Paläosibirische Sprachen

Werbung
ALTSIBIRISCHE SPRACHEN
Prof Dr Ernst Kausen © 2000
Inhalt
1
2
3
4
5
6
7
Sprachschichten Sibiriens
Altsibirische Sprachen im Überblick
Jenisseisch
Jukagirisch
Tschuktscho-Kamtschadalisch
Giljakisch
Ainu
Dieses Kapitel hat eine zweifache Funktion: erstens soll ein umfassender Überblick über
die verwirrende Vielfalt aller in Sibirien gesprochenen Sprachen gegeben werden,
zweitens werden speziell die altsibirischen oder paläosibirischen Sprachen genauer
vorgestellt.
1
Die Sprachschichten Sibiriens
Sibirien wird hier in der etwas engeren Definition als der Teil Russlands verstanden, der vom
Uralgebiet bis zum Pazifischen Ozean reicht. Es besteht somit aus den russischen
Großwirtschaftsgebieten Westsibirien, Ostsibirien und Fernost, das eigentliche Uralgebiet wird
nicht dazu gerechnet. Die Sprachen Sibiriens lassen sich vereinfachend historisch in drei
Schichten einteilen:
(A) Die jüngste Schicht der erst durch die russische Kolonisierung der letzten Jahrhunderte nach
Sibirien vorgedrungenen indogermanischen Sprachen, also vor allem das Russische selbst, aber
auch beträchtliche Minderheiten mit den Sprachen Ukrainisch und Weißrussisch, außerdem
Deutsch (vor allem als Folge der Zwangsumsiedlungen unter Stalin) und Jiddisch (Jüdisches
Autonomes Gebiet im Fernen Osten um Birobidschan). Diese indogermanischen Sprachen
werden heute von mehr als 95% der sibirischen Bevölkerung (etwa 40 Mio) gesprochen. Alle
anderen Sprachen Sibiriens werden diesen gegenüber als 'einheimische' Sprachen bezeichnet.
(B) Die zweite Schicht besteht aus den uralischen und altaischen (d.h. turkischen, mongolischen
und tungusischen) Sprachen Sibiriens, die verschiedenen wesentlich früheren
Einwanderungswellen als die erste Schicht zuzurechnen sind. (Die Behandlung dieser Sprachen
erfolgt in den Kapiteln über die uralische und die altaische Sprachfamilie.)
(C) Die dritte und älteste Schicht umfasst die altsibirischen (auch paläosibirisch oder
paläoasiatisch genannten) Sprachen, die bereits vor dem Auftauchen von Sprachen der Schicht
(B) in Sibirien verbreitet waren, sich in verschiedenen Rückzugsgebieten als meist nur sehr kleine
Einheiten erhalten konnten und kaum längerfristige Überlebenschancen besitzen. Sie bestehen
aus den drei genetisch nicht verwandten kleinen Gruppen Jenisseisch, Jukagirisch und
Tschuktscho-Kamtschadalisch und den beiden isolierten Sprachen Giljakisch und Ainu. Dieser
Schicht kann man noch die vier fast ausgestorbenen Sprachen der eskimo-aleutischen Familie
zurechnen, die heute auf russischem Territorium gesprochen werden. (Die altsibirischen
Sprachen werden in diesem Kapitel, die eskimo-aleutischen Idiome unter den nordamerikanische
Sprachen behandelt.)
Tab 1
Die uralischen Sprachen Sibiriens
URALISCH
FINNO-UGRISCH
UGRISCH
OB-UGRISCH
Chanti (Ostjakisch) (13) (ethn 22)
Mansi (Wogulisch) (3) (ethn 8)
SAMOJEDISCH
NORD
Nenets (Nenzisch, Jurakisch) (27) (D Tundra, Wald)
Enets (Enzisch, Jenissei-Samojedisch) (0.1)
Nganasan (Nganassanisch, Tawgy) (1)
Selkup (Ostjak-Samojedisch) (1.7)
Kamas (Sajan) H (seit 1989)
Mator (Motor) H
SÜD
Tab 2
Die altaischen Sprachen Sibiriens
ALTAISCH
TURKISCH
NORDWEST (KIPTSCHAK)
WOLGA-URAL
SIBIRISCH
NORD
SÜD
SAYAN
JENISSEI
ALTAI
TSCHULYM
MONGOLISCH
OST
OIRAT-CHALCHA
CHALCHA-BURJAT
TUNGUSISCH
NORD
EWENISCH
EWENKISCH
NEGIDAL
SÜD
NANAI-UDIHE
NANAI
UDIHE
Tatar (insges 8 Mio), Baschkir (insges 1 Mio)
Jakut (Sacha) (360), Dolgan (5)
Tuwa (230), Tofa (Karagas) (0.6)
Chakas (65), Schor (10)
Altai (70) (V Oirot; Tuba, Qumanda, Qu, Teleut, Telengit)
Tschulym (0.4)
Burjat (450)
Ewen (Lamut) (7)
Ewenki (Tungusisch, Solon) (24), Orotschon (2)
Negidal (0.2), Manegir H
Nanai (Gold, Hezhen) (7), Ultscha (Oltscha) (3), Orok (<1)
Udihe (0.1), Orotsch (0.5),
Akani H, Birar H, Kile H, SamagirH
Tab 3
Die altsibirischen Sprachen
JENISSEISCH
Ket (Jenissei-Ostjakisch) (1 T)
Yugh (H)
Kott H, Arin H, Assan H, Pumpokol H
JUKAGIRISCH
Jukagir (0.2 T, ethn 1 T) (V Nord=Tundra, Süd=Kolyma)
Omok H, Tschuwan H
TSCHUKTSCHO-KAMTSCHADALISCH
TSCHUKTSCHO-KORJAKISCH
TSCHUKTSCHISCH
Tschuktschi (13 T, ethn 16 T)
KORJAK-ALIUTOR
Korjak (Nymylanisch) (6 T, ethn 9 t)
Aliutor (0.3 T, ethn 0.8 t)
Kerek (H)
KAMTSCHADALISCH
Itelmen (Kamtschadal) (0.1 T, ethn 1.5 T)
GILJAKISCH
Giljak (Niwchisch) (0.5 T, ethn 5 T)
AINU
Ainu (H) (ethn 16 T) (D Sachalin, Taraika, Kuril, Hokkaido)
Tab 4
Die eskimo-aleutischen Sprachen Sibiriens
ESKIMO-ALEUTISCH
ESKIMO
YUPIK
SIBIRIEN
ALEUTISCH
WEST
Zentral-Sibirisches Yupik (1 T)
Naukanski (0.1 T), Sirenikski (H)
West-Aleutisch (H)
Sprachliche und ethnische Gruppen Sibiriens
Eine Übersicht über die genetische Klassifikation und die aktuellen Sprecherzahlen der
uralischen, altaischen, altsibirischen und eskimo-aleutischen Sprachen Sibiriens geben die
Tabellen 1-4. Danach kann man in Sibirien die folgenden sprachlichen Gruppen unterscheiden,
die oft auch ethnischen Einheiten entsprechen:
(1) Die indogermanischen Sprachen. Insbesondere das Russische, aber auch beträchtliche
Minderheiten, die Ukrainisch, Weißrussisch, Deutsch und Jiddisch sprechen. Diese Gruppe
macht inzwischen mehr als 95% der Gesamtbevölkerung Sibiriens (rund 40 Mio) aus. Ihre
Kernsiedlungsgebiete sind die großen Städte und Industriegebiete, die gut erreichbaren
Flusstäler und ein Streifen entlang den transsibirischen Eisenbahnlinien.
