Document

Werbung
Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun
„Blinde Flecken?“ - Politik und Medien müssen sich verstärkt um das Thema
Migration kümmern
Referat anlässlich der Präsentation der Studie „Das Ausländerbild in den
Thüringer Tageszeitungen 1995-1999“ am 15.12.2000, Erfurt
Meine zentralen Thesen gleich am Anfang:
Politik und Medien müssen dem Thema „Migration“ einen größeren Stellenwert
einräumen. Scheindebatten um „Leitkultur“, wie wir sie in letzter Zeit zu
verzeichnen hatten, verdecken nur die wahren Probleme und Lösungsansätze. Bei
der Auseinandersetzung um Fremdenfeindlichkeit, Gewalt gegen Ausländer und
Rechtsradikalismus sollte nicht nur auf die neuen Länder gezeigt und verdrängt
werden, dass es im Westen - trotz fast 50jähriger Erfahrung mit dem
„Ausländerthema“ - auch nicht zum Besten bestellt ist.
Das zeigt sich gerade was die vielbeschworene Integration der ausländischen
Familien angeht. So ist in den letzten Jahren sogar eine Verschlechterung bei
der Integration junger „Ausländer“ festzustellen. Die Entwicklung zu höheren
Bildungsabschlüssen setzt sich seit 1992 nicht mehr fort. Fast ein Fünftel der
ausländischen Schulabgänger erreicht keinen Hauptschulabschluss. Bei der
Berufsausbildung ist ein Rückgang bei der Ausbildungsbeteiligung zu verzeichnen.
Von den ausländischen Schülern, die die beruflichen Schulen in Deutschland
verließen, hatte mehr als ein Drittel keinen Abschluss.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin beurteilt in einer
Untersuchung die Zukunft der Töchter, Söhne und Enkel der einstigen
„Gastarbeiter“ eher pessimistisch. So dürften junge Ausländer bis zum Jahre
2010 im Bildungsverhalten sowie beim Schul- und Ausbildungserfolg das Niveau
junger Deutscher im Durchschnitt nicht erreichen. Danach werden auch in der
nächsten Dekade noch zu viele ausländische Schüler allgemein bildende Schulen
ohne Hauptschulabschluss verlassen sowie berufliche Schulen und Lehren ohne
beruflichen Abschluss beenden.
In der alten Bundesrepublik wurden jahrzehntelang die Augen vor der Wirklichkeit
verschlossen und die Tatsache geleugnet, dass Deutschland längst zum
Einwanderungsland geworden ist. Dabei belegen alle Daten und Fakten, dass wir
uns längst in einem Einwanderungsland mit einer multikulturellen Gesellschaft
befinden. Die multikulturelle Gesellschaft ist keine Utopie, sondern eine
Tatsachenbeschreibung. In Stuttgart leben wir beispielsweise seit langem mit
einem Ausländeranteil von über 25 Prozent friedlich zusammen.
Die ganze Diskussion um die multikulturelle Gesellschaft ist in diesem Sinne
eigentlich überflüssig. Es geht gar nicht mehr darum, ob wir in Deutschland mit
verschiedenen Kulturen zusammenleben wollen. Die Frage ist vielmehr, wie wir
dieses Zusammenleben im neuen Jahrhundert friedvoll und sinnvoll gestalten.
Was nun die multikulturelle Gesellschaft angeht, so möchte ich unterstreichen,
dass natürlich keine Kultur ohne sozusagen „fremde“ Einflüsse entstanden ist.
Sie können das für Deutschland immer noch treffend in „Des Teufels General“
von Carl Zuckmayer nachlesen. „Keine Kultur entstand aus sich selbst heraus in
einem luftleeren Raum ...“, worauf Prof. Dr. Dieter Oberndörfer, Leiter des ArnoldBergsträsser-Instituts in Freiburg und Vorsitzender des Rates für Migration, zu
Recht hinweist. Alle Kulturen haben sich in einer langen Geschichte kulturellen
Austausches grenz- und völkerübergreifend herausgebildet. Selbst die japanische
Kultur, die oft als Beispiel für eine „reine nationale Kultur“ genannt wird, ist
durch chinesische, indische und westliche Überlieferung geprägt worden.
