Arbeitstexte zur Lehrveranstaltung Sommer 2006 Fachseminar für Sonderpädagogik Reutlingen Elke Hamburger 0 Inhaltsverzeichnis Kapitel 1: Einleitung 2 1.1 Unterrichtsplanung 2 1.2 Lernen 4 Kapitel 2: Reformpädagogik 6 2.1 Maria Montessori 7 2.2 Peter Petersen 8 2.3 Celestin Freinet 9 2.4 Helen Parkhurst 12 2.5 Berthold Otto 14 Kapitel 3: Offener Unterricht 15 3.1 Lernen an Stationen 15 3.2 Tages- und Wochenplanarbeit 17 3.3 Freiarbeit 18 3.4 Projektarbeit 19 3.5 Aufgabe 21 3.6 Haltungen des Lehrers / der Lehrerin 22 3.7 Umstellung des Unterrichts 24 3.8 Anforderungen an das Material 26 Kapitel 4: bewegter Unterricht 27 4.1 Einleitung 27 4.2 Bewegung und kindliche Entwicklung 28 4.3 Bewegung und Lernen 30 4.4 Bewegung und Unterricht 32 4.5 Klassenräume - Bewegungsräume 34 4.6 Zusammenfassung 35 4.7 Vier verschiedene Ebenen des bewegten Lernens 36 Zwei Beispiele 37 Literatur 38 1 Kapitel 1 Einleitung Der Begriff „Alternative“ bedeutet, dass es eine Möglichkeit gibt zwischen zwei oder mehreren Dingen zu wählen. Das Wort entstand aus dem lateinischen „alternus“, was so viel bedeutet wie abwechselnd bzw. wechselweise. Diese Grundbedeutung soll zu Beginn schon deutlich machen, dass es in diesem Skript nicht darum geht, den fragend-entwickelnden, lehrerzentrierten Unterricht abzuschaffen. Es geht mir vielmehr darum, den Blick zu öffnen für andere Unterrichtsmethoden, die sich mit lehrerzentrierten Angeboten abwechseln sollen. 1.1 Unterrichtsplanung Jede Lehrerin / jeder Lehrer muss bei der Planung von Unterricht ständig Entscheidungen treffen. Sie / er entscheidet sich für einen Inhalt (Thema), für Ziele, für Medien und Methoden. Sich für etwas zu entscheiden bedeutet zugleich auch sich gegen etwas zu entscheiden. Die Entscheidung muss legitimiert und offen gelegt werden. Alle Entscheidungspunkte sind eng miteinander verknüpft - wie bei einem Spinnennetz. Wird an einer Stelle etwas verändert, so wackelt das ganze Netz und muss auf seine Richtigkeit, auf seine „Vollständigkeit“ untersucht werden. Die Entscheidung für eine Unterrichtsmethode, für eine Form der Unterrichtsinszenierung, ist also abhängig von - den Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler und ihrer Lebenswirklichkeit - den Zielen, die ich im Unterricht erreichen möchte - den Inhalten und Themen 2 - den vorhandenen Medien und Materialien den Organisationsstrukturen der jeweiligen Schule den Kompetenzen und Sichtweisen der Lehrer/innen Bevor wir uns nun verschiedenen alternativen Unterrichtsmethoden zuwenden, sollte zuerst der Begriff „Methode“ und der Fachbegriff „Unterrichtsmethode“ erläutert werden. Methode Griechisch; meta = hinterher, nach Hodos = Weg, Gang Das griechische „methodos“ bedeutet Weg oder Gang einer Untersuchung, nach festen Regeln oder Grundsätzen geordnetes Verfahren. Unterrichtsmethoden „sind planmäßige, zielorientierte Verfahren, Schritte und Formen des Lehrens und Lernens bei der Vermittlung bzw. Aneignung vorgegebener oder selbstbestimmter Lerninhalte“ (Strassmeier 2000, Seite 111). Oder anders formuliert: Unterrichtsmethoden konstruieren Lernwege – was beim Schüler ankommt, wird auch davon beeinflusst, wie der entsprechende Inhalt inszeniert und vermittelt wird. Unterrichtsmethoden können also Lernen ermöglichen, erleichtern aber leider auch verhindern. Da Lernen ein zutiefst eigenständiger Prozess ist, kann lernen auch nie von außen veranlasst, sondern nur angeregt werden. Wie lernen funktioniert bzw. „wie arbeitet unser Gehirn“ habe ich auf der nächsten Seite versucht grafisch darzustellen. 3 1.2 Lernen Bewusste Verarbeitung von Daten Neue Daten werden mit bekannten Informationen aus dem Langzeitgedächtnis verglichen 2 bis 3 Sekunden Aufmerksamkeit Ultrakurzzeitgedächtnis Dauerhafte Speicherung von Informationen Aber Wissen, das nicht oft genug abgerufen bzw. benötigt wird, gleitet ins Unbewusste ab – wird zum passiven Wissen Arbeitsgedächtnis / Kurzzeitgedächtnis Kerninformation Lernstoff / Reiz Vorzimmer des Gedächtnisses Speicherung Das Gehirn arbeitet länger als man lernt – auch im Schlaf! Langzeitgedächtnis 4 Da Lernen ein zutiefst eigenständiger Prozess ist, ist lernen auch abhängig von der Aufmerksamkeit, der Motivation und der Neugier der Lernenden. Dies sind individuelle Komponenten, die alleine schon deutlich machen, dass ein Unterricht schülerorientiert geplant und durchgeführt werden muss. Die Tatsache, dass an der Schule für Geistigbehinderte teilweise extrem heterogene Klassen zustande kommen, zwingt die Lehrer/innen dazu, unterschiedliche Zugehensweisen zu berücksichtigen. „Jede Schülerin und jeder Schüler verfügt über ein bestimmtes Niveau der handelnden Auseinandersetzung mit der Welt. Das Handlungsniveau kann überwiegend sinnlich-wahrnehmend handelnd-aktiv bildlich-darstellend und begrifflich-abstrakt sein. Die Handlungsniveaus sind altersübergreifend und erlauben keine Rückschlüsse auf das Lebensalter der Schülerinnen und Schüler. Die Differenzierung der Ziele hinsichtlich der Handlungsmöglichkeiten einer Schülerin / eines Schülers orientieren sich an den Handlungsniveaustufen. So ist gewährleistet, dass ein gemeinsamer Unterrichtsgegenstand zu einer Thematik auf verschiedenen Handlungsniveaustufen individualisiert und zieldifferent inszeniert werden kann. Dadurch wird der Unterrichtsgegenstand mit dem Niveau der Handlungskompetenz der Schülerin und des Schülers verbunden“ (Abschlussbericht der Arbeitsgruppe „Bildungsprojekt Schule für Geistigbehinderte“ 2004, Seite 38f). 5 Kapitel 2 Reformpädagogik Alle Formen von selbstorganisierten Lernens haben als gemeinsames Kennzeichen die Verlagerung der Aktivität und Entscheidung vom Lehrer / von der Lehrerin auf die Schüler hin. Unter dem Oberbegriff „selbstorganisiertes Lernen“ findet man in der Literatur verschiedene Unterrichtsmethoden, z.B. LdL (Lernen durch Lehren) EVA (eigenverantwortliches Lernen) WELL (wechselseitiges Lehren und Lernen) Offener Unterricht Unter offenen Unterrichtsformen versteht man insbesondere folgende Methoden: o Lernen an Stationen o Tages- und Wochenplanarbeit o Freiarbeit o Projektarbeit (Nähere Erläuterungen folgen im Kapitel 3) Offener Unterricht ist wiederum ein Sammelbegriff für verschiedene Ansätze, deren Wurzeln in der Reformpädagogik zu finden sind. Im Zentrum des reformpädagogischen Denkens steht nicht die Schule und ihre Ansprüche an das Kind, sondern die optimale Entwicklung des Kindes und des Jugendlichen. Die Schule ist aufgefordert diese Entwicklung zu ermöglichen. „Aus einer liberalen Grundeinstellung mit starkem sozialen Engagement heraus forderten die Reformpädagogen die ‚neue, freie Schule’, in der allein das Kind im Mittelpunkt allen erzieherischen Denkens und Handelns stehen sollte. Unter Berücksichtigung neuester psychologischer Kenntnisse sollten Erziehung und bestmöglichste Entwicklung der Persönlichkeit der Kinder den Unterricht bestimmen; die Schule sollte zu einer lebensnahen Gemeinschaft werden, in der die Kinder aktiv werden können und so durch selbsttätiges lernen zu verantwortungsbewussten, mündigen und toleranten Mitgliedern der Gesellschaft werden.“ (http://coforum.de) Wesentliche Vertreter der Reformpädagogik waren 1. 2. 3. 4. 5. Maria Montessori (1870 – 1952) Peter Petersen (1884 – 1952) Celestin Freinet (1896 – 1966) Helen Parkhurst Berthold Otto (1859 – 1933) Die nun folgenden kurzen Erläuterungen zu den grundlegenden Elementen der einzelnen Reformansätzen sind aus dem Internet entnommen www.schule.suedtirol.it/reformpädagogik 6 2.1 Maria Montessori (1870 – 1952) Im Zentrum ihres frühen Forschungsinteresses stand das wissenschaftliche Studium der Aufmerksamkeit, gefasst unter der Bezeichnung "psychische Reaktionen" sowie die experimentelle Untersuchung der Anregungsbedingungen. Für diesen Untersuchungsansatz griff Maria Montessori auf die einschlägigen Forschungsarbeiten von Jean Gaspard Itard und Eduard Séguin zurück. Maria Montessori bezog einen weiteren Faktor mit ein: das Studium der Entwicklung des Kindes, und zwar nicht als Voraussetzung erster kinderpsychologischer Erkenntnisse, sondern als Beobachtung kindlicher Selbstäußerungen unter Gewährung von Entwicklungsfreiheit in konkret gestalteten pädagogisch-didaktischen Situationen. Die Polarisation der Aufmerksamkeit ist das Schlüsselphänomen, dessen Entdeckung Maria Montessori den Zugang zu einer wirksamen Unterstützung kindlicher Entwicklung gewiesen hat. Sie nennt dieses Phänomen "einen wichtigen Stützpunkt, auf dem sich die kindliche Arbeit aufbaut." "Dies ist offenbar der