Alle anderen - nicht-indogermanischen - Sprachgruppen Sibiriens kommen zusammen auf etwa
1.7 Mio Sprecher, machen also weniger als 5% der Bevölkerung aus.
(2) Die finno-ugrischen Sprachen. Diese sind mit zwei Sprachen des ugrischen Zweigs, dem
Chanti (13 Tsd Sprecher) und Mansi (3 Tsd) in Sibirien vertreten, vor allem im Autonomen Bezirk
(AB) der Chanten und Mansen. Der nächste Verwandte dieser ob-ugrischen Sprachen ist das
Ungarische.
(3) Die samojedischen Sprachen. Das Samojedische zerfällt in zwei Zweige, Nord- und
Südsamojedisch. Das Nordsamojedische besteht aus dem Nenets oder Nenzischen (27 Tsd
Sprecher, im AB der Nenzen westlich des Ural, in dem AB der Yamal-Nenzen und Teilen der
Taymyr-Halbinsel), dem Enets oder Jenissei-Samojedischen (nur noch 100 Sprecher auf der
Taymyr) und dem Nganassan (1000 Sprecher auf der Taymyr). Das Südsamojedische besteht
heute nur noch aus dem Selkup (1700 Sprecher, in kleinen Gruppen zwischen Ob und Jenissei).
Die südsamojedischen Sprachen Kamas und Mator sind ausgestorben (Kamas erst 1989, Mator
im 19. Jhdt.)
(4) Die turkischen Sprachen. Sie gehören in Sibirien im wesentlichen zu zwei Untergruppen des
Turkischen, den nordwestlichen und den eigentlichen sibirischen Turksprachen. Zu den
nordwest-turkischen Sprachen in Sibirien zählt das Tatarische (in seiner östlichen Variante
Sibiro-Tatarisch) und das Baschkirische, das seinen Schwerpunkt in der AB Baschkirien im
Uralgebiet hat, aber auch nach Westsibirien hinein ausstrahlt. Die genauen Sprecherzahlen des
Tatarischen und Baschkirischen in Sibirien sind kaum zu ermitteln, sie dürften in der
Größenordnung von 500 Tsd liegen. Die eigentlich sibirischen Turksprachen gliedern sich in
einen Nord- und Südzweig. Der Nordzweig besteht im wesentlichen aus dem Jakutischen (360
Tsd Sprecher, in der Autonomen Republik (AR) Jakutien), das nahverwandte Dolganisch wird von
5000 Sprechern auf der Taymyr gesprochen. Der Südzweig der sibirisch-turkischen Sprachen
zerfällt in vier Untergruppen und enthält als wichtigste Sprachen das Tuwa (230 Tsd Sprecher, AR
Tuwa), Chakas (65 Tsd, AR Chakassien) und Altai (70 Tsd, AR Altai und Region Altai). Zwei
weitere kleine südsibirische Turksprachen sind das Tofa (verwandt mit dem Tuwa) und das
Tschulymische.
(5) Die mongolischen Sprachen. Die einzige sibirische mongolische Sprache von Bedeutung ist
das Burjatische, ein enger Verwandter des Mongolischen der Mongolei (450 Tsd Sprecher, in der
AR Burjatien und einigen Autonomen Kreisen im Baikalgebiet).
(6) Die tungusischen Sprachen. Sie zerfallen in einen nördlichen, zentralen und südlichen Zweig.
Zum Nordzweig gehören das Ewenische oder Lamutische (7 Tsd Sprecher von 15 Tsd ethnischen
Ewenen, gesprochen in Jakutien, auf der Kamtschatka und an der nordostsibirischen Küste), das
Ewenkische (10 Tsd Sprecher von 30 Tsd ethnischen Ewenken, im AB der Ewenken und auf
Sachalin), schließlich das Negidalische mit nur noch 100 Sprechern am unteren Amur. Die
zentraltungusische Gruppe gliedert sich in einen Nanai-Zweig mit Nanai oder Gold (5 Tsd, im
Amurtal unterhalb Chabarowsk) und den kleinen Sprachen Ultscha (500 Sprecher) und Orok,
andererseits in den fast ausgestorbenen Udihe-Zweig mit Udihe (100) und Orotsch (100) in der
Region Chabarowsk. (Das Südtungusische mit den fast oder ganz ausgestorbenen Sprachen
Manchu und Juchen und dem Xibo oder Sibe mit 30 Tsd Sprechern wird bzw. wurde in China
gesprochen.)
(7) Die jenisseischen Sprachen. Heute nur noch vom Ket mit etwa 1000 Sprechern im mittleren
Jenissei-Tal vertreten.
(8) Das Jukagirische. Noch 200 Sprecher in Ostjakutien und im Magadangebiet (Tundra- und
Kolyma-Dialekt).
(9) Die tschuktscho-kamtschadalische Sprachfamilie mit fünf Sprachen auf der
Tschuktschen-Halbinsel, in Ostjakutien und auf der Kamtschatka mit insgesamt 20.000
Sprechern.
(10) Das Giljakische. Eine isolierte Sprache mit noch etwa 500 Sprechern auf Sachalin und im
Mündungsgebiet des Amur gegenüber Sachalin.
(11) Das Ainu. Ebenfalls eine isolierte Sprache, höchstens noch einige ältere Sprecher, vielleicht
schon ausgestorben. Die ethnische Gruppe der Ainu umfasst auf russischem Gebiet noch 1.500
Personen (Sachalin, Kurilen), in Japan etwa 15.000 (auf Hokkaido).