In der Republik gibt es keine nationalen Religionen oder Kulturen, die für ihre
Bürger verbindlich gemacht werden dürfen. Somit wird die Kultur der Republik
unvermeidlich zu einer Mischung unterschiedlicher oder sogar konfliktreicher
Werte und Güter. Dieser Pluralismus wird natürlich durch die Normen der
Verfassung und deren politischen und rechtlichen Ordnung begrenzt. Die Kultur
der Republik umfasst aber die Gesamtheit der kulturellen Güter und Präferenzen
aller ihrer Staatsbürger. Wenn also in Deutschland die Zahl der Bürger
muslimischen Glaubens zunimmt, wird die religiöse Tradition des Islam noch
mehr zum Bestandteil unserer Kultur - staatsrechtlich also zur Kultur der
Deutschen. Dies anzunehmen fällt uns im Blick auf die kulturellen
Überlieferungen, in denen wir groß geworden sind, nicht leicht, wie wir gerade in
letzter Zeit beobachten konnten. Die Alternative wäre aber in der Tat eine Politik
der kulturellen Apartheid, die weder mit unser pluralistischen Gesellschaft noch
mit unserer Verfassung in Einklang zu bringen wäre.
Bei diesen Thema lohnt sich ein kleiner Ausflug in die Migrationsgeschichte. So
brachte beispielsweise die Einwanderung von irischen und deutschen Katholiken
in das kalvinistisch geprägte Amerika sogar mehr sozialen und politischen
Zündstoff mit sich als heutzutage die Einwanderung von Muslimen in die
säkularisierten westlichen Gesellschaften.
Als ein Drittel der Bevölkerung Pennsylvaniens aus Deutschen bestand und noch
viele Einwanderer unterwegs waren, sprach man Mitte des 18. Jahrhunderts von
einem „deutschen Problem“ in Amerika. Benjamin Franklin, der 1776 die
amerikanische Unabhängigkeitserklärung unterzeichnete, schrieb:
„Warum sollte Pennsylvania, das von Engländern gegründet wurde, eine Kolonie
von Fremden werden, die in Kürze so zahlreich sein werden, dass sie uns
germanisieren, anstatt dass wir sie anglisieren?“
Ein Freund unterbreitete Franklin damals Vorschläge, um eine Überfremdung der
englischen Kolonie zu vermeiden. Franklin erwiderte: „Dein erster Vorschlag,
englische Schulen unter den Deutschen zu etablieren, ist ausgezeichnet .... Falls
sie die englische Schulbildung umsonst haben können, werden sie nicht für
deutsche Schulen bezahlen, so sehr sie ihre eigene Sprache lieben. Den
sechsten Vorschlag, Mischehen zwischen den Angloamerikanern und den
Deutschen mittels Geldspenden zu fördern, halte ich entweder für zu teuer oder
ohne Aussicht auf Erfolg. Die deutschen Frauen sind im allgemeinen so wenig
anziehend für einen Engländer, dass es enorme Mitgift erfordern würde,
Engländer anzuregen, sie zu heiraten. Der siebte Vorschlag, keine Deutschen
mehr nach Pennsylvanien zu schicken, ist ein guter Vorschlag. Diejenigen, die
schon hier sind, werden dies unterstützen.“
Der lange Weg der Eingliederung der Deutschen in Amerika bestand zunächst in
der Integration in das „Kleindeutschland“ in der Nachbarschaft, mit deutschen
Freunden, Geschäften, Kirchen, Sitten und Gebräuchen. Auch das können wir aus
der deutschen Auswanderungsgeschichte lernen: diese Siedlungsgebiete sollten
nicht als „Ghetto“ abgetan werden, sie sind vielmehr ein „Sprungbrett“ in die
Gesellschaft des Aufnahmelandes, in die deutsche und andere Auswanderer
meist erst nach einer Generation hineinwachsen.
Als kulinarische und kulturelle Bereicherung werden Einwanderer erst viel später
erkannt: die deutschen Metzger, die den so genannten „Hamburger“ vor über
100 Jahren nach Amerika gebracht haben, die Italiener, die ihre Spaghetti zum
deutschen Grundnahrungsmittel machten oder die Türken heute mit ihrem
„Döner Kebab“.
Ein Bayer namens Levi Strauss war es, der auf die Idee gekommen war, dass
die Goldgräber in Kalifornien strapazierfähige Hosen brauchten. Damit hat Levi
die Jeans erfunden, die längst auf der ganzen Welt zu einem Synonym für die
USA geworden sind.
Meine Damen und Herren, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg waren in
Deutschland gewaltige Aus- und Einwanderungsbewegungen zu verzeichnen. In
den letzten 40 Jahren (1959 bis 1998) sind fast 30 Millionen Menschen nach
Deutschland gezogen. Gleichzeitig zogen im gleichen Zeitraum über 21 Millionen
Menschen aus Deutschland ins Ausland.