Schlüssel der ganzen Pädagogik: diese kostbaren Augenblicke der Konzentration zu erkennen, um sie beim Unterricht in Lesen, Schreiben, Rechnen, später in Grammatik, Mathematik und Fremdsprachen auszunützen. Alle Psychologen sind sich übrigens darin einig, dass es nur eine Art des Lehrens gibt: tiefstes Interesse und damit lebhafte und andauernde Aufmerksamkeit bei den Schülern zu erwecken." Kinder sind anders, und Kinder lernen auch anders als Erwachsene. Maria Montessori wie Jean Piaget verweisen hier deutlich auf die Eigenbedeutung der Kindheit, womit sie betonen, daß Kindheit nicht nur als Vorbereitung auf das Erwachsensein gesehen werden kann: Beide schreiben übereinstimmend, dass die intellektuellen und moralischen Strukturen des Kindes von denen der Erwachsenen grundsätzlich verschieden sind, dass aber das Kind dem Erwachsenen in seinen wichtigsten Funktionen sehr ähnlich ist. Wie er ist es ein aktives Wesen, und seine Aktivität unterliegt den Gesetzen des Interesses und innerer und äußerer Bedürfnisse. Dieser Prozess einer intensiven persönlichen Entwicklung, eines intensiven individuellen Lernens bedarf einer für alle Beteiligten einsichtigen und akzeptierbaren pädagogischen Struktur. Das Ziel aller Erziehungsbemühungen ist für Maria Montessori die aktive Förderung kindlicher Unabhängigkeit und Selbstständigkeit durch Selbsttätigkeit. 7 2.2 Peter Petersen (1884 – 1952) Der Jenaplan ist keine Unterrichtsmethode! Er ist vielmehr ein pädagogisches Konzept für "Eine freie allgemeine Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung." Peter Petersen leitet seine Erziehungsidee mit einer Frage ein: "Wie soll die Erziehungsgemeinschaft beschaffen sein, in der und durch die ein Mensch seine Individualität zur Persönlichkeit vollenden kann?" In der Diskussion der Erziehungsidee ist es wichtig zu wissen, dass die kleine Schule (in Jena) den Kindern half, "Denken und Wollen anderer Weltanschauungsgruppen" zu achten und zu verstehen "und dass man die Kunst der Kooperation mit Andersdenkenden" ernsthaft lernte. Erziehung vollzieht sich nach der Erziehungsidee Peter Petersens in und durch die Gemeinschaft. Das Individuum bringt sich mit all seinen Fähigkeiten und Kenntnissen absichtslos in die echte Gemeinschaft ein und erfährt so seine Sinnerfüllung: Das Individuum wird zur Persönlichkeit durch Leben in der Gemeinschaft. Erst wenn ein echtes und reiches Gemeinschaftsleben funktioniert, kommen didaktische und methodische Überlegungen und Anstrengungen, die ja unbestritten die "besonderen Aufgaben" der Schule sind, zu ihrem vollen Recht und zur Entfaltung ihres schulpädagogischen Sinns. Im gemeinschaftlichen Leben erfährt und erlebt der Mensch, dass er fähig und dass es für ihn notwendig ist, in sich das zu entwickeln und zu kultivieren, wozu nur Menschen fähig sind: zur Güte, zum Mitleid, zum Verstehen, zur Ehrfurcht, zur Treue, zur Rücksicht, zum Verzeihen, zur Freude (usw.). ... man erfährt aber ebenso deutlich, dass Gemeinschaft gar nicht erst zu Stande kommt oder zerstört wird, wenn vielleicht nur eine der angesprochenen Handlungen nicht vollzogen wird, wenn nur eines der menschlichen Gefühle verweigert wird ... "Wollen wir also hinaus über die Klasse, wollen wir mehr als eine soziale Gruppe, dann müssen wir unsere Gruppen so gestalten und nun auch so leben lassen, dass in ihnen Raum ist für das zwischenmenschliche Geschehen und damit für eine wirkliche Gemeinschaftsbildung." (Petersen, Peter, Der kleine Jenaplan, S. 11 f.) 8 2.3 Celestin Freinet (1896 – 1966) Pädagogik des Volkes Die pädagogischen Grundideen Célestin Freinets zielen auf "offene und befreiende Erziehung" ab und manifestieren sich im konkreten Unterricht in den folgenden Realisierungen. Dabei muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass Célestin Freinet seine Pädagogik als Pädagogik des Volkes und damit auch als eine Pädagogik für die Regelschule verstanden wissen wollte. Freinet-Pädagogik war niemals und ist auch heute keine Pädagogik für die, die es "sich leisten" Schüleraktivität Die Schüler sitzen nicht mehr passiv in ihren Bänken und warten auf die Aufträge eines Lehrers, die sie dann in ihren Büchern und Heften arbeiten, sondern sie gehen im Unterricht alleine, zu zweit oder in Gruppen verschiedenen Arbeiten nach, die sie sich selbst gewählt haben. Sie drucken Texte, arbeiten Referate aus, führen Experimente durch, arbeiten an einem Mathematiklehrgang oder üben auch handwerkliche Tätigkeiten aus. Die Arbeiten sind für die Schüler nicht sinnentleert. Sie haben sie selbst gewählt und damit einen wichtigen Schritt zu einer selbstbestimmten Arbeit, zur eigenen selbstbestimmten Entwicklung und meist auch zu einer kooperativen Arbeit getan. Die Unterrichtsplanung wird prinzipiell von den Interessen und den Bedürfnissen der Schüler ausgehen, wobei der (staatliche) Lehrplan in allen Fällen ein in die Planung zu integrierendes Element sein wird (muss). Zentrale Elemente der FreinetPädagogik sind jedoch die Selbstbestimmung und die Eigenverantwortung. Diese können Kindern nur lernen, wenn man ihnen auch täglich die Möglichkeit in einem ernst zu nehmenden Rahmen dazu gibt. "Zu erkennen, was ich möchte", ist der entscheidende Entwicklungsprozess des Menschen, eingebettet in eine konkrete Gemeinschaft in der Auseinandersetzung mit Pflichten, Rechten und Grenzen. Lernversuche "Seien wir ehrlich: wenn man es den Pädagogen überlassen würde, den Kindern das Fahrrad fahren beizubringen, gäbe es nicht viele Radfahrer. Bevor man auf ein Fahrrad steigt, muss man es doch kennen, das ist doch grundlegend, man muss die Teile, aus denen es zusammengesetzt ist, einzeln, von oben nach unten, betrachten und mit Erfolg viele Versuche mit den mechanischen Grundlagen der Übersetzung und mit dem Gleichgewicht absolviert haben. Danach - aber nur danach! - würde dem Kind erlaubt, auf das Fahrrad zu steigen. ... 9 Aber sicher, erst wenn der Schüler fehlerfrei auf das Fahrrad steigen könnte, dürfte er sich frei dessen Mechanik aussetzen. Glücklicherweise machen die Kinder solchen allzu klugen und allzu methodischen Vorhaben der Pädagogen einen Strich durch die Rechnung. In einer Scheune entdecken sie einen alten Bock ohne Reifen und Bremse, und heimlich lernen sie im Nu aufzusteigen, so wie im Übrigen alle Kinder lernen: ohne irgendwelche Kenntnis von Regeln oder Grundsätzen grapschen sie sich die Maschine, steuern auf den Abhang zu und ... landen im Straßengraben. Hartnäckig fangen sie von vorn an und - in einer Rekordzeit können sie Fahrrad fahren. Übung macht den Rest. Am Anfang jeder Eroberung steht nicht das abstrakte Wissen - das kommt normalerweise in dem Maße, wie es im Leben gebraucht wird - sondern die Erfahrung, die Übung und die Arbeit." (Freinet, Célestin, pädagogische Texte, S. 21.) Arbeit ist in diesem Sinne für Célestin Freinet ein Grundrecht des Menschen und deshalb in der Schule ein durchgehendes Prinzip; Arbeit ist ein wesentlicher Teil der Menschenwürde. Schulisches Lernen in einer Freinet-Klasse ist in einem hohen Maß handlungsorientiert und immer von dem Lernenden selbst bestimmt. Freinet geht auch davon aus, dass jedes Kind die wichtigen Erfahrungen in seinem Leben selbst machen muss und dass jedes Kind ein grundsätzliches Recht hat, Wahrheiten selbst zu entdecken. Lebendiges Lernen besteht für Freinet darin, dass das Kind eingebunden in die emotionellen und sozialen Beziehungen seiner Gruppe(n) und in enger Verbindung zu seinem Milieu - daran geht, die Beschaffenheit seiner Welt, ihre Werte und Beziehungen herauszufinden. Doch Freinet-Pädagogik heißt auch, ein Bewusstsein darüber zu entwickeln, dass diese Welt durch meine (des Schülers Verf.) "politische" Arbeit veränderbar ist. Soll Lernen und Arbeiten für Kinder eine seine Individualität entwickelnde Bedeutung haben, so muss es im "Hier und Jetzt" stattfinden und sehr wohl auch den Bedürfnissen und Interessen der Kinder entsprechen. So wird auch der Unterricht in der Freinet-Pädagogik erfahrungsorientiert, sachbezogen und für das Kind sinnvoll erlebbar sein. So wird zum Beispiel die Kulturtechnik des Schreibens immer auf ein Gegenüber gerichtet sein, dem ich etwas mitteilen kann, mit dem ich etwas austauschen kann. Wozu schreiben wir in der herkömmlichen Schule, wenn es außer der Lehrerin keiner liest und am Ende des Schuljahres das Heft weggeworfen wird? Das Wissen der Kinder Das Wissen in einer Freinet-Klasse kommt nicht mehr nur vom Lehrer allein. Es ist viel wichtiger, dass die Kinder lernen können, wie sie sich Wissen aneignen können mit verschiedenen Arbeitsmaterialien, mit Büchern, Informationsheften und Nachschlagewerken. Es ist nicht wichtig, dass ich immer wieder "Wissen" serviert bekomme und dieses reproduzieren kann, sondern dass ich lerne, wie ich mir "Wissen" selbstständig erarbeiten kann und dieses "Wissen" auch einer 10 Selbstkontrolle unterziehen kann. Wissen ist lebensnotwendig, daher steht das Lernen von gezieltem, selbstständigem Lernen im Vordergrund der FreinetPädagogik. Schule als Lebensraum Im Verständnis Célestin Freinets ist Schule keinesfalls ein Schonraum, sondern heißt, stellvertretend in der Schule viel für und über das wirkliche Leben zu lernen und bei aller Freiheit zur individuellen Entwicklung die Verpflichtungen akzeptieren und damit umgehen zu lernen. 