Pressezentrum Dokument: Sperrfrist: Samstag, 16. Juni 2001; 15:00 Uhr Programmbereich: Themenbereich 2: In Würde leben Veranstaltung: Forum Gentechnik Referent/in: Dr. Hille Haker, Interfakultäres Zentrum für Ethik in den Wissenschaften, Tübingen Ort: Messe, Festhalle, Ludwig-Erhard-Anlage 1 (Innenstadt) 2/068 PF Verantwortungsvolle Elternschaft1 Aus ethischer Perspektive ist die Veränderung der Elternschaftskonzepte durch die moderne Fortpflanzungsmedizin eine Frage veränderter Verantwortung. Dabei ist die moderne Konzeption der aktiven Gestaltung individualisierter Lebensläufe zu berücksichtigen, zu der auch die Familienplanung gehört. Die Frage nach einer „guten“ oder „verantwortungsvollen“ Elternschaft ist dabei immer schon in die weitere (ethische) Frage nach dem guten Leben wie auch nach moralischen Rechten und Pflichten eingebunden. Zwei Bereiche sind im folgenden wichtig: die Unfruchtbarkeitsbehandlung sowie die Gendiagnostik. 1: Elternschaft und assistierte Fortpflanzung bei Unfruchtbarkeit THESE: Es gibt kein positives Recht auf ein eigenes Kind, auch wenn der Wunsch in der Praxis als Quasi-Recht behandelt wird. Für die Paare bedeutet dies unter Verantwortungsgesichtspunkten, daß sie den Kinderwunsch vor dem Hintergrund der bestehenden Risiken, vor allem für die Frau, und der Belastungen für das Beziehungsleben kritisch reflektieren müssen. Zweitens müssen die Paare bejahen können, daß die Infertilitätsbehandlung das Interesse des zukünftigen Kindes angemessen berücksichtigt. Die Verantwortung der Paare ist also gegenüber anderen Paaren gesteigert. Einige Fragen müssen die Paare ausschließlich selbst be- und verantworten, und zwar im Hinblick auf ihre gemeinsame Lebensgeschichte und -perspektive: Welchen besonderen Wert hat ein biologisch eigenes Kind gegenüber einem biologisch fremden Kind? Ist die medizinische Behandlung die einzige Lösung in der je individuellen Situation? Wie gehen sie mit der Medikalisierung der Fortpflanzung um, wie mit der Ver-Öffentlichung sexueller Intimität, mit der schlechten Erfolgsaussicht usw.2 Diese Fragen sind moralisch relevant, sie lassen sich aber nicht regulieren. Deshalb sollten sie Bestandteil der psychosozialen und ethischen Beratung sein. Andere Fragen gehören dagegen in den Bereich der Sollensethik: die Frau selbst muß ihrer moralischen Pflicht nachkommen, ihre Gesundheit angemessen zu bewahren; der Mann hat eine Fürsorgepflicht gegenüber seiner Frau bzw. Partnerin, wenn es um ihre gesundheitlichen Risiken geht, etwa bei der Hormonstimulierung zur Gewinnung von Eizellen oder im Hinblick auf eine mögliche Mehrlingsschwangerschaft. Diese Fürsorgepflicht Der Text basiert auf einer Veröffentlichung des Symposiums „Fortpflanzungsmedizin in Deutschland“ Mai 2000. 1 2 Vgl. z. B. Lauritzen (1992); Franklin (1996). Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 2 verschärft sich erst recht, wenn die männliche Unfruchtbarkeit die Ursache für die assistierte Fortpflanzung ist. Es geht aber auch um die Fürsorgepflicht gegenüber dem zukünftigen Kind, das zumindest nicht ausschließlich zum Zweck der Selbstverwirklichung des Paares gezeugt werden darf. Darüber hinaus gilt natürlich der Schutz des zukünftigen Kindes, wie in jeder anderen Schwangerschaft und Elternschaft auch. Fazit: Für Paare, die mit Hilfe Dritter ein Kind zeugen, ist eine größere Verantwortung zu konstatieren, die sich in erster Linie den Gesundheitsschutz der Frau betrifft, desweiteren aber auch die Gesundheit des bzw. der zukünftigen Kinder, v.a. im Hinblick auf die potentielle Mehrlingsschwangerschaft. 