Jedes Jahr findet eine hohe Abwanderung statt, was jedoch kein Thema in
Politik und Medien darstellt.
Die Bundesrepublik war - was die Zuwanderung angeht - in den letzten Jahren
weltweit die Nummer eins, und sie hat mehr Menschen im Jahr aufgenommen
als die klassischen Einwanderungsländer USA und Kanada zusammen. Trotzdem
waren wir nach offizieller Lesart der Politik - zumindest bis vor kurzem - kein
Einwanderungsland. Es war geradezu tabu, von „Einwanderung“ zu reden, obwohl
Artikel 73 des Grundgesetzes klar von „Einwanderung“ als Aufgabe des Bundes
spricht.
Deutschland sollte sich nun endlich von der Lebenslüge verabschieden, „kein
Einwanderungsland“ zu sein. Die Wirklichkeit hat diese Schutzbehauptung längst
überholt.
Dabei geht es den Befürwortern einer realistischen Politik keineswegs darum, Tür
und Tor für Einwanderer aus aller Herren Länder zu öffnen, wie oft unterstellt
wird. Es geht darum, die offizielle Sprachregelung endlich der Realität
anzupassen. Eine klare, berechenbare und zukunftsorientierte Ausländerpolitik
hätte eine nicht zu unterschätzende Signalwirkung:
Einerseits auf die betroffenen ausländischen Minderheiten, denen eindeutig
mitgeteilt würde, dass sie als Teil unseres Landes und als fester Bestandteil
unserer Gesellschaft auf Dauer willkommen sind.
Andererseits würde dadurch auch der deutschen Öffentlichkeit endlich „reiner
Wein“ eingeschenkt und ausländerfeindlichen Tendenzen eine klare Absage
erteilt. Viele der dann notwendig werdenden juristischen und politischen
Bestimmungen - unter anderem über das Ausländergesetz, das aber
reformbedürftig ist -, sind schon vorhanden.
Es geht eigentlich nur noch darum, diese Regeln und Regularien in ein klares
und überschaubares Gesamtkonzept zu fassen und der aktuellen Lage
anzupassen. Hoffentlich gelingt es den Einwanderungskommissionen der
Bundesregierung, bzw. der Opposition im nächsten Jahr ein konsensfähiges
Modell für eine solche zukunftsorientierte Einwanderungspolitik zu erarbeiten.
Meine Damen und Herren, es liegen auf jeden Fall gesicherte Erkenntnisse
darüber vor, dass langfristig die Zahl der Jugendlichen nicht ausreicht, um den
Bedarf an Facharbeitern zu decken oder die Renten zu sichern. Nach den
Prognosen der Vereinten Nationen werden zwischen 1995 und 2050 die
Bevölkerung Japans sowie nahezu aller Länder Europas schrumpfen, einige
Länder, darunter Italien, könnten zwischen einem Viertel und einem Drittel ihrer
Bevölkerung verlieren. Die Bevölkerung wird so stark altern, dass das
durchschnittliche Alter eine noch nie da gewesene Höhe erreicht. Die Zahl der
Personen im erwerbsfähigen Alter, die auf je eine Person im Rentenalter entfällt,
wird sich in vielen Fällen von etwa vier auf zwei halbieren. Das heißt, künftig
müssten nicht mehr vier, sondern zwei Beschäftige einen Rentner versorgen.
Trotz der gegenwärtig hohen Arbeitslosigkeit dürfen diese mittel- und
langfristigen Perspektiven und die damit verbundene Angebotsseite des
Arbeitsmarktes nicht aus den Augen verloren werden.
Wir sollten also eigentlich froh darüber sein, dass wir durch die vorhandene und
zu steuernde Einwanderung eine „Entwicklung zum Altersheim Deutschland“
zumindest abfedern können und sollten Zuwanderung auch als Bereicherung und
in diesem Sinne als Glücksfall begreifen. Nur durch eine solche Sichtweise und
politische Neuorientierung würde das Einwanderungsland
Deutschland endlich
einen positiven Schlussstrich unter seine 50jährige Geschichte der Anwerbung
ziehen und seiner Verpflichtung gerecht werden, die dadurch entstanden ist,
dass Millionen von ausländischen Arbeitskräften ins Land geholt wurden. Darüber
hinaus - lassen Sie mich das noch sagen - ist eine zukunftsorientierte
Einwanderungspolitik auch ein Prüfstein dafür, ob unser Staat reformfähig ist
oder nicht.
