ALTSIBIRISCHE SPRACHEN Prof Dr Ernst Kausen © 2000 Inhalt 1 2 3 4 5 6 7 Sprachschichten Sibiriens Altsibirische Sprachen im Überblick Jenisseisch Jukagirisch Tschuktscho-Kamtschadalisch Giljakisch Ainu Dieses Kapitel hat eine zweifache Funktion: erstens soll ein umfassender Überblick über die verwirrende Vielfalt aller in Sibirien gesprochenen Sprachen gegeben werden, zweitens werden speziell die altsibirischen oder paläosibirischen Sprachen genauer vorgestellt. 1 Die Sprachschichten Sibiriens Sibirien wird hier in der etwas engeren Definition als der Teil Russlands verstanden, der vom Uralgebiet bis zum Pazifischen Ozean reicht. Es besteht somit aus den russischen Großwirtschaftsgebieten Westsibirien, Ostsibirien und Fernost, das eigentliche Uralgebiet wird nicht dazu gerechnet. Die Sprachen Sibiriens lassen sich vereinfachend historisch in drei Schichten einteilen: (A) Die jüngste Schicht der erst durch die russische Kolonisierung der letzten Jahrhunderte nach Sibirien vorgedrungenen indogermanischen Sprachen, also vor allem das Russische selbst, aber auch beträchtliche Minderheiten mit den Sprachen Ukrainisch und Weißrussisch, außerdem Deutsch (vor allem als Folge der Zwangsumsiedlungen unter Stalin) und Jiddisch (Jüdisches Autonomes Gebiet im Fernen Osten um Birobidschan). Diese indogermanischen Sprachen werden heute von mehr als 95% der sibirischen Bevölkerung (etwa 40 Mio) gesprochen. Alle anderen Sprachen Sibiriens werden diesen gegenüber als 'einheimische' Sprachen bezeichnet. (B) Die zweite Schicht besteht aus den uralischen und altaischen (d.h. turkischen, mongolischen und tungusischen) Sprachen Sibiriens, die verschiedenen wesentlich früheren Einwanderungswellen als die erste Schicht zuzurechnen sind. (Die Behandlung dieser Sprachen erfolgt in den Kapiteln über die uralische und die altaische Sprachfamilie.) (C) Die dritte und älteste Schicht umfasst die altsibirischen (auch paläosibirisch oder paläoasiatisch genannten) Sprachen, die bereits vor dem Auftauchen von Sprachen der Schicht (B) in Sibirien verbreitet waren, sich in verschiedenen Rückzugsgebieten als meist nur sehr kleine Einheiten erhalten konnten und kaum längerfristige Überlebenschancen besitzen. Sie bestehen aus den drei genetisch nicht verwandten kleinen Gruppen Jenisseisch, Jukagirisch und Tschuktscho-Kamtschadalisch und den beiden isolierten Sprachen Giljakisch und Ainu. Dieser Schicht kann man noch die vier fast ausgestorbenen Sprachen der eskimo-aleutischen Familie zurechnen, die heute auf russischem Territorium gesprochen werden. (Die altsibirischen Sprachen werden in diesem Kapitel, die eskimo-aleutischen Idiome unter den nordamerikanische Sprachen behandelt.) Tab 1 Die uralischen Sprachen Sibiriens URALISCH FINNO-UGRISCH UGRISCH OB-UGRISCH Chanti (Ostjakisch) (13) (ethn 22) Mansi (Wogulisch) (3) (ethn 8) SAMOJEDISCH NORD Nenets (Nenzisch, Jurakisch) (27) (D Tundra, Wald) Enets (Enzisch, Jenissei-Samojedisch) (0.1) Nganasan (Nganassanisch, Tawgy) (1) Selkup (Ostjak-Samojedisch) (1.7) Kamas (Sajan) H (seit 1989) Mator (Motor) H SÜD Tab 2 Die altaischen Sprachen Sibiriens ALTAISCH TURKISCH NORDWEST (KIPTSCHAK) WOLGA-URAL SIBIRISCH NORD SÜD SAYAN JENISSEI ALTAI TSCHULYM MONGOLISCH OST OIRAT-CHALCHA CHALCHA-BURJAT TUNGUSISCH NORD EWENISCH EWENKISCH NEGIDAL SÜD NANAI-UDIHE NANAI UDIHE Tatar (insges 8 Mio), Baschkir (insges 1 Mio) Jakut (Sacha) (360), Dolgan (5) Tuwa (230), Tofa (Karagas) (0.6) Chakas (65), Schor (10) Altai (70) (V Oirot; Tuba, Qumanda, Qu, Teleut, Telengit) Tschulym (0.4) Burjat (450) Ewen (Lamut) (7) Ewenki (Tungusisch, Solon) (24), Orotschon (2) Negidal (0.2), Manegir H Nanai (Gold, Hezhen) (7), Ultscha (Oltscha) (3), Orok (<1) Udihe (0.1), Orotsch (0.5), Akani H, Birar H, Kile H, SamagirH Tab 3 Die altsibirischen Sprachen JENISSEISCH Ket (Jenissei-Ostjakisch) (1 T) Yugh (H) Kott H, Arin H, Assan H, Pumpokol H JUKAGIRISCH Jukagir (0.2 T, ethn 1 T) (V Nord=Tundra, Süd=Kolyma) Omok H, Tschuwan H TSCHUKTSCHO-KAMTSCHADALISCH TSCHUKTSCHO-KORJAKISCH TSCHUKTSCHISCH Tschuktschi (13 T, ethn 16 T) KORJAK-ALIUTOR Korjak (Nymylanisch) (6 T, ethn 9 t) Aliutor (0.3 T, ethn 0.8 t) Kerek (H) KAMTSCHADALISCH Itelmen (Kamtschadal) (0.1 T, ethn 1.5 T) GILJAKISCH Giljak (Niwchisch) (0.5 T, ethn 5 T) AINU Ainu (H) (ethn 16 T) (D Sachalin, Taraika, Kuril, Hokkaido) Tab 4 Die eskimo-aleutischen Sprachen Sibiriens ESKIMO-ALEUTISCH ESKIMO YUPIK SIBIRIEN ALEUTISCH WEST Zentral-Sibirisches Yupik (1 T) Naukanski (0.1 T), Sirenikski (H) West-Aleutisch (H) Sprachliche und ethnische Gruppen Sibiriens Eine Übersicht über die genetische Klassifikation und die aktuellen Sprecherzahlen der uralischen, altaischen, altsibirischen und eskimo-aleutischen Sprachen Sibiriens geben die Tabellen 1-4. Danach kann man in Sibirien die folgenden sprachlichen Gruppen unterscheiden, die oft auch ethnischen Einheiten entsprechen: (1) Die indogermanischen Sprachen. Insbesondere das Russische, aber auch beträchtliche Minderheiten, die Ukrainisch, Weißrussisch, Deutsch und Jiddisch sprechen. Diese