11 2.4 Helen Parkhurst (1887 – 1959) Der Daltonplan Helen Parkhursts Daltonplan wurde nach der Stadt Dalton in Massachusetts benannt. Englische Pädagogen waren es vor allem, die dieses Reformkonzept für die Sekundarstufe international bekannt gemacht haben. Heute finden wir den Daltonplan am meisten in den Niederlanden verbreitet. Hier jedoch nicht nur in der Sekundar-, sondern ebenso in der Primarstufe, in der Fachliteratur meist "SubDaltonplan" genannt. Grundprinzip "Das Grundprinzip besteht also darin, die (traditionellen) Lehrstrategien in eine Didaktik der Aneignungsstrategien zu übersetzen." Charakteristik des Daltonplans Die Einführung eines "neuen" pädagogischen Konzeptes setzt in den meisten Fällen das Erkennen der Defizite des bestehenden Schulsystems voraus. Die dem Wesen des Daltonplanes - die Bezeichnung "Plan" wird verwendet für die in der reformpädagogischen Bewegung der Jahrhundertwende und zu Beginn unseres Jahrhunderts entstandenen Reformprojekte, wie z.B. auch Jenaplan, Winnetkaplan, Puebloplan usw. - nach zentrale erzieherische Leistung verweist auf ein auch in unserem System noch bestehendes Defizit: ...,dass sich die Heranwachsenden in konstruktiven Problemlösungen als lernfähig erfahren können. Einen weiter gefassten Rahmen dieser Lernfähigkeit bilden bei Helen Parkhurst die Begriffe "Daseinsbewältigung" und "Lebenstüchtigkeit". Helen Parkhurst definiert die "pädagogische Freiheit" nicht als absolute Selbstbestimmung des Schülers, sondern vielmehr als selbstgesetzte Bestimmtheit des Schülers im Verhältnis zu einer Aufgabe. Helen Parkhurst meint mit dem Begriff "freedom" jene Freiheit, welche die persönliche Wahl, die persönliche Entscheidung erlaubt und sogar fordert. Diese Art von Freiheit schließt auch die Verantwortung des Menschen für andere ein, wenn er sich für etwas entschieden hat. Daher muss das Kind diese Art von Freiheit allmählich lernen. Freiheit und Verantwortung Dalton definiert Freiheit als Wahlfreiheit, unlöslich verbunden mit der Verantwortung für die Entscheidungen, die man trifft. Die von Helen Parkhurst in den Mittelpunkt ihrer Pädagogik gestellte Freiheit ist historisch gesehen auch eine Reaktion auf die so genannte "Zwangsschule". Es ist nicht die Aufgabe des Lehrers, dem Kind immer zu sagen, was es tun soll. Es ist aber seine Aufgabe, dem Kind in seiner Entwicklung zu helfen. 12 Helen Parkhurst versucht mit dem Daltonplan, den Schwerpunkt der Schule auf das Lernen und nicht auf das Lehren zu verlegen. Im herkömmlichen Unterricht ist es die Aufgabe des Lehrers, darauf zu achten, dass der Schüler lernt. Ein wesentliches Prinzip des Daltonunterrichtes ist es aber, dass der Schüler selbst verantwortlich für seine Arbeit und seinen Fortschritt ist. Der Unterricht wird so abgehalten (Pensen, Wahlmöglichkeiten, assignments...), dass der Schüler versteht, dass das Lernen seine Sache ist und nicht die des Lehrers. Dem Schüler Verantwortung für sein Tun und sein Leben in der Schule zu geben, prägt ebenso dessen Selbstvertrauen und seine Fähigkeit, initiativ für sich selber zu werden. 13 2.5 Berthold Otto (1859 – 1933) Die Bertold-Otto-Schule war nicht in Klassen unterteilt, sondern der Unterricht fand in Kursen und als Gesamtunterricht statt. Unter-, Mittel- und Oberkurs bauten aufeinander auf. Ein Versetzen bzw. Sitzen bleiben wie in der in Klassen gegliederten traditionellen Schule konnte es demnach nicht geben. Vielmehr besuchte der Schüler den ihm gemäßen Kurs und ging mit seinem Kurs in den nächsthöheren über, wenn die Voraussetzungen der Leistung dafür gegeben waren. Es gab auch keine Zeugnisse oder Klassenarbeiten mit Benotung. Für die Unterrichtsstunde war eine Dauer von 35 Minuten vorgesehen. Doch war nicht das Klingelzeichen maßgebend, sondern die Ermüdung und abnehmendes Interesse am Unterricht. Der Unterricht knüpfte immer wieder an das lebendige Interesse der Schüler an und richtete sich nicht starr nach der Lektionenfolge eines Planes bzw. Lehrbuches. Der Gesamtunterricht findet nach Otto im Beisein aller Schüler von 6-17 Jahren und Lehrer statt. Zu Beginn des Unterrichts melden sich die Schüler und stellen eines von mehreren Themen vor. Es wird so lange diskutiert, bis die Lehrer feststellen, dass das Interesse der Gesamtheit nachlässt. Die Fragen die sich ergeben, werden zuerst von den jüngeren Schülern beantwortet, dann von älteren Schülern ergänzt und wenn notwendig melden sich auch die Lehrer zu Wort. Ziel ist die Diskussionsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Toleranz und gegenseitige Achtung. Das Kind ist ernst zu nehmen und als Mensch zu respektieren. Geistige Bildung ist ein geistiger Wachstumsprozess, der sich von innen her vollzieht. Jedes organische Wesen sucht sich das aus, was ihm gerade förderlich ist und weist das zurück, was ihm schädlich ist. Jedes Kind hat einen natürlichen Wissensdrang und ist von sich aus bereit zu lernen. Das Fragerecht der Kinder ist für Otto ein wesentlicher Bestandteil von Erziehung und Bildung. Das Kind hat eine ganzheitliche Auffassungs- und Denkweise. Die Welt ist für das Kind eine einzige große Gesamtheit und es sucht sich darin zurechtzufinden. Für Otto hatte die Spracherziehung einen hohen Stellenwert. „Gebildet ist, wer versteht, was er sagt.“ 14 Kapitel 3 Offener Unterricht Der Begriff „offener Unterricht“ bezeichnet verschiedene Unterrichtsmethoden. Um nicht am eigenen Anspruch zu scheitern, sollten sich Lehrer/innen die folgende goldene Regel zu Herzen nehmen: Die Methoden des offenen Unterrichts müssen gut vorbereitet und dürfen nur allmählich eingeführt werden. Die Methoden müssen sowohl von Schüler/innen wie auch von Lehrer/innen erst gelernt werden. 3.1 Lernen an Stationen (Lernzirkel, Übungszirkel, Lernparcours) Bei dieser Methode wird ein Unterrichtsthema in verschiedene Teilaspekte zerlegt und zu mehreren Lernarrangements zusammengestellt. Jedes Lernarrangement ist dann eine Station, die von den Schüler/innen alleine oder auch in Gruppen selbständig erarbeitet werden. Beispiel: Thema: Wetter (Unterstufe) 1. Aus alten Zeitungen und Zeitschriften Wettersymbole ausschneiden und den Oberbegriffen (Regen, Sonne, bewölkt,...) auf einem Arbeitsblatt zuordnen. 2. Eine große Puppe wettergerecht anziehen (in einem Koffer sind verschiedene Kleidungsstücke für Schnee, Regen, Hitze). An der Wand hängt ein Wettersymbol und auf der Rückseite sind Fotos der richtigen Kleidungsstücke als Selbstkontrolle). 3. Nach Vorlage einen Wetterhahn basteln 4. Wetteruhr herstellen 5. Wettersymbole als Puzzle 6. Thermometer ablesen (im Klassenzimmer, auf dem Pausenhof, im Kühlschrank, im Gefrierschrank) und in eine Skala eintragen 7. Lotto oder Memory mit Wettersymbolkarten spielen (Differenzierungsmöglichkeit: Symbole und Ganzwörter) Der Aufbau der Stationen kann von der Lehrperson alleine oder gemeinsam mit den Schüler/innen geleistet werden. Das Thema sollte eingeführt sein und grundlegende Arbeitstechniken wie z.B. ausschneiden, aufkleben, ausmalen sollten die Schüler/innen (bei diesem Beispiel) beherrschen. Zu Beginn der Stationenarbeit müssen die Stationen erläutert werden. Es ist sinnvoll, nicht sofort mit allen Stationen anzufangen, sondern sich auf ca. 3 – 4 zu beschränken. Je nach Übungsbedarf können die Stationen über einen längeren Zeitraum immer wieder angeboten werden, so dass die Anzahl der Stationen sich somit erhöhen kann. Die Schüler/innen erhalten einen Laufzettel, auf dem die Stationen bildlich und/oder schriftlich festgehalten sind. Die Schüler/innen kreuzen die Stationen auf ihrem Laufzettel ab, die sie bearbeitet haben. 