Festzuhalten bleibt leider, dass sich auch nach 40 Jahren Einheimische und
Einwanderer oftmals noch fremd geblieben sind, dass über das „Ausländerthema“
meist mit negativem Vorzeichen geschrieben und gesprochen wird und dass ein
kulturelles und menschliches Miteinander noch lange nicht erreicht ist.
Über Integration ist gerade in den letzten Jahren wieder viel gesprochen und
geschrieben worden, jedoch oft ohne den Begriff mit Inhalt zu füllen. Dabei
liegen seit langem wissenschaftliche Erkenntnisse zur Integration vor, die jedoch
kaum zur Kenntnis genommen werden. Was eigentlich ein integrierter Deutscher
ist, das hat im Übrigen auch noch niemand definieren können. Integration ist auf
jeden Fall ein Prozess, der über Generationen verläuft und in dem die
Unterschiede in den Lebensumständen von Einheimischen und Zuwanderern
abnehmen. Integration bedeutet Chancengleichheit zwischen Zugewanderten und
Einheimischen auf verschiedenen Ebenen. Erleichterte Einbürgerung ist ein
Instrument und nicht die Belohnung für Integration.
Überhaupt stellt die rechtliche Integration nur einen Teilaspekt dar. Mit der
Staatsbürgerschaft ist der Integrationsprozess noch lange nicht abgeschlossen,
wie wir bei den Russlanddeutschen sehen können. Trotz der deutschen
Staatsangehörigkeit sind sie keineswegs kulturell oder sozial integriert. Sie
werden von Öffentlichkeit und Medien als „Russen“ bezeichnet. Die Kriminalität
bei den Jugendlichen ist im Ansteigen.
Ein gravierender Mangel besteht auch darin, dass es in
und Öffentlichkeit kein einheitliches Verständnis davon
beinhaltet und ausmacht, wer integriert werden, bzw.
Integration ist in der Tat ein gesellschaftlicher Prozess,
der deutschen Politik
gibt, was Integration
sich integrieren soll.
der nicht irgendwann
abgeschlossen ist, sondern immer wieder neu gefördert werden muss.
Maßnahmen einer neuen Integrationspolitik zeichnen sich jetzt aber auf jeden
Fall ab. Dazu gehört die Staatsangehörigkeit, Sprachförderung, Zugang zum
Arbeitsmarkt oder auch eine staatliche Anti-Diskriminierungspolitik, wie es der
Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung vorsieht. Was den Zugang zum
Arbeitsmarkt angeht, so bestehen immer noch hohe integrationspolitische Hürden
für Zuwanderer.
An einem Integrationskonzept bzw. -begriff, arbeiten zurzeit auf jeden Fall in
Berlin Vertreter mehrerer Ministerien, wobei offensichtlich - so ein Schreiben aus
dem Bundeskanzleramt - der Bundesinnenminister der für die Integration
zuständige Minister sein soll.
Ein wichtiger Schritt zur Integration ist auf jeden Fall die politische Partizipation,
von der die Mehrzahl der Zuwanderer mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit
nach wie vor ausgeschlossen ist. Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist
sicher das neue
Kommunalwahlrecht, das EU-Bürgern die Möglichkeit der
Teilnahme an Wahlen schafft, auf der anderen Seite ein Zweiklassenwahlrecht
bei den Zuwanderern einführt. Die Kommunalwahlen in Baden-Württemberg am
24. Oktober 1999 machen die Bedeutung der neuen kommunalen
Wahlmöglichkeiten für Deutschland deutlich. In Spanien fanden ebenfalls
Kommunalwahlen statt. Dabei ging es im ganzen Land um 240.000 Stimmen. In
Deutschland in einem einzigen Bundesland wie Baden-Württemberg um 300.000
neue Wähler.
Dass die Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen in Baden-Württemberg relativ
gering war, verwundert nicht. Sie lag bei EU-Inländern bei rund 25 Prozent,
wobei die Wahlbeteiligung insgesamt auf eine Niedrigstrate von 53 Prozent
gesunken war. Aus einzelnen Kommunen in Baden-Württemberg wurde sogar eine
Wahlbeteiligung von 40 Prozent und mehr bei den EU-Ausländern gemeldet. Dass
so wenige Italiener oder Griechen in die Gemeinderäte gewählt wurden, lag
einfach auch daran, dass zu wenig Kandidaten auf aussichtsreichen Plätzen
aufgestellt wurden und bei den deutschen Wählern offensichtlich noch zu wenig
Bereitschaft da war, ausländische Kandidaten zu wählen.