2. Eine verantwortungsvolle Elternschaft verbietet die Annahme eines Kindes sub conditione. Dies wird aber ein Effekt der Praxis der Pränataldiagnostik und wird im Konzept der Präimplantationsdiagnostik direkt intendiert. Die aktive Gestaltung der Familienplanung und Fortpflanzung hat die Entscheidung zum Gegenstand, ob ein Paar überhaupt Kinder haben möchte, und darüber hinaus die Bestimmung des Zeitpunkts der Familiengründung. Eine Entscheidungsfreiheit oder gar eine Wahlfreiheit in bezug auf die „Qualität“ des zukünftigen Kindes kann es dagegen nicht geben: Sie widerspricht der moralischen Autonomie, die die Selbstbestimmung an den Respekt vor dem anderen bindet, ja sie gerade im gegenseitigen Respekt begründet sieht. In relativer Unabhängigkeit von der Diskussion um den moralischen Status des Embryos zeigt das Konzept der verantwortungsvollen Elternschaft daher, daß die Annahme eines Kindes sub conditione, also mit Einschränkungen, moralisch nicht zu rechtfertigen ist.3 Der Kinderwunsch der Eltern, der kein positives Recht begründet (s.o.), wird begrenzt durch den allgemeinen Schutz des menschlichen Lebens. Eine „Schwangerschaft auf Probe“ ist mit diesem Konzept nicht zu vereinbaren, moralisch abzulehnen und gesellschaftlich zu ächten.4 Das bedeutet aber: Ausschließlich im Fall eines nicht absichtlich provozierten schweren Konflikts, der während der Schwangerschaft entsteht und der deshalb nicht unabhängig von dieser zu lösen ist, obliegt die Entscheidung über einen Abbruch der Schwangerschaft der Frau. Die Präimplantationsdiagnostik provoziert demgegenüber intentional den moralischen Konflikt der Selektion menschlichen Lebens.5 Wenn aber die „Schwangerschaft auf Probe“ moralisch unzulässig ist, dann ist ebenso – oder wegen der assistierten Fortpflanzung erst recht – die Gewinnung von Embryonen mit Selektionsabsicht – moralisch verwerflich. Der immer wieder heraufbeschworene Wertungswiderspruch zwischen moralischer Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs und einer Verwerfung der Embryonenselektion besteht deshalb nicht, weil der moralisch zu duldende Schwangerschaftsabbruch gerade auf der nichtprovozierten Konfliktlage beruht. Auch rechtlich ist der Unterschied deutlich markiert, wenn auf die Gesundheit der Frau abgehoben wird, sofern diese anders nicht wiederhergestellt werden kann. Das heißt: Die Praxis der pränatalen Diagnostik ist wesentlich restriktiver zu handhaben als bisher. Eine unabhängige ethische Beratung ist zumindest vor jeder invasiven Form der pränatalen Diagnostik zu etablieren. Die Präimplantationsdiagnostik ist abzulehnen, weil die mit ihr einhergehende Selektion von menschlichem Leben Entscheidungen notwendig macht, die gegen das Prinzip der Menschenwürde verstoßen. Da die Präimplantationsdiagnostik nur im Kontext der assistierten Fortpflanzung durchführbar ist, ist die moralisch gebotene Handlungsalternative der Verzicht auf das biologisch eigene Kind (nicht aber der Verzicht auf Kinder überhaupt!). 3 Vgl. O’Neill (2000). Der Begriff der „tentative pregnancy“ stammt von Katz-Rothmann (1986) und wurde zuerst von Schindele (1990) aufgegriffen. 