Die reanimierte Musik

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„Man kann ihnen das Musikleben wiedergeben.“
Interview mit Frank Harders-Wuthenow*
Natalia Laska: Du bist Musikwissenschaftler und -produzent und beschäftigst dich mit
Musikern, die im Nationalsozialismus und im Stalinismus verfolgt wurden. Warum müssen wir
uns immer wieder mit den schwärzesten Kapiteln des 20. Jahrhunderts beschäftigen?
Frank Harders-Wuthenow: Wie soll sich eine Gesellschaft, die ihre Vergangenheit nicht kennt, in die
Zukunft projizieren? Die Deutschen stehen zweifellos mehr in der Pflicht gegenüber der Geschichte
als andere Nationen. Aber natürlich gilt das für alle gleichermaßen. Und vieles, gerade in der
Kulturgeschichte, ist nach wie vor nicht aufgearbeitet.
Aus Schuldgefühlen?
Es gibt eine Verantwortung. Und Hitler darf in letzter Instanz nicht Recht behalten mit seinem
Richtspruch über wertes und unwertes Leben, werte und unwerte Kunst.
Wie kam es zu deinem ersten Kontakt mit polnischer Musik?
Das war unbewusst. In meiner Kindheit. Meine Mutter, eine große Musikliebhaberin, hatte natürlich
Schallplatten. In ihrer Sammlung fand sich auch Chopin. Das war eine naive musikalische Erfahrung,
ich habe ihn nicht als polnischen Komponisten wahrgenommen. Die Herkunft hatte gar keine
Bedeutung, es zählte der Eindruck von etwas Schönem, das mich überwältigte.
Und dann?
Das initiale Erlebnis war 1990. Ich arbeitete damals als Musikdramaturg an der Oper in Bielefeld.
Dort erweckte seit Mitte der achtziger Jahre ein couragiertes Team die Opern von zu Unrecht
vergessenen Komponisten zu neuem Leben, speziell die von Komponisten jüdischer Herkunft, die in
Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus verboten, verfolgt und zum Teil umgebracht worden
waren. Werke von Halevy, Meyerbeer, Korngold, Schreker, Krenek, Ullmann und anderen wurden aus
dem Vergessen geholt. Das waren in vielen Fällen die ersten Aufführungen seit 1933.
Worauf beruht eine solche musikalische Archäologie?
Das stimmt, es war eine Tätigkeit, die an Ausgrabungen erinnert. Es gab von vielen Opern natürlich
keine Aufnahmen, also musste man sich durch Lektüre der Noten ein Bild von den Stücken machen.
Manchmal war es schwierig, die Partituren zu finden, wenn man bei Recherchen auf einen Titel
aufmerksam wurde. Es war sehr viel Arbeit, auch bei der Aufarbeitung von Biographien, der
Erkundung der historischen und kulturpolitischen Kontexte, in denen ein Werk entstanden war. Viel
Zeit also in Bibliotheken und Archiven.
Und findet man dort alles?
Nein. Von der Oper Fremde Erde von Karol Rathaus war die Partitur des dritten Aktes verloren
gegangen. Ich habe dann in der Sommerpause die Orchesterstimmen mithilfe eines
Notensatzprogrammes spationiert und damit die Partitur wiederhergestellt. Die Begegnung mit
Rathaus bedeutete für mich mehr als nur den Kontakt mit einem großartigen Komponisten. Es war
auch meine erste Begegnung mit dem Phänomen der polnischen exterritorialen Musik.
Und was ist das?