Gruppe macht inzwischen mehr als 95% der Gesamtbevölkerung Sibiriens (rund 40 Mio) aus. Ihre Kernsiedlungsgebiete sind die großen Städte und Industriegebiete, die gut erreichbaren Flusstäler und ein Streifen entlang den transsibirischen Eisenbahnlinien. Alle anderen - nicht-indogermanischen - Sprachgruppen Sibiriens kommen zusammen auf etwa 1.7 Mio Sprecher, machen also weniger als 5% der Bevölkerung aus. (2) Die finno-ugrischen Sprachen. Diese sind mit zwei Sprachen des ugrischen Zweigs, dem Chanti (13 Tsd Sprecher) und Mansi (3 Tsd) in Sibirien vertreten, vor allem im Autonomen Bezirk (AB) der Chanten und Mansen. Der nächste Verwandte dieser ob-ugrischen Sprachen ist das Ungarische. (3) Die samojedischen Sprachen. Das Samojedische zerfällt in zwei Zweige, Nord- und Südsamojedisch. Das Nordsamojedische besteht aus dem Nenets oder Nenzischen (27 Tsd Sprecher, im AB der Nenzen westlich des Ural, in dem AB der Yamal-Nenzen und Teilen der Taymyr-Halbinsel), dem Enets oder Jenissei-Samojedischen (nur noch 100 Sprecher auf der Taymyr) und dem Nganassan (1000 Sprecher auf der Taymyr). Das Südsamojedische besteht heute nur noch aus dem Selkup (1700 Sprecher, in kleinen Gruppen zwischen Ob und Jenissei). Die südsamojedischen Sprachen Kamas und Mator sind ausgestorben (Kamas erst 1989, Mator im 19. Jhdt.) (4) Die turkischen Sprachen. Sie gehören in Sibirien im wesentlichen zu zwei Untergruppen des Turkischen, den nordwestlichen und den eigentlichen sibirischen Turksprachen. Zu den nordwest-turkischen Sprachen in Sibirien zählt das Tatarische (in seiner östlichen Variante Sibiro-Tatarisch) und das Baschkirische, das seinen Schwerpunkt in der AB Baschkirien im Uralgebiet hat, aber auch nach Westsibirien hinein ausstrahlt. Die genauen Sprecherzahlen des Tatarischen und Baschkirischen in Sibirien sind kaum zu ermitteln, sie dürften in der Größenordnung von 500 Tsd liegen. Die eigentlich sibirischen Turksprachen gliedern sich in einen Nord- und Südzweig. Der Nordzweig besteht im wesentlichen aus dem Jakutischen (360 Tsd Sprecher, in der Autonomen Republik (AR) Jakutien), das nahverwandte Dolganisch wird von 5000 Sprechern auf der Taymyr gesprochen. Der Südzweig der sibirisch-turkischen Sprachen zerfällt in vier Untergruppen und enthält als wichtigste Sprachen das Tuwa (230 Tsd Sprecher, AR Tuwa), Chakas (65 Tsd, AR Chakassien) und Altai (70 Tsd, AR Altai und Region Altai). Zwei weitere kleine südsibirische Turksprachen sind das Tofa (verwandt mit dem Tuwa) und das Tschulymische. (5) Die mongolischen Sprachen. Die einzige sibirische mongolische Sprache von Bedeutung ist das Burjatische, ein enger Verwandter des Mongolischen der Mongolei (450 Tsd Sprecher, in der AR Burjatien und einigen Autonomen Kreisen im Baikalgebiet). (6) Die tungusischen Sprachen. Sie zerfallen in einen nördlichen, zentralen und südlichen Zweig. Zum Nordzweig gehören das Ewenische oder Lamutische (7 Tsd Sprecher von 15 Tsd ethnischen Ewenen, gesprochen in Jakutien, auf der Kamtschatka und an der nordostsibirischen Küste), das Ewenkische (10 Tsd Sprecher von 30 Tsd ethnischen Ewenken, im AB der Ewenken und auf Sachalin), schließlich das Negidalische mit nur noch 100 Sprechern am unteren Amur. Die zentraltungusische Gruppe gliedert sich in einen Nanai-Zweig mit Nanai oder Gold (5 Tsd, im Amurtal unterhalb Chabarowsk) und den kleinen Sprachen Ultscha (500 Sprecher) und Orok, andererseits in den fast ausgestorbenen Udihe-Zweig mit Udihe (100) und Orotsch (100) in der Region Chabarowsk. (Das Südtungusische mit den fast oder ganz ausgestorbenen Sprachen Manchu und Juchen und dem Xibo oder Sibe mit 30 Tsd Sprechern wird bzw. wurde in China gesprochen.) (7) Die jenisseischen Sprachen. Heute nur noch vom Ket mit etwa 1000 Sprechern im mittleren Jenissei-Tal vertreten. (8) Das Jukagirische. Noch 200 Sprecher in Ostjakutien und im Magadangebiet (Tundra- und Kolyma-Dialekt). (9) Die tschuktscho-kamtschadalische Sprachfamilie mit fünf Sprachen auf der Tschuktschen-Halbinsel, in Ostjakutien und auf der Kamtschatka mit insgesamt 20.000 Sprechern. (10) Das Giljakische. Eine isolierte Sprache mit noch etwa 500 Sprechern auf Sachalin und im Mündungsgebiet des Amur gegenüber Sachalin. (11) Das Ainu. Ebenfalls eine isolierte Sprache, höchstens noch einige ältere Sprecher, vielleicht schon ausgestorben. Die ethnische Gruppe der Ainu umfasst auf russischem Gebiet noch 1.500 Personen (Sachalin, Kurilen), in Japan etwa 15.000 (auf Hokkaido). Die paläosibirischen Sprachen (7) - (11) werden im nächsten Abschnitt ausführlicher besprochen. (12) Die Eskimo-Sprachen. Die drei sibirischen Eskimo-Sprachen gehören zum Yupik-Zweig des Eskimo, es handelt sich wahrscheinlich um Rückwanderer aus Alaska: zentralsibirisches Yupik (300 Sprecher in Chaplino und auf der Wrangel-Insel, Naukanski mit noch 100 Sprechern auf der Tschuktschen-Halbinsel (früher in Naukan), das Sirenikski (in Sirenik) ist fast ausgestorben. (13) Die aleutischen Sprachen. Eine der beiden aleutischen Sprachen - das Westaleutische wurde 1987 