Auch beim Stichwort „Partizipation für Einwanderer“ wird sich zeigen, ob eine
wirklich
neue
Integrationspolitik
zu
verzeichnen
ist.
Die
Pläne
der
Bundesregierung für die Einführung eines allgemeinen Kommunalwahlrechts für
länger hier lebende Ausländer wurden inzwischen auf Eis gelegt. Die
Bestimmungen aus dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht, die zum 1. Januar
2000 in Kraft getreten sind, bedeuten jedenfalls eine Wende in der
Ausländerpolitik. Die Ergänzung des traditionellen Abstammungsprinzips durch
den Erwerb der Staatsbürgerschaft durch Geburt hätte jedoch noch deutlicher
ausfallen können. Die politischen Maßnahmen der neuen Bundesregierung
signalisieren aber doch ein Anknüpfen an die Integrationspolitik, die fast genau
vor 20 Jahren mit dem Bericht des ersten Ausländerbeauftragten der
Bundesregierung, Heinz Kühn, formuliert wurde. In sofern ist die Perspektive für
das neue Jahrtausend eher optimistisch als pessimistisch.
Optimistisch stimmt mich auch die Tatsache, dass es viele Bürger und
Bürgerinnen gibt, die sich für ein besseres Zusammenleben zwischen
Einheimischen und Zugewanderten einsetzen. Allen voran möchte ich dabei die
Ausländerbeauftragten auf Bundes-, Landes- und kommunalen Ebene nennen,
ohne deren Integrationsarbeit vieles nicht erreicht worden wäre.
Damit komme ich zu der Rolle der Medien, über die noch ausführlicher zu
sprechen sein wird. In aller Kürze bleibt sicherlich schon jetzt festzuhalten, dass
- ähnlich wie in der Politik - nach wie vor „blinde Flecken“ existieren. Das Bild
der Ausländer wird - vor allem durch die Kriminalitätsberichterstattung - immer
noch deutlich negativ verzerrt. Darauf werden Prof. Ruhrmann und Bettina
Meißner noch ausführlicher eingehen. Ich kann aus meiner Sicht jetzt schon nach Lektüre ihrer Untersuchung - vieles von dem bestätigen, was sie
herausgefunden haben - aus meiner journalistischen und wissenschaftlichen
Arbeit der letzten 25 Jahre.
Auch die alltägliche Berichterstattung weist Mängel auf. Insgesamt zeichnen
Medien oft ein undifferenziertes Bild der Ausländer in Deutschland. Die
Weiterentwicklung, die in der zweiten und weiteren Generation stattgefunden hat,
wird nicht berücksichtigt. Die „Frau mit dem Kopftuch“ erscheint als Symbol für
die Mehrzahl der Ausländer, sprich Türken, hierzulande. Auch das verzerrt die
Wirklichkeit. Es fehlen positive oder auch „normale“ Bilder aus der
Alltagswirklichkeit im Zusammenleben zwischen Einheimischen, Zugewanderten
und Flüchtlingen.
Es mangelt offensichtlich immer noch an grundsätzlichen Informationen und
Hintergrundberichten. So wird bei Umfragen die Zahl der Ausländer in
Deutschland weit überschätzt, meist sogar eine doppelt so hohe Zahl angegeben
wie sie der Wirklichkeit entspricht und das selbst von Personen, die keine
Vorbehalte gegenüber Ausländern hegen. Gerade diese Überschätzung könnte
zumindest teilweise von der dramatisierten Darstellung des Ausländerthemas in
den Medien resultieren.
Wenn von weltweiter Migration und Flüchtlingsbewegungen in den Medien die
Rede ist, steht das „Bedrohliche“ im Vordergrund. „Ansturm auf die
Wohlstandsfeste“, „Ansturm der Armen“, „Sturm auf Europa“ - so lauteten
Schlagzeilen von „Stern“ und „Spiegel“. Bereits unmittelbar nach Öffnung des
eisernen Vorhangs warnten die Medien vor einer neuen Völkerwanderung aus
dem Osten. „Millionen auf gepackten Koffern“ oder „Osteuropa befürchtet eine
Invasion aus der Sowjetunion“ - schrieben die Zeitungen in ihren Schlagzeilen.