Die gewaltsam unterbrochene Entwicklung einer unabhängigen nationalen Kultur nach der
endgültigen Teilung Polens durch die Teilungsmächte Russland, Preußen und Österreich bedeutete für
Generationen polnischer Intellektueller und Künstler die Notwendigkeit, ihre Talente im Ausland zu
entfalten. Viele polnische Künstler des 19. Jahrhunderts waren Emigranten. Der nicht enden wollende
Strom polnischer Intellektueller und Künstler fand Asyl in Paris, Brüssel, Wien, Berlin, Leipzig,
Dresden, New York usw. Sie verließen ihre Heimat nicht nur aus Protest gegen das ihnen oktroyierte
Regime, sondern auch, um die politische Verfolgung zu umgehen. Das polnische Kulturleben wurde
eingefroren. Der Schriftsteller Tadeusz Nowakowski hat das gut auf den Punkt gebracht: „In einem
Lande, dessen Nationalhymne, dessen Nationalepos, dessen Nationaldrama in der Emigration
geschrieben wurden, kann das Wort ‚Emigrant‘ nicht herabsetzend klingen.“
Du gibst in der Reihe Poland Abroad CDs heraus, zu jeder dieser CDs gibt es eine biografische
Notiz. Ich weiß nicht, ob Simon Laks, Gregor Fitelberg oder Władysław Szpilman sich selbst als
jüdische Künstler definiert haben, ich denke, sie haben sich in erster Linie als Komponisten
gesehen. Wie kann man ermitteln, inwieweit diese Komponisten Polen und in wieweit sie Juden
waren? Braucht man heute, um ihre Musik zu verkaufen, den Holocaust und das Etikett
„polnischer Komponist jüdischer Herkunft“?
Das haben manche Labels, manche Serien tatsächlich getan. Ich finde das auch sehr problematisch.
Deshalb nenne ich unsere Reihe auch „Poland Abroad“ und nicht „Polnische Komponisten jüdischer
Herkunft“. Außerdem nehmen wir nicht nur Komponisten jüdischer Abstammung auf. In der Serie
sind z. B. Karłowicz, Morawski und Padlewski vertreten. Leider haben wir hier nicht den Raum, die
Frage der jüdischen Identität in der Musik zu erörtern, sicher ist aber, dass viele jüdische Musiker sich
einfach als Musiker empfanden, ihre Abstammung stand für sie nicht im Vordergrund, und dass sie
erst durch die historischen Umstände, d. h. durch die Nazi-Ideologen und ihre Vollstrecker, zu
jüdischen Musikern gemacht wurden. Man darf aber auch nicht vergessen, dass gerade die jüdische
Assimilation in Polen nur mit großer Mühe vonstatten ging und viele assimilierte jüdische Künstler
noch in den zwanziger und dreißiger Jahren Polen wegen des dort verbreiteten Antisemitismus
verließen.
Vielleicht sollte die Musik dieser Komponisten einfach für sich stehen?
Man muss Joachim Mendelsons Leben natürlich nicht kennen, um ihn zu hören. Seine Musik ist
einfach wunderschön und im Zusammenhang mit einer europäischen, nicht nationalen Sicht auf die
Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts höchst aufregend. Aber es wäre naiv, seinen Lebenslauf zu
ignorieren. Manche Komponisten kann man nicht aus dem Zusammenhang des Holocaust reißen.
Können diese Werke ohne den Schatten der Shoah nicht wieder zum Leben erweckt werden?
Nein.
Schade.
Die Tatsachen lassen sich nicht leugnen. Im Übrigen rezipiert der Mensch Musik emotional. Die
Biografien der Musiker rufen sehr starke Emotionen hervor. Roman Padlewski wurde während der
Besatzungszeit durch die Nazis erschossen. Simon Laks verbrachte zweieinhalb fürchterliche Jahre in
Auschwitz, er war dort Dirigent der Lagerkapelle. Die Mehrheit der Werke von Eugeniusz Morawski
sind während des Warschauer Aufstandes in seiner Wohnung verbrannt. Seit 1944 wurde Morawski
von niemandem mehr gespielt. Er ist quasi verschwunden. Lediglich seine Schüler haben überlebt:
Grażyna Bacewicz, Andrzej Panufnik, Witold Lutosławski. Es geht darum, die Komponisten, deren
Lebensläufe direkt durch den Zweiten Weltkrieg, die Besetzung Polens durch die Nazis und durch den
Holocaust Schaden genommen haben, zu rehabilitieren.
Kannst du noch mehr Namen nennen?
Unter anderem Grzegorz und Jerzy Fitelberg, Józef Koffler, Paweł Klecki, Andrzej Czajkowski,
Joachim Mendelson, Karol Rathaus, Aleksander Tansman, Szymon Laks, Władysław Szpilman, um
nur einige zu nennen. Es ist eine lange Liste. Von ihnen ist nur Tansman, der vor dem Zweiten
Weltkrieg schon zu den meistgespielten zeitgenössischen Komponisten gehörte, heute (noch) relativ
bekannt.