noch von 10 älteren Sprechern auf der Bering-Insel (russische Aleuten) gesprochen. Zunächst ist festzuhalten, dass alle 13 genannten Gruppen jeweils eine genetische Einheit für sich bilden - teilweise zusammen mit außersibirischen Sprachen. Die finno-ugrischen und samojedischen Sprachen bilden die beiden Zweige des Uralischen, die turkischen, mongolischen und tungusischen Sprachen die drei Zweige des Altaischen - wenn dessen genetische Einheit auch nicht von allen Forschern anerkannt wird - und die Eskimo- und aleutischen Sprachen die eskimo-aleutische Sprachfamilie. Die fünf paläosibirischen Gruppen werden von der großen Mehrheit der Forscher als nicht genetisch verwandt betrachtet. Eine genauere Diskussion dieser Frage bietet der nächste Abschnitt, der den einzelnen paläosibirischen Sprachen gewidmet ist. Zusammenfassend kann man feststellen, dass die nicht-indogermanischen Sprachen Sibiriens also die Gruppen (2) - (13) - nur noch von etwa 1.7 Mio Menschen (das sind weniger als 5% der Gesamtbevölkerung) gesprochen werden, woran die Turksprachen mit Abstand den größten Anteil haben. Alle 10 heute noch gesprochenen paläosibirischen Sprachen (Gruppen 7-11) zusammen haben maximal 23.000 Sprecher (möglicherweise auch deutlich weniger, die Zahlen sind alles andere als verlässlich). Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht und einen Hinweis auf die wenigen Sprachen Sibiriens, die vielleicht überlebensfähig sind. Tab 5 Sprachliche und ethnische Gruppen Sibiriens Sprachgruppe Sprecher in Sibirien Anz. exist. Sprachen vorläufig überlebensfähige Sprachen 1 Indogermanisch 38 Mio 5 alle 2 3 Finno-Ugrisch Samojedisch 16.000 30.000 2 4 Chanti Nenets 4 5 6 Turkisch Mongolisch Tungusisch 750.000 450.000 25.000 8 1 8 Jakutisch, Tuwa, Chakas, Altai Burjatisch Ewenki, Ewen, Nanai 7 8 9 10 11 Jenisseisch 1.000 Jukagirisch 200 Tschuktscho-Kamtschad. 20.000 Giljakisch 500 Ainu (H) 2 1 5 1 1 Tschuktschisch - 3 1 - 12 Eskimo 13 Aleutisch 1.100 10 Man kann also davon ausgehen, dass von den heute noch gesprochenen 37 nicht-indogermanischen Sprachen Sibiriens schon in naher Zukunft höchstens noch 11 existieren werden. Die genetischen Einheiten Jenisseisch, Jukagirisch, Giljakisch und Ainu werden bald vollständig ausgestorben sein. Damit ergibt sich für die autochthonen Sprachen und Völker des 'Wilden Ostens' Russlands ein ebenso fatales Bild wie für die Indianersprachen Nordamerikas. 2 Die Gruppe der altsibirische Sprachen Die alt- oder paläosibirischen Sprachen bestehen aus fünf nicht genetisch verwandten Spracheinheiten, nämlich dem Jenisseischen, dem Jukagirischen, dem Tschuktscho-Kamtschadalischen oder Luorawetlanischen, und den isolierten Sprachen Giljakisch und Ainu. Zur internen genetischen Klassifikation dieser Gruppen, ihrer Einordnung in den Rahmen aller sibirischen Sprachen und zu den Sprecherzahlen vergleiche man die Tab 3 und die Gesamtübersicht über die Sprachen Sibiriens im vorigen Abschnitt. (Karte) Sicherlich sind die altsibirischen Sprachen die Überreste von einst größeren über weite Teile Sibiriens verbreiteten Sprachfamilien, die zunächst von den eindringenden uralischen, turkischen und tungusischen Stämmen zurückgedrängt und teilweise aufgesogen wurden. Endgültig wurden sie durch die Russifizierung des Landes auf ihre heutigen Restbestände reduziert und in entlegene Rückzugsgebiete gezwungen. Dieser Prozess wird in naher Zukunft mit dem völligen Verlust dieser Sprachen und der späteren Aufgabe der ethnischen Identität ihrer Sprecher enden - wohl nur das Tschuktschische hat mit 13.000 Sprechern noch eine etwas längere Galgenfrist. Noch im 17. Jhdt. waren jenisseische, jukagirische und tschuktschische Sprachen nachweislich in wesentlich größeren und weiter westlich gelegenen Gebieten als heute verbreitet. Die grammatischen und phonetischen Strukturen der fünf paläosibirischen Gruppen sind durchaus unterschiedlich. Gemeinsam haben sie eine agglutinierende Morphologie, umfangreiche Möglichkeiten komplexer Wortbildungen, verschiedene Formen der Vokalharmonie und Konsonantenalternation und eine Tendenz zu Konsonantenclustern (außer im Jukagirischen). Fast alle paläosibirischen Sprachen erhielten seit 1920 einen schriftlichen Standard, und zwar zunächst auf Basis der lateinischen, seit 1930 der kyrillischen Schrift. Diese Schriftsprachen werden vor allem in der Primarausbildung verwendet. Die umfangreichen mündlich überlieferten Volksliteraturen wurden seit dem vorigen Jahrhundert von russischen und westlichen Forschern gesammelt und übersetzt. Beziehungen und genetische Verwandtschaft Es wurden etliche Versuche unternommen, verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den altsibirischen Gruppen oder zwischen ihnen und anderen Sprachfamilien aufzuzeigen. Keiner dieser Vorschläge konnte bis heute die Anerkennung der Forschermehrheit finden. Bloße Ähnlichkeiten im Bereich der Grammatik (z.B. die weit verbreitete Agglutination) oder Phonetik (z.B. Vokalharmonie, Konsonantenstufung) können durch langfristige Sprachkontakte in