Prof. Dr. Hans-Werner Hahn – SS 2011: Vorlesung: Geschichte der Weimarer Republik 10. Die Anfänge der Regierung Brüning Literatur zur Auflösungsphase (neben den bereits genannten Überblicksdarstellungen): Karl Dietrich BRACHER, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1955 (zahlreiche Neuaufl.). Karl Dietrich ERDMANN/ Hagen SCHULZE (Hg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, Düsseldorf 1980. Gerald D. FELDMAN, The Weimar Republic: A Problem of Modernization?, in: AfS 26 (1986), S. 1-26. Gotthard JASPER, Die gescheiterte Zähmung: Wege zur Machtergreifung Hitlers 1930-1934, Frankfurt a. M. 1986. DERS. (Hg.), Von Weimar zu Hitler: 1930-1933, Köln 1968 (vgl. u. a. zur Bracher-ConzeKontroverse). Reiner MARCOWITZ, Weimarer Republik 1929-1933, Darmstadt 2004. Heinrich August WINKLER, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930-1933 (= Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Hg. Gerhard A. RITTER, Bd. 11), 2., vollst. durchges. u. korr. Aufl., Bonn 1990. DERS. (Hg.), Die deutsche Staatskrise 1930-1933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992. A. Anfänge des Kabinetts Brüning I. Brünings Politik in der historischen Forschung Seit den fünfziger Jahren wurde die Forschung durch zwei Grundpositionen zur Einsetzung der Regierung Brüning bestimmt (BRACHER-CONZE-Kontroverse): Werner CONZE vertrat die Meinung, dass sich das mit der Regierung Brüning einsetzende Präsidialsystem wegen des auseinanderbrechenden Parteienstaates mit innerer Notwendigkeit durchsetzte, dass es sich also nicht um einen vorsätzlich eingeleiteten Missbrauch der Reichsverfassung von 1919 handelte, sondern nur die logische Folge aus dem Versagen der Parteien war (Versagen des Parteienstaats). Demgegenüber hob Karl Dietrich BRACHER hervor, dass der Übergang zum Präsidialsystem nicht nur als Folge einer Krise des Parteienstaates gesehen werden kann. Die Parteien wurden zwar um 1930 ihren Aufgaben nicht mehr gerecht. Für BRACHER war aber entscheidend, dass die politische Führung seit 1930 gar keine Versuche mehr zu einer parlamentarischen Lösung der Krise unternahm, weil sich maßgebende Kräfte – vor allem die Umgebung Hindenburgs und die Führung der Reichswehr – schon im Vorfeld auf das Präsidialsystem festgelegt hatten (antiparlamentarische, „antimarxistische“ Regierung). Brünings Amtszeit erscheint daher bei BRACHER nicht als letzter Rettungsversuch der Weimarer Republik, sondern als erste Stufe im Auflösungsprozess dieser Demokratie. Brünings Politik „über den Parteien“ führte nicht aus der Systemkrise heraus, sondern sie stürzte die Republik von Weimar immer tiefer in sie hinein. Der Zentrumspolitiker wollte zwar die NSDAP bekämpfen, lähmte aber selbst durch die pseudolegale Destruktion des Verfassungssystems mit den Mitteln der Verfassung die Widerstandskraft der demokratischen Parteien. 