in unserer effizienzorientierten Hochleistungswelt. Wer Umwege macht ,verliert wertvolle Zeit, denken viele. Ich kenne ein arabisches Sprichwort über Umwege. Ich mag es sehr, weil meiner Meinung nach viel Wahrheit drin steckt. Das Sprichwort heisst: Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Und Ortskenntnis brauchen wir in dieser komplexen Welt, weiss Gott. Und Kinder auch. Sie müssen sich früh schon Weltwissen aneignen können. Und das nicht in dem sie dauernd frühgefördert und nonstop von Erwachsenen animiert und beschäftigt werden , sondern auch indem sie sich langweilen dürfen. Aus der Langeweile entstehen oft so wunderbare Dinge wie Tagträume, Spiele mit Nichts, kleine Entdeckungen und die Vertiefung in sich selbst. Schon manch einer hat so das Lesen entdeckt. Langweile ist Leseförderung. Auf die Suchtprophylaxe bezogen ist ein gekonnter Umgang mit Langweile essentiell. Wer gelernt hat mit weissen Zeiten in sich umzugehen, braucht nicht gleich was von aussen , damit er wieder ins Lot kommt. Keinen Schokoriegel oder Bier. Keine Zapperei oder einen Schuss. Und noch etwas zur runden Wahrheit der Zeitmessung. Sie findet sich auf jeder Uhr. Der Zeiger dreht sich um die Mitte . Die Armbanduhren mit den Digitalziffern, die die Zeit als lineare Wahrheit darstellen, sind interessanterweise längst aus der Mode gekommen. Die runde Wahrheit der Zeitmessung spiegelt sich in Ritualen. Wenn vieles so schnell immer wieder anders wird, ist es gut, wenn manches ähnlich oder gar gleich bleiben kann. Rituale schaffen weiche Strukturen und lebensfreundliche Ordnung. Es sind Momente des Innehaltens und damit verbunden des Innewerdens und der Orientierung, der Sicherheit, der Ruhe und eben der Geborgenheit. Das Sonntagsfrühstück und der wöchentliche Spielabend, die Gute Nachtgeschichte und der regelmässige Besuch bei lieben Leuten, die stille Konzentrationsrunde vor dem Training und das Saturday Night Fever , der Hausaufgabentee und das Feierabendgespräch, das Körperpflegestündchen nach der grossen Anstrengung, die Versöhnung nach dem Streittag vor dem Schlafengehen, der Ausgehabend der Eltern und das Heile Heile Säge Lied, wenn das Kind sich verletzt hat. Diese wunderbar versichernden Kleinigkeiten haben die entlastende Fähigkeit, dass sie Ordnung schaffen , ohne dass zur Ordnung gerufen werden muss. Das ist so meine ich Gold wert. Für kleine aber auch für grosse Menschen. Allerdings müssen auch Rituale verhandelbar und wandelbar bleiben, damit sie lebendig bleiben. Zum sechsten und letzte Posten in unserem halbstündigen Vitaparcours: Von Vorgängern und Vorbildern (Illu) Wären wir jetzt wirklich gemeinsam draussen unterwegs im Wald oder auf dem Feld von Posten zu Posten dann gäbe es hier eine sehr einfache Übung. Vorzugsweise läge Schnee, oder es wäre sumpfig: Jemand ginge voraus , und die anderen müssten in seine Fusstapfen treten, so dass hinterher nur ein paar Fusstritte sichtbar wären. Natürlich ist der eigene Weg auch ein hoher Wert, aber hier ginge es um Vorgängertum im wahrsten Sinne des Wortes. Wie schön ist es für Kinder , auch Menschen um sich zu haben, die schon mehr Welterfahrung haben als sie. Die schon wissen , wie Schule sein kann , schon mal im Krankenhaus waren, schon mal vor Liebeskummer tränenblind und halb erstickt dem Leben innerlich abschworen. Vorgängerinnen und Vorgänger. Eltern