4 5 Vgl. Haker (1999); Kollek (2000), Düwell (1999). Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 3 Aus dem individualethischen Gebot der uneingeschränkten Annahme eines Kindes als Implikation der verantwortungsvollen Elternschaft ergibt sich eine fatale Diskrepanz zur sozialen, medizinisch vermittelten Praxis der pränatalen Diagnostik. Durch eine ethisch unzulässige Verengung des Autonomiekonzepts ist eine Situation entstanden, die vor allem die Frauen vor die Verantwortung stellt, über die gesundheitliche Konstitution ihres Kindes zu richten: Die derzeitige Praxis der pränatalen Diagnostik suggeriert, daß Eltern bei einer diagnostizierten genetischen Abweichung im Interesse des zukünftigen Kindes entscheiden, wenn sie den pränatalen Tod einem postnatalen Leben mit einer Behinderung – manchmal auch nur mit einer Krankheitsdisposition – vorziehen.6 Dies Argument des Mitleids mit dem Kind widerspricht nicht nur eindeutig der medizinischen Indikation des § 218, sondern auch dem moralischen Respekt vor der menschlichen Person, der unabhängig von ihrer gesundheitlichen Konstitution gilt. Hinzu kommt, daß man mit dieser Praxis der „Eugenikfalle“ kaum entgehen kann. Auch hier ist die Beratung auf die psychosoziale und ethische Dimension auszudehnen und von der Institution der Humangenetik bzw. Gynäkologie zu trennen. Bei der Präimplantationsdiagnostik sind zwei Fälle zu unterscheiden: die Infertilitätspatienten und die Paare ohne Fertilitätsproblematik. Da auch hier noch eine eigene Diskussion geführt wird, will ich mich auf die These beschränken, daß in beiden Fällen die Selektion moralisch nicht zu rechtfertigen ist, und daß entsprechend das Verbot aufrechterhalten werden sollte. SCHLUSS: Die assistierte Fortpflanzung verändert grundlegend unser Verständnis von Fortpflanzung als einem Bestandteil einer Liebesbeziehung. Im Kontext der Reproduktionstechnologie ist die Spende von Keimzellen und die „Herstellung“ von Embryonen zu einem kommerziellen Geschäft geworden, das dem traditionellen Elternschaftskonzept – aber auch dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie – Hohn spricht. Diese technisch-soziale Bewegung könnte einen Erdrutsch verursachen, der die Grundpfeiler des menschlichen Respekts gefährdet. Der Umgang mit Kindern spiegelt präzise die Vorstellungen wider, die eine Gesellschaft im Umgang mit ihren schwachen Mitgliedern hat. Auch die assistierte Fortpflanzung gehört in diesen Kontext, denn wo die eingeschränkte Annahme schon bei der Zeugung oder Schwangerschaft etabliert wird, wird nicht nur der soziale Schutzstatus der Kinder geschwächt, sondern ebenso die Akzeptanz einer jeden Abweichung von der sogenannten „Normalität“. Daß Normalität jedoch durchaus plural ist und Differenz und Andersheit zuläßt – dies ist eine Erkenntnis, die sich offensichtlich nur schwer durchsetzen kann. In ethischer Perspektive zeigt es die extreme Fragilität des Anerkennungskonzepts in unserer Gesellschaft – ist doch die Anerkennung der individuellen Besonderheit eines jeden Menschen konstitutiver Bestandteil des Menschenwürdekonzepts und darin die andere Seite der Anerkennung der normativen Gleichheit einer jeden Person. Literatur: Beck-Gernsheim, Elisabeth: Welche Gesundheit wollen wir? Dilemmata des medizintechnischen Fortschritts, (suhrkamp), Frankfurt a.M. 