1 II. Die Bedeutung der Brüning-Memoiren Literatur: Andreas RÖDDER, Dichtung und Wahrheit. Der Quellenwert von Heinrich Brünings Memoiren und seine Kanzlerschaft, in: HZ 265 (1997), S. 77-116. Die Brüning-Memoiren erschienen 1970 nach dem Tod des bereits 1934 in die USA emigrierten ehemaligen Reichskanzlers. Ihr Quellenwert ist hoch umstritten. In der neueren Forschung wird vor allem bezweifelt, ob Heinrich Brüning – wie er behauptet – schon bei Amtsantritt einen großen Gesamtplan zur Lösung der deutschen Krisen gehabt habe, der am Ende daran gescheitert sei, dass man ihn hundert Meter vor dem Ziel gestoppt habe. Brünings angeblicher Plan lief innenpolitisch auf eine Restauration der Monarchie hinaus. Außenpolitisch stand zunächst die Lösung der Reparationsfrage im Zentrum. Nach deren Lösung wollte Brüning die wirtschaftliche Gesundung und den inneren Neuaufbau Deutschlands in Angriff nehmen. Demgegenüber spricht die neuere Forschung davon, dass Brünings Politik eher ein kurzfristig orientiertes Krisenmanagement gewesen sei. Glaubhafter erscheint dagegen Brünings offenes Eingeständnis, dass er seit 1930 dem parlamentarischen System in der bis dahin praktizierten Form keine Chance mehr gegeben habe und langfristig auf ein System zusteuert sei, das mehr dem des Kaiserreichs ähnelte: konservativ-autoritäre Führung, eingeschränkter Einfluss des Parlaments, aber rechtsstaatliche Grundlagen. Da Brüning selbst die konservative Kurskorrektur in aller Offenheit ausspricht, tendiert die Forschung heute stärker zu BRACHERS ursprünglicher Einschätzung der Brüning-Regierung. III. Brünings Politik bis September 1930 Im neuen Kabinett Brüning blieben – abgesehen von den SPD-Ministern – die meisten Minister der Großen Koalition zunächst im Amt. Dennoch wird die Kurskorrektur bei genauem Hinsehen auch in personeller Hinsicht deutlich (neue Vertraute Hindenburgs, viele Frontoffiziere, Öffnung nach rechts). Die sehr kurze Regierungserklärung vom 1. April 1930 kündigte den neuen Kurs „über den Parteien“ offen an und drohte dem Reichstag bei Widerspruch mit Auflösung. Die SPD reagierte mit dem Vorwurf des Verfassungsbruchs. Ein von ihr schon am 3. April eingebrachtes Misstrauensvotum fand aber keine Mehrheit (SPD, KPD, NSDAP stimmten dafür), weil die DNVP nicht mitstimmte. Obwohl Brüning danach versuchte, die DNVP durch steuerliche und innenpolitische Zugeständnisse (Sprengung der Preußen-Koalition) sowie einen Kampfkurs gegen die SPD auf seine Seite zu ziehen, konnte er Hugenberg nicht fest an sich binden. Das vorgelegte Finanzprogramm, mit dem nun die Brüningsche Sparpolitik einsetzte, fand im Reichstag somit keine Mehrheit. Am 16. Juli lehnte die SPD, mit der Brüning eigentlich nicht mehr ernsthaft verhandeln wollte, trotz der Drohung mit Art. 48 (Notverordnung) gemeinsam mit KPD, dem Großteil der DNVP und NSDAP das Finanzprogramm Brünings im Reichstag ab. Brüning setzte es daraufhin per Notverordnung in Kraft. Damit wurde zum ersten Mal in der Geschichte der Weimarer Republik ein vom Reichstag abgelehnter Gesetzesentwurf auf diese Weise durchgesetzt. Als der Reichstag am 18. Juli 1930 mit 236 zu 221 Stimmen von seinem Recht Gebrauch machte, die Notverordnung wieder aufzuheben, wurde er von Brüning kurzerhand aufgelöst. Die abgelehnte Notverordnung wurde in verschärfter Form am nächsten Tag erneut erlassen. Damit war der Kurs in Richtung Präsidialregime endgültig eingeschlagen. Man nutzte die Verfassung zur Ausschaltung des Parlaments und suchte nicht länger nach Kompromissen mit 2 den Sozialdemokraten (noch immer stärkste Fraktion), obwohl diese neue Angebote unterbreitet