gemeinsamen oder benachbarten Lebensräumen entstanden sein und sind kein Beweis für genetische Beziehungen. Es gibt zahlreiche Lehnwörter in fast allen paläosibirischen Sprachen, die einen Hinweis auf historische Kontakte geben. Die meisten älteren Lehnwörter stammen aus den tungusischen Sprachen, aber auch die Turksprachen (insbesondere das Jakutische) dienten oft als Quelle. Das Ket hat vom samojedischen Selkup entlehnt, das Giljakische Termini der Rentierzucht von tungusischen Sprachen, andere Begriffe aus dem Ainu. Als Hauptquelle aller neueren Entlehnungen für die Begriffe der 'modernen' Technik und Zivilisation dient natürlich das Russische. Dieses Lehnwortmaterial wird grammatisch und phonetisch relativ schnell in den meisten paläosibirischen Sprachen integriert. Welche aktuellen Thesen gibt es über die genetischen Beziehungen paläosibirischer Sprachen? Auf die nicht unwahrscheinliche aber bisher keineswegs zwingend bewiesene Verwandtschaft des Jukagirischen mit dem Uralischen wurde schon im Kapitel über die uralischen Sprachen hingewiesen, eine uralisch-jukagirische Spracheinheit ist sicherlich nicht ausgeschlossen. Das Tschuktscho-Kamtschadalische wurde aufgrund typologischer Ähnlichkeiten (z.B. Inkorporation) mit den Eskimo-Sprachen verglichen. Wesentlich umfassendere Vorstellungen werden von den Vertretern der Makrofamilien (Nostratisch, Eurasiatisch, Dene-Kaukasisch) postuliert, die im Kap 7 zusammenfassend behandelt werden. Bezogen auf die sibirischen Sprachen sei schon hier darauf hingewiesen, dass das Eurasiatische in der Definition von J. Greenberg (z.B. Greenberg 2000) so ziemlich alle oben beschriebenen 13 sibirischen Sprachgruppen umfasst, zusätzlich das Koreanische und Japanische, allerdings mit der auffälligen Ausnahme des Jenisseischen. Eine fast identische 'eurasische' Sprachfamilie postulierte H. Koppelmann schon 1933. Das aus dem 'Eurasiatischen' ausgeschlossene Jenisseische wiederum ist ein Kandidat für die hypothetische dene-kaukasische Makrofamilie, die unter anderen die sino-tibetischen, nordkaukasischen, nordamerikanischen Na-Dene-Sprachen und eben das Jenisseische umfassen soll. Beide Thesen werden bisher nur von einer kleinen Gruppe von Linguisten akzeptiert oder auch nur für wahrscheinlich gehalten. Die Hauptschwierigkeit bei ihrer Verifizierung ist das große Alter von mehr als zehntausend Jahren, das man für die gemeinsame Proto-Sprache ansetzen müsste, und die damit verbundenen äußerst spärlichen noch greifbaren Gemeinsamkeiten. Somit sollte man bis zum Vorliegen zwingender neuer Argumente weiter davon ausgehen, dass die paläosibirischen Gruppen weder untereinander noch mit anderen Sprachen oder Sprachfamilien bewiesenermaßen genetisch verwandt sind. Im Folgenden werden einige Informationen zu den einzelnen paläosibirischen Einheiten zusammengestellt. 3 Jenisseisch (Ket) Das Jenisseische besteht heute wohl nur noch aus dem Ket mit knapp 1000 Sprechern im mittleren Jenissei-Tal im Turuchansk-Distrikt des Gebietes Krasnojarsk. Wahrscheinlich ist das nahverwandte Yugh (möglicherweise ein Dialekt des Ket) bereits ausgestorben: 1991 wird von 2-3 älteren 'Halbsprechern' in einer ethnischen Gruppe von etwa 15 Personen berichtet. Die übrigen Sprachen der Jenissei-Familie - Kott, Arin, Assan und Pumpokol - wurden etwas südlich vom heutigen Ket gesprochen und verschwanden im 19. Jhdt., ihre Sprecher assimilierten sich mit den turkischen Chakassen, tungusischen Ewenken oder Russen. Wegen seiner nahen genetischen Verwandten sollte man das Ket nicht - wie man es oft liest - als 'isolierte Sprache' betrachten, selbst wenn es heute der einzige Vertreter seiner Familie ist. Die Selbstbezeichnug 'Ket' bedeutet 'Mensch', die wenig differenzierende russische Bezeichnung dieser Sprache ist 'Ostjakisch'. Erste Aufzeichnungen des Ket gibt es seit dem 18. Jhdt. (P.S. Pallas), 1858 wird vom Finnen M.A. Castren die erste grammatische und lexikalische Studie über das Ket und Kott publiziert. Eine erste Grammatik des Ket erscheint von A. Karger 1934, eine neuere Darstellung bietet Kreinovich 1968. Typologisch weicht das Jenisseische von den anderen paläosibirischen Sprachen deutlich ab, zeigt aber Ähnlichkeiten zu den nordkaukasischen Sprachen, wodurch seine Eingliederung in die dene-kaukasische Makrofamilie motiviert wurde (siehe oben). Seine charakteristischen Eigenschaften sind die Existenz eines Genus und die Nominalklassen belebt-unbelebt, außerdem die phonemische Bedeutung des Tons. Die Morphologie ist - wie bei allen paläosibirischen Sprachen - agglutinierend, die Verbalbildung sehr komplex mit der Markierung der Person von Subjekt und Objekt, Tempus, Aspekt u.a. Ein Beispiel aus dem Ket ist tkitna, analysierend t-k-it-n-a t Subjekt 1. Person sg., k-...