Die paläosibirischen Sprachen (7) - (11) werden im nächsten Abschnitt ausführlicher besprochen.
(12) Die Eskimo-Sprachen. Die drei sibirischen Eskimo-Sprachen gehören zum Yupik-Zweig des
Eskimo, es handelt sich wahrscheinlich um Rückwanderer aus Alaska: zentralsibirisches Yupik
(300 Sprecher in Chaplino und auf der Wrangel-Insel, Naukanski mit noch 100 Sprechern auf der
Tschuktschen-Halbinsel (früher in Naukan), das Sirenikski (in Sirenik) ist fast ausgestorben.
(13) Die aleutischen Sprachen. Eine der beiden aleutischen Sprachen - das Westaleutische wurde 1987 noch von 10 älteren Sprechern auf der Bering-Insel (russische Aleuten) gesprochen.
Zunächst ist festzuhalten, dass alle 13 genannten Gruppen jeweils eine genetische Einheit für
sich bilden - teilweise zusammen mit außersibirischen Sprachen. Die finno-ugrischen und
samojedischen Sprachen bilden die beiden Zweige des Uralischen, die turkischen, mongolischen
und tungusischen Sprachen die drei Zweige des Altaischen - wenn dessen genetische Einheit
auch nicht von allen Forschern anerkannt wird - und die Eskimo- und aleutischen Sprachen die
eskimo-aleutische Sprachfamilie. Die fünf paläosibirischen Gruppen werden von der großen
Mehrheit der Forscher als nicht genetisch verwandt betrachtet. Eine genauere Diskussion dieser
Frage bietet der nächste Abschnitt, der den einzelnen paläosibirischen Sprachen gewidmet ist.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass die nicht-indogermanischen Sprachen Sibiriens also die Gruppen (2) - (13) - nur noch von etwa 1.7 Mio Menschen (das sind weniger als 5% der
Gesamtbevölkerung) gesprochen werden, woran die Turksprachen mit Abstand den größten
Anteil haben. Alle 10 heute noch gesprochenen paläosibirischen Sprachen (Gruppen 7-11)
zusammen haben maximal 23.000 Sprecher (möglicherweise auch deutlich weniger, die Zahlen
sind alles andere als verlässlich). Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht und einen Hinweis auf
die wenigen Sprachen Sibiriens, die vielleicht überlebensfähig sind.
Tab 5
Sprachliche und ethnische Gruppen Sibiriens
Sprachgruppe
Sprecher
in Sibirien
Anz. exist.
Sprachen
vorläufig überlebensfähige
Sprachen
1
Indogermanisch
38 Mio
5
alle
2
3
Finno-Ugrisch
Samojedisch
16.000
30.000
2
4
Chanti
Nenets
4
5
6
Turkisch
Mongolisch
Tungusisch
750.000
450.000
25.000
8
1
8
Jakutisch, Tuwa, Chakas, Altai
Burjatisch
Ewenki, Ewen, Nanai
7
8
9
10
11
Jenisseisch
1.000
Jukagirisch
200
Tschuktscho-Kamtschad. 20.000
Giljakisch
500
Ainu
(H)
2
1
5
1
1
Tschuktschisch
-
3
1
-
12 Eskimo
13 Aleutisch
1.100
10
Man kann also davon ausgehen, dass von den heute noch gesprochenen 37
nicht-indogermanischen Sprachen Sibiriens schon in naher Zukunft höchstens noch 11 existieren
werden. Die genetischen Einheiten Jenisseisch, Jukagirisch, Giljakisch und Ainu werden bald
vollständig ausgestorben sein. Damit ergibt sich für die autochthonen Sprachen und Völker des
'Wilden Ostens' Russlands ein ebenso fatales Bild wie für die Indianersprachen Nordamerikas.
2
Die Gruppe der altsibirische Sprachen
Die alt- oder paläosibirischen Sprachen bestehen aus fünf nicht genetisch verwandten
Spracheinheiten, nämlich dem Jenisseischen, dem Jukagirischen, dem
Tschuktscho-Kamtschadalischen oder Luorawetlanischen, und den isolierten Sprachen Giljakisch
und Ainu. Zur internen genetischen Klassifikation dieser Gruppen, ihrer Einordnung in den
Rahmen aller sibirischen Sprachen und zu den Sprecherzahlen vergleiche man die Tab 3 und die
Gesamtübersicht über die Sprachen Sibiriens im vorigen Abschnitt. (Karte)
Sicherlich sind die altsibirischen Sprachen die Überreste von einst größeren über weite Teile
Sibiriens verbreiteten Sprachfamilien, die zunächst von den eindringenden uralischen, turkischen
und tungusischen Stämmen zurückgedrängt und teilweise aufgesogen wurden. Endgültig wurden
sie durch die Russifizierung des Landes auf ihre heutigen Restbestände reduziert und in
entlegene Rückzugsgebiete gezwungen. Dieser Prozess wird in naher Zukunft mit dem völligen
Verlust dieser Sprachen und der späteren Aufgabe der ethnischen Identität ihrer Sprecher enden
- wohl nur das Tschuktschische hat mit 13.000 Sprechern noch eine etwas längere Galgenfrist.
Noch im 17. Jhdt. waren jenisseische, jukagirische und tschuktschische Sprachen nachweislich in
wesentlich größeren und weiter westlich gelegenen Gebieten als heute verbreitet.
Die grammatischen und phonetischen Strukturen der fünf paläosibirischen Gruppen sind
durchaus unterschiedlich. Gemeinsam haben sie eine agglutinierende Morphologie,
umfangreiche Möglichkeiten komplexer Wortbildungen, verschiedene Formen der Vokalharmonie
und Konsonantenalternation und eine Tendenz zu Konsonantenclustern (außer im
Jukagirischen). Fast alle paläosibirischen Sprachen erhielten seit 1920 einen schriftlichen
Standard, und zwar zunächst auf Basis der lateinischen, seit 1930 der kyrillischen Schrift. Diese
Schriftsprachen werden vor allem in der Primarausbildung verwendet. Die umfangreichen
mündlich überlieferten Volksliteraturen wurden seit dem vorigen Jahrhundert von russischen und
westlichen Forschern gesammelt und übersetzt.