hatten. Die nun notwendigen Neuwahlen fanden im September 1930 statt. IV. Die Septemberwahlen Bei den Wahlen am 17. September 1930 wählten 1,7 Mio. Reichstagserstwähler. Zudem lag die Wahlbeteiligung mit 82 % deutlich höher als noch 1928 (75,6 %). Die Wahlen brachten für die Weimarer Republik ein katastrophales Ergebnis, weil die NSDAP nun einen erdrutschartigen Erfolg erzielte, den niemand in einer solchen Höhe erwartet hatte. Die Ergebnisse der wichtigsten Parteien: Parteien KPD SPD DDP/Staatspartei Zentrum BVP DVP Reichspartei DNVP NSDAP absolute Stimmen (in Mio.) 1928 1930 3,2 4,5 9,1 8,5 1,5 1,3 3,7 4,1 0,9 1,0 2,6 1,5 1,3 1,3 4,3 2,4 0,8 6,4 Anteil (in Prozent) 1928 1930 10,6 13,1 29,8 24,5 4,9 3,8 12,1 11,8 3,1 3,0 8,7 4,5 4,6 3,9 14,3 7,0 2,6 18,3 Mandate 1928 1930 54 77 153 143 25 20 62 68 16 19 45 30 23 23 73 41 12 107 Die NSDAP war der große Gewinner der Wahl, aber auch die KPD, die einen auch auf die nationalen Interessen zielenden Wahlkampf geführt hatte (gegen Versailles und Young-Plan), verbesserte sich deutlich. Dagegen verlor die SPD mehrere Prozentpunkte. Dem Zentrum gelang es trotz Heinrich Brüning nicht, seine Position zu verbessern. Die liberalen Parteien verloren weitere Anteile, vor allem aber büßte die DNVP die Hälfte ihres Wähleranteils ein. Zum einen verlor sie bereits an die Nationalsozialisten, zum anderen an neue, gemäßigtere konservative Parteien wie die Konservative Volkspartei und der Christlich-soziale Volksdienst (Reichsminister Gottfried Reinhold Treviranus), die zusammen knapp 4 % der Stimmen erreichten. Brünings Politik, die die NSDAP völlig unterschätzt und die Brücken zur SPD leichtfertig abgebrochen hatte, führte somit recht schnell in eine Sackgasse. Alle Auswege aus der Krise waren nun noch schwieriger als zuvor. Eine Rückkehr zur Großen Koalition war ebenso wenig möglich wie eine Mehrheitsbildung der verbliebenen bürgerlichen Kräfte. Jetzt war die NSDAP zu einem wichtigen Faktor der deutschen Politik geworden. Die daraus resultierenden Gefahren wurden aber von vielen, auch von Brüning selbst, weiterhin unterschätzt. B. Aufstieg der NSDAP Wichtigste Hitler-Biographien: Joachim C. FEST, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt a. M./ Berlin/ Wien 1973 (zahlreiche Neuaufl.). Ian KERSHAW, Hitler, Bd. 1: 1889-1936, Stuttgart 1998. 3 Grundlagenliteratur zum Aufstieg der NSDAP: Martin BROSZAT, Die Machtergreifung. Der Aufstieg der NSDAP und die Zerstörung der Weimarer Republik, München 1984 (zahlreiche Neuaufl.). Jürgen W. FALTER, Hitlers Wähler, München 1991. Eberhard JÄCKEL, Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, 4. Aufl., Stuttgart 1991. Gerhard PAUL, Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933, 2. Aufl., Bonn 1992. Sven REICHARDT, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln/ Weimar/ Wien 2002. Detlef SCHMIECHEN-ACKERMANN, Nationalsozialismus und Arbeitermilieus. Der nationalsozialistische Angriff auf die proletarischen Wohnquartiere und die Reaktion in den sozialistischen Vereinen, Bonn 1998. Hans-Ulrich THAMER, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, 3., durchges. Aufl., Berlin 1992. I. Frühgeschichte der NSDAP Die im Januar 1919 vom Schlosser Anton Drexler gegründete