15 Durch die Laufzettel ist es möglich, den Schüler/innen unterschiedliche Stationen als Aufgaben zuzuweisen – je nach Leistungsvermögen der Schüler/innen. Auch die Einteilung in Pflicht- und Wahlstationen ist möglich. Die Schüler/innen können die Reihenfolge der Stationen frei wählen und bearbeiten in ihrem individuellen Tempo die einzelnen Aufgaben. Die Lehrperson tritt in der eigentlichen Arbeitsphase in den Hintergrund. Die Schüler/innen sollen Fragen und Probleme selbständig zu lösen versuchen bzw. sich zuerst an die Mitschüler/innen wenden. Die Lehrperson hat durch diese Unterrichtsmethode die Gelegenheit, leistungsschwächere Schüler gezielt zu unterstützen. Zum Abschluss erfolgt ein gemeinsames Gespräch, bei dem Schwierigkeiten besprochen und Arbeitsergebnisse gewürdigt werden können. Aufgabenverteilung beim Stationenlernen im Überblick (entnommen aus „Lernen konkret“ Heft 4 – Nov. 97, 16. Jahrgang) Aufgaben der Lehrperson Aufgaben der Schüler wählt, in Orientierung am Lehrplan, an der längerfristigen Planung sowie am besonderen Förderbedarf der Schüler / Klasse ein Thema / Vorhaben aus werden im Rahmen ihrer Möglichkeiten an der Themenwahl beteiligt zergliedert das Thema / Vorhaben in Teilthemen / -vorhaben legt einen ungefähren Zeitrahmen für das Gesamtthema / -vorhaben fest bestimmen selbst, wie lange sie an den einzelnen Stationen tätig sind (individuelle Zeiteinteilung) legt die Anzahl der Stationen fest; teilt diese unter Beachtung einer Neigungs- und Leistungsdifferenzierung in Pflichtund freiwillige Stationen ein wählen aus dem Angebot und legen die Reihenfolge der Bearbeitung / Beschäftigung selbst fest besorgt / erstellt unterschiedliche Materialien für die einzelnen Stationen wählen aus dem Materialangebot das aus, was zur Bewältigung der Aufgabe / zur Lösung eines Problems erforderlich ist achtet bei den einzelnen Stationen auf eine Ausgewogenheit von Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit wählen die Sozialform aus, die zur Aufgabenbewältigung nach ihrer Einschätzung am besten geeignet ist schafft – soweit wie möglich und sinnvoll – Kontrollmöglichkeiten arbeiten an den einzelnen Stationen auf der Grundlage der bisher gemachten Erfahrungen (des sachstrukturellen Entwicklungsstandes) 16 3.2 Tages- und Wochenplanarbeit Schüler/innen erhalten Arbeitsaufträge, die sie innerhalb eines Tages bzw. über den Zeitraum einer Woche selbständig bearbeiten sollen. Die Pläne enthalten Pflicht- und Wahlaufgaben. Es sind Einzel-, Partner- und Gruppenarbeiten möglich. Die Zeiteinteilung und die Reihenfolge der Bearbeitung der Aufgaben wählen die Schüler/innen selbst. Am Ende des Tages bzw. der Woche werden dann in einem Abschlussgespräch die Arbeitsergebnisse präsentiert und aufgetretene Schwierigkeiten besprochen. Der Tages- oder Wochenplan kann mit Aufgaben aus unterschiedlichen Bereichen / Fächern / Themen gestaltet werden (also fächerübergreifend) oder aber auch nur innerhalb eines Faches (also fachspezifisch – z.B. Mathematik). Beim geschlossenen Tages- oder Wochenplan bestimmt die Lehrperson / bzw. das Team selbst die Aufgaben für jeden einzelnen Schüler. Im offenen Tages- oder Wochenplan legen Schüler und Lehrer gemeinsam die Aufgaben fest. Im Stundenplan kann dies dann folgendermaßen aussehen: 1. Tagesplan (z.B. jeden Dienstag wird nach dieser Methode gearbeitet) - beim fächerübergreifenden Tagesplan ist es sinnvoll, den Schüler/innen nicht nur eine Doppelstunde zur Verfügung zu stellen, sondern den ganzen Vormittag oder sogar den ganzen Schultag – je nach Umfang des Planes. - Beim fachspezifischen Tagesplan kann eine Doppelstunde ausreichend sein 2. Wochenplan Kann fächerübergreifend oder auch fachspezifisch sein Montag 1. + 2. Std. 3. + 4. Std. 7. + 8. Std. Dienstag Wo-pl. Mittwoch Wo-pl. Donnerstag Freitag Wo-pl. Wo-pl. In diesem Beispiel erhalten die Schüler/innen Gelegenheit, innerhalb einer Woche an 4 Doppelstunden ihre Aufgaben zu bearbeiten. Woche: vom 11. Juli – 15. Juli 2005 Name: Max Maier Fach Deutsch Aufgabe erledigt Lückentext zum Thema „Haustiere“ Hauswirtschaft Geschirrtücher bügeln Computer Löwenzahn Thema „von der Kuh zur Milch“ Mathematik LÜK Thema „Geld“ ? o.k. Weiterarbeit am Gemeinschaftsbild „Bauernhof“ 17 3.3 Freiarbeit Diese Methode ist die am weitesten gehende Form von selbstorganisiertem Lernen. Den Schüler/innen werden unterschiedliche Medien und Materialien angeboten, die sie frei wählen können. Die Lehrperson legt nicht fest, mit welchem Freiarbeitsmaterial die einzelnen Schüler/innen arbeiten sollen - festgelegt ist nur, dass gearbeitet werden muss. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, einzelne Schränke oder Regale nur für Freiarbeitsmaterial herzurichten. Montessori spricht in diesem Zusammenhang von einer „gestalteten Lernumgebung“. Die Schüler/innen entscheiden selbst, ob sie einzeln, mit einem Partner oder in einer Gruppe arbeiten wollen. Wie auch bei der Tages- und Wochenplanarbeit sind sowohl fächerübergreifende wie auch fachspezifische Angebote möglich. Festgelegte, wiederkehrende Zeiten sind notwendig. Es ist möglich, nur an einem Tag oder auch an mehreren Tagen in der Woche Phasen der Freiarbeit im Stundenplan auszuweisen. Freiarbeit ist nicht zu verwechseln mit „Freizeit“ – Freiarbeit ist Arbeit. Die Freiheiten, die die Schüler/innen haben, wie z.B.: - Wahl der Inhalte und Aufgaben, die bearbeitet werden - Wahl des Partners - Wahl der Zeiteinteilung (wie oft übe ich was?) - Wahl der Materialien werden durch klare Regeln und Strukturen eingerahmt. Mögliche Regeln: (entnommen aus: www.fh-niederrhein.de) Wähle das Material, mit dem du arbeiten willst zügig aus, bleibe dann bei der Arbeit und stelle diese erst fertig, bevor du eine andere Arbeit wählst. Arbeite ruhig und konzentriert, flüstere, wenn du sprechen musst. Hilf deinen Mitschüler/innen, wenn sie dich um Rat fragen. Störe niemanden, bewege dich möglichst leise und rücksichtsvoll in der Klasse. Erstellte Produkte und schriftliche Arbeiten müssen formal ansprechend sein. Wenn es zu dem Material Lösungen gibt, dann vergleiche deine Ergebnisse mit den Lösungen und berichtige fehlerhafte Ergebnisse. Gib vollständige Arbeiten ab. Gehe mit dem Material sorgfältig um, räume es nach Gebrauch vollständig wieder an seinen Platz zurück. 18 3.4 Projektarbeit (entnommen aus www.offener-unterricht.de) Terminologische Klärung des Projektbegriffs Die Projektmethode hat sich zu Beginn dieses Jahrhunderts in den USA entwickelt. In der deutschen Schulpädagogik werden die Ausdrücke 'Projekt', 'Projektunterricht', 'Projektmethode' und 'Projektorientierter Unterricht' verwendet. Hänsel (1988) hat den Versuch einer terminologischen Abgrenzung vorgenommen. Das Projekt ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Beteiligten mit Fragestellungen und Problemen aus ihrem Lebens- und Interessenbereich auseinandersetzen und Inhalte, Ziele und Verfahren selbst zu bestimmen lernen. Während der gemeinsamen Durchführung soll kooperatives Verhalten gelernt und die Möglichkeit der individuellen Entfaltung genutzt werden. Der projektorientierte Unterricht ist im Gegensatz zum Projektunterricht nur nach einigen Komponenten der Projektmethode gestaltet. Merkmale des Projektunterrichts (PU) "Projektarbeit ist Unterricht. Sie ist ein geplantes und von Inhalten bestimmtes Geschehen zum Zwecke des Lernens, möglichst mit einem Bezug auf die Institution Schule. Projektunterricht stellt einen Unterricht dar, der eine bestimmte Form aufweist. Er hat einen Anfang und ein Ende. Er unterscheidet sich vom herkömmlichen Unterricht theoretisch und auch praktisch. Es handelt sich um eine besondere Unterrichtsform. Die besondere Form ist beispielsweise dadurch gegeben, weil Projektunterricht als einzige Unterrichtsform das Planungsmonopol des Lehrenden in Frage stellt. Projektunterricht hat damit nicht nur wie jeder andere Unterricht einen Gegenstand, ein Ziel und eine Methodik, sondern gleichzeitig immer auch sich selbst zum Gegenstand" (Hänsel, D.: Das Projektbuch Grundschule, S. 31). Osanko empfiehlt ein schrittweises Lernen dieser besonderen Unterrichtsform von Lehrern und Schülern gleichermaßen; kleinschrittig, zunächst projektorientiert. Der Beginn mit kleinen projektorientierten Schritten ist deshalb seiner Meinung nach so wichtig, weil im Projektunterricht zunächst einmal die gleichen Personen miteinander handeln, die auch im herkömmlichen Unterricht zusammen arbeiten und dort bereits ihr Verhalten erprobt und stabilisiert haben. Die Vorbereitung im Regelunterricht verringert darüber hinaus ein weiteres Problem, das in Schulen auftritt, in denen einmal im Jahr eine Projektwoche durchgeführt wird. Es ist das Problem der "Inselbildung". Projektwochen bleiben in der Regel Inseln im Meer des herkömmlichen Unterrichts. Durch anfänglich projektorientiertes Lernen erfolgt eine stärkere Verknüpfung mit dem "Normalunterricht". 