Beziehungen und genetische Verwandtschaft
Es wurden etliche Versuche unternommen, verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den
altsibirischen Gruppen oder zwischen ihnen und anderen Sprachfamilien aufzuzeigen. Keiner
dieser Vorschläge konnte bis heute die Anerkennung der Forschermehrheit finden. Bloße
Ähnlichkeiten im Bereich der Grammatik (z.B. die weit verbreitete Agglutination) oder Phonetik
(z.B. Vokalharmonie, Konsonantenstufung) können durch langfristige Sprachkontakte in
gemeinsamen oder benachbarten Lebensräumen entstanden sein und sind kein Beweis für
genetische Beziehungen. Es gibt zahlreiche Lehnwörter in fast allen paläosibirischen Sprachen,
die einen Hinweis auf historische Kontakte geben. Die meisten älteren Lehnwörter stammen aus
den tungusischen Sprachen, aber auch die Turksprachen (insbesondere das Jakutische) dienten
oft als Quelle. Das Ket hat vom samojedischen Selkup entlehnt, das Giljakische Termini der
Rentierzucht von tungusischen Sprachen, andere Begriffe aus dem Ainu. Als Hauptquelle aller
neueren Entlehnungen für die Begriffe der 'modernen' Technik und Zivilisation dient natürlich das
Russische. Dieses Lehnwortmaterial wird grammatisch und phonetisch relativ schnell in den
meisten paläosibirischen Sprachen integriert.
Welche aktuellen Thesen gibt es über die genetischen Beziehungen paläosibirischer Sprachen?
Auf die nicht unwahrscheinliche aber bisher keineswegs zwingend bewiesene Verwandtschaft
des Jukagirischen mit dem Uralischen wurde schon im Kapitel über die uralischen Sprachen
hingewiesen, eine uralisch-jukagirische Spracheinheit ist sicherlich nicht ausgeschlossen. Das
Tschuktscho-Kamtschadalische wurde aufgrund typologischer Ähnlichkeiten (z.B. Inkorporation)
mit den Eskimo-Sprachen verglichen.
Wesentlich umfassendere Vorstellungen werden von den Vertretern der Makrofamilien
(Nostratisch, Eurasiatisch, Dene-Kaukasisch) postuliert, die im Kap 7 zusammenfassend
behandelt werden. Bezogen auf die sibirischen Sprachen sei schon hier darauf hingewiesen, dass
das Eurasiatische in der Definition von J. Greenberg (z.B. Greenberg 2000) so ziemlich alle oben
beschriebenen 13 sibirischen Sprachgruppen umfasst, zusätzlich das Koreanische und
Japanische, allerdings mit der auffälligen Ausnahme des Jenisseischen. Eine fast identische
'eurasische' Sprachfamilie postulierte H. Koppelmann schon 1933. Das aus dem 'Eurasiatischen'
ausgeschlossene Jenisseische wiederum ist ein Kandidat für die hypothetische
dene-kaukasische Makrofamilie, die unter anderen die sino-tibetischen, nordkaukasischen,
nordamerikanischen Na-Dene-Sprachen und eben das Jenisseische umfassen soll. Beide
Thesen werden bisher nur von einer kleinen Gruppe von Linguisten akzeptiert oder auch nur für
wahrscheinlich gehalten. Die Hauptschwierigkeit bei ihrer Verifizierung ist das große Alter von
mehr als zehntausend Jahren, das man für die gemeinsame Proto-Sprache ansetzen müsste,
und die damit verbundenen äußerst spärlichen noch greifbaren Gemeinsamkeiten. Somit sollte
man bis zum Vorliegen zwingender neuer Argumente weiter davon ausgehen, dass die
paläosibirischen Gruppen weder untereinander noch mit anderen Sprachen oder Sprachfamilien
bewiesenermaßen genetisch verwandt sind. Im Folgenden werden einige Informationen zu den
einzelnen paläosibirischen Einheiten zusammengestellt.
3
Jenisseisch (Ket)
Das Jenisseische besteht heute wohl nur noch aus dem Ket mit knapp 1000 Sprechern im
mittleren Jenissei-Tal im Turuchansk-Distrikt des Gebietes Krasnojarsk. Wahrscheinlich ist das
nahverwandte Yugh (möglicherweise ein Dialekt des Ket) bereits ausgestorben: 1991 wird von
2-3 älteren 'Halbsprechern' in einer ethnischen Gruppe von etwa 15 Personen berichtet. Die
übrigen Sprachen der Jenissei-Familie - Kott, Arin, Assan und Pumpokol - wurden etwas südlich
vom heutigen Ket gesprochen und verschwanden im 19. Jhdt., ihre Sprecher assimilierten sich
mit den turkischen Chakassen, tungusischen Ewenken oder Russen. Wegen seiner nahen
genetischen Verwandten sollte man das Ket nicht - wie man es oft liest - als 'isolierte Sprache'
betrachten, selbst wenn es heute der einzige Vertreter seiner Familie ist.
Die Selbstbezeichnug 'Ket' bedeutet 'Mensch', die wenig differenzierende russische Bezeichnung
dieser Sprache ist 'Ostjakisch'. Erste Aufzeichnungen des Ket gibt es seit dem 18. Jhdt. (P.S.
Pallas), 1858 wird vom Finnen M.A. Castren die erste grammatische und lexikalische Studie über
das Ket und Kott publiziert. Eine erste Grammatik des Ket erscheint von A. Karger 1934, eine
neuere Darstellung bietet Kreinovich 1968.