-a Verbstamm 'in Stücke schneiden', it Objekt 3. Person fem. sg., n Tempusmarker Perfekt 'ich habe sie in Stücke geschnitten' Die jenisseischen Sprachen besitzen ein reiches Vokabular zur Darstellung der traditionellen Lebensbereiche, wie Flora, Fauna, Jagd und Wetter. Lehnwörter stammen aus dem angrenzenden samojedischen Selkup (inbesondere Begriffe der Rentierzucht), aber auch aus dem tungusischen Ewenki und turkischen Jakut. Seit 1930 hat mit der Einführung der kyrillischen Schrift eine starke Russifizierung des Ket eingesetzt. Die enge Verwandtschaft der überlieferten jenisseischen Sprachen zeigen einige Wortgleichungen in der folgenden Tabelle (nach Ruhlen-Starostin 1994, vereinfachte phonetische Darstellung): Tab 6 Jenisseische Wortgleichungen Bedeutung Ket Mensch Menschen Frau Mutter Vater Bruder Auge Blut Fleisch Hund Herbst Messer Fluss vier fünf Yugh(H) ke?t deŋ qim am op bis ke?t deŋ xim am op bis Kott H Arin H het čeäŋ ama op po- pes- kit qam amä ipa des des tiš tieŋ sul sur šur sur is is iči is tip čip šip χogde xogdi hori kute do'n do'n ton ton ses ses šet sat sik sik šegä šaga qak xak khegä qaga 4 Jukagirisch Heute existiert von dieser Gruppe nur noch das eigentliche Jukagir mit 200 Sprechern in zwei stark divergierenden Dialekten in Jakutien und im Magadan-Gebiet: dem nördlichen Tundra-Dialekt (150 Sprecher, Srednekansk-Distrikt) und dem südlichen Kolyma-Dialekt (50 Sprecher, Nishnikolymsk-Distrikt). Die jukagirischen Sprachen Omok und Tschuwanisch wurden süd- und südwestlich der heutigen Sprachgebiete gesprochen und sind im vorigen Jahrhundert ausgestorben. Noch zu Beginn des 17. Jhdt. dehnten sich jukagirische Stämme über ein riesiges Gebiet Nordostsibiriens aus - vom Unterlauf der Lena im Westen bis zum Oberlauf des Anadyr im Osten, vom Nordmeer bis zu den Werchojansker Bergen im Süden. Diese Stämme wurden vom 17. bis zum 19. Jhdt. durch Epidemien, kriegerische Auseinandersetzungen und die russische Kolonisierung stark dezimiert, teilweise assimilierten sie sich auch den Tschuktschen, Jakuten, Ewenen und Russen, wobei sie ihre jukagirischen Sprachen aufgaben. Erste systematische Studien des Jukagirischen begannen mit W. Jochelson in den Jahren 1894-96, der in die Kolyma-Region verbannt wurde. Wichtige Beiträge lieferte auch der Jukagire N. Spiridinow in den 1930er Jahren. Die beiden Dialekte des Jukagirischen (Nord- oder Tundradialekt, Süd- oder Kolymadialekt) unterscheiden sich so stark, dass manche Forscher von zwei Sprachen ausgehen. Über die mögliche genetische Verwandtschaft des Jukagirischen mit den uralischen Sprachen wird im Kap. 'Uralische Sprachen' berichtet (Collinder 1965: das Kasussystem des Jukagirischen gleicht dem des Nord-Samojedischen, die Imperativ-Suffixe denen des Süd-Samojedischen, etwa fünfzig uralisch-jukagirische Wortgleichungen, die nicht durch Entlehnung zu erklären sind). Typologisch ist das Jukagirische ohne Zweifel den uralischen Sprachen eng verwandt. Wie das Uralische besitzt auch das Jukagir eine eigene 'negative Konjugation' : z.B. tet mer-ai-mek ' tet el-ai-yek du hast geschossen' 'du hast nicht geschossen' Eine Besonderheit ist die morphologische Fokussierung von Satzteilen z.B. met-ek uul met mer-uu-jeŋ 'ich ging' 'ich ging' Im Gegensatz zu den anderen paläosibirischen Sprachen besitzt das Jukagirische kaum Konsonantencluster. Erwähnenswert ist die Ideenschrift der Jukagiren (Kerbungen in Birkenrinde, vgl. Jensen 1969), durch die Routenkarten dargestellt oder Liebesbriefe übermittelt werden konnten. 5 Tschuktscho-Kamtschadalisch oder Luorawetlanisch Die tschuktscho-kamtschadalischen oder luorawetlanischen Sprachen bilden auch heute noch eine kleine Sprachfamilie im äußersten Nordosten Sibiriens. Der nördliche Zweig umfasst das Tschuktschi, mit 13 Tsd Sprechern die bedeutendste Sprache dieser Gruppe (auf der Tschuktschen-Halbinsel im AB der Tschuktschen und verstreut in Jakutien), das Korjakische (6 Tsd Sprecher, im AB der Korjaken), das Aliutor (noch 300 Sprecher, AB Korjak und Nord-Kamtschatka) und das inzwischen fast ausgestorbene Kerek (Kap Navarin). Diese drei Sprachen sind so eng verwandt, dass eine wechselseitige Verständigung durchaus möglich ist und manche Forscher sie deswegen auch nur als Dialekte einer Sprache einstufen. Der südliche oder kamtschadalische Zweig weicht davon stärker ab und besteht nur aus dem Itelmenischen (noch 100 Sprecher aus einer ethnischen Gruppe von 1500, in der Süd-Kamtschatka und dem AB der Korjaken). Die Bezeichnung 'Tschuktschen' und 'Kutschotka' sind eine russische Adaption des Namens einer Untergruppe der Tschuktschen; 'Luorawetlan' ist die Selbstbezeichnung der tschuktschischen Stämme insgesamt, dieser Name wurde seit den 1920er Jahren zeitweise für die gesamte tschuktscho-kamtschadalische Sprachfamilie verwendet. 