19 PU ist von den Bedürfnissen und Interessen der SchülerInnen her organisiert. Projekte sind immer praxisbezogen, aber sie haben auch einige Wechselbeziehungen zwischen Handeln und Reflexion Projektlernen orientiert sich an Problemen der Lebenswirklichkeit und ist deshalb fächerübergreifend, beschränkt. sich nicht auf Aktivitäten in der Klasse und hebt die 45-Minuten-Einheiten auf. Projektziele und -planung werden aufgrund gemeinsamer Entscheidungen aller Beteiligten aufgestellt und bei der Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt auch gemeinsam revidiert. Das Projektziel ist in der Regel ein Produkt oder eine Aktion. Es wird erreicht durch Lernen mit vielen Sinnen.(aus: Bunk, H.-D., a.a.O., S.11 Projektphasen 1. Projektidee Am Anfang steht die Projektidee, der Anstoß, der zum Überlegen motiviert und zu einer gemeinsamen Zieldefinition motiviert. Dieses Ziel sollte im Klassenraum sichtbar festgehalten werden. 2. Projektplanung LehrerIn und SchülerInnen überlegen gemeinsam wie sie sich ihrem Projektziel nähern können. Welche Aufgaben stehen an? Wie komme ich an Informationen? Wie werden die Aufgaben verteilt? Die Planungsschritte werden in der Klasse auf einer Wandzeitung festgehalten. Diese werden im Verlauf des Projektes häufig ergänzt, neu überdacht und verändert. 3. Projektdurchführung Sie dient der konkreten Erreichung des Projektziels, Informationen werden ausgewertet und bearbeitet, sodass ein Produkt oder eine Präsentation als Ergebnis der gemeinsamen Arbeit vorgestellt werden kann. Gerade in der Grundschule sind Zwischenreflektionen darüber, wer was macht, schon gemacht hat, was es noch zu tun gibt und welcher Stand schon erreicht ist, notwendig. 4. Rückblick Er hat eine wichtige Funktion für die weitere Zusammenarbeit. Positives und Negatives wird angesprochen, um es zu verstärken oder zu vermindern. Die Ergebnisse der Präsentation oder Aktion werden ausgewertet. 20 Rolle des Lehrers "Der Lehrer muss Lernsituationen so gestalten, dass die Kinder zunehmend in die Lage versetzt werden mitzudenken, mitzuplanen und mitzugestalten. Er trägt dafür Sorge, dass die Kinder in für sie sinnvollen Zusammenhängen lernen und das Gelernte anwenden können." (RRL GS S. 12) Eine grundlegende Anforderung an den Lehrer liegt in der Anbahnung von lehr- und lernbezogenen Voraussetzungen. Es ist sinnvoll Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche die SchülerInnen für Projekte kennen sollten, langsam einzuführen. Der Lehrer versteht sich während der Durchführung von Projekten als Koordinator, Berater und Partner der SchülerInnen. 3.5 Aufgabe Welche der vorgestellten Unterrichtsmethoden können sie sich für ihre Klasse vorstellen? Was müssen sie im Vorfeld beachten, damit eine Umstellung gelingt? Welche Möglichkeiten der Eigenkontrolle durch die Schüler/innen sind denkbar? 21 3.6 Pädagogische Haltungen des Lehrers / der Lehrerin im offenen Unterricht Die persönliche Grundeinstellung des Lehrers / der Lehrerin zum Kind, das eigene Selbstbewusstsein, die Souveränität im Umgang mit Kindern und Kollegen, Teamfähigkeit und Sicherheit im herkömmlichen Unterricht und das eigene Menschenbild sind für die Umsetzung des offenen Unterrichts bedeutsamer als alles theoretische Wissen über diese Unterrichtsform. Der Lehrer / die Lehrerin glaubt an die Selbststeuerungsmöglichkeiten der Schüler Der Lehrer / die Lehrerin gewährt den Schülern im Unterricht, beim Lernen, Freiheiten Der Lehrer / die Lehrerin sieht im Unterrichtsalltag regelmäßig Möglichkeiten zur Mitgestaltung und Mitbestimmung durch die Schüler vor. Der Lehrer / die Lehrerin hat Achtung vor der Würde des Kindes / des Jugendlichen (sichtbar in Wort und Tat) Der Lehrer / die Lehrerin pflegt einen demokratischen Führungs- und Erziehungsstil: Einladung zum Lernen; Anregung; freundliche Stimme; Schüler ermutigen; ihnen helfen, sie fördern; akzeptieren; belohnen; bei den Schülern Fortschritte erkennen und nach diesen suchen; .... Der Lehrer / die Lehrerin meidet den autokratischen Erziehungsstil: Macht demonstrieren; Druck ausüben; negativ kritisieren; scharfe Stimme; traut dem Schüler wenig zu; übernimmt die alleinige Verantwortung für das Geschehen in der Gruppe; .. Erkennen, dass Selbsttätigkeit in Denken und Handeln sowie Selbstbestimmung die Wurzeln des Lernens und der Entwicklung des Selbstbewusstseins sind. Der Lehrer / die Lehrerin ist zuversichtlich und optimistisch. Er / sie traut und mutet den Schülern etwas zu. Der Lehrer / die Lehrerin ist gegenwart- und zukunftsorientiert. Es geht um die Zukunft der Kinder. Er / sie verschließt sich nicht den neuen gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen, reagiert auf diese aber sehr wohl kritisch und nicht unreflektiert. In der Planung, Durchführung und Reflexion von Unterricht berücksichtigt der Lehrer / die Lehrerin vor allem Schülerinteressen Der Lehrer / die Lehrerin achtet darauf, dass im Unterricht die Balance zwischen Pflichten und Freiheiten bewahrt wird. Es geht nicht ausschließlich um die Selbstverwirklichung und die Befriedigung eigener Bedürfnisse. Erledigung von Pflichten und Anpassung in der sozialen Gruppe gehören zu Grundtugenden und entsprechen der Normalität. 22 Die Lehrerin / der Lehrer sorgt für eine freundliche, ermutigende und lernmotivierende Klassenraumgestaltung und Unterrichtsatmosphäre. Das Klassenzimmer ist in der Ganztagesschule Lern- und Lebensraum. Die Schüler sollen gerne in die Schule kommen. Die Lehrerin / der Lehrer achtet auf die Einhaltung von nachvollziehbaren Regeln und einer natürlichen und dienlichen Ordnung. Nicht die Lehrerin / der Lehrer bestimmt die Regeln alleine. Sie / er versucht, diese mit den Schülern gemeinsam zu finden und zu überwachen. Was fällt ihnen noch dazu ein? 23 3.7 Umstellung des herkömmlichen (überwiegend lehrerzentrierten) Unterrichts auf offene Lernformen Folgende Aspekte sind bei der Einführung in das offene Lernen zu berücksichtigen: Vor- und Kleinstformen offener Lernsituationen im Unterrichtsalltag immer wieder ermöglichen. Bereits in der Unterstufe Gelegenheit zur Selbsttätigkeit und Selbständigkeit geben. Ausgehend z.B. vom Freispiel. Wahlmöglichkeiten in alltäglichen Situationen ermöglichen. Am Anfang nur wenig Wahlmöglichkeiten aufzeigen, damit es für die Schüler überschaubar bleibt. Behutsam und langsam größere Freiräume und Selbstbestimmungsmöglichkeiten (bzw. Mitbestimmungsmöglichkeiten) anbieten. Nicht von jetzt auf nachher mit offenem Unterricht beginnen. Die Schüler langsam (Stück für Stück) an diese Lernform heranführen. Auch sich selbst Zeit lassen. Werden offene Unterrichtsformen eingeführt, wird dies automatisch zum Ziel der Stunden. Dies bedeutet, dass keine neuen Inhalte zeitgleich mit neuen Unterrichtsformen eingeführt werden sollten. Mit Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten. Damit sich gegenseitig unterstützen (z.B. bei der Materialsammlung), sich bestärken (wenn mal wieder Zweifel aufkommen) und gegen die Vereinzelung der Lehrkräfte sich schützen. Eine Lernwerkstatt zur gemeinsamen Diskussion und Herstellung von Material einrichten. Mit den Schülern im Vorfeld von offenen Unterrichtsformen, z.B. beim handlungsorientierten Unterricht, gemeinsam Planungen und Reflexionen durchführen. Selbständigkeit im gesamten Unterrichtsalltag / Schulalltag provozieren. Schüler für Selbständigkeit loben. Zeit für selbsttätiges und selbständiges Handeln einplanen. Dies bringt es zwangsläufig mit sich, dass weniger Unterrichtsinhalte in eine Stunde hineingepackt werden können. Die Schüler mit dem Lernmaterial im Vorfeld vertraut machen, so dass sie auch mit der Selbstkontrolle umgehen können. 