Typologisch weicht das Jenisseische von den anderen paläosibirischen Sprachen deutlich ab,
zeigt aber Ähnlichkeiten zu den nordkaukasischen Sprachen, wodurch seine Eingliederung in die
dene-kaukasische Makrofamilie motiviert wurde (siehe oben). Seine charakteristischen
Eigenschaften sind die Existenz eines Genus und die Nominalklassen belebt-unbelebt, außerdem
die phonemische Bedeutung des Tons. Die Morphologie ist - wie bei allen paläosibirischen
Sprachen - agglutinierend, die Verbalbildung sehr komplex mit der Markierung der Person von
Subjekt und Objekt, Tempus, Aspekt u.a. Ein Beispiel aus dem Ket ist
tkitna, analysierend t-k-it-n-a
t Subjekt 1. Person sg., k-...-a Verbstamm 'in Stücke schneiden',
it Objekt 3. Person fem. sg., n Tempusmarker Perfekt
 'ich habe sie in Stücke geschnitten'
Die jenisseischen Sprachen besitzen ein reiches Vokabular zur Darstellung der traditionellen
Lebensbereiche, wie Flora, Fauna, Jagd und Wetter. Lehnwörter stammen aus dem
angrenzenden samojedischen Selkup (inbesondere Begriffe der Rentierzucht), aber auch aus
dem tungusischen Ewenki und turkischen Jakut. Seit 1930 hat mit der Einführung der kyrillischen
Schrift eine starke Russifizierung des Ket eingesetzt. Die enge Verwandtschaft der überlieferten
jenisseischen Sprachen zeigen einige Wortgleichungen in der folgenden Tabelle (nach
Ruhlen-Starostin 1994, vereinfachte phonetische Darstellung):
Tab 6
Jenisseische Wortgleichungen
Bedeutung Ket
Mensch
Menschen
Frau
Mutter
Vater
Bruder
Auge
Blut
Fleisch
Hund
Herbst
Messer
Fluss
vier
fünf
Yugh(H)
ke?t
deŋ
qim
am
op
bis
ke?t
deŋ
xim
am
op
bis
Kott H
Arin H
het
čeäŋ
ama
op
po- pes-
kit
qam
amä
ipa
des
des
tiš
tieŋ
sul
sur
šur
sur
is
is
iči
is
tip
čip
šip
χogde
xogdi
hori
kute
do'n
do'n
ton
ton
ses
ses
šet
sat
sik
sik
šegä
šaga
qak
xak
khegä
qaga
4
Jukagirisch
Heute existiert von dieser Gruppe nur noch das eigentliche Jukagir mit 200 Sprechern in zwei
stark divergierenden Dialekten in Jakutien und im Magadan-Gebiet: dem nördlichen
Tundra-Dialekt (150 Sprecher, Srednekansk-Distrikt) und dem südlichen Kolyma-Dialekt (50
Sprecher, Nishnikolymsk-Distrikt). Die jukagirischen Sprachen Omok und Tschuwanisch wurden
süd- und südwestlich der heutigen Sprachgebiete gesprochen und sind im vorigen Jahrhundert
ausgestorben. Noch zu Beginn des 17. Jhdt. dehnten sich jukagirische Stämme über ein riesiges
Gebiet Nordostsibiriens aus - vom Unterlauf der Lena im Westen bis zum Oberlauf des Anadyr im
Osten, vom Nordmeer bis zu den Werchojansker Bergen im Süden. Diese Stämme wurden vom
17. bis zum 19. Jhdt. durch Epidemien, kriegerische Auseinandersetzungen und die russische
Kolonisierung stark dezimiert, teilweise assimilierten sie sich auch den Tschuktschen, Jakuten,
Ewenen und Russen, wobei sie ihre jukagirischen Sprachen aufgaben.
Erste systematische Studien des Jukagirischen begannen mit W. Jochelson in den Jahren
1894-96, der in die Kolyma-Region verbannt wurde. Wichtige Beiträge lieferte auch der Jukagire
N. Spiridinow in den 1930er Jahren. Die beiden Dialekte des Jukagirischen (Nord- oder
Tundradialekt, Süd- oder Kolymadialekt) unterscheiden sich so stark, dass manche Forscher von
zwei Sprachen ausgehen. Über die mögliche genetische Verwandtschaft des Jukagirischen mit
den uralischen Sprachen wird im Kap. 'Uralische Sprachen' berichtet (Collinder 1965: das
Kasussystem des Jukagirischen gleicht dem des Nord-Samojedischen, die Imperativ-Suffixe
denen des Süd-Samojedischen, etwa fünfzig uralisch-jukagirische Wortgleichungen, die nicht
durch Entlehnung zu erklären sind). Typologisch ist das Jukagirische ohne Zweifel den uralischen
Sprachen eng verwandt. Wie das Uralische besitzt auch das Jukagir eine eigene 'negative
Konjugation' :
z.B.
tet mer-ai-mek '
tet el-ai-yek
du hast geschossen'
'du hast nicht geschossen'
Eine Besonderheit ist die morphologische Fokussierung von Satzteilen
z.B.
met-ek uul
met mer-uu-jeŋ
'ich ging'
'ich ging'
Im Gegensatz zu den anderen paläosibirischen Sprachen besitzt das Jukagirische kaum
Konsonantencluster. Erwähnenswert ist die Ideenschrift der Jukagiren (Kerbungen in Birkenrinde,
vgl. Jensen 1969), durch die Routenkarten dargestellt oder Liebesbriefe übermittelt werden
konnten.
5
Tschuktscho-Kamtschadalisch oder Luorawetlanisch
Die tschuktscho-kamtschadalischen oder luorawetlanischen Sprachen bilden auch heute noch
eine kleine Sprachfamilie im äußersten Nordosten Sibiriens. Der nördliche Zweig umfasst das
Tschuktschi, mit 13 Tsd Sprechern die bedeutendste Sprache dieser Gruppe (auf der
Tschuktschen-Halbinsel im AB der Tschuktschen und verstreut in Jakutien), das Korjakische (6
Tsd Sprecher, im AB der Korjaken), das Aliutor (noch 300 Sprecher, AB Korjak und
Nord-Kamtschatka) und das inzwischen fast ausgestorbene Kerek (Kap Navarin). Diese drei
Sprachen sind so eng verwandt, dass eine wechselseitige Verständigung durchaus möglich ist
und manche Forscher sie deswegen auch nur als Dialekte einer Sprache einstufen. Der südliche
oder kamtschadalische Zweig weicht davon stärker ab und besteht nur aus dem Itelmenischen
(noch 100 Sprecher aus einer ethnischen Gruppe von 1500, in der Süd-Kamtschatka und dem AB
der Korjaken).
Die Bezeichnung 'Tschuktschen' und 'Kutschotka' sind eine russische Adaption des Namens
einer Untergruppe der Tschuktschen; 'Luorawetlan' ist die Selbstbezeichnung der
tschuktschischen Stämme insgesamt, dieser Name wurde seit den 1920er Jahren zeitweise für
die gesamte tschuktscho-kamtschadalische Sprachfamilie verwendet. 'Itelmen' ist die
Selbstbezeichnung der Itelmenen, die von den Korjaken 'Kamtschalo' genannt wurden, was die
Russen zur Bezeichnug des Volkes der Kamtschadalen und der Halbinsel Kamtschatka
adaptierten. Heute hat sich die etwas umständliche Gesamtbezeichnung
'tschuktscho-kamtschadalisch' für die gesamte Sprachfamilie durchgesetzt.
