Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Dr. Karl-Heinz Wellmann Wissenswert Alles wandert – Migration als Prinzip des Lebens (7) Völkerwanderung Von Karl-Heinz Wellmann Dienstag, 04.03.2008, 08.30 Uhr, hr2-kultur Sprecher: Karl-Heinz Wellmann 08-035 COPYRIGHT: Seite 2 Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Ver-wendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. 0-Ton 1 baskischer 0-Ton Autor So klingt baskisch: der letzte Nachhall einer uralten Sprachfamilie, die vor rund 10.000 Jahren über ganz Europa verbreitet war. In den Jahrtausenden zuvor war Europa kein Gebiet, in dem man hätte leben mögen. Von Skandinavien her waren Gletscher über die Ostsee bis südlich von Berlin vorgedrungen. Gleichzeitig reichten Eiszungen von den Alpen herab bis nach Schaffhausen. Dazwischen war die Erde weitgehend öd und leer: Kein Baum und kaum ein Strauch hatte dem Jahrhunderte langen Kälteeinbruch widerstanden. Auch der Mensch hatte Westeuropa, Mitteleuropa und Nordosteuropa verlassen. Nur im wärmeren Süden konnte es die Menschen noch aushalten: die späteren Indogermanen im Südosten, in der Nähe des Schwarzen Meeres; andere Gruppen am Mittelmeer, diesseits und jenseits der Pyrenäen, im heutigen Süd- und Nord-Katalonien. Vor 12.000 Jahren wurde es dann allmählich wieder wärmer, die Menschen besiedelten Europa aufs Neue. Diese frühe Völkerwanderung hatte ihren Ausgangspunkt offenbar im südlichsten Zipfel von Frankreich. Professor Theo Vennemann hat im Laufe der Jahre viele Indizien zusammen getragen. 0-Ton 2 “Nach meiner Auffassung waren große Teile Europas – Mittel-, West- und Nordeuropa – in ganz früher nacheiszeitlicher Zeit vaskonisch. Es wurden dort Sprachen gesprochen, von denen das heutige Baskisch der letzte Überrest ist.” Autor Die These des Münchener Linguisten Prof. Theo Vennemann lautet also folgendermaßen: Vor rund 10.000 Jahren, nach der letzten Eiszeit, wurde Mitteleuropa Seite 3 von vaskonisch sprechenden Menschen neu besiedelt. In dem Maße, in dem sich in den ehemaligen Kältesteppen wieder Bäume und Wild ansiedelten, drangen auch die Menschen wieder nach Norden und Osten vor, vom heutigen Südfrankreich aus. Rund 7000 Jahre gehörte ihnen ganz Mitteleuropa. Dann wanderten aus Südosteuropa die Indogermanen ein, und deren Sprache und Kultur verdrängte allmählich die vaskonischen Sprachen; nur im heutigen Baskenland hat eine dieser Sprachen die Zeiten überlebt, das heutige Baskisch. Anstoß für Vennemanns vaskonische Theorie waren bestimmte linguistische Eigentümlichkeiten der heutigen, indogermanisch geprägten Sprachen. O-Ton 3 “Es ging unmittelbar von der Sprache aus. Von den Ortsnamen, nämlich dass die europäischen Ortsnamen, vor allem die Flussnamen, die in großem Maße übereinstimmen über große Flächen hinweg, über alle Länder Mittel-, West- und Nordeuropas hinweg gleich waren, als indogermanisch gedeutet wurden. Ich konnte nicht glauben, dass dies der Fall sei. Erstens aus rein sprachlichen Gründen, weil diese Namen Eigenschaften aufweisen, die nicht indogermanisch anmuteten, und zweitens, weil die Indogermanen – nach allgemeiner Auffassung der Indogermanistik – Zuwanderer sind, aus dem Osten sind. So dass sie gar nicht die ursprünglichen Namengeber gewesen sein können.” Autor Eine immer wieder bestätigte Regel besagt