Unter der Überschrift „Krieg des dritten Jahrhunderts“ meinte „Der Spiegel“:
„Wenn die Sowjetunion zerbricht, müssen die Europäer mit Millionen zusätzlicher
Flüchtlinge rechnen.“ Die Sowjetunion ist bekanntlich zerbrochen. Der befürchtete
Massenansturm auf den Westen ist jedoch ausgeblieben. Eine Entwarnung wurde
jedoch in den Medien bislang nicht gegeben. „Keine Völkerwanderung“ ist eben
keine Schlagzeile.
Bei der Begriffswahl und Sprache in den Migrationsberichten haben sich
Ausdrücke aus der Welt des Militärischen oder gar des Verbrechens
eingeschlichen. So ist von einer „Asylantenflut“, „Lawine“ oder „Schwemme“ die
Rede. Der „Spiegel“ schreibt in einer Titelgeschichte: „Es werden Horden von
Elenden sein, die in Booten über das Mittelmeer kommen, über die Strasse von
Gibraltar oder am Bosporus immer weiter nach Norden drängen. Hass und Angst
lodern ihnen entgegen - von denen, die dort schon leben...“
Immer wieder taucht das „Bild vom überfüllten Boot“ auf. In den letzten Jahren
ist es in den Medien überhaupt zu einem Negativsymbol für Migration und
Flüchtlinge geworden.
Insgesamt besteht die Gefahr, dass die Medien im Westen das alte Feindbild
„Bedrohung durch den Kommunismus“ durch ein neues, nämlich „Bedrohung
durch die Neue Völkerwanderung / Flüchtlinge“, ersetzen. Vielleicht ist dies
bereits sogar schon geschehen. Viel wichtiger wäre es jedoch, wenn die Medien
über die Fluchtursachen aufklären und immer wieder deutlich machen würden,
dass sich das Weltflüchtlingsproblem auf der südlichen Halbkugel und nicht bei
uns abspielt. Bekanntlich erreicht nur ein Bruchteil der weltweiten Flüchtlinge
Europa. Dem entgegen entsteht in den Medien der Eindruck, als ob alle, die
„mühselig, beladen und verfolgt“ sind, nach Deutschland kommen würden.
Außerdem wird manchmal der Eindruck erweckt, Migranten und Flüchtlinge seien
das Problem und nicht Kriege, Konflikte oder z.B. der Nord-Süd-Gegensatz. Es
wäre fatal, wenn Migranten und Flüchtlinge auch in den Medien zu
Sündenböcken
für
weltweite
und
innerstaatliche
Probleme
wie
Massenarbeitslosigkeit gemacht würden.
Besonders problematisch erscheint die in den letzten Jahren verstärkt zu
beobachtende undifferenzierte Berichterstattung über den Islam. Man könnte
manchmal meinen, der Islam und die Muslime - also in erster Linie die Türken seien eine Bedrohung für die deutsche Kultur und Gesellschaft, sogar eine
Gefahr für das Christentum.
Aber auch das Medienangebot für Ausländer in Deutschland ist nicht
unproblematisch. Vor allem die türkische Presse in Deutschland muss sich mit
dem berechtigten Vorwurf auseinandersetzen, sie würde ein verzerrtes
Deutschlandbild vermitteln. Die deutschen Zeitungen und die öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanstalten müssen die ausländische Wohnbevölkerung stärker als
Zielgruppe in ihre Konzepte einbeziehen. Schon was ihren Auftrag angeht,
können es sich die öffentlich-rechtlichen Anstalten nicht leisten, dass sich
ausländische Minderheiten von ihrem Medienangebot abkoppeln. Für die
deutschen Regionalzeitungen liegt eine Leserschaft brach, die als Anzeigen- und
Abonnentenkundschaft in Zukunft eine immer größere Rolle spielen wird. Ein
regelmäßiger Informations- und Journalistenaustausch zwischen deutschen und
ausländischen Medienleuten sowie Seminare und Fortbildungsveranstaltungen
könnten die Berichterstattung auf beiden Seiten verbessern. Alles in allem haben
sich deutsche und muttersprachliche Redaktionen und Zeitungsverlage noch nicht
ausreichend darauf eingestellt, dass die meisten ausländischen Einwohner für
immer hier bleiben werden. Besonders die Integration der zweiten und dritten
Generation kann nur gelingen, wenn sie sich als Teil dieser Gesellschaft auch in
den Medien wieder findet.
Trotz
aller
Anstrengungen,
insbesondere
der
öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanstalten, finden sich fast 50 Jahre nach Ankunft der ersten
„Gastarbeiter“ kaum Journalistinnen und Journalisten aus Einwandererfamilien in
den deutschen Medien, vor allem nicht in den Printmedien. Dabei könnten sie
das
redaktionelle
Arbeiten
bereichern,
Sachverstand
einbringen,
die
Berichterstattung erleichtern und ein neues Publikum an die Medien binden.