Eine besondere genetische Nähe der tschuktscho-kamtschalischen Sprachen zu den
eskimo-aleutischen wurde von einer Reihe von Forschern angenommen, ist aber nie wirklich
nachgewiesen worden. Diese These wurde im größeren Zusammenhang der eurasiatischen
Makrofamilie Greenbergs wiederbelebt. Ohne Zweifel sind jedoch die typologische Ähnlichkeiten
groß. Bei beiden Gruppen handelt es sich um ergative und inkorporierende Sprachen. Man nennt
eine Sprache inkorporierend, wenn in komplexe Verbal- oder Nominalformen auch andere sonst
selbständige Wörter - z.B. Substantive, Adjektive, Adverbien - fest eingebunden werden können.
(Im Gegensatz dazu können beim polysynthetischen Sprachbau die eingebundenen Elemente
nur als abhängige Morpheme auftreten.) Beispiele der Inkorporation aus dem Tschuktschi sind:
m?n-n?ke-ure-qepl-uwičwen-m?k
lasst uns-Nacht-lang-Ball-spielen-wir
→ wir wollen die ganze Nacht Ball spielen
ga-mor-ik-tor-orw-ima
ga-...-ima Präpositin 'in', mor-ik Possessivus 1.pl. 'unser'
tor 'neu', orw 'Schlitten'
→ in unserem neuen Schlitten
Das Tschuktschi besitzt eine besondere Form der Vokalharmonie. Der Reihe 'dominanter' Vokale
e,a,o steht eine Reihe 'rezessiver' Vokale i,e,u gegenüber. Wenn eine Morphem eines Wortes
einen dominanten Vokal enthält, werden alle rezessiven Vokale dieses Wortes in ihre dominante
Version geändert. Zum Beispiel werden im Wort 'kupre' wegen des dominanten a des Suffixes
-ma das u in ein o und das e in a transformiert:
kupre
ga-kopra-ma
'Netz'
'mit einem Netz'
Eine kuriose Besonderheit einiger tschuktscho-kamtschadalischer Sprachen ist die
geschlechtsspezifische Aussprache mancher Phoneme. So hat im Tschuktschi die
Frauensprache keinen r-Laut, an seiner Stelle wird immer ein /ts/ gesprochen. Die männliche
Ausprache /r/ gilt für Frauen als unziemlich. Im Aliutor entspricht männliches /l/ oder /s/ in
weiblicher Aussprache dem /ts/, z.B. 'plaku' gegenüber 'ptsaku' (Schuhwerk).
6
Giljakisch oder Niwchisch
Das Giljakische oder Niwchische ist eine isolierte Sprache mit noch etwa 500 Sprechern aus einer
ethnischen Gruppe von 5.000 Personen, die in kleinen Einheiten als Fischer und Jäger auf
Sachalin und im Mündungsgebiet des Amur - oft in der Nachbarschaft von Negidalen und Russen
- leben. Die Selbstbezeichnung von Volk und Sprache ist 'Niwch', was 'Mensch' bedeutet. Der
Name 'Giljak' stammt von der Manchu-Bezeichnung 'Giljami', die mit der russischen Endung -jak
erweitert wurde. 1931 wurde für das Giljakische eine auf der lateinischen Schrift und dem
Amur-Dialekt basierende Schriftsprache eingeführt, 1953 fand der Übergang zur kyrillischen
Schrift mit einigen Sonderzeichen statt. Wurde die giljakische Schriftsprache zunächst noch in der
Primarausbildung benutzt, so findet sie seit den 1960er Jahren auch dafür keine Verwendung
mehr. Auch als (mündliche) Unterrichtssprache im Primarbereich ist das Giljakische ganz dem
Russischen gewichen. Der Anteil der ethnischen Giljaken, die ihre Sprache noch beherrschen,
nahm in den letzten Jahrzehnten stark ab, wie die folgende Übersicht der Volkszählungsdaten
zeigt. Die meisten kompetenten Sprecher des Giljakischen sind älter als 55 Jahre (Stand 1998),
alle Giljaken sprechen heute auch Russisch.
Tab 7
Ethnische Giljaken - Anteil der Sprecher
Jahr
ethn. Giljaken
Sprecher
1926
1959
1970
1979
1989
1993
4.100
3.700
4.400
4.400
4.700
5.000
4.100
2.800
2.200
2.100
1.000
500
%
100%
76%
50%
48%
21%
10%
Das Giljakische gliedert sich in drei Dialekte: Amur, Nordsachalin und Ostsachalin, wobei Amur
und Ostsachalin wegen deutlicher Unterschiede in Phonetik, Grammatik und Lexikon nicht
wechselseitig verständlich sind. Das Nordsachalin nimmt eine Zwischenposition ein. Das
Ostsachalin hat einige Lehnwörter aus dem Ainu und Japanischen aufgenommen, während sonst
der Einfluss der tungusischen Sprachen größer war. In den letzten Jahrzehnten hat der russische
Lehn- und Femdwortbestand stetig zugenommen, allerdings werden für die Begriffe des
traditionellen täglichen Lebens nach wie vor durchgehend giljakische Bezeichnungen verwendet.
Morphologisch und syntaktisch könnte man das Giljakische als eine typisch 'altaische' Sprache
ansehen, was natürlich nicht viel über seine genetische Beziehung aussagt. Es gibt zahlreiche
Versuche, die Verwandtschaft des Giljakischen mit anderen Sprachen nachzuweisen.
Insbesondere tungusische Sprachen, aber auch das Tschuktschi, Japanisch und amerikanische
Sprachen wurden dazu herangezogen. Greenberg fasst das Giljakische als eine Einheit seiner
eurasiatischen Makrofamilie auf (Greenberg 2000). Die Argumente für solche genetischen
Beziehungen sind für die große Mehrheit der Forscher allerdings bisher nicht überzeugend
gewesen, so dass das Giljakische weiterhin als isolierte Sprache angesehen werden sollte.
