Exposé

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Exposé
Dies wird eine Mord-Geschichte. Pegasus, das geflügelte Pferd, wurde - so steht es in der
griechischen Mythologie - selber auch durch einen Mord geboren.
Ende November 1817 treffen sich auf einem am Loch Ness gelegenen schottischen Schloß 10
Dichter zu einem literarischen Symposion, die Heiterkeit dieser Veranstaltung wird jedoch
noch in der ersten Nacht von unerklärlichen Ereignissen und einem Todesfall überschattet.
Die anwesenden Dichter, deren Reihen auch in den folgenden Tagen scheinbar von einem
unerbittlichen Schicksal ständig weiter dezimiert werden, während Angst und Panik um sich
greifen, benötigen kostbare Zeit, um herauszufinden, daß selbst die "überrealen" SchauerGeschehnisse, die sich ereignen, lediglich Ergebnis einer sorgfältigen Inszenierung sind, daß
vielmehr unter ihnen ein Mörder Schritt für Schritt seinen schrecklichen Plan umsetzt.
Also doch nur ein Kriminalfall? Allerdings sind die Beteiligten schon verblüfft - und entsetzt,
als ihnen sowohl Motiv als auch Durchführung der bisherigen Morde sämtlich als Ausdruck
ausschließlich literarischer Motive und Mechanismen, letztlich also selbst als eine - wenn
auch gräßlich pervertierte - Form von "Dichtung" klarwerden.
Zur Zielsetzung unseres Textes ist zu sagen: Natürlich ist mir klar, daß ein heute
geschriebener, aber anfangs des 19. Jhdts. spielender Roman per se eine erhebliche
Manieriertheit darstellen muß - positiver formuliert: bestenfalls ein "intellektuelles"
literarisches Spiel sein kann (Titel und Thema weisen genau darauf hin), ohne wahrhaftigen
Bezug auf soziale, politische oder sonstige Realitäten der heutigen Zeit. Andererseits werden
wir uns bemühen, für "psychologische" Stimmigkeit der Charaktere zu sorgen bzw.
"poetische" wie "philosophische", auch politische Grundfragen (Altern, Sterben,
Freundschaft, Kunst, Antisemitismus etc.), vor allem auch Fragen zur Geistesgeschichte und
Literatur einzubeziehen und zu nutzen, von daher eine Kategorie wie "überzeitliche
Gültigkeit" in unseren Text zu bekommen - ein Konzept, das, wie ich weiß, sich durchaus
bedingt konträr zu dem anderen angepeilten Ziel verhält, nämlich einen typisch
"romantischen" Roman zu schreiben: Unser Roman wird für einen romantischen Roman
selbstverständlich "zu modern" sein.
Der Roman wird in der Ich-Perspektive erzählt werden. Er wird mit so disparaten literarischen
Vorbildern spielen wie E.T.A.Hoffmanns "Das Fräulein von Scuderi" oder "Die Elixiere des
Teufels", den Märchen der Gebrüder Grimm, Edgar Allen Poes "The House of Usher", Bram
Stokers "Dracula", Ecos "Der Name der Rose" (auch dort beide Male eine Burg), natürlich der
Bibel und Agatha Christies "Ten Little Niggers", selbstverständlich soll das Buch eine
Hommage an Horace Walpoles "The Castle of Otranto" sein , ferner wird es weitere
"filmische" "Vorbilder" geben wie Neil Jordans "Zeit der Wölfe" oder Ken Russels "Gothic".
Unser Text wird all diese Texte nicht plagiieren, aber nutzen und verbinden insofern, als er
selbst ein Text über Literatur sein soll, so wie E.T.A. Hoffmann beim Schreiben von "Die
Elixiere des Teufels" Lewis' "The Monk" genutzt hat oder Umberto Eco beim Schreiben von
"Der Name der Rose" seine Kenntnis von Sherlock Holmes, James Bond oder der Bibel.
Denn Dichten und Plagiieren wird ein zentrales Thema in "Pegasus" sein, der Satz von
Terenz: "Nihil est dictum, quod non sit dictum prius" ("Nichts wird gesagt, das nicht schon
vorher gesagt worden wäre") wird in der letzten großen Szene unseres Buches zitiert werden er bezeichnet das Mordmotiv: Schreibunfähigkeit. Der Mörder will die anderen Dichter ihrer
Dichtungen, ihrer Gedanken berauben. Daß so etwas, Schreibunfähigkeit, sogar vermeintliche
Schreibunfähigkeit, tatsächlich zum Motiv für einen Mord werden kann, zeigt uns der Fall des
Selbstmordes von Hemingway.