Warum sind diese Musiker nach dem Krieg in Vergessenheit geraten?
Bis auf wenige Ausnahmen wurden diese Exil-Komponisten komplett aus dem kollektiven Gedächtnis
gestrichen, sowohl „zu Hause“ als auch im Land ihres Exils – ich denke, ausschlaggebend dafür war
die Tatsache, dass sich ihr Leben und ihre Arbeit größtenteils im Ausland abgespielt haben. Der alten
Heimat waren sie entfremdet und in der neuen nicht integriert genug, um z.B. als amerikanische,
französische oder englische Komponisten wahrgenommen zu werden.
So ist es bei Rathaus, der sich als polnischer Komponist empfand, der sich während des Zweiten
Weltkriegs als aktives Mitglied der Polonia in New York für die polnische Sache einsetzte, dem
polnischen Publikum aber bis vor kurzem vollkommen unbekannt war. Man kann diese Biografien
nicht ändern. Man kann das Unrecht, das den Menschen geschehen ist, nicht rückgängig machen. Man
kann den Schaden, den die Kulturgeschichte während der grauenvollen dreizehn Jahre der
Naziherrschaft genommen hat, nicht reparieren. Aber man kann dafür sorgen, dass die Kompositionen
in die Konzertsäle zurückkehren.
Man kann ihnen das „Musikleben“ wiedergeben.
Das Publikum muss sie erst einmal wahrnehmen. Dann wird sich entscheiden, ob diese Musik es wert
ist, in den Kanon des internationalen Repertoires aufgenommen zu werden, oder ob sie ausschließlich
dokumentarischen Wert hat. Denn der Status quo ist ja leider, dass niemand die Werke all dieser
polnischen Komponisten aufführt. Bei den Aufnahmen unserer Reihe Poland Abroad handelt es sich
fast ausschließlich um Weltersteinspielungen. Ich gebe aber die Hoffnung nicht auf. Denn wenn es
einmal gelingt, ein Werk zur Aufführung zu bringen, dann heißt es im Grunde immer: „Wow, das ist
phantastisch, wie ist es möglich, dass wir das nicht kennen?“ Bei uns kennt man nicht einmal die
Namen dieser Musiker.
Warum nicht?
In den Schulen und an den Universitäten, nicht nur in Deutschland, herrscht eine darwinistische
Interpretation der Kulturgeschichte. Für die Geschichte existiert und zählt nur das, was stark genug
war zu überdauern. Dass sich hinter dieser Ansicht Gedankenfaulheit und Herzensträgheit verbergen,
habe ich erst im fortgeschrittenen Alter verstanden. Und dann sieht man sich irgendwann mit der
Situation konfrontiert, dass einem die Musik bestimmter unbekannter Komponisten viel näher ist als
vieles von Beethoven, Wagner und Bruckner; und dass man offenbar Musik auch anders hört. Ich
kann Wagner und Bruckner nicht hören, ohne daran denken zu müssen, was die Nazis aus ihrer Musik
gemacht haben, bzw. was sich aus und mit ihrer Musik machen ließ. Und hier stellt sich die Frage, wer
nimmt sich derer an, die nicht so unerträglich laut sind? Die keine Stimme haben, keine Lobby, weil
ihre Musik nicht in bestehende Schubladen passt und im Musikmarkt stört, weil sich kein
Konsumartikel daraus machen lässt. Ein Musikstück einzustudieren ist mühsam, und welcher Star tut
das schon gern, wenn es kein Veranstalter haben will und er es vielleicht nur ein, zweimal spielen
wird. Wer also nimmt sich dieser Komponisten an?
Frank Harders-Wuthenow?
(lacht) Aber nicht allein. Seit 1997 arbeite ich für Boosey & Hawkes, einen der großen internationalen
Musikverlage mit langer Tradition. Das passt ausgezeichnet. Der Verlag wurde für viele deutsche und
österreichische Komponisten im Exil zur verlegerischen Heimat. Bei Boosey & Hawkes herrscht eine
günstige Atmosphäre für diese Arbeit. Man kann an Bestehendes anknüpfen und existierende Kataloge
weiter ausbauen. Karol Rathaus etwa war bereits mit einigen wichtigen, nach seiner Flucht aus
Deutschland komponierten Werken bei Boosey & Hawkes verlegt. Man fängt also nicht von vorn an.