'Itelmen' ist die Selbstbezeichnung der Itelmenen, die von den Korjaken 'Kamtschalo' genannt wurden, was die Russen zur Bezeichnug des Volkes der Kamtschadalen und der Halbinsel Kamtschatka adaptierten. Heute hat sich die etwas umständliche Gesamtbezeichnung 'tschuktscho-kamtschadalisch' für die gesamte Sprachfamilie durchgesetzt. Eine besondere genetische Nähe der tschuktscho-kamtschalischen Sprachen zu den eskimo-aleutischen wurde von einer Reihe von Forschern angenommen, ist aber nie wirklich nachgewiesen worden. Diese These wurde im größeren Zusammenhang der eurasiatischen Makrofamilie Greenbergs wiederbelebt. Ohne Zweifel sind jedoch die typologische Ähnlichkeiten groß. Bei beiden Gruppen handelt es sich um ergative und inkorporierende Sprachen. Man nennt eine Sprache inkorporierend, wenn in komplexe Verbal- oder Nominalformen auch andere sonst selbständige Wörter - z.B. Substantive, Adjektive, Adverbien - fest eingebunden werden können. (Im Gegensatz dazu können beim polysynthetischen Sprachbau die eingebundenen Elemente nur als abhängige Morpheme auftreten.) Beispiele der Inkorporation aus dem Tschuktschi sind: m?n-n?ke-ure-qepl-uwičwen-m?k lasst uns-Nacht-lang-Ball-spielen-wir → wir wollen die ganze Nacht Ball spielen ga-mor-ik-tor-orw-ima ga-...-ima Präpositin 'in', mor-ik Possessivus 1.pl. 'unser' tor 'neu', orw 'Schlitten' → in unserem neuen Schlitten Das Tschuktschi besitzt eine besondere Form der Vokalharmonie. Der Reihe 'dominanter' Vokale e,a,o steht eine Reihe 'rezessiver' Vokale i,e,u gegenüber. Wenn eine Morphem eines Wortes einen dominanten Vokal enthält, werden alle rezessiven Vokale dieses Wortes in ihre dominante Version geändert. Zum Beispiel werden im Wort 'kupre' wegen des dominanten a des Suffixes -ma das u in ein o und das e in a transformiert: kupre ga-kopra-ma 'Netz' 'mit einem Netz' Eine kuriose Besonderheit einiger tschuktscho-kamtschadalischer Sprachen ist die geschlechtsspezifische Aussprache mancher Phoneme. So hat im Tschuktschi die Frauensprache keinen r-Laut, an seiner Stelle wird immer ein /ts/ gesprochen. Die männliche Ausprache /r/ gilt für Frauen als unziemlich. Im Aliutor entspricht männliches /l/ oder /s/ in weiblicher Aussprache dem /ts/, z.B. 'plaku' gegenüber 'ptsaku' (Schuhwerk). 6 Giljakisch oder Niwchisch Das Giljakische oder Niwchische ist eine isolierte Sprache mit noch etwa 500 Sprechern aus einer ethnischen Gruppe von 5.000 Personen, die in kleinen Einheiten als Fischer und Jäger auf Sachalin und im Mündungsgebiet des Amur - oft in der Nachbarschaft von Negidalen und Russen - leben. Die Selbstbezeichnung von Volk und Sprache ist 'Niwch', was 'Mensch' bedeutet. Der Name 'Giljak' stammt von der Manchu-Bezeichnung 'Giljami', die mit der russischen Endung -jak erweitert wurde. 1931 wurde für das Giljakische eine auf der lateinischen Schrift und dem Amur-Dialekt basierende Schriftsprache eingeführt, 1953 fand der Übergang zur kyrillischen Schrift mit einigen Sonderzeichen statt. Wurde die giljakische Schriftsprache zunächst noch in der Primarausbildung benutzt, so findet sie seit den 1960er Jahren auch dafür keine Verwendung mehr. Auch als (mündliche) Unterrichtssprache im Primarbereich ist das Giljakische ganz dem Russischen gewichen. Der Anteil der ethnischen Giljaken, die ihre Sprache noch beherrschen, nahm in den letzten Jahrzehnten stark ab, wie die folgende Übersicht der Volkszählungsdaten zeigt. Die meisten kompetenten Sprecher des Giljakischen sind älter als 55 Jahre (Stand 1998), alle Giljaken sprechen heute auch Russisch. Tab 7 Ethnische Giljaken - Anteil der Sprecher Jahr ethn. Giljaken Sprecher 1926 1959 1970 1979 1989 1993 4.100 3.700 4.400 4.400 4.700 5.000 4.100 2.800 2.200 2.100 1.000 500 % 100% 76% 50% 48% 21% 10% Das Giljakische gliedert sich in drei Dialekte: Amur, Nordsachalin und Ostsachalin, wobei Amur und Ostsachalin wegen deutlicher Unterschiede in Phonetik, Grammatik und Lexikon nicht wechselseitig verständlich sind. Das Nordsachalin nimmt eine Zwischenposition ein. Das Ostsachalin hat einige Lehnwörter aus dem Ainu und Japanischen aufgenommen, während sonst der Einfluss der tungusischen Sprachen größer war. In den letzten Jahrzehnten hat der russische Lehn- und Femdwortbestand stetig zugenommen, allerdings werden für die Begriffe des traditionellen täglichen Lebens nach wie vor durchgehend giljakische Bezeichnungen verwendet. Morphologisch und syntaktisch könnte man das Giljakische als eine typisch 'altaische' Sprache ansehen, was natürlich nicht viel über seine genetische Beziehung aussagt. Es gibt zahlreiche Versuche, die Verwandtschaft des Giljakischen mit anderen Sprachen nachzuweisen. Insbesondere tungusische Sprachen, aber auch das Tschuktschi, Japanisch und amerikanische Sprachen wurden dazu herangezogen. Greenberg fasst das Giljakische als eine Einheit seiner eurasiatischen Makrofamilie auf (Greenberg 2000). Die Argumente für solche genetischen Beziehungen sind für die große Mehrheit der Forscher allerdings bisher nicht überzeugend gewesen, so dass das Giljakische weiterhin als isolierte Sprache angesehen werden sollte. Das Giljakische weist ein reiches Konsonanteninventar auf. Es gibt stimmhafte und stimmlose Frikative; stimmhafte, aspirierte und nicht-aspirierte Verschlusslaute mit labialer, dentaler, palataler, velarer und uvularer Artikulationsstelle, mehrere Nasale, verschiedene l- und r-Laute (G.L. Campbell 1995). Die Konsonanten sind in Abstufungs- oder Alternationsserien eingeteilt, z.B. p-v-b, t-r-d, t'-z-d', k-γ-r (insgesamt gibt es 20 solcher