nämlich, dass die ersten Menschen, die in eine Region eindringen, auch die Namen für die Flüsse und für besondere Landmarken festlegen. Spätere Zuwanderer übernehmen gewöhnlich diese Bezeichnungen, sie orientieren sich an dem, was sie vorfinden. So hat sich beispielsweise in Hessen der uralte Flussname Nidda über Tausende Jahre erhalten: Bereits um das Jahr 70 nach Christus hatten die Römer eine an seinem Ufer gelegene Stadt nach diesem Fluss benannt, die Römerstadt Nida. Seite 4 O-Ton 4 “So gab es verschiedene Gründe, anzunehmen, dass diese Namenschicht – vor allem die Flussnamenschicht – nicht indogermanisch sei. Die Eigenschaften, die diese Namen aufweisen, wiesen mich aufgrund einer gewissen Vorkenntnis der Sprachen Europas auf das Baskische als die einzige Sprache, die diese Besonderheiten der Flussnamen tatsächlich aufweist.” Autor Die Menschen waren seinerzeit nüchterne Beobachter und keine phantasievollen Romantiker. Daher kann man zum Beispiel auch vielen Ortsnamen noch heute ansehen, wie die Siedlungen entstanden sind, nämlich nachdem Wald gerodet worden war: Oberroden, Niederroden, Alt-Rhoden bei Diemelstadt, Roden in Unterfranken, Roden bei Iserlohn, Roden an der Saar, wobei der Begriff "Roden" gelegentlich auch mit "Fronarbeit leisten" gleichgesetzt werden kann. Bei den Flüssen stieß Prof. Theo Vennemann ebenfalls auf eine bestimmte Häufung. 0-Ton 5 Zum Beispiel sind die –is-Namen, auch in der Form –eis-: Isar, Isère; Isura im älteren England, heute: Ure; Ijser in Belgien; Eisack in Oberitalien – alle diese Namen enthalten ein Element –is-, das von den Indogermanisten als indogermanisch erklärt wird, mit der Bedeutung ‚dahin stürmen‘, ‚dahineilen‘. Nun ist das keine gute Flussnamenbenennung, denn die meisten dieser Flüsse eilen gar nicht dahin, sondern wälzen sich zum Teil träge durch Moorgegenden. Auch die Isar ist nur im Gebirge ein schneller Fluss. Aber dort, wo die Menschen hauptsächlich an der Isar siedeln, ist sie ein ganz ruhiger Fluss. Und es gibt eine weitere Daumenregel der Flussnamenkunde: Je häufiger ein Flussname ist, desto genereller ist die Bedeutung der 'Bauelemente' dieses Flussnamens. Es konnte also –is- gar nicht etwas so Spezifisches wie dahineilen bedeuten, sondern es musste etwas sehr allgemeines wie Wasser oder Gewässer oder Fluss bedeuten. Und das traf dann zu. –is- bedeutet im Baskischen, das fand ich dann bald heraus: Wasser, Gewässer.” Seite 5 Autor Nun könnte man das noch als zufällige Ähnlichkeit abtun, aber einige weitere linguistische Indizien weisen ebenfalls auf das Ur-Baskische, auf das Vaskonische hin. Etwa die Hälfte aller europäischen Flussnamen fängt mit einem Vokal an; im Indogermanischen hingegen stand ein Vokal eher selten am Beginn eines Wortes, und besonders selten das A. 0-Ton 6 “A war im Urindogermanischen außerordentlich selten. Manche Forscher bezweifeln, das es diesen Vokal überhaupt gab. Und gerade der ist der häufigste in den alten europäischen Flussnamen. A ist im Baskischen hingegen ein ganz normaler, eher besonders häufiger, aber keinesfalls seltener Vokal: Ein weiterer, wie ich meine, sehr starker Pluspunkt zugunsten dieser Theorie." Autor Nun drücken sich die Besonderheiten einer Sprache nicht nur in ihrem Wortschatz aus, sondern auch in der Art und Weise, wie die Wörter betont werden. Ob zum