24 Partner- und Gruppenarbeit unter dem Aspekt der Kooperation sowie des gemeinsamen Lernens und Spielens in den Unterricht integrieren. Die Schüler zur Reflexion, zur Überprüfung und Selbsteinschätzung des eigenen Arbeitsergebnisses anregen. Die Eltern über die Unterrichtsform und deren Vorteile informieren und eventuell in die Herstellung der Lernmaterialien einbeziehen. Was fällt ihnen noch dazu ein? 25 3.8 Anforderungen an das Material Die Handhabung des Materials muss klar ersichtlich sein bzw. ohne allzu große Erklärungen verstanden werden. Das Material muss stabil sein – es wird ja öfters bearbeitet. Das Material soll Motivation und Lernfreude erzeugen – also nicht nur nach Funktionalität, sondern auch nach ästhetischen Gesichtspunkten herstellen. Das Material sollte eine einfache Selbstkontrolle ermöglichen oder es gibt Hinweise auf Partner- bzw. Lehrerkontrolle. Das Material sollte die Neugier und Aktivität der Schüler/innen anregen Was noch? 26 Kapitel 4 bewegter Unterricht 4.1 Einleitung Bewegung ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Betrachten wir jedoch die moderne Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen (Schule und Familie) so kann „Sich bewegen können und dürfen man feststellen, dass eher Bewegungseinschränkungen heißt für ein Kind, sich als Bewegungsförderung (vielleicht bedingt durch eine entwickeln können veränderte Umwelt) vorherrscht. Schüler/innen mit und dürfen. Dies setzt geistiger Behinderung erfahren hierbei noch ein mehr individuelle aber auch an Einschränkungen. Sei es durch organische soziale Bedingungen Ausgangsbedingungen oder auch durch eine allzu voraus, die schützende Umwelt. Auch in der Schule für Entwicklung zulassen Geistigbehinderte wird eher „Sitzunterricht“ als und fördern.“ „bewegter Unterricht“ angeboten, „obwohl nachweislich (Irmischer 1998, ein hoher Prozentsatz an Unterrichtszeit und Energie Seite 5) für die ständig benötigte und gelenkte Motivierung der Klasse, für Aufrechterhaltung der äußerlichen Ordnung,..... verloren geht.“ (Köckenberger 1997, S.11) die Bewegung ist nicht gleichzusetzen mit „Sportunterricht“. Kinder können über Bewegung, ansprechendes Material und Spiel zu vielschichtigen Erkenntnissen im Unterricht geführt werden. „Wenn Kognition Erkenntnis bedeutet, dann betreffen kognitive Fähigkeiten die Möglichkeit, Zusammenhänge zu erkennen, mit diesen Erkenntnissen umzugehen und sich in der Umwelt zurechtzufinden. .... Nach Piaget ist Intelligenz der aktive Aufbau von Erkenntnis durch zunehmende Strukturierung und Organisation von Erfahrung. Diese Erfahrungen finden stets auf der Ebene von Wahrnehmung und bewegungsbezogener Handlung statt, in Abhängigkeit von den vorherrschenden Umweltgegebenheiten. ... Durch vielseitige Sammlung von konkreten Erfahrungen und durch die Ausbildung von Wahrnehmungs- und Bewegungsmustern wird die Basis für den Erwerb kognitiver Fähigkeiten geschaffen.“ (Köckenberger 1997, S.15) Kein Entwicklungsbereich Kommunikation steht für sich allein und kann daher auch nicht isoliert von Lern- und anderen Arbeitsverhalten Bereichen Motorik en betrachtet werden. Kognition Motivation Emotionalität Wahrnehmung Sozialverhalten 27 4.2 Bewegung und kindliche Entwicklung (aus www.mehr-bewegung-in-die-schule.de „Kinder wollen <groß> werden. Die dazu notwendige Entwicklung kann als eine schrittweise <Eroberung von Lebensräumen> (in meinen Darstellungen folge ich Dietrich 1994) gekennzeichnet werden. Die Entwicklung im Leben eines Menschen ist ein Vorgang, bei dem das Neugeborene - aus dem schützenden Körper der Mutter entlassen - in eine zunächst ungewohnte Welt kommt, an die es sich erst einmal anpassen muss. Früh wird die Erfahrung gemacht, dass der eigene Leib etwas Eigenes, von der übrigen Welt Unterschiedenes ist. Sich-Bewegen und Wahrnehmen ermöglichen erste Raumerfahrungen. Das Kind lernt, etwas im Raum Angeordnetes zu fassen und zu manipulieren; die nähere Umgebung des Kinderbetts wird schließlich erkundet. Das Kind bewegt sich krabbelnd in einem begrenzten Raum. Nachdem es sich aufrichten kann, gewinnt die Welt um es herum eine neue Ordnung. Die Bewegung des Kindes im Raum, der tastende, greifende, sich einverleibende Umgang mit den Dingen in der unmittelbaren Umgebung machen eine zunächst fremde Welt mehr und mehr zur vertrauten Umgebung. Es beginnt ein Eroberungsfeldzug durch die Wohnung, insbesondere dann, wenn das Kind endlich eine Tür allein öffnen kann. Das Kind lernt die Bedeutungen von Dingen und Räumen zu unterscheiden und zu beachten. Damit eröffnen die erweiterten Rasen betreten Bewegungsmöglichkeiten neue Raumstrukturen, und die verboten! Bewegungen des Kindes ordnen sich in vorhandene Räume ein. Später bewegen sich die Eltern und das Kind gemeinsam in das weitere Umfeld außerhalb derWohnung. Zunächst ganz in der Nähe der vertrauten Erwachsenen beginnt die Eroberung einer neuen, erweiterten Zone. Es kommt schließlich der Zeitpunkt, an dem die Distanz zu den Eltern sich weiter vergrößert. Die Kinder dürfen allein auf den Spielplatz. Eine weitere sozialökologische Zone wird betreten und erkundet, wenn die Heranwachsenden selbständig auf erste Streifzüge im Wohnumfeld gehen. Zunächst erobern sie sich zu Fuß die Straße, allein, einmal auf und ab. Dann werden sie einmal um den Wohnblock herumlaufen. Später suchen sie, vielleicht auch mit dem Fahrrad, ihnen bekannte Räume auf, um anschließend aber auch den näheren Umkreis der Wohnumgebung zu verlassen und eigene, weitere, noch unbekannte Bewegungsräume erschließende Unternehmungen zu starten. Diese sozialökologische Betrachtung der kindlichen Entwicklung (vgl. auch Bronfenbrenner 1981, Baacke 1984, Dietrich/Landau 1990) geht von der systematischen Eroberung und Bewältigung von sich konzentrisch erweiternden Umwelten aus. Bereits Piaget weist in seinen Untersuchungen zum Erwachen der Intelligenz beim Kinde (1973), zum Aufbau der Wirklichkeit beim Kind (1975) und zu Nachahmung, Spiel und Traum (1969) nach, wie bedeutend die beständige organisierende Aktivität, das Sich-Bewegen, für die Entwicklung von Kindern ist. In der Großstadt von heute (und nicht nur dort) stößt diese Erkundung sehr bald auf Grenzen. Für Kinder, die an stark befahrenen Großstadtstraßen oder in der Nähe 28 von Durchgangsstraßen in ländlicher Umgebung wohnen, ist oft die Haustür die Grenze zu einem kinder- und bewegungsfeindlichen Raum, in dem sich Spielen und Bewegen wegen existentieller Bedrohung weitgehend verbieten. Aber auch Überbehütungen durch das Elternhaus, oft als Schutz für das Kind gemeint, verhindern <bewegende> Entwicklungsmöglichkeiten. Gerade die Mädchen werden schon früh in eine bestimmte Rolle gedrängt und geraten in einen solchen <Schutz> der Eltern. Bewegungsfeindliche Freizeitaktivitäten und Spiele, aber auch der vermehrte Medienkonsum tragen erheblich dazu bei, dass Kinder sich ihre Bewegungsumwelt nicht mehr in gleichem Maß erschließen können. Damit werden ihnen bedeutsame Entwicklungschancen vorenthalten. Grundschullehrkräfte klagen immer wieder, dass Erstklässler heute unruhiger, unkonzentrierter und zappeliger als früher seien. <Bei der Sache zu bleiben>, und das über einen kleinen Zeitraum hinweg, gelingt nur wenigen. Wer genauer hinsieht, entdeckt oft ein verändertes Bewegungsverhalten. Die Bewegungen sind häufig unkoordiniert, sie wirken ungerichtet. In der Pause und in der Sporthalle stellen wir fest, dass auch ganz einfache Aufgaben im Klettern, Springen, Balancieren, ja sogar Laufen nicht bewältigt werden. Beim Durcheinanderlaufen stoßen die Kinder mit anderen zusammen. Viele Erstklässler können teilweise ihre eigenen und fremde Bewegungen nicht hinreichend antizipieren. Tatsache ist: <In die Schule kommen> bedeutet, dass sich den Kindern ein neuer Lebensabschnitt eröffnet. Sie betreten (nach einem möglichen Aufenthalt im Kindergarten) erstmals einen öffentlichen Raum, den sie mit allen anderen Kindern teilen (müssen), der für sie errichtet wurde und dessen Nutzung gesellschaftlichen Erwartungen unterworfen ist. Die vorschulischen Bewegungseinschränkungen werden hier fortgeführt; einleitend ist dazu das Auffälligste benannt worden. Dies ist angesichts der Bedeutung von Spiel und Bewegung nicht länger zu verantworten. Für die ganzheitliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen - und dieser bedeutsamen Aufgabe müssen sich die Lehrkräfte aller Schulen stellen - sind vielfältige Bewegungserfahrungen eine unverzichtbare Voraussetzung.