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Neben dem vorrangigen Ziel, den beteiligten Schülerinnen Bildung zu vermitteln (auf das ich
an anderer Stelle näher eingehen will), ist also ein möglichst intelligentes "Spiel" mit Literatur
geplant: Wir werden eine Reihe von "Stilmitteln" nutzen (lange, komplexe
Satzkonstruktionen, Reihungen, Adjektivhäufungen, Metaphern, Vergleiche und andere
poetische Bilder, litotes-ähnliche Fügungen, Archaismen, anachronistische Wortverwendung,
Dative mit erhaltenem -e, Fortfall des Hilfsverbs in Partizipialkonstruktionen usw.), die uns
im Ergebnis eine Erzählung ermöglichen sollen, die sich stets genau auf der Kippe bewegen
soll zwischen echter und vermeintlicher Ernsthaftigkeit, augenzwinkerndem Zitat, Kitsch,
anachronistischer Betulichkeit, historischer "Lehrhaftigkeit", durchaus - das ist mir sehr
wichtig! - moderner Thrillerspannung und einigen anderen Polen mehr, ein Text, der sich
ständig durch seine "Unzeitgemäßheit" ironisch selbst reflektieren, gewissermaßen also
selbstdarstellen soll: themenbezogen ausgedrückt - somit eine nochmals gebrochene Form
typisch romantischer Ironie bieten soll. Es soll gewissermaßen sein wie bei diesen russischen
Püppchen, wo immer noch eine Puppe in der Puppe steckt (ich nenne das hier einmal das
"Babuschka"-Prinzip).
Ich will mit den Schülerinnen also einen literarhistorischen Anachronismus begehen: einen
romantischen Roman, einen Schauerroman, eine "gothic novel", also ein literarisches "Fake"
verfassen. Wir werden dies unter einem Pseudonym tun, einem Anagramm aus unseren
Initialen (Jesaja Samanita Jerina Sogran): Schon der literarisch erste Schauerroman, die
historisch erste "gothic novel" ("The Castle of Otranto") spielte auf einer Burg, war ein Fake
und wurde unter Pseudonym verfaßt. Wir werden ein Pseudonym benutzten, die Autorin: eine
Frau, der Erzähler: ein Mann, wir dahinter (wir werden gewissermaßen selbst zum Märchen
werden) - das Babuschka Prinzip. Auch inhaltlich werden wir ein Märchen erzählen. Und
natürlich waren Märchen eine typische Kunstform gerade der Romantik. Ein bekanntes
Märchen bietet im übrigen das Motiv und Muster unserer Morde. Ferner gibt es innerhalb
unserer Geschichte eine für die Handlung sehr wesentliche, vermeintlich sehr alte Geschichte
("Lady Lorraine"), die sich am Schluß ebenfalls als Märchen, als Fake herausstellen wird das Babuschka-Prinzip. Das Schloß liegt am Loch Ness, zufällig Wohnort eines
"Ungeheuers", letzteres höchstvermutlich selber ein Fake, wenn auch definitiv nicht im 19.
Jahrhundert - noch ein Fake: abermals das Babuschka-Prinzip.
Um die Kette fortzutreiben: Zwei der Dichter in unserer Geschichte schreiben unter
Pseudonym. Zwei andere unserer Dichter tragen plagiierte Dichternamen: Milton und
Goldsmith. Und das berühmteste literarische Fake überhaupt, Ossian, an das man 1817 noch
voll und ganz glaubte, wird ständig in Verbindung mit Father Olivier benannt. Nicht zuletzt:
Das Buch beginnt mit einem Horazschen Motto, das (natürlich in Latein) unsere ganze
Geschichte und unsere "Autorin" noch vor Beginn des Buches und ganz direkt als Fake
kenntlich macht.
Mehr noch, dieses Motto wiederum stammt direkt aus "The Castle of Otranto"...
Augenzwinkern beim Leser beabsichtigt.