Beispiel der ägyptische Fruchtbarkeitsgott Ámun oder Amún betont wird, das kann man dem Wort nicht ansehen. Das Urindogermanische hatte diesen Silbenakzent an unterschiedlichen Stellen, es hatte einen so genannten beweglichen oder freien Akzent. Bei mehrsilbigen Wörtern musste man seinerzeit wissen, ob man die erste, die vorletzte oder eine andere Silbe zu betonen hatte. Das aber gilt nur für neun der zwölf Unterfamilien des Indogermanischen, die drei anderen haben diese Variabilität aufgegeben. Sie gingen zu einem Anfangsakzent über, bei ihnen wurde also regelmäßig bei jedem Wort die erste Silbe betont. Und zwar passierte das bei den drei westlichsten indogermanischen Sprachen. Prof. Theo Vennemann. 0-Ton 7 “Diese Neuerung ist verblüffend und bedarf einer Erklärung. Ein erstes Zeichen ist, dass diese Sprachen in Kontakt mit einander sind, diese Sprachfamilien. Es handelt Seite 6 sich nämlich um die germanische Familie, die keltische Familie und die italische Familie mit Latein als dem Hauptvertreter, die sämtlich in alter Zeit – später hat sich das geändert , schon im klassischen Latein haben wir einen anderen Akzent – einen Anfangsakzent aufweisen. Nun, drei Sprachen, die in Kontakt mit einander stehen, gehen über zu einem sonst in der Sprachfamilie nicht vorfindbaren Akzent, das deutet auf Sprachkontakt hin, den diese drei Sprachen gemeinsam durchgemacht haben. Nun sucht man nach einer verantwortlichen Sprache, was war dieser Kontakt? Und da gibt es erfreulicherweise in Fachkreisen, in der Vaskonistik, in der Erforschung der baskischen Sprache, die Theorie, dass in vorgeschichtlicher Zeit, das älteste noch rekonstruktiv erkennbare Baskisch, einen Anfangsakzent aufwies; und zwar nach starrer Regelung, genau wie in den drei genannten, westlichsten indogermanischen Sprachen. Ich habe deswegen vorgeschlagen, dass dieser Übergang zum Anfangsakzent bei den indogermanischen Sprachen im Westen auf baskischem Substrat, oder wie ich vorsichtig immer sage, auf vaskonischem Substrat stattgefunden hat.” Autor Auch eine andere Eigentümlichkeit speziell der heutigen französischen Sprache findet ihre Erklärung vermutlich im Kontakt mit dem Ur-Baskischen. Unsereiner zählt dezimal:10, 20, 30, 40. Es gibt aber auch eine Zählweise, die auf der 20 beruht – das englische Pfund hatte zum Beispiel noch Anfang der 70er-Jahre 20 Schillinge. 0-Ton 8 “Viele werden diese Zählweise aus dem Französischen kennen, wo sie in Resten vorhanden ist, am auffälligsten bei der Zahl 80. 80 auf französisch ist quatre-vingt, also 4x20. 90 ist quatre-vingt-dix, das ist 4x20 plus zehn. Im Altfranzösischen war diese 20er-Zählung durchgängig, also auch 40, 60 – alles war ein Vielfaches von zwanzig.” Autor Die Frage lautet nun also: Woher kommt diese Zählweise auf der Basis von 20, diese vigesimale Zählweise? Seite 7 0-Ton 9 “Sie ist nicht die Indogermanische Zählweise. Die Indogermanisten rekonstruieren das Ur-Indogermanische als dezimal, auf Zehnerbasis zählend. Ich habe einfach geschaut, wie zählt denn das Baskische, das ich ja als die alte Sprache Europas, die alteuropäische Sprache par excellence ansehe. Nun, das Baskische zählt vigesimal, und zwar durchgängig bis 100. Und mein Vorschlag ist, dass die westlichen Indogermanen, die sich über das baskische Substrat gelagert haben, diese Zählweise