DAP, die sich im Januar 1920 in NSDAP umbenannte, war zunächst eine kleine Splittergruppe im völkischen Milieu Münchens. Adolf Hitler gewann den Zugang über seine Rolle als V-Mann in der Reichswehr und trat im September 1919 der Partei bei. Durch eine Agitation, die die Ängste, Ressentiments (Antisemitismus, Antimarxismus) und Sehnsüchte vieler durch Kriegsniederlage und Revolution verunsicherter Menschen ansprach, sorgte der bis dahin erfolglose Hitler für einen kräftigen Zulauf zur Partei. Im Juli 1921 übernahm er den Parteivorsitz, im gleichen Sommer wurde auch die SA gegründet. Bis 1923 verzeichnete die NSDAP vor allem in Bayern einen großen Mitgliederzuwachs (ca. 50 000) und machte auch außerhalb Bayerns auf sich aufmerksam. Als sich im Krisenjahr 1923 eine Stabilisierung auf der Reichsebene abzeichnete und Hitler wieder zu einer Randfigur zu werden drohte, versuchte er – unterstützt von Ernst Pöhner (Münchener Polizeipräsident), Wilhelm Frick (Oberamtmann der bayrischen Polizei) und Ernst Röhm (Hauptmann, Freikorps, SA-Führer) – am 8. November 1923 im Münchener Bürgerbräukeller die Initiative an sich zu reißen. Die ausgerufene neue Reichsregierung konnte sich angesichts des Rückzugs der einflussreichsten Kräfte der bayerischen Rechten selbst in München nur wenige Stunden halten. Mit dem gescheiterten Marsch zur Feldherrenhalle am folgenden Tag war der „Bierhallenputsch“ bereits an seinem Ende. Hitler schien kläglich gescheitert zu sein, nutzte dann aber bereits seinen Prozess, um das Blatt erneut zu seinen Gunsten zu wenden. II. Die NSDAP in der Mittelphase der Weimarer Republik a) Programmatik Während seiner relativ kurzen Festungshaft (bis Ende 1924) begann Hitler mit der Abfassung von „Mein Kampf“. Die Bedeutung der programmatischen Auffassungen als Antriebsmotor der NS-Bewegung und als Leitschnur der konkreten Politik ist in der Forschung umstritten. Historiker wie Eberhard JÄCKEL und auch wichtige Hitler-Biographen messen der „Weltanschauung“ Hitlers eine große Bedeutung für Aufstieg und Handeln bei. Kernpunkte der Hitlerschen Weltanschauung waren die Rassen- und Raumdoktrin. Es ging darum, durch 4 Ausmerzung alles Schwachen (Parteien, Parlamentarismus) und Fremden (Juden) das deutsche Volk zu stärken und zur Eroberung von Lebensraum im Osten zu befähigen. Diese Verbindung von Rassen- und Raumdoktrin als Grundlage der NS-Ideologie stand allerdings zunächst nicht im Vordergrund der Propaganda, mit der Hitler gegen die Weimarer Republik zu Felde zog. Hitler erschien eher als der kompromissloseste Revisionist, als entschiedener Kämpfer gegen die Ordnung von Versailles. Andere Elemente der NSIdeologie spielten für den Aufstieg dagegen bereits frühzeitig eine wichtigere Rolle. Hierzu zählte erstens der Antisemitismus, der aber noch weniger biologistisch begründet wurde, sondern mehr auf die wirtschaftlichen und politischen Aspekte zielte (Konkurrenz der Juden, Weimar als „Judenrepublik“). Ein zentrales Element war zweitens der Führergedanke und der Führermythos. Auch hier bediente Hitler bestimmte Erwartungen großer Teile der Gesellschaft. Der dritte wichtige Pfeiler war die Idee einer neuen Volksgemeinschaft. Anders als die Konservativen, die an die vermeintlich bessere alte