Innere Achtsamkeit und Dialog Beispiel für zwischenmenschliche emotionale Automatismen und die Arbeit des bewußt erspürenden Beobachtens: Ich sitze mit meiner Partnerin in einem Restaurant und mache eine Äußerung bezüglich einer Aufgabe, die wir uns gemeinsam seit ein paar Tagen gestellt haben. Sie kriegt diese Äußerung „in den falschen Hals“ und meint irrtümlicherweise zu hören, daß ich die Kooperation bezüglich dieser Aufgabe aufkündige und fühlt sich verletzt. Der emotionale Ton mit dem ihre spontane Reaktion nun aus diesem Verletztheitsgefühl heraus erfolgt, hat einen ganz spezifischen Geschmack, den ich kenne und mit dem ich wiederum schlecht umgehen kann. Ich fühle mich nun verletzt. Die Atmosphäre zwischen uns bleibt blockiert und gespannt. Nach einigen Stunden normalisiert sich die Situation wieder insofern, als wir wieder normal und wie gewohnt miteinander umgehen.Nun könnte ich es dabei belassen und diese unerfreuliche Szene einfach in die Vergessenheit sinken lassen, was ja manchmal durchaus das Angemessenste sein kann. Aber diesmal kam die Haltung eines feinen Gewahrseins ins Spiel, insbesondere des Gewahrseins von durch zwischenmenschliche Kommunikation ausgelösten innerseelischen Vorgängen. Wäre diese Szene nur ein vereinzeltes Vorkommnis gewesen, wäre es vermutlich leicht gewesen, sie wieder loszulassen und in die Bedeutungslosigkeit versinken zu lassen. Aber irgendwie schien sie für mich doch eine Bedeutung zu haben - oder ich ihr eine Bedeutung zu geben - die über das isolierte Ereignis hinausging. Sie schien energetisch noch in meinem psychophysiologischen System „festzuhängen“. Woran war das zu merken? Das ist oft ganz subtil. Jedenfalls war da weiterhin so etwas wie ein Verletztheitsgefühl, nicht dauernd spürbar, aber doch im Hintergrund vorhanden. Und eine Auswirkung davon war eine subtile Bewegung des sich (Ver-)schließens im Brust- und Herzbereich - fast physisch spürbar. Aber nicht nur im Herzen fand eine feingesponnene Schließbewegung statt, sondern auch im Geist: wenn ich mit ihr zusammen bei Tisch saß, merkte ich manchmal, daß ich nicht bei mir war, nicht bei ihr und nicht im gegenwärtigen Moment, sondern in den Gespinsten meiner Gedanken verwickelt, die sich halb bewußt halb unbewußt wieder mit dem „Vorfall“ beschäftigten und sich wie ein Spinnennetz über meinen Geist zogen. Bemerkenswert ist dabei noch, daß wir ja ausgerechnet die gemeinsamen Mahlzeiten zu Inseln erhöhter Präsenz werden lassen wollten. Nun beschäftigte mich dieses Thema bewusst natürlich nicht den ganzen Tag. Aber selbst dann war es irgendwie wirksam. So wie verschmutzte Fensterscheiben einen anderen Blick auf die Welt freigeben als klare. Und auch bei verschmutzten Fensterscheiben ist man sich die meiste Zeit des Tages ihrer Verschmutztheit und der damit verbundenen Eintrübung nicht bewußt, sondern erst wenn man die Aufmerksamkeit speziell darauf richtet. Wenn ich nicht schon durch eine lange Übung und Auseinandersetzung mit dem Thema „Gewahrsein“ und Achtsamkeit sensibilisiert gewesen wäre, hätte ich die Bewußtseinseintrübung, die dadurch entstand, daß sich da etwas in meiner Psyche „verfangen“ hatte, gar nicht bemerkt. So aber tauchten im Strom des Alltags doch manchmal Empfindungen von Enge und untergründig schwelendem Ärger auf, durch die ich erst bemerkte, daß der freie Fluß meiner Gefühle und Handlungen gestört war. Es war wie wenn sich ein Spinnennetz aus elastischen aber widerstandsfähigen Spinnweben um meinen Geist gelegt hätte und manchmal - nicht immer - konnte ich diese Behinderung spüren. Was tun? Nun, zunächst einmal wurde ich zum interessierten Beobachter dieser inneren Wahrnehmungen und Empfindungen. Wenn man seine inneren Vorgänge beobachtet, ist man „an zwei Orten gleichzeitig“: Man i s t diese Vorgänge und gleichzeitig hat man durch die Beobachtung eine Distanz zu ihnen. Man i s t die Bühne und die Emotionen, Gedanken und Handlungen, die sich auf ihr abspielen und gleichzeitig sitzt man aufmerksam und interessiert im Zuschauerraum. Und gerade dadurch, daß man auch im Zuschauerraum sitzt, sieht man sonst unbemerkte Details, aber auch mehr vom Ganzen. Indem ich also diese Gefühle, wenn sie spürbar wurden, nicht mehr überging oder verdrängte, sondern zuließ und ihnen nachspürte, entfalteten sie Bedeutungszusammenhänge. Und so dauerte es nicht lange, bis ich bemerkte, daß die aus dem aktuellen Anlaß hervorgegangenen „Spinnweben“ energetische Verbindungen eingegangen waren zu anderen Ereignissen, sogar solchen bis weit in die Vergangenheit. Gefühls- und Assoziationsfäden gingen z.B. zurück bis zu gewissen Erfahrungen als Kind und Jugendlicher mit meiner Mutter. Und diese Erfahrungen hatten den emotionalen Geschmack von „nicht wirklich gesehen werden“ und „nicht das Interesse und die