Gerade hier müssen die öffentlich-rechtlichen Anstalten ihre Bemühungen
verstärken und insgesamt das Thema „Migration und Flucht“ in der Aus- und
Fortbildung verankern.
Solange
die
Bundesrepublik
sich
nicht
auf
die
Tatsachen
eines
Einwanderungslandes einstellt, wird das Thema aber auch nicht in den Medien
den entsprechenden Stellenwert erhalten. Die Medien sind mit Sicherheit
überfordert, wenn es darum geht, ein friedvolles, interkulturelles Zusammenleben
in der Zukunft zu gestalten. Sie können aber viel mehr als bisher tun, um zu
einem
konfliktfreien
Zusammenleben
beizutragen.
Eine
vernünftige
Einwanderungspolitik können sie aber auf keinen Fall ersetzen.
Es gibt sogar Stimmen, die kritisieren, dass die öffentlich-rechtlichen Anstalten
schon zuviel des Guten tun würden. So ist der Medienjournalist Volker Lilienthal
der Auffassung, das deutsche Fernsehprogramm sei eine permanente
Sympathiewerbung für fremde Kulturen und für die in Deutschland lebenden
Ausländer. Fast täglich würden Sendungen laufen, in denen der deutschen
Mehrheit der kritische Spiegel vorgehalten würde, wie wenig herzlich sie doch mit
den lieben ausländischen Mitbürgern umgehen würde. Kritisch wird weiter
angemerkt, dass sich die Macher in der Rolle des Gerechten und
Volkspädagogen eingerichtet hätten. Es würden Beiträge fehlen, die die
Widersprüche und Konflikte des interkulturellen Zusammenlebens aufzeigen und
thematisieren würden.
Gerade in Zeiten, in denen fremdenfeindliche Aktionen vermehrt stattfänden,
hätten die Medien durch ihre Berichterstattung sogar zu einer weiteren
Ausbreitung von fremdenfeindlichen Straftaten beigetragen. Das behaupten
jedenfalls Medienforscher wie Bernd Brosius und Frank Esser in ihrem
„Eskalationsmodell fremdenfeindlicher Gewalt“. Analysiert wurde der Zeitraum
zwischen August 1990 und Juli 1993. An diesen Ereignissen orientierte TVBerichterstattung wirke ansteckend, so die Medienforscher. Vor allem der
zunehmende
Konkurrenzdruck
habe
eine
eskalierende
Berichterstattung
begünstigt. Das Fernsehen habe zeitweilig unfreiwillig den organisierten und
nichtorganisierten Rechten ein Forum zur Selbstdarstellung geliefert.
Was
können
die
Medienmacher
tun,
gerade
angesichts
verstärkter
Ausländerfeindlichkeit und Gewalt gegenüber Flüchtlingen und anderen
Migranten? Der griechische Philosoph Epiktet, gestorben 130 n. Chr., sagte: „Was
die Menschen verwirrt, sind nicht die Tatsachen, sondern die Meinungen über
die Tatsachen.“ In diesem Sinne sollten die Medien weniger Meinungen, sondern
mehr Tatsachen über Migration und Fluchtursachen verbreiten und so zur
Entwirrung beitragen. Flüchtlinge und Migranten als ein Teil der viel diskutierten
Globalisierung zu sehen, davon liest und hört man nur wenig.
Nicht gelegentliche Kampagnen oder gar blinder Aktionismus helfen weiter,
sondern nur langfristige Konzepte und eine kontinuierliche Berichterstattung, die
zum Abbau von Vorurteilen beiträgt. Reaktionen auf Kampagnen gegen
Fremdenfeindlichkeit fallen sehr widersprüchlich aus. Nicht alles, was gut gemeint
ist, kommt auch beim Publikum so an. Im Gegenteil - so die Ergebnisse der
Medienforschung - TV-Spots gegen Fremdenfeindlichkeit werden oftmals
missverstanden und erreichen manchmal genau das Gegenteil, sprich: sie können
sogar Vorurteile verstärken.
Auf jeden Fall könnten die Medien stärker auch die positiven Seiten der
Einwanderung
betonen und auf gelungene Beispiele eines interkulturellen
Miteinanders hinweisen. Wie sehr wir beispielsweise auf Einwanderung angewiesen
sind, das zeigt die Diskussion um die Bevölkerungsentwicklung und die „GreenCard“ in Deutschland. Sie bietet die Chance, das Thema Migration insgesamt
positiver zu sehen und klarzumachen, dass Einwanderung im Interesse der
Industrieländer
liegt.