Zeit anknüpfen wollten, verbanden sich in Hitlers Volksgemeinschaftsidee traditionelle Beschwörungen von nationaler Eintracht mit modernen Elementen. Der Nationalsozialismus war gleichzeitig bemüht, über die Volksgemeinschaftsidee verkrustete gesellschaftliche Strukturen (alte erstarrte Eliten) aufzubrechen und nicht zuletzt der Jugend soziale Aufstiegschancen in Aussicht zu stellen. Der Massenerfolg der NSDAP resultierte aus der Verbindung derartiger auf soziale Erneuerung und Aufstieg drängender Tendenzen mit vertrauten, teilweise radikal rückwärts gewandten Wertvorstellungen, also aus einer Mischung von dynamischen und reaktionären Elementen. b) Neuaufbau der Partei: Seit 1925 erfolgte ein zielstrebiger Neuaufbau der Partei. Die Putschtaktik wurde durch einen „Legalitätskurs“ ersetzt, der freilich nicht gleichbedeutend war mit dem Verzicht auf Gewalt. Propagandamärsche der SA sowie Straßen- und Saalschlachten sollten dazu beitragen, der Partei öffentliche Resonanz zu verschaffen und vor allem die Arbeiterschaft zu beeindrucken (vgl. SCHMIECHEN-ACKERMANN, REICHARDT, PAUL). Die NSDAP wurde nun endgültig zu einer Führerpartei. Wichtig war ferner der Ausbau des organisatorischen Netzes. Die Ausdehnung nach Norden wurde zunächst vor allem durch die Gebrüder Strasser vorangetrieben, die innerhalb der Partei für die antikapitalistischen Ideen standen und Hitler auf einen „nationalen Sozialismus“ festlegen wollten. Auf der Bamberger Führertagung im Februar 1926 erzwang Hitler die kompromisslose Unterordnung unter seinen Führungsanspruch. Gregor Strasser blieb aber bis 1932 als Organisationsleiter eine wichtige Figur der Partei (Vgl. Udo KISSENKOETTER, Gregor Strasser und die NSDAP, München 1978). Eine weitere wichtige Etappe des Parteiausbaus war der Parteitag von Weimar im Juli 1926. Die Wahl des Ortes war eine bewusste Kampfansage an die gleichnamige Republik. III. Die NSDAP auf dem Weg zur Massenpartei Zwischen 1925 und 1929 erfolgte ein zielstrebiger Ausbau der verschiedenen Parteiorganisationen. Hierzu zählten neben der SA die Hitlerjugend, der NS-Studentenbund, Berufsorganisationen und die NS-Betriebszellen (NSBO). Besonders erfolgreich war man bei der Infiltration mittelständischer und agrarpolitischer Verbände. Die wachsenden Mitgliederzahlen begünstigten die 1929 einsetzenden Erfolge der NSDAP ebenso wie die Tatsache, dass die NSDAP am kompromisslosesten gegen den Versailler Vertrag und die politische Ordnung der Weimarer Republik auftrat und vielen zugleich Auswege aus der Krise anzubieten schien. Hinzu kam eine geschickt inszenierte Propaganda, die auch die 5 neuen Strukturen und Möglichkeiten der Massenkultur nutzte. Man hat vom „Aufstand der emotionsgeladenen Bilder“ gegen die „dürre Sprache der Demokratie“ gesprochen. Neue Arbeiten warnen aber davor, die Wirkung der frühen NS-Propaganda, die sich vor allem gegen die SPD richtete, zu überschätzen (Gerhard PAUL). Die 1929 in Thüringen einsetzenden Wahlerfolge der NSDAP, die auf Reichsebene im September 1930 einen ersten Höhepunkt erreichten, wurden dadurch ermöglicht, dass die Partei es erstens schaffte, große Teile der Jugend zu gewinnen, und dass sie zweitens zu einer Massenintegrationspartei wurde, also zu einer Art Volkspartei, die in fast allen Schichten der Gesellschaft Fuß fassen konnte. Mitgliederstruktur der NSDAP: Die NSDAP war eine ausgesprochen junge Partei. 