eben. Leibliche oder soziale. Das ist nicht so wichtig. Menschen einfach, die Verantwortung übernehmen für den Weg, den Vita Parcours. Menschen , die den Kindern einiges aus dem Weg räumen, ihnen aber durchaus mal ein Hindernis zutrauen, indem sie ihnen zeigen, dass und wie es überwunden werden kann. Menschen, die ihre Gangart anzupassen wissen, ohne ganz auf Sprünge zu verzichten. Menschen, die ihr Tempo drosseln, wenn die Nachfolgenden vom Weg abkommen. Menschen mit Vorausblick und Rücksicht. Gute Eltern eben. Soviel zu den Vorgängern. Vorgänger taugen oft zu Vorbildern Apropos Vorbild: Eine wahre Geschichte über den Pazifisten Mahatma Gandhi. Die Geschichte geht so: Eine Mutter brachte ihren Sohn zu Mahatma Gandhi und sagte: "Bitte Meister, sagt meinem Sohn, er soll aufhören , Zucker zu essen." Gandhi schaute dem Jungen tief in die Augen und antwortete der Mutter: "Bringe ihn mir in zwei Wochen wieder." "Aber Meister", sagte die Mutter " wir sind einen weiten Weg hierher gekommen. Bitte schickt uns nicht fort. Bitte sagt meinem Sohn, er soll aufhören, Zucker zu essen." Wieder schaute Gandhi dem Jungen tief in die Augen, und wieder antwortete er:" Bringe mir deinen Sohn in zwei Wochen wieder." Zwei Wochen später kehrten Mutter und Sohn zurück. Wieder sagte die Mutter:" Bitte Meister, sagt meinem Sohn er soll aufhören, Zucker zu essen." Gandhi schaute dem Jungen tief in die Augen und sagte: "Höre auf Zucker zu essen." Die Mutter antwortete:" Oh danke Euch Meister, danke. Aber bitte sagt mir, warum ihr uns vor zwei Wochen erst fortgeschickt habt. Warum habt ihr meinem Sohn nicht schon vor zwei Wochen gesagt, er solle aufhören, Zucker zu essen?" Gandhi antwortete: "Vor zwei Wochen ass ich selbst noch Zucker." Soviel zum Thema Vorbild. Die Sache mit dem Zucker liesse sich unschwer auch auf andere Gebiete ausdehnen. Auf das Rauchen zum Beispiel. Oder auf Couchpotato Abende vor der Glotze Tag für Tag , oder auf anderes. Sie verstehen schon. Aufs Vorbild kommt es eben an. Und das sind Sie so oder so. Ob Sie es wollen oder nicht. Ihre Kinder schauen ihnen auf die Finger und auf den Mund. Überhaupt überall hin. Dauernd. Vor allem dann , wenn sie es gar nicht ahnen. Pädagogisch gesehen ist das Unbeabsichtigte ebenso wirksam wie das Beabsichtigte. Um Paul Watzlawik zu zitieren. Man kann nicht nicht kommunizieren! Damit sie nun aber ob diesem Parcours nicht allzu sehr ins Schwitzen geraten oder gar kopfscheu werden noch ein Letztes zur Beruhigung, bewegungstechnisch gesehen zum Entspannen: Vorbildliche Eltern sind wichtig. Aber vorbildlich heisst noch lange nicht perfekt. Kinder brauchen nämlich keine perfekten Eltern. Genügend Gute sind genügend vorbildtauglich . Oder wie der weltberühmte englische Kinderarzt und Psychotherapeut Donald Wood Winnicott es einmal formulierte: Genügend Gute sind gut genug. Und genügend gut sind die, die für die Kinder das Gute wollen: und das ist wie alle Italiener wissen ein Synonym für Liebe. Da sagt man ja nicht nur "Ti amo" , ich liebe dich, sondern auch "Ti voglio bene" , ich will für dich das Gute. Und schon sind wir wieder beim Posten 1, sie erinnern sich, da ging es um die Nestwärme. Wir sind am Ziel. Der Vita Parcours ist zu Ende. Ich hoffe , sie sind nicht allzu sehr ausser Atem geraten. Danke dass sie mich auf diesem etwas besonderen Weg begleitet haben.