Das Giljakische weist ein reiches Konsonanteninventar auf. Es gibt stimmhafte und stimmlose
Frikative; stimmhafte, aspirierte und nicht-aspirierte Verschlusslaute mit labialer, dentaler,
palataler, velarer und uvularer Artikulationsstelle, mehrere Nasale, verschiedene l- und r-Laute
(G.L. Campbell 1995). Die Konsonanten sind in Abstufungs- oder Alternationsserien eingeteilt,
z.B. p-v-b, t-r-d, t'-z-d', k-γ-r (insgesamt gibt es 20 solcher Serien). In Abhängigkeit vom
Schlusslaut des vorausgehenden Wortes durchlaufen die worteinleitenden Konsonanten die
Allophone einer Serie:
(1)
tıf
ıtık rıf
oγlagu dıf
'Haus'
'Vaters Haus'
'Haus der Kinder'
(2)
v?kzd'
nux p?kzd'
'verlieren'
'eine Nadel verlieren'
(t- lexikalische Form)
(r- nach k-Laut)
(d- nach Vokal)
Die Nominalflexion unterscheidet durch Suffixe Numerus und Kasus, durch Präfixe den
Possessivus. Der Pluralmarker ist -ku (oder -xu, -gu)
ıtık 'Vater'
oγla 'Junge'
ıtık-xu 'Väter'
oγla-gu 'Jungen'
Neben dem unmarkierten Nominativ-Absolutiv gibt es u.a. einen Dativ-Akkusativ (-ax),
Dativ-Aditiv (-rox), Lokativ (-uin) und Instrumentalis (-γir). Das Giljakische ist keine
Ergativsprache. Die Präfixe für den Possessivus sind im Singular n'i-, či- und p'i- :
n'rıf 'mein Haus', črıf 'dein Haus', p'rıf 'sein/ ihr Haus'
Eine interessante Eigenschaft des Giljakischen (die es mit südost-asiatischen Sprachen teilt), ist
die Existenz verschiedener Serien von Zahlwörtern, die in Abhängigkeit von der Klasse des
Gezählten benutzt werden. Z.B. heißt das Zahlwort 'drei' t'aqr bei Menschen, t'or bei Tieren, t'em
bei Booten, t'for bei Netzen usw., insgesamt gibt es 26 Nominalklassen. Stabil bleibt bei allen 26
Zahlwörtern für 'drei' der einleitende Konsonant /t'/, der offensichtlich die eigentliche
Zahlinformation enthält. Eine ähnliche Situation liegt bei allen Zahlwortserien vor, z.B. bei 'eins':
nim für Boote, nir für Hundeschlitten; bei 'zwei': mim bei Booten, mir bei Hundeschlitten.
7
Ainu
Das Ainu ist ebenfalls eine isolierte Sprache, die höchstens noch eine Handvoll älterer Sprecher
aufweist. Von einigen Forschern wird das Ainu bereits als ausgestorben betrachtet. Die ethnische
Gruppe der Ainu, die sich anthropologisch deutlich vom mongoliden Typus ihrer Nachbarn Japaner, Giljaken, Tungusen - abhebt und eher einem europiden Typus angehört, umfasst auf
russischem Gebiet noch 1.500 Personen auf Sachalin und den Kurilen, in Japan etwa 15.000 auf
Hokkaido, wo sie den Rest der präjapanische Urbevölkerung darstellen. Früher waren die Ainu
auch auf Honshu und anderen japanischen Inseln verbreitet, wie man an Orts- und Flussnamen
erkennen kann. Der Name 'Ainu' ist eine Selbstbezeichnung und bedeutet 'Mensch'.
Dialekte, Hoch- und Umgangssprache
Die etwa 20 Dialekte des Ainu gliedern sich nach ihren Verbreitungsgebieten in die drei Gruppen
Kurilen-, Sachalin- und Hokkaido-Dialekte. Der Taraika-Dialekt auf Sachalin weicht von den
anderen ab und bildet vielleicht eine vierte Gruppe; die Hokkaido-Dialekte weisen eine
Nord-Süd-Untergruppierung auf. Am besten sind die Hokkaido-Dialekte dokumentiert, weniger
gut die Sachalin-Dialekte, zu den die Kurilen-Dialekten gibt es kaum neuere Untersuchungen.)
Der Unterschied zwischen dem klassischen Ainu, in dem die zahlreichen Epen (Yukar) des Volkes
mündlich überliefert sind, und den umgangssprachlichen Dialekten ist auch grammatisch
erheblich. Z.B. werden unterschiedliche Verbalaffixe verwendet, das klassische Ainu ist eine stark
inkorporierende Sprache, während die Umgangssprache sich zu einem mehr analytischen
Einzelworttypus verändert hat.
Das Vokabular des Ainu ist durch die traditionellen Lebensräume Jagd-Fischfang-Sammeln
bestimmt. So gibt es allein 20 Wörter für die verschiedenen Phasen im Lebenszyklus der Lachse,
50 Begriffe betreffen den Lebensbereich der Robben, 20 Wal- und 40 Hundearten werden
unterschieden, über 80 Begriffe haben mit Bären und der Bärenjagd zu tun. Das wichtige Wort
kamuy bezeichnet allgemein 'Tier', besonders aber den 'Bären', hat aber auch die Bedeutung
'Gott'.
Genetische Beziehungen
Die genetischen Beziehungen des Ainu sind bis heute nicht geklärt, die Mehrheit der Forscher
geht immer noch von einer isolierten Sprache aus. Natürlich gibt es zahlreiche Versuche, die
Verwandtschaft des Ainu mit anderen Sprachen und Sprachgruppen zu etablieren, wozu isolierte
Sprachen offensichtlich immer besonders anregen. Dabei kann man die 'arische Beziehung' von
J. Batchelor 1889 - ansonsten ein guter Kenner der Ainusprache, Autor eines Wörterbuchs
Ainu-Englisch-Japanisch - heute sicherlich übergehen; auch die neueren Versuche, das Ainu mit
südostasiatischen und pazifischen Sprachen zu vergleichen (Bengtson: Austronesisch, Vovin
1993: Austroasiatisch) finden keine größere Beachtung.