übernommen haben – genau genommen haben die alten Vaskonen ihre Zählweise beibehalten, als sie die westindogermanischen Sprachen lernten. Sie haben also zwar etwa im Altfranzösischen die lateinischen, romanischen Wörter für die Zahlen benutzt, aber sie haben sie auf vaskonische, auf vigesimale Weise zusammengesetzt.” Autor Das baskische Sprachgebiet hatte übrigens noch in historischer Zeit bis Toulouse und Perpignan im Norden sowie bis Burgos und Zaragoza im Süden gereicht; das ist durch handfeste Quellen belegt. Caesar notierte in seiner Schrift vom "Gallischen Krieg" bekanntlich, dass Gallien in drei Teile gegliedert sei, und einer dieser Teile war das vaskonische Aquitanien. Der Name der heutigen südwestfranzösischen Gascogne setzt ein lateinisches Vasconia fort, was nichts anderes bedeutet als Baskenland. 0-Ton 10 “Es ist also offenbar in den Jahrhunderten seit der Römerzeit, in den letzten rund 1700 Jahren, das baskische Sprachgebiet erheblich geschrumpft. Nach meiner Ansicht ist dieser Schrumpfungsprozess nur die letzte Phase eines Zurückdrängungsprozesses, der vielleicht 3000 Jahre vorher durch die Indogermanisierung Europas begonnen hat. Und diese Indogermanisierung, die Überlagerung durch diese Fremden, von Osten her, die die indogermanische Sprache sprachen, hat dazu geführt, dass das Baskische sich verlor, dass es zurückgedrängt wurde. Aber nicht etwa in dem Sinne, dass die Menschen zurückgedrängt, in die Pyrenäen verdrängt wurden, sondern sie wurden einfach überlagert, sie assimilierten sich den Neuankömmlingen sprachlich, nicht der Genetik nach, aber sprachlich-kulturell, bis zum Schluss nur noch in dieser französisch-spanisch-pyrenäischen Grenzregion baskisch gesprochen und die baskische Kultur bewahrt war.” Seite 8 Autor Ausgerechnet viele Sprachwissenschaftler hatten der zunächst rein sprachwissenschaftlichen Argumentation gleichwohl misstraut. Die vaskonische Theorie des Münchener Linguisten Theo Vennemann wurde von einigen seiner Fachkollegen jahrelang mit durchaus unfreundlichen Bemerkungen abgetan. 0-Ton 11 “Diese Theorie ist im übrigen auf eine für mich als Linguisten ganz unerwartete Weise teilweise bestätigt worden, denn ebenso wie ich den Ausgang der Europäer vom Baskenland lehre, so lehrt seit einigen Jahren auch die Humangenetik, dass die Bevölkerung Europas nördlich der Gebirge vom Baskenland, von Südfrankreich, ausgegangen ist. Es sind Mutationen, die in den Pyrenäen vor vielleicht 16.000 Jahren entstanden sind, bis nach Lappland hinauf nachgewiesen worden, was sich einzig und allein durch die Ausbreitung von Menschen von der Pyrenäenregion bis nach Lappland hinauf erklären lässt. Und dass hier eine linguistische, eine geisteswissenschaftliche und eine genetische, biologische – also eine naturwissenschaftliche – Disziplin das selbe lehren, könnte man als Qualitätsmerkmal für beide Theorien werten.” Autor Erst als auch die Genetiker den Gang der Wiederbesiedelung Europas nach der letzten Eiszeit abgesichert hatten, nachdem sie aufgrund von kleinen Varianten im Erbgut aller Europäer zu ähnlichen Ansichten gelangt waren, erst dann freundeten sich zunehmend auch die Linguisten mit der Argumentation von Theo Vennemann an. Auf ein besonders starkes Vertrauen in die eigenen Arbeitsmethoden der Linguisten deutet das nicht grade hin.