Pegasus ist das Sinnbild der Dichtung, für mich wird es das Sinnbild sein, daß wir uns
hinsetzen wollen, um zu schreiben - um (gewissermaßen "reißbrettartig") darüber zu
schreiben, wie 10 Dichter sich hingesetzt haben, um (gewissermaßen "reißbrettartig") zu
schreiben - so wie sich 1817 in der Villa Diodati wirklich Dichter hingesetzt haben, um
(gewissermaßen "reißbrettartig") zu schreiben (abermals das Babuschka-Prinzip) (wobei,
nebenbei gesagt, damals "Frankenstein", auch ein Schauerroman, entstand, geschrieben von
einer 18Jährigen ...).
Das Faszinosum der mehrfachen Parallele ...
23. 11. 1995
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(Inwieweit uns dieser in Theorie und Absicht sicher hübsche Balanceakt vieler guter Vorsätze
heute realiter gelungen ist, dies zu beurteilen muß natürlich dem Leser überlassen bleiben.)
23. 6. 1998 (Tag der Fertigstellung von "Pegasus")
Nachtrag November 2002:
Mich ärgert im Lichte des zuvor Gesagten heute die gelegentlich etwas plump attestierte
angebliche Ähnlichkeit zu "10 Little Niggers". Hier wird uns fast so etwas wie ein
plagiatorischer Akt vorgeworfen, vermutlich aufgrund der Tatsache, daß in beiden Büchern
10 Leute eingeschlossen sind und dezimiert werden.
Ich möchte jedoch darauf hinweisen dürfen, daß es bei Agatha Christie darum und um nichts
sonst geht, als diese zehn Personen vollzählig sterben zu lassen, für ungesühnte Verbrechen,
die sie begangen haben (und der Mörder stirbt mit ihnen), während es bei uns a) nur vier Tote
gibt, die b) im übrigen aus völlig anderem Grund ermordet werden.
Bezüglich der Parallele des "Eingeschlossen-Seins": Das Ganze ist kurios, denn der Whodunit
lebt, wie wir wissen, grundsätzlich von dem, was man das "geschlossene System" genannt
hat, von Conan Doyle bis Alistair McLean - der Leser muß sicher sein können, daß sich der
Mörder auch wirklich unter den Beteiligten befindet. Was dies betrifft, so müsste man
Hunderte von Büchern und Filmen als Agatha-Christie-Plagiate anführen, auch sie selbst hätte
sich dann, von "Alibi" bis "Curtain", nur ständig selbst plagiiert.
Daß zweitens auch in beiden Büchern sich der Gastgeber als der Täter entpuppt (wobei ja bei
Agatha Christie der Gastgeber bis zur Auflösung unbekannt bleibt), entspricht, nun ja, bei
einem derartigen Mordkomplott, fürchte ich, nur der einzig möglichen technischen Logik.
Im übrigen: Meine allererste und Grundidee war (was niemanden interessieren wird - aus
gewissermaßen autobiographischen Gründen und lange, bevor irgend etwas anderes an
diesem Roman feststand!), daß unbedingt der Freund des Erzählers der Mörder sein müsse,
mein wesentlicher Grund für diese Konstellation war, am Schluß möglichst erschütternd das
Scheitern von Freundschaft zeigen zu können, nichts sonst. - Das ist, denke ich, etwas
hinlänglich anderes als der Agatha-Christie-Plot, wo es einem durchgeknallten Richter, s.o.,
um das Rächen ungesühnter Verbrechen geht.
Drittens: In beiden Büchern wird die Verbindung zur Außenwelt durch einen Sturm gekappt,
wie wahr!, bei Agatha Christie geht es um eine Insel und es ist ein "normaler" Sturm auf dem
Meer, bei uns ist es eine Burg im Winter in Schottland, und es ist ein Schneesturm. Was um
alles in der Welt hätten wir denn nehmen sollen - einen Meteoriteneinschlag? Abgesehen
davon, bei uns sieht es ja nur eine Zeitlang so aus, als sei der Schneesturm für den Einsturz
der Zugbrücke verantwortlich (was objektiv einfach lächerlich wäre), in Wirklichkeit sind es,
wie der Leser unseres Romans weiß, ein paar Sprengladungen. Parallele zu Agatha Christie?