1930 waren 70 % der insgesamt 121 000 Mitglieder jünger als 40 Jahre, 37 % jünger als 30. Die NSDAP war entgegen früherer Einschätzungen auch weit mehr als eine reine Mittelstandspartei. Mitgliederstruktur der NSDAP vor 1933: Gesellschaftliche Schicht Arbeiter Angestellte Selbstständige Bauern Beamte Sonstige Anteil in der NSDAP (in Prozent) 28,0 25,6 20,3 14,2 8,3 3,6 Anteil an der deutschen Gesellschaft (in Prozent) 45,9 12,0 9,0 10,6 5,1 17,4 Auch die vor allem von Jürgen W. FALTER untersuchte Wählerstruktur der NSDAP zeigt die breite soziale Verankerung der Hitler-Partei. Der NSDAP gelang zunächst einmal eine überdurchschnittliche Mobilisierung von bisherigen Nichtwählern. Sie errang ferner große Wahlerfolge im alten und (etwas weniger) im neuen Mittelstand. Die alte These vom „Extremismus der Mitte“ (Seymour Martin LIPSET), von der Mittelstandsbewegung, ist dennoch zu korrigieren. Zum einen waren die Erfolge bei den bürgerlichen Oberschichten größer als bisher angenommen. Zum anderen fielen aber auch die Erfolge der NSDAP in der Arbeiterschaft weit größer aus, als es die ältere Forschung gesehen hat. Diese Wahlerfolge gingen vor allem auf Kosten der Sozialdemokraten, von der die NSDAP etliche Wähler abziehen konnte. Dagegen waren die Kommunisten weniger davon betroffen. Arbeitslose wählten vor allem KPD, weniger dagegen NSDAP. Auch die Fluktuation zwischen den extremistischen Parteien war geringer als früher angenommen. Das katholische Milieu blieb wesentlich resistenter gegenüber dem Nationalsozialismus als die protestantischen Regionen. Die Unterstützung durch örtliche Honoratioren (Unternehmer, Lehrer, Pfarrer) spielte für die frühen Erfolge der NSDAP offenbar eine wichtige Rolle. Das Fazit von FALTER lautet: Die NSDAP war eine „Volkspartei des Protests mit Mittelstandsbauch“. Die finanziellen Zuwendungen der Industrie waren im Übrigen bis 1930 kein entscheidender Faktor für den Aufstieg der NSDAP. Die Partei finanzierte sich zum großen Teil selbst und steckte vielfach in großen Geldnöten. Die Mehrheit der deutschen Unternehmer wollte zwar das bestehende politische System überwinden und trug zum Ende von Weimar maßgeblich 6 bei. Die große Mehrzahl der Großunternehmer setzte aber zunächst auf andere Kräfte als die NSDAP, die selbst bis 1932 nur von wenigen Großindustriellen (Fritz Thyssen, Friedrich Flick) unterstützt wurde. Dagegen war die Unterstützung durch klein- und mittelständische Unternehmer von Beginn an stärker ausgeprägt. Zu dieser noch eingehender zu behandelnden Thematik vgl. folgende Überblicke: Jürgen JOHN, Zur politischen Rolle der Großindustrie in der Weimarer Staatskrise. Gesicherte Erkenntnisse und strittige Meinungen, in: Heinrich August WINKLER (Hg.), Die deutsche Staatskrise 1930-1933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992, S. 215-237. Reinhard NEEBE, Großindustrie, Staat und NSDAP 1930-1933. Paul Silverberg und der Reichsverband der Deutschen Industrie in der Krise der Weimarer Republik, Göttingen 1981. Henry A. TURNER, Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Berlin 1985. 7