Ist
der
Mangel
an
Fachleuten
aus
der
Informationstechnologie-Branche (IT) nicht schon ein „Zeichen an der Wand“ für
den längst vorhandenen Arbeitskräftemangel und Rückgang der Bevölkerung? könnten die Medien fragen.
Einzelne Länder haben bereits Konsequenzen aus ihrer niedrigen Geburtenrate
gezogen.
Staatspräsident
Ciampi
sagte
beispielsweise,
Italien
brauche
Einwanderer, um die Bevölkerung zumindest auf einem stabilen Niveau zu halten.
Auch Japan plant aus demographischen Gründen, seine besonders restriktiven
Einwanderungsbestimmungen
zu
lockern.
Spanien
hat
bereits
ein
„Gastarbeiterabkommen“ mit Marokko abgeschlossen, weil Arbeitskräfte in der
Landwirtschaft oder auf dem Bausektor fehlen. Europa öffnet offensichtlich
bereits seine Pforten, um eine Entwicklung zum Altersheim abzufedern.
Angesichts solcher Entwicklungen ist eine intensivere und zugleich offene
Berichterstattung zum Themenfeld geradezu politisches Gebot.
Dies zumal Leser, Hörer und Zuschauer, die wenig Kontakt zu Ausländern
pflegen, auch die größte Ablehnung gegenüber dieser Personengruppe haben. Sie
sind
auf
die
Medien
angewiesen,
die
ihr
„Ausländerbild“
prägen.
Unglücklicherweise stoßen sie dabei - gerade im Lokalteil - auf ein Negativimage,
das ihre Einstellung noch weiter verschlechtert. Diesen Zusammenhang sollten
Journalisten vor Augen haben und in ihren Berichten - z. B. durch Portraits von
Ausländern in der Nachbarschaft - das Bild der „anonymen Masse“ beseitigen.
Und dies nicht nur einmal im Jahr am traditionellen Fest der ausländischen
Mitbürger.
Wie stehen nun alles in allem die Chancen, dass die Medien in Deutschland
ähnlich wie in den Vereinigten Staaten die Migranten stärker in ihre
redaktionellen Überlegungen einbinden und das Thema Migration somit einen
ganz anderen, positiven Stellenwert bekommt? Was die Kaufkraft angeht, so
handelt es sich in beiden Ländern um ähnliche Dimensionen. Ein Anzeichen
dafür, dass sich in dieser Sicht etwas bewegt, ist die Einrichtung eines ersten
türkischen Radios mit 24-Stunden-Programm in Berlin, hinter dem ein deutscher
Unternehmer steht. Erfahrungen aus den Niederlanden mit dem „Migranten TV
Amsterdam“ oder aus Großbritannien mit „Channel 4“ könnten insgesamt
hilfreich sein, wenn es um eine solche neue Sichtweise des Themas „Migranten
in den Medien“ geht.
Der Fernsehkulturkanal ARTE mit deutsch-französischem Schwerpunkt strahlt jetzt
schon Beiträge aus, in den neben den Sendesprachen Deutsch und Französisch
jährlich 200 Sprachen und Dialekte vorkommen. Deutschland ist bereits der
größte Kabel- und Satellitenmarkt Europas, was aber nicht dazu führen sollte,
dass sich Millionen von Migranten in einer zweiten Medienwelt vom Angebot der
Aufnahmeländer abkoppeln und sich in eigene zurückziehen. Vorerst bleiben
offensichtlich viele Chancen ungenutzt, über die Medien eine Brücke zwischen
den Ländern - beispielsweise zwischen Europa und der Türkei - zu bauen und
so den kulturellen Austausch zu intensivieren. Nach fast 50 Jahren „Migration in
Deutschland“ bleibt das Thema eine Herausforderung für die Medien und
JournalistInnen, die die „Ausländerberichterstattung“ öfters auch mit Humor und
Gelassenheit angehen sollten.
In diesem Sinne möchte ich auch die Ausländerbeauftragten ermutigen, mit Ihren
berechtigten Interessen auf die Medien zuzugehen und beispielsweise bei den
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vor Ort nachzufragen. Untersuchungen
darüber in die Wege zu leiten, wie hier die Sender mit dem Thema umgehen,
wären - um nur ein Beispiel zu nennen - ein konkreter Schritt in Richtung
„Integration und Medien“.
Herunterladen