Serien). In Abhängigkeit vom Schlusslaut des vorausgehenden Wortes durchlaufen die worteinleitenden Konsonanten die Allophone einer Serie: (1) tıf ıtık rıf oγlagu dıf 'Haus' 'Vaters Haus' 'Haus der Kinder' (2) v?kzd' nux p?kzd' 'verlieren' 'eine Nadel verlieren' (t- lexikalische Form) (r- nach k-Laut) (d- nach Vokal) Die Nominalflexion unterscheidet durch Suffixe Numerus und Kasus, durch Präfixe den Possessivus. Der Pluralmarker ist -ku (oder -xu, -gu) ıtık 'Vater' oγla 'Junge' ıtık-xu 'Väter' oγla-gu 'Jungen' Neben dem unmarkierten Nominativ-Absolutiv gibt es u.a. einen Dativ-Akkusativ (-ax), Dativ-Aditiv (-rox), Lokativ (-uin) und Instrumentalis (-γir). Das Giljakische ist keine Ergativsprache. Die Präfixe für den Possessivus sind im Singular n'i-, či- und p'i- : n'rıf 'mein Haus', črıf 'dein Haus', p'rıf 'sein/ ihr Haus' Eine interessante Eigenschaft des Giljakischen (die es mit südost-asiatischen Sprachen teilt), ist die Existenz verschiedener Serien von Zahlwörtern, die in Abhängigkeit von der Klasse des Gezählten benutzt werden. Z.B. heißt das Zahlwort 'drei' t'aqr bei Menschen, t'or bei Tieren, t'em bei Booten, t'for bei Netzen usw., insgesamt gibt es 26 Nominalklassen. Stabil bleibt bei allen 26 Zahlwörtern für 'drei' der einleitende Konsonant /t'/, der offensichtlich die eigentliche Zahlinformation enthält. Eine ähnliche Situation liegt bei allen Zahlwortserien vor, z.B. bei 'eins': nim für Boote, nir für Hundeschlitten; bei 'zwei': mim bei Booten, mir bei Hundeschlitten. 7 Ainu Das Ainu ist ebenfalls eine isolierte Sprache, die höchstens noch eine Handvoll älterer Sprecher aufweist. Von einigen Forschern wird das Ainu bereits als ausgestorben betrachtet. Die ethnische Gruppe der Ainu, die sich anthropologisch deutlich vom mongoliden Typus ihrer Nachbarn Japaner, Giljaken, Tungusen - abhebt und eher einem europiden Typus angehört, umfasst auf russischem Gebiet noch 1.500 Personen auf Sachalin und den Kurilen, in Japan etwa 15.000 auf Hokkaido, wo sie den Rest der präjapanische Urbevölkerung darstellen. Früher waren die Ainu auch auf Honshu und anderen japanischen Inseln verbreitet, wie man an Orts- und Flussnamen erkennen kann. Der Name 'Ainu' ist eine Selbstbezeichnung und bedeutet 'Mensch'. Dialekte, Hoch- und Umgangssprache Die etwa 20 Dialekte des Ainu gliedern sich nach ihren Verbreitungsgebieten in die drei Gruppen Kurilen-, Sachalin- und Hokkaido-Dialekte. Der Taraika-Dialekt auf Sachalin weicht von den anderen ab und bildet vielleicht eine vierte Gruppe; die Hokkaido-Dialekte weisen eine Nord-Süd-Untergruppierung auf. Am besten sind die Hokkaido-Dialekte dokumentiert, weniger gut die Sachalin-Dialekte, zu den die Kurilen-Dialekten gibt es kaum neuere Untersuchungen.) Der Unterschied zwischen dem klassischen Ainu, in dem die zahlreichen Epen (Yukar) des Volkes mündlich überliefert sind, und den umgangssprachlichen Dialekten ist auch grammatisch erheblich. Z.B. werden unterschiedliche Verbalaffixe verwendet, das klassische Ainu ist eine stark inkorporierende Sprache, während die Umgangssprache sich zu einem mehr analytischen Einzelworttypus verändert hat. Das Vokabular des Ainu ist durch die traditionellen Lebensräume Jagd-Fischfang-Sammeln bestimmt. So gibt es allein 20 Wörter für die verschiedenen Phasen im Lebenszyklus der Lachse, 50 Begriffe betreffen den Lebensbereich der Robben, 20 Wal- und 40 Hundearten werden unterschieden, über 80 Begriffe haben mit Bären und der Bärenjagd zu tun. Das wichtige Wort kamuy bezeichnet allgemein 'Tier', besonders aber den 'Bären', hat aber auch die Bedeutung 'Gott'. Genetische Beziehungen Die genetischen Beziehungen des Ainu sind bis heute nicht geklärt, die Mehrheit der Forscher geht immer noch von einer isolierten Sprache aus. Natürlich gibt es zahlreiche Versuche, die Verwandtschaft des Ainu mit anderen Sprachen und Sprachgruppen zu etablieren, wozu isolierte Sprachen offensichtlich immer besonders anregen. Dabei kann man die 'arische Beziehung' von J. Batchelor 1889 - ansonsten ein guter Kenner der Ainusprache, Autor eines Wörterbuchs Ainu-Englisch-Japanisch - heute sicherlich übergehen; auch die neueren Versuche, das Ainu mit südostasiatischen und pazifischen Sprachen zu vergleichen (Bengtson: Austronesisch, Vovin 1993: Austroasiatisch) finden keine größere Beachtung. Mehr Interesse gebührt sicherlich den Versuchen, die das Ainu mit den geographisch benachbarten Sprachen Japanisch, Koreanisch und dem Altaischen oder auch den paläosibirischen Sprachen vergleichen. Hattori 1964 ordnete das Ainu einem Altaischen im weiteren Sinne zu, das außer dem Turkischen, Mongolischen und Tungusischen auch das Japanische, Koreanische und Ainu enthalte. Das folgende Diagramm zeigt die Struktur dieser hypothetischen Sprachfamilie. Zunächst spaltete sich danach das Ainu ab, der Rest zerfiel in das Koreanisch-Japanische und die eigentlichen altaischen Sprachgruppen (Turkisch, Mongolisch und Tungusisch): Altaisch nach Hattori 1964 Altaisch nach Patrie 1982 MAKRO-ALTAISCH AINU ALTAISCH-KOREANISCH-JAPANISCH KOREANISCH-JAPANISCH KOREANISCH JAPANISCH ALTAISCH MONGOLISCH-TUNGUSISCH TUNGUSISCH MONGOLISCH TURKISCH MAKRO-ALTAISCH JAPANISCH-KOREAN.