Mehr Interesse gebührt sicherlich den Versuchen, die das Ainu mit den geographisch
benachbarten Sprachen Japanisch, Koreanisch und dem Altaischen oder auch den
paläosibirischen Sprachen vergleichen. Hattori 1964 ordnete das Ainu einem Altaischen im
weiteren Sinne zu, das außer dem Turkischen, Mongolischen und Tungusischen auch das
Japanische, Koreanische und Ainu enthalte. Das folgende Diagramm zeigt die Struktur dieser
hypothetischen Sprachfamilie. Zunächst spaltete sich danach das Ainu ab, der Rest zerfiel in das
Koreanisch-Japanische und die eigentlichen altaischen Sprachgruppen (Turkisch, Mongolisch
und Tungusisch):
Altaisch nach Hattori 1964
Altaisch nach Patrie 1982
MAKRO-ALTAISCH
AINU
ALTAISCH-KOREANISCH-JAPANISCH
KOREANISCH-JAPANISCH
KOREANISCH
JAPANISCH
ALTAISCH
MONGOLISCH-TUNGUSISCH
TUNGUSISCH
MONGOLISCH
TURKISCH
MAKRO-ALTAISCH
JAPANISCH-KOREAN.-AINU
AINU
JAPANISCH
KOREANISCH
TUNGUSISCH
MONGOLISCH
TURKISCH
Eine vielbeachtete vor allem lexikalisch begründete Arbeit zu diesem Thema ist J. Patrie 1982,
nach der das Ainu zusammen mit dem Japanischen und Koreanischen eine - allerdings schon vor
langer Zeit aufgespaltene - vierte gleichrangige Untergruppe des Altaischen bildet (neben dem
Turkischen, Mongolischen und Tungusischen; dazu die ausführliche Diskussion im Kapitel
'Altaisch, Koreanisch und Japanisch'). Greenberg 2000 übernimmt - basierend auf Patrie - die
genetische Einheit Ainu-Japanisch-Koreanisch, betrachtet sie aber nicht als Untergruppe des
Altaischen, sondern als einen eigenständigen Zweig seiner eurasiatischen Makrofamilie. (Seine
Begründungen sind eine kritische Auswahl der Wortgleichungen von Patrie; in allen drei Sprachen
gemeinsame satzbeendende Interogativpronomen -ka und -ya, das Kausativsuffix -ke/-ki, die
Lokativpostposition -ta, pronominales Objekt i-/e-; für die Einbettung ins Eurasiatische zieht
Greenberg vor allem die Vokalharmonie des Ainu heran, die er in seiner Darstellung ausführlich
behandelt.)
Trotz aller Anstrengungen auf diesem Gebiet gibt es nach wie vor keine wirklich zwingenden
'Beweise' für eine Verwandtschaft des Ainu mit einer anderen Sprache oder Sprachgruppe, die
japanisch-koreanisch-altaische Hypothese und Greenbergs eurasiatischer Ansatz - ähnlich
übrigens schon Koppelmann 1933 - scheinen das größte Potential für weitere Forschungen zu
bieten.
Sprachliche Charakteristik
Eine aktuelle Übersicht über die Ainusprache bietet Shibatani 1990, worauf ich hier zurückgreife.
Das Ainu hat ein durchschnittliches Phoneminventar. Die Vokale sind a,u,o,i,e, die Konsonaten
p,t,k,?; s,h,c (=ts); w,j; m,n,r. Assimilation und Dissimilation spielen eine wichtige Rolle:
*
akor nispa > akon nispa
akor tures > akot tures
*
kukor rusuy > kukon rusuy
*
'unser Häuptling'
'unsere Schwester'
'ich will (etwas) haben'
Die Satzstellung ist SOV und wird ziemlich strikt eingehalten, da es im eigentlichen Sinne keine
Kasus (z.B. Genetiv, Akkusativ) gibt:
kamuy aynu rayke
aynu kamuy rayke
der Bär tötet den Mann
der Mann tötet den Bären
Auch die Regeln der nominalen Kettenbildung werden rigide beachtet, z.B:
Attribut+Nomen
Genetiv+Nomen
pirka kewtun
aynu cise
gut-Herz
Mann-Haus
'gutes Herz'
'des Mannes Haus'
Neben der Positionierung im Satz helfen auch einige Postpositionen, die (meist lokale) Funktion
bestimmter Satzteile deutlich zu machen, z.B. ta für den Lokativ, orun für den Dativ-Adessiv, orwa
für den Ablativ u.a.
huci matkaci orun upaskuma
Großmutter Mädchen-zu Geschichten-erzählen
→ Großmutter erzählt dem Mädchen Geschichten
poro cise ta horari
großes-Haus-in er-lebt
→ er lebt in einem großen Haus
Die Konjugation des Verbums kennt keine Tempora. Pronominale Subjekte und Objekte werden
durch Affixe markiert. Hierbei unterscheiden sich die Affixe des klassischen Ainu vor allem in der
1. Person deutlich von den umgangssprachlichen Formen. Die folgenden Affixe (Präfixe und
Suffixe) entstammen dem klassischen Ainu:
Tab 8
Subjekt- und Objekt-Marker des Verbums im klass. Ainu
1.
2.
3.
Singular
Plural
-an
aieØ
-an
aieciØ
(intrans. Subjekt)
(trans. Subjekt)
(Objekt)
Damit ergeben sich folgende Formen mit Subjekt-Marker:
itak-an
a-kore
e-itak
eci-itak
itak
ich spreche/ wir sprechen
ich gebe/ wir geben
du sprichst
ihr sprecht
er-sie spricht/ sie sprechen
Die Subjekt- und Objektmarker bei transitivem Verb sind Präfixe, das Subjekt-Präfix steht vor dem
Objekt-Präfix. Wegen des Nullmorphems in der 3. Person und der identischen
Subjekt-Objekt-Marker in der 2. Person ergeben sich viele mehrdeutige Formen:
a-e-kore
a-Ø-kore
e-i-kore
e-Ø-kore
Ø-e-kore
Ø-i-kore
Ø-Ø-kore
ich gebe / wir geben dich
ich gebe ihn/ sie/ sie (pl)
du gibst mich/ uns
du gibst ihn/ sie/ sie (pl)
er/ sie gibt (sie geben) dich
er/ sie gibt (sie geben) mich/ uns
er/ sie gibt (sie geben) ihn/ sie
Wie schon erwähnt, spielt die Inkorporation (Einbindung von Nomina in Verbformen) vor allem im
klassischen Ainu eine große Rolle, in der Umgangssprache werden häufig parallel
nicht-inkorporierende Konstruktionen verwendet:
asir cise ci-kar
neues Haus wir-machen (nicht inkorporiend)+
→ 'wir bauen ein neues Haus'
ney ta cise-kar-as
dieses-bei Haus-machen-wir (inkorporierend)
→ 'dort bauen wir ein Haus'
mukcaraha a-tuye
seine Brust ich-schneide (nicht inkorporierend)
a-mukcar-tuye
ich-Brust-schneide (inkorporierend)
→ 'ich schneide seine Brust'
In den inkorporierenden Versionen wurden die direkten Objekte 'cise' und 'mukcar' in die
Verbalform eingebunden. Auch Nomina mit anderen Funktionen können inkorpiert werden, z.B.
intransitive Subjekte, attributive und adverbielle Bestimmungen:
kane rakko o-tumi-osma
goldener Otter BEZUG-Krieg-beginnt
→ 'wegen des goldenen Otters beginnt der Krieg'
nea cep a-pone-ko-kuykuy
diesen Fisch ich-Gräten-mit-esse
→ 'ich esse diesen Fisch mit Gräten'
Herunterladen