Viertens: Auch die Zahl der 10 Personen hat sich bei der Konstruktion unseres "Personals"
nicht nach ihr gerichtet, sondern sich nach und nach eher zufällig ergeben. Wir brauchten, wie
der Leser unseres Buches weiß, um das "Mordmuster" ("Frau Holle") deutlich zu machen, ein
Minimum von vier Opfern, ferner den Erzähler und den Mörder - das machte 6 - und
wenigstens einige weitere Personen, darunter die Frau, in die der Erzähler sich verliebt, die
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man verdächtigen könne. Machte für uns ein Minimum von 9. Dann erfand ich noch den
Pfarrer, letztlich um die "zeittypische Bibel-Ebene" und den "Ossian" ins Buch zu
bekommen- eine Figur, viel zu schade zum Wegwerfen - und so wurden unversehends 10
daraus.
Übrigens, in Agatha Christies Roman kommen, wie gesagt, alle zehn Personen ums Leben,
auch der Mörder, und das ist ja in diesem Buch am Schluß auch das große Rätsel, der zentrale
Punkt, um den sich alles dreht. Bei uns geht es wirklich, wirklich - das wird man wohl
erkennen - um ganz anderes.
Die einzige Idee, auf die ich tatsächlich ursprünglich durch "10 Little Niggers" gekommen
bin, war die, daß über längere Zeit hinweg in unserem Buch ein Opfer für den Täter gehalten
wird (Dr. Armstrong bei Agatha Christie - der Comte de Marais bei uns), einfach aufgrund
der Tatsache, daß er verschwunden bleibt. Allerdings wird man uns zugestehen müssen, daß
wir erheblich mehr aus dieser Idee gemacht haben als die große alte Dame des
Kriminalromans.
Auch den Schauplatz Burg haben wir nicht einfach aus "Der Name der Rose" entwendet, das
wäre ungefähr genauso, als würfe man Umberto Eco vor, er habe seinen Schauplatz aus "The
Castle of Otranto" abgeschrieben oder als habe Bram Stoker in "Dracula" seinen ersten
Schauplatz daher. - Wir haben in der Tat eine Burg (und obwohl sie in Schottland liegt, mit
italienischen Elementen) zum Schauplatz gewählt, weil der historisch erste Schauerroman,
"The Castle of Otranto", auch auf einer Burg spielt - und literarische Zitate und Anspielungen
sind ja konstituierendes Element unserer Geschichte - aber wer die vier Romane kennt, "The
Castle of Otranto", "Dracula", "Der Name der Rose" und unseren, der wird auch sehen, daß da
keinerlei Ähnlichkeit vorhanden ist.
Wenn unser Roman durch "Dracula" beeinflußt ist, dann durch den Vornamen der Hauptfigur
des Erzählers : Jonathan, und wenn er durch den "Namen der Rose" beeinflußt ist, dann
insofern, als der Urgrund des Buches irgendwo literarisch sein sollte - und insofern, als die
Morde nach einem bestimten Schema erfolgen müßten. Ein solches Schema ist immer
geheimnis- und stimmungsvoll. Bei Umberto Eco ist es die "Apolalypse des Johannes", die
nachgespielt wird, bei uns ist es die "Frau Holle" der Gebrüder Grimm. Ich erinnere mich an
den Film "Copykill", wo der Täter "reale" Serienmorde nachahmt, oder "Knight moves", bei
dem ein Täter seine Opfer aussuchte, indem er die Planquadrate eines Schachfeldes auf den
Stadtplan projizierte und dann eine berühmte Partie nachspielte, bei der es Bauernopfer und
Damenabtausche gab ... Ein Schema bei Morden, das war mir am Anfang klar ... das ist
immer faszinierend ...
Ich habe übrigens dieses Spiel der Namen auf die Spitze getrieben insofern, als ich Dorothea
S. Baltensteins Schwester, die angeblich das Manuskript in den Westen gebracht hat,
frecherweise Madeleine genannt habe (wie viele Schlesierinnen haben eigentlich Madeleine
geheißen?!), - Madeline dagegen ist der Name der untoten (ebenfalls) Schwester aus Edgar
Allen Poes "Der Untergang des Hauses Usher" ... ein Spiel mit Literatur ... und es hat riesigen
Spaß gemacht ... aber kein plattes Plagiat von "Ten Little Niggers" ...
Übrigens: "Nihil est dictum, quod non sit dictum prius" ...siehe oben ... "Nichts wird gesagt,
das nicht schon gesagt worden wäre" ... Wie recht doch Mortimer hat!
Ich wollte genau dies zum Thema machen!
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