-AINU AINU JAPANISCH KOREANISCH TUNGUSISCH MONGOLISCH TURKISCH Eine vielbeachtete vor allem lexikalisch begründete Arbeit zu diesem Thema ist J. Patrie 1982, nach der das Ainu zusammen mit dem Japanischen und Koreanischen eine - allerdings schon vor langer Zeit aufgespaltene - vierte gleichrangige Untergruppe des Altaischen bildet (neben dem Turkischen, Mongolischen und Tungusischen; dazu die ausführliche Diskussion im Kapitel 'Altaisch, Koreanisch und Japanisch'). Greenberg 2000 übernimmt - basierend auf Patrie - die genetische Einheit Ainu-Japanisch-Koreanisch, betrachtet sie aber nicht als Untergruppe des Altaischen, sondern als einen eigenständigen Zweig seiner eurasiatischen Makrofamilie. (Seine Begründungen sind eine kritische Auswahl der Wortgleichungen von Patrie; in allen drei Sprachen gemeinsame satzbeendende Interogativpronomen -ka und -ya, das Kausativsuffix -ke/-ki, die Lokativpostposition -ta, pronominales Objekt i-/e-; für die Einbettung ins Eurasiatische zieht Greenberg vor allem die Vokalharmonie des Ainu heran, die er in seiner Darstellung ausführlich behandelt.) Trotz aller Anstrengungen auf diesem Gebiet gibt es nach wie vor keine wirklich zwingenden 'Beweise' für eine Verwandtschaft des Ainu mit einer anderen Sprache oder Sprachgruppe, die japanisch-koreanisch-altaische Hypothese und Greenbergs eurasiatischer Ansatz - ähnlich übrigens schon Koppelmann 1933 - scheinen das größte Potential für weitere Forschungen zu bieten. Sprachliche Charakteristik Eine aktuelle Übersicht über die Ainusprache bietet Shibatani 1990, worauf ich hier zurückgreife. Das Ainu hat ein durchschnittliches Phoneminventar. Die Vokale sind a,u,o,i,e, die Konsonaten p,t,k,?; s,h,c (=ts); w,j; m,n,r. Assimilation und Dissimilation spielen eine wichtige Rolle: * akor nispa > akon nispa akor tures > akot tures * kukor rusuy > kukon rusuy * 'unser Häuptling' 'unsere Schwester' 'ich will (etwas) haben' Die Satzstellung ist SOV und wird ziemlich strikt eingehalten, da es im eigentlichen Sinne keine Kasus (z.B. Genetiv, Akkusativ) gibt: kamuy aynu rayke aynu kamuy rayke der Bär tötet den Mann der Mann tötet den Bären Auch die Regeln der nominalen Kettenbildung werden rigide beachtet, z.B: Attribut+Nomen Genetiv+Nomen pirka kewtun aynu cise gut-Herz Mann-Haus 'gutes Herz' 'des Mannes Haus' Neben der Positionierung im Satz helfen auch einige Postpositionen, die (meist lokale) Funktion bestimmter Satzteile deutlich zu machen, z.B. ta für den Lokativ, orun für den Dativ-Adessiv, orwa für den Ablativ u.a. huci matkaci orun upaskuma Großmutter Mädchen-zu Geschichten-erzählen → Großmutter erzählt dem Mädchen Geschichten poro cise ta horari großes-Haus-in er-lebt → er lebt in einem großen Haus Die Konjugation des Verbums kennt keine Tempora. Pronominale Subjekte und Objekte werden durch Affixe markiert. Hierbei unterscheiden sich die Affixe des klassischen Ainu vor allem in der 1. Person deutlich von den umgangssprachlichen Formen. Die folgenden Affixe (Präfixe und Suffixe) entstammen dem klassischen Ainu: Tab 8 Subjekt- und Objekt-Marker des Verbums im klass. Ainu 1. 2. 3. Singular Plural -an aieØ -an aieciØ (intrans. Subjekt) (trans. Subjekt) (Objekt) Damit ergeben sich folgende Formen mit Subjekt-Marker: itak-an a-kore e-itak eci-itak itak ich spreche/ wir sprechen ich gebe/ wir geben du sprichst ihr sprecht er-sie spricht/ sie sprechen Die Subjekt- und Objektmarker bei transitivem Verb sind Präfixe, das Subjekt-Präfix steht vor dem Objekt-Präfix. Wegen des Nullmorphems in der 3. Person und der identischen Subjekt-Objekt-Marker in der 2. Person ergeben sich viele mehrdeutige Formen: a-e-kore a-Ø-kore e-i-kore e-Ø-kore Ø-e-kore Ø-i-kore Ø-Ø-kore ich gebe / wir geben dich ich gebe ihn/ sie/ sie (pl) du gibst mich/ uns du gibst ihn/ sie/ sie (pl) er/ sie gibt (sie geben) dich er/ sie gibt (sie geben) mich/ uns er/ sie gibt (sie geben) ihn/ sie Wie schon erwähnt, spielt die Inkorporation (Einbindung von Nomina in Verbformen) vor allem im klassischen Ainu eine große Rolle, in der Umgangssprache werden häufig parallel nicht-inkorporierende Konstruktionen verwendet: asir cise ci-kar neues Haus wir-machen (nicht inkorporiend)+ → 'wir bauen ein neues Haus' ney ta cise-kar-as dieses-bei Haus-machen-wir (inkorporierend) → 'dort bauen wir ein Haus' mukcaraha a-tuye seine Brust ich-schneide (nicht inkorporierend) a-mukcar-tuye ich-Brust-schneide (inkorporierend) → 'ich schneide seine Brust' In den inkorporierenden Versionen wurden die direkten Objekte 'cise' und 'mukcar' in die Verbalform eingebunden. Auch Nomina mit anderen Funktionen können inkorpiert werden, z.B. intransitive Subjekte, attributive und adverbielle Bestimmungen: kane rakko o-tumi-osma goldener Otter BEZUG-Krieg-beginnt → 'wegen des goldenen Otters beginnt der Krieg' nea cep a-pone-ko-kuykuy diesen Fisch ich-Gräten-mit-esse → 'ich esse diesen Fisch mit Gräten'