“ Rüdiger Klupsch-Sahlmann: Bewegte Schule, in Sportpädagogik 19 (1995) 6, 15-16 29 4.3 Bewegung und Lernen (aus www.mehr-bewegung-in-die-schule.de) „Entwicklung und Lernen lassen sich nicht trennen, sie erfolgen zusammen. Nur ist das, was das Kind lernt, durchaus abhängig vom Entwicklungsstand. Die meisten grundlegenden und uns selbstverständlichen Dinge lernen die Kinder im Verlauf ihrer Entwicklung durch Bewegen, durch eine aktive, handelnde Auseinandersetzung mit der Umwelt. Das Wissen, das lösgelöst vom Handeln in Bild und Sprache repräsentiert ist, beruht weitgehend auf der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt von Menschen früherer Generationen. Diese handelnde Erkundung nachzuvollziehen verstärkt die Einsicht in das Lernen und in die Eigenart dieses Wissens. „Sich-Bewegen ist Welt verstehen in Aktion“ (vgl. auch das <dialogische Bewegungskonzept> nach Gordijn bei Trebels 1992). Die Welt zu verstehen ist ohne Bewegung letztlich nicht möglich. Nach Bruner (Vgl1974, 200 ff.) wird das Wissen auf dreifache Art erworben: > auf der handelnden, > auf der bildhaften und > auf der symbolischen Ebene. Bruner veranschaulicht diese Form der Aneignung des Wissens mit einem Beispiel: „Mit dem Hebelarm beispielsweise können Kinder umgehen, ohne eine genaue Vorstellung von ihm zu haben, wenn sie nämlich auf einer Wippe herumturnen; dann sind ihnen die physikalischen Gesetze (handelnd, in Aktion, durch Bewegung, d. Verf.) gleichsam in Bewegung übergegangen. Das Kind kann auch zu einer intuitiven oder genaueren bildlichen Wiedergabe des Hebelarms übergehen und es dabei zu einer beachtlichen geometrischen Genauigkeit bringen. Und schließlich ist es möglich, Wippen und Hebelarme als Newtonsche Drehmomente darzustellen und sie in eine mathematische Formelsprache zu fassen, die sich von der konkreten Vorstellung eines Hebelarms weit entfernt hat» (Bruner 1974, 204). Diese Aneignungsmöglichkeiten des Wissens existieren nebeneinander, so dass Handeln, Darstellen und Abstrahieren nebeneinander als Lernprozess vollzogen werden können. „Ein Weltklasse-Fußballer kann zentimetergenau in den Strafraum flanken, ohne die Differentialgleichungen zu kennen, die die Flugbahn des Balles beschreiben“ (Bruner 1974, 202f.). Übertragen auf die Initiierung von Lernprozessen bei Kindern und Jugendlichen bedeutet dies, dass alle drei Ebenen der Aneignung von Lernstoffen berücksichtigt werden sollen. Dabei können sie isoliert voneinander gewählt werden - oder die Erfahrungen auf der einen Ebene werden auf eine andere oder die anderen überführt. Da Kinder in aller Regel zuerst über die handelnde, dann die bildliche und schließlich die symbolische Ebene lernen, ergibt sich daraus für die Lernprozesse 30 in der Grundschule, diese Reihenfolge möglichst einzuhalten. Der handelnde Umgang, also das Lernen unter Einbezug von Sich-Bewegen, steht grundsätzlich an erster Stelle schulischen Lernens und Erfahrens. In den weiterführenden Schulen stellt sich die Abfolge des Lernens auf den genannten Ebenen möglicherweise anders dar. Schülerinnen und Schüler in den Klassen der Sekundarstufen I und II verfügen über größere sprachliche und erweiterte kognitive Fähigkeiten. Hier kann die Abfolge der drei Ebenen auch verändert werden. Die Erkenntnisse, die die Kinder in einer Sache auf der bildhaften Ebene gewonnen haben, werden zum Beispiel auf die symbolische Ebene übertragen, um sie dann auf der handelnden Ebene im praktischen Tun noch einmal nachzuvollziehen und/oder zu überprüfen. Die Bedeutung der handelnden Darstellung ist aber auch hier gegeben, denn jede Übertragung von erworbenem Wissen von einer Darstellungsebene auf eine andere stellt für den Lern- und Erfahrungsprozess eine Bereicherung dar (vgl. auch Bruner 1974, 205). Insofern hat das handelnde Lernen, das Lernen in Bewegung auf allen Schulstufen, eine besondere Bedeutung für die Erschließung der Welt und das tiefere Verständnis dessen, was Generationen vor uns an Wissen hervorgebracht haben. Auf den handelnden Umgang mit Lernstoffen zu verzichten würde eine Verarmung des Lernens bedeuten.“ Rüdiger Klupsch-Sahlmann: Bewegte Schule, in Sportpädagogik 19 (1995) 6, 14-22 Die gedächtnispsychologische Forschung hat gezeigt, dass eine doppelte Kodierung von Lerninhalten, also Verbindung von Kognition und Motorik, zu einem schnelleren und sicheren Wiederauffinden von Wissen im Langzeitspeicher des Gedächtnisses führen. Die Beteiligung motorischer Zentren im Gehirn spielen offensichtlich eine wesentliche Rolle bei Verarbeitungs-, Lern- und Erinnerungsvorgängen. Bewegung regt das Wachstum von Nervenzellen an und vermehrt die Anzahl der neuronalen Verbindungen. Bewegung aktiviert bestimmte Hirnregionen und führt so zu erhöhter Wachsamkeit. Das Gehirn ist Bestandteil eines Gesamtkörpers und arbeitet nicht isoliert und unabhängig. Bewegung fördert das Selbstbewusstsein, kann Ängste abbauen helfen und ermöglicht den Abbau von Stress. Dies alles geschieht, weil durch Bewegung bestimmte Hirnregionen aktiviert werden. 31 4.4 Bewegung und Unterricht (aus www.mehr-bewegung-in-die-schule.de) ‚Themenbezogenes Bewegen (1) (2) im Unterricht’ eröffnet Lernen mit weitere Chancen für eine ‚Bewegte Schule’. Geleitet von der allen Sinnen Überzeugung, dass Lernen von Kindern und Jugendlichen nicht nur über den Kopf gehen darf, sondern auch ‚Herz und Lernen mit Hand’ gleichermaßen berücksichtigt werden müssen, können und durch Lehrkräfte ihre Unterrichtsinhalte schon bei der Planung Bewegung dahingehend prüfen, ob sie durch einen handelnden Umgang erschlossen werden können. Im gegenstandsbezogenen Lernen mit Lernen werden so Bewegungsaktivitäten zu adäquaten Kopf, Herz, Lernweisen. Damit sind allerdings nicht die Hand und Fuß Unterrichtssituationen gemeint, in denen Kinder quasi von der Sache her nicht ohne Bewegen auskommen, wie zum Beispiel bei Schwungübungen, beim Schreiben von Texten, beim schriftlichen Fixieren mathematischer Probleme oder im Sportunterricht. Sich in einem thematischen Zusammenhang wirklich zu bewegen kann einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, sich die Sache selbst zu erschließen. Nimm den FLECK, das ECK wirf weg, dann nimm ein 0, tu's hinten dran, und nimm ein H, verlänger's dann. Jetzt hast du ein sehr kleines Tier. Das beißt nun in die Beine dir. Sich dieses Gedicht von Josef Guggenmoos inhaltlich zu erschließen ist auf vielfältige Weise möglich. Von der Lehrkraft vorgelesen, ist es ein Rätsel für die Kinder, die nun versuchen, sich bildlich vorzustellen, welches Wort sich ergeben hat. Andererseits kann eine unterrichtliche Inszenierung auch darauf aus sein, dass die Kinder mit Hilfe des vorliegenden Textes und Buchstabenkarten das neue Wort zu entdecken und zusammenzusetzen versuchen. Aber es ist auch noch ein weiterer methodischer Zugriff denkbar, der den Bewegungsaspekt umfassend berücksichtigt. Die Kinder bilden eine 7er-Gruppe. Sie haben sich die verschiedenen Buchstaben umgehängt (wie bei der <Sandwich—Werbung>). Zuerst einmal stellen sie sich zum Wort Fleck zusammen. Anschließend bewegen sich die Buchstaben E, C, K aus der Gruppe weg, und die beiden Buchstaben 0 und H kommen an der entsprechenden Stelle hinzu. So eröffnet sich den Kindern die Möglichkeit, das Rätsel handelnd zu erschließen, und die anderen Kinder der Klasse, die Aktion beobachtend, sehen, wie sich das ursprüngliche Wort bewegt und verändert. Wie in diesem geschilderten Beispiel sind viele andere unterrichtliche Inszenierungen denkbar, durch die sich die Kinder einen unterrichtlichen Inhalt über Bewegung erschließen können. Im Fach Mathematik werden Zahlen erlaufen, Rechenaufgaben <räumlich> gelöst, indem sich die Kinder in ZahlenGruppen aufstellen und Rechenoperationen in Bewegung umsetzen. Lieder 32 können in allen Schulstufen durch die szenische Darstellung intensiver erlebt werden als durch das Singen oder Interpretieren des Textes allein. Gedichte wie das oben zitierte betreffen die Grundschule. Aber auch in den weiterführenden Schulen erschließen sich Gedichte, Prosa und anderes auch durch eine szenische Nachgestaltung. Im Religionsunterricht, auch in den weiterführenden Schulen, kann die Symbolik des Labyrinths als ein Zeichen des Lebenswegs, der mitunter von vielen Irrungen und Wirrungen begleitet ist, aber dennoch zum Ziel führt, auch wenn man sich immer wieder davon entfernt, bewegend erfahren werden: Das Labyrinth der Kathedrale von Chartres wird auf dem Boden des Schulhofs nachgezeichnet, und die Schülerinnen und Schüler erleben ihren Lebensweg im Gehen. Diese Beispiele sollen dazu anregen, auch solche Chancen zu nutzen, die sich durch das bewegungsbezogene Erschließen von Unterrichtsinhalten ergeben können. Dies kann unter anderem dann erforderlich sein, wenn andere Formen der Erschließung nicht die gleiche Qualität sichern oder aber die unterschiedlichen Lerndispositionen von Kindern und Jugendlichen vermehrt einen thematischen Zugang über alle Sinne erforderlich machen.