1995. Düwell, Marcus, Mieth, Dietmar: Von der präventiven zur prädiktiven Medizin? Suppl. zur Zeitschrift für Ethik in den Medizin, 1999. Franklin, Sarah: Embodied Progress. A cultural account of assisted conception, (Routledge) New York 1997 Fränznick, Monika, Wieners, Karin: Ungewollte Kinderlosigkeit. Psychosoziale Folgen, Bewältigungsversuche und die Dominanz der Medizin, (Juventa) Weinheim/München 1996. Haker, Hille, Beyleveld, Deryck (eds.): The Ethics of Genetics in Human Procreation, (Ashgate) Aldershot, 2000. 6 Vgl. Schöne-Seifert/Krüger (1993); Zimmerli (1993). Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 4 Haker, Hille: Genetische Beratung und moralische Entscheidungsfindung. In: M. Düwell/ D. Mieth: Ethische Aspekte der genetischen Diagnostik im Zusammenhang mit der menschlichen Fortpflanzung, (francke) Tübingen 1998, 238-268. Haker, Hille: Selection through Prenatal Diagnosis and Preimplantation Diagnosis. In: E. Hildt/S. Graumann: Reproduction and Genetics, (Ashgate) Aldershot 1999, 157-165. Hildt, Elisabeth, Mieth, Dietmar (Hgg.): In Vitro Fertilisation in the 1990s – Towards a medical, social and ethical evaluation of IVF, (Ashgate) Aldershot 1998. Katz-Rothmann, Barbara: The Tentative Pregnancy, Prenatal Dioagnosis and the Future of Motherhood, (Penguin) New York 1986 (dt.: Schwangerschaft auf Abruf, Voprgeburtliche Diagnose und die Zukunft der Mutterschaft, Marburg 1989). Kollek, Regine: Präimplantationsdiagnostik. Embryonenselektion, weibliche Autonomie und Recht, Ethik in den Wissenschaften Bd. 11, (francke) Tübingen 2000. Kowalcek, I: Thematische Schwerpunkte einer Gesprächsgruppe ungwollt kinderloser Frauen. In: Reproduktionsmedizin 15 (1999): 419-423. Lauritzen, Paul: What Price Parenthood? In: Campbell, Courtney S. (ed): What Price Parenthood? Ethics and Assisted Reproduction, (Dartmouth) Aldershot 1992, 75-83. Maier, Barbara: The effects of IVF on the women involved. In: Hildt, Elisabeth, Mieth, Dietmar (Hgg.): In Vitro Fertilisation in the 1990s – Towards a medical, social and ethical evaluation of IVF, (Ashgate) Aldershot 1998. O’Neill, Onora: The ‘Good Enough Parent’ in the Age of the new Reproductive Technologies. In: Haker, Hille, Beyleveld, Deryck (eds.): The Ethics of Genetics in Human Procreation, (Ashgate) Aldershot, 2000, 33-48. Overall, Christine: Human Reproduction: Principles, Practices, Policies, (Oxford University Press) Toronto 1993. Schindele, Eva: Gläserne Gebär-Mütter. Vorgeburtliche Diagnostik- Fluch oder Segen, (fischer) Frankfurt a.M. 1990. Schöne-Seifert, Bettina/Krüger, Lorenz: Humangenetik heute: umstrittene ethische Grundfragen, in: Schöne-Seifert, Bettina/Krüger, Lorenz (Hrsg.): Humangenetik – Ethische Probleme der Beratung, Diagnostik und Forschung, (enke) Stuttgart etc. 1993, 253-289. Seibel, Machelle M., Crockin, Susan L.: Family Building through Egg and Sperm Donation. Medical, Legal and Ethical Issues, (Jones and Bartlett) Sudbury 1996. Ulanowsky, Carole (ed): The Familiy in the Age of Biotechnology, (Avebury) Aldershot 1995. Zimmerli, Walter Chr.: Von den Pflichten möglicher Eltern und den Rechten möglicher Kinder, in: Schöne-Seifert, Bettina/Krüger, Lorenz (Hrsg.): Humangenetik – Ethische Probleme der Beratung, Diagnostik und Forschung, (enke) Stuttgart etc. 1993, 83-100. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.