Mühe aufbringen, m i c h wirklich wahrnehmen zu wollen, mich wirklich verstehen zu wollen“, und sie waren schmerzhaft und dieser Schmerz wurde damals irgendwann mal nicht mehr zugelassen von mir. Da war es also wieder! Das war genau der gleiche Schmerz, den ich jetzt auch hatte. Es war, wie wenn alte, unterirdische Lavaströme von Schmerz und Wut aus der Vergangenheit sich mit den Gefühlen der Gegenwart verbanden und ihnen eine Hitze gaben, die dem aktuellen Anlaß nicht angemessen war. Diese „GefühlsEinsicht“ war schmerzhaft und erleichternd zugleich. Ich war mir selber näher gekommen. Jetzt hatte jedenfalls i c h Verständnis für mich. Verständnis in einem doppelten Sinne: ein tieferes Verstehen (von dem was da gerade in mir ablief) und ein Mitgefühl mit mir. Ja, ich als dieser beobachtende Zuschauer meiner selbst war kein kühl distanzierter Beobachter, sondern ich hatte verstehendes Mitgefühl mit mir, ich war bei mir aufgehoben und angenommen.Das war etwas gänzlich anderes als Selbstmitleid,das ja bekanntlich schwächt. Dies hier aber fühlte sich heilsam an. Ich spürte irgendwie, daß das Erkennen und Erfühlen dieser Verästelungen in meinem Gefühlshaushalt deren vorwiegend unbewußt wirkende Macht über mich reduzieren könnte. Der Schmerz aus der Vergangenheit war durch dieses einmalige Spüren der Zusammenhänge sicher nicht ausgelöscht. Ich ahnte, durch künftige ähnliche Erlebnisse würde auch dieser Schmerz aus der Vergangenheit, so wie jetzt, wieder in Resonanzschwingung versetzt und dann in einen gegenwärtig erlebten Schmerz verstärkend hineinfließen. Doch ich hatte ja jetzt die „Verbindungsleitungen“ durch mein Gewahrsein sozusagen freigelegt. Und ich hatte die deutliche Ahnung, daß, wann immer ich bei künftigen ähnlichen Gefühlen innerlich gewahr und erkennend dabei sein konnte - statt mit emotionalen Automatismen zu reagieren - mit jedem Mal die Resonanzschwingungen aus der Vergangenheit immer mehr sich abmildern und befrieden könnten. Zumal ich durch dieses erhöhte Gewahrsein vielleicht besonnener und lösungsorientierter und damit mit mehr Selbstwirksamkeit handeln könnte. So wäre dies ein Beispiel dafür, wie Achtsamkeit immer mehr zu einem „reinen, offenen Gewahrsein“ sich entfalten kann, d.h. zu einem von den Spinnweben der Vergangenheit ungetrübteren, frischen Antworten auf die „Wahrheit des gegenwärtigen Augenblicks“. Daraus entsteht offenes, lebendiges Werden. Zur „Wahrheit des gegenwärtigen Augenblicks“ gehört aber auch die Kommunikation der Wahrheit. Ich hatte m e i n e Wahrheit gesucht und durch das aufmerksame Lauschen nach innen zugelassen. Ich merkte aber auch nach einiger Zeit, daß damit meine seelischen Energien noch nicht ihre ungehinderte Beweglichkeit gewonnen hatten. Ich spürte weiterhin Mauern in mir. Diese Mauern, die ich i n mir spürte, waren relativ leicht als meine Mauern in der Kommunikation zwischen mir und meiner Partnerin identifizierbar. Die Schließbewegung im Herzbereich, von der ich oben sprach, war noch wirksam. Es fehlte also noch was. Am nächsten morgen beim gemeinsamen Frühstück gab ich mir einen Ruck und erzählte ihr, daß und in welcher Weise ich noch durch unseren „Vorfall“ eingeschränkt und blockiert bin und daß sowohl mein Kontakt zu ihr als auch generell meine Geistesgegenwart darunter leiden. Durch die vorhin geschilderte innere Vorarbeit war ich nun in der Lage, ruhig und ohne vorwurfsvolle und damit neue Verwicklungen einladende Zwischentöne, das, was ich erlebt und bei mir gesehen hatte zu schildern. Da es jetzt nicht um Kampf und Recht-haben ging, sondern um ein „Verstehen“ (meiner emotionalen Realitäten) war das Gespräch sehr offen und konstruktiv. Meine Partnerin war aufmerksam und interessiert und sie war berührt von der Schilderung meiner detaillierten Selbstwahrnehmung. Als wir damit fertig waren, spürte ich sehr deutlich eine starke energetische Veränderung im ganzen Körper, insbesondere im Brustbereich. Es war wie wenn man in einem Raum mit miefiger, abgestandener Luft alle Fenster weit öffnet. Ich atmete tief durch, die Brust war wieder frei, der Geist nach allen Seiten offen und eine frische Neugierde auf den kommenden Tag stellte sich ein. Dies Beispiel zeigt, wie das, was wir in uns tragen als „biographischer Hintergrund“ (z.B. Verletzungen) in den Vordergrund der momentanen zwischenmenschlichen Interaktion hineinwirken und zu unkontrollierten und undurchschauten („unerleuchteten“) emotionalen Automatismen, Eskalationen und Blockierungen führen kann. Und es zeigt, wie die Haltung der Achtsamkeit und des Spürbewußtseins uns dabei helfen kann, aus der „emotionalen Mechanik“ des bloßen Reagierens auszusteigen - mit der wir uns nicht wirklich begegnen können - und in einen vom Licht des Bewußtseins erhellten dialogischen Austausch einzutreten.