An die Verlagsarbeit, durch die ich ja in Kontakt mit vielen Musikern, Veranstaltern, Entscheidern bei
den Rundfunkanstalten usw. bin, knüpft unser Label eda-records, um das ich mich neben der
Verlagsarbeit mit einem Kollegen und Freund zusammen kümmere, auf ideale Weise an. Die Reihe
Poland Abroad entstand recht spontan im Anschluss an ein Festival mit unbekannter polnischer
Musik, das ich 2004 im Konzerthaus Berlin kuratieren durfte (aus Anlass des Beitritts Polens zur EU).
Sie wurde bereits Ende der neunziger Jahre vorbereitet, als wir die beiden ersten Klaviersonaten von
Karol Rathaus und Jerzy Fitelberg aufnahmen. Das geschah im Rahmen einer Serie, die den Wiener
und Berliner Meisterschülern Franz Schrekers gewidmet war. Da war ich mir überhaupt nicht darüber
im Klaren, welchen Raum die polnische Musik einmal in meinem Leben einnehmen würde.
1998 sind Musik in Auschwitz von Simon Laks und Das wunderbare Überleben von Władysław
Szpilman in deutscher Übersetzung erschienen.
Ja, aber fast niemand kannte ihre Musik. Sie war ja nicht mal verlegt. Ich habe mich im Jahr 2001 mit
den Söhnen der Komponisten getroffen, André Laks und Andrzej Szpilman, und wir sind hinsichtlich
der Publikationspläne schnell übereingekommen. Die Situation war so, dass die Musik ihrer Väter, die
vor dem Krieg komponiert worden war, größtenteils im Krieg zerstört wurde, und dass, was nach dem
Krieg entstand, entweder nie erschienen war oder einfach nicht neu aufgelegt wurde. Und was die
Label-Arbeit betrifft: Das Projekt Poland Abroad will ein wichtiges, aber verschüttetes kulturelles
Erbe der europäischen Kulturgeschichte lebendig machen und damit zu seinem Erhalt und seiner
Verbreitung beitragen.
Ist das gelungen?
Es ist mühsam, aber wenn ich sehe, was in kurzen zehn Jahren erreicht werden konnte, bin ich
optimistisch. Polens Beitrag zur Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ist essenziell, und ich bin der
festen Überzeugung, dass viele Protagonisten dieser vergessenen Generation polnischer Komponisten
ins internationale Musikleben (zurück)finden.
Ich glaube fest daran! Vielen Dank für das Gespräch.
________
*Frank Harders-Wuthenow
Geboren 1962 in Wiesbaden. Studium der Musikwissenschaft, Philosophie und Romanistik an den
Universitäten Mainz und Hamburg. Musikstudium in Komposition/Theorie an der Hochschule für
Musik und Theater Hamburg. 1990 bis 1996 Dramaturg am Theater Bielefeld. Seit 1993 Mitarbeiter
der Société internationale Franz Schreker in Paris. Aufarbeitung des kompositorischen
Nachlasses Schrekers (Editionen, Rundfunk- und CD-Produktionen). Seit 1997 Mitarbeiter der
Berliner Niederlassung des Musikverlags Boosey & Hawkes (PR, Lektorat). Seit 1996 Produzent und
Teilhaber des Labels eda-records (Schwerpunkt Musik von Komponisten des 20. Jahrhunderts, die im
Faschismus und Stalinismus unterdrückt und verfolgt wurden). Mitbegründer der Europäischen
Plattform für im Nationalsozialismus verfolgte Musiker (Wien 2006). Zahlreiche Veröffentlichungen
und Rundfunkproduktionen zum Thema „Verfemte Musik“. Harders-Wuthenow wurde für sein
Engagement für die polnische Musik 2011 vom polnischen Minister für Kultur und nationales Erbe
Bogdan Zdrojewski mit dem Orden Gloria Artis, und 2012 vom polnischen Staatspräsidenten
Bronisław Komorowski mit dem Kavalierkreuz des Verdienstordens der Republik Polen
ausgezeichnet.
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