“ Rüdiger Klupsch-Sahlmann: Bewegte Schule, in Sportpädagogik 19 (1995), 14-22 (1) Heute, fast 5 Jahre nach dieser Veröffentlichung, bin ich nicht mehr ganz meiner Meinung von damals. Die Diskussion mit meinem Kollegen Heiner Ziesmer , Fachleiter für Sport und Sprache am Studienseminar für das Lehramt für die Primarstufe in Mönchengladbach, hat mich dazu geführt, für diesen Baustein nicht mehr den Begriff des 'themenbezogenen Bewegens' zu verwenden, sondern den des 'themenerschließenden Bewegens'. Mit dieser Veränderung soll deutlich werden, dass ich dem Be-Greifen der Dinge dieser Welt über Bewegung eine besondere Bedeutung beimessen möchte, weil ich hierin mittlerweile auch eine besondere Qualität der Bewegten Schule sehe. Ich bin dabei, diese veränderte Orientierung zu verschriftlichen und eine Abgrenzung zum themenbezogenen Bewegen zu formulieren, die meines Erachtens mehr den Bereich einer bewegungsbezogenen unterrichtlichen Methode meint und damit eigentlich dem Baustein 'Schulraum - Bewegungsraum' zuzuordnen ist. (Rüdiger Klupsch-Sahlmann, im Mai 2001) (2) Mittlerweile (Oktober 2001) habe ich die entsprechenden Gedanken differenziert verschriftlicht. Interessierte Leser finden die grundlegenden Ausführungen zum themenerschließenden Bewegen hier: Themenerschließendes Bewegen, in: Grundschule 33 (2991) 10, 41-42 33 4.5 Klassenräume - Bewegungsräume (aus www.mehr-bewegung-in-die-schule.de) „Klassenräume sind in aller Regel keine Bewegungsräume. Sie sind der Ort, an dem die Schülerinnen und Schüler den größten Teil des Schultags verbringen. Die Funktion des Klassenraums ist durch Sitzordnungen geprägt, die eine durchgehende Konzentration auf die Inhalte des Unterrichts ermöglichen sollen. In der Regel ist der Blick nach vorne gerichtet, wo die Lehrenden agieren. Aber so vielfältig die Sitzordnungen auch sein mögen, traditionell mit Zweiertischen, in Hufeisenform, mit Sechser-Gruppentischen oder anderen Arrangements: Das Sicham-Platz-Bewegen, das Herumzappeln oder sogar das Durch-den-Raum-Gehen wird in der Regel als Störung der unterrichtlichen Inszenierung gedeutet. Was dies bedeutet, ist hier bereits hinreichend erläutert worden. Wenn Schülerinnen und Schüler in ihren Klassenräumen zusammen mit ihren Lehrkräften nicht nur lernen, sondern auch <leben>, dann bedeutet dies, „sich um übereinstimmende Deutungen des Raumes zu bemühen, Räume in ihren Funktionen festzulegen und ihre Nutzung zu kontrollieren“ (Dietrich 1992, 19). Deshalb sollte das Interesse der Lehrkräfte, den Kindern und Jugendlichen Unterrichtsinhalte möglichst effektiv zu vermitteln, in keinem Widerspruch zu den Bewegungsbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler stehen. Dietrich fordert für den Sportunterricht, dass es möglich sein muss, „verschiedene Raumdeutungen nicht nur zuzulassen, sondern dies auch zu befördern“ (Dietrich 1992,19). Dies muss in gleichem Maß auch für den Klassenraum als Bewegungsraum gelten. Die grundlegende Form der <Übereinstimmung> bei der Nutzung des Klassenraums als Bewegungsraum besteht darin, dass die Kinder und Jugendlichen erfahren, dass ein Sich-Bewegen von Seiten der Lehrkräfte akzeptiert, ja sogar angeregt und inszeniert wird und dass die Lehrkraft Bewegungsaktivitäten der Kinder und Jugendlichen nicht als Störung eines unterrichtlichen Vorhabens deutet. Ein in der Praxis des <bewegten Unterrichts> bewährtes <Möbelstück> ist der Sitzball. Der Körpergröße der Kinder und Jugendlichen angepasst liegen in den Klassenräumen neben den normalen Stühlen Sitzbälle bereit, die alternativ für eine kurze Zeit immer wieder als Sitzmöbel verwendet werden. Hier entsteht das faszinierende Bild eines Unterrichts, der Bewegung akzeptiert. Entgegen den Erwartungen der Beobachter entsteht keine Unruhe, nur weil einige auf dem Ball sitzend - andauernd in Bewegung sind. Die Bewegungen sind ruhig, verhalten. Niemand hüpft auf dem Ball herum. Und: Die leisen Bewegungen stören nicht. Vielmehr sind die Kinder und Jugendlichen durchgehend konzentriert und äußern ihr Bewegungsbedürfnis nicht mehr durch unruhiges Wackeln auf dem Stuhl, Kritzeln und Kratzen auf dem Tisch oder indem sie den Tischnachbarn necken.“ Rüdiger Klupsch-Sahlmann: Bewegte Schule, in Sportpädagogik 19 (1995) 6, 14-22 34 4.6 Zusammenfassung Durch Bewegung erschließt sich das Kind die Welt. Bewegung ermöglicht dem Kind eine intensive Auseinandersetzung mit der personalen und sächlichen Umwelt. Durch Bewegung lernt das Kind seinen Körper kennen. Es macht nachhaltige Körpererfahrungen. Bewegung macht kräftiger und ausdauernder. Kinder gestalten und verändern vor allem durch Bewegung ihre Umwelt. Bewegung erleichtert den Zugang zu anderen Menschen. Allgemein fördert Bewegung: die geistige allgemeine Leistungsfähigkeit die Wachheit und Aktivitätsbereitschaft das Wohlbefinden die Zusammenarbeit von rechter und linker Gehirnhälfte die Gedächtnisleistung die Kommunikation die Beweglichkeit von Denkvollzügen die Konzentration 35 4.7 Vier verschiedene Ebenen des bewegten Lernens (entnommen aus: www.bewegtes-lernen.de) 4 1.Abwechselnde Beanspruchung von Kopf und Körper: Die Kinder können sich länger konzentrieren, wenn sie sich nach konzentrierter Kopfarbeit kurzzeitig bewegen dürfen. Beispiel: Die Kinder haben ein Arbeitsblatt fertig. Sie dürfen in der Klassenzimmerecke eine Minute lang auf einen Boxsack schlagen. Dann nehmen sie sich das nächste Arbeitsblatt und lösen am Tisch die Aufgaben. 2. Gleichzeitige Beanspruchung von Kopf und Körper: Die Kinder dürfen sich bewegen, während sie bestimmte Denkaufgaben lösen. Dies schafft Motivation, Abwechslung und Konzentration. Beispiel: Die Kinder übersetzen einen deutschen Satz ins Englische, während sie auf dem Rollbrett zur anderen Raumseite fahren. Dort tragen sie das Ergebnis in das Arbeitsblatt ein. 3. Sinnvolle Verknüpfung: Die Kinder müssen sich bewegen, um die Denkaufgabe handelnd zu bewältigen. Das Lösen der dadurch sinnvollen und sinnhaften Aufgaben wird spielerisch und selbstverständlich. Beispiel: Die Kinder fahren mit Inlineskates zu verschiedenen Blechdosen, die mit einem Buchstaben beschriftet sind. Sie werfen eine Bildkarte in die Blechdose mit dem Anfangsbuchstaben des Wortes. 4. Inhaltliche Verknüpfung: Die Kinder erfahren durch die konkrete Handlung in der Bewegungsaufgabe die tatsächliche Bedeutung der schulischen Aufgabe. Beispiel: Die Kinder bauen mit Schaumstoffbausteinen einen Turm. Sie tragen die Anzahl der verwendeten Steine in das Arbeitsblatt ein. Sie werfen mit einem Ball den Turm um, zählen die "weg"-gefallenen Steine und tragen sie als Subtrahend in das Arbeitsblatt ein. Schließlich werden die restlichen stehenden Steine als Ergebnis der Subtraktion gezählt. Sie wollten nur den Kopf, doch es kam das ganze Kind. 36 - Beispiele – (aus Köckenberger 1997 „bewegtes Lernen“) Mathematik: Ergebniskarte zur Addition bringen Das Kind wählt zwei beliebige RollbretterWaggons, die mit jeweils einer Ziffer gekennzeichnet sind. Es belädt die Waggons mit entsprechend vielen Bausteinen, hängt die Waggons an die Lokomotive und zählt alle Güter zusammen. Es sucht die Ziffernkarte dieser Summe und hängt sie der Lokomotive oder sich als Nummernschild um. Die Rechnung kann auf ein Arbeitsblatt (Führerschein) eingetragen werden. Dann darf das Kind mit dem Zug eine Runde fahren. Ist auf dem Arbeitsblatt die Summe vorgegeben, muss das Kind entsprechende Waggons auswählen. Genauso kann ein Summand (ein Waggon) vorgegeben sein. Deutsch: Buchstaben erlernen Mathematik: Mächtigkeit erfahren Im Raum sind auf dem Boden Papierbögen mit unterschiedlichen Ziffern verteilt, von jeden Ziffern zwei gleiche. Über jedem Papierbogen sind entsprechend viele Blechdosen / Schaumstoffwürfel zum Turm aufeinandergeschichtet. Das Kind sucht zwei gleichhohe Türme, die es mit dem Rollbrett / auf den Armen tragend / mit dem Straßenbesen schiebend vorsichtig aus dem Feld transportiert. Das Kind erhält die Erfolgskontrolle über das Vergleichen der Turmhöhen nebeneinander, über Abzählen der einzelnen Bausteine der Türme oder über die darunterliegenden Papierbögen samt Ziffer. Deutsch: Fehlende Buchstaben ertasten 37 Literatur: Köckenberger, Helmut Bewegtes Lernen Borgmann Verlag 2002 Oberacker, Peter Lernen durch Handeln Verlag Konrad Wittwer1982 Raeggel, Mechthild / Sackmann, Christa Freiarbeit mit Geistigbehinderten verlag modernes lernen 1997 Schulte-Peschel, Dorothee / Tödter, Ralf Einladung zum Lernen verlag modernes lernen 1996 Sowa, Martin (Hrsg.) „Das reißt uns vom Hocker“ verlag modernes lernen 2000 Wallrabenstein, wulf „Offene Schule – offener Unterricht“ rororo 1998 www.fh-niederrhein.de www.mehr-bewegung-in-die-Schule.de www.offener-unterricht.de www.ph-freiburg.de (Teilprojekt Bewegter Unterricht) www.schule.suedtirol.it 38