Redemanuskript von Domenico Losurdo

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Domenico Losurdo
Imperialismus der Menschenrechte
Wie gestaltet sich heute der Internationalismus? Die Lage hat sich im Vergleich zur
Vergangenheit radikal geändert. Im Gefolge des Scheiterns von Hitlers Plan, die koloniale
Tradition wieder aufzunehmen und zu radikalisieren, wobei er in Osteuropa den Far West
ausmachte, den es zu kolonisieren und zu germanisieren galt, nach Stalingrad und der
totalen Niederlage des Nazifaschismus, entwickelte sich gleich nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs eine weltweite antikolonialistische Revolution. Nicht nur die Kolonien
im eigentlichen Sinn wurden erschüttert. In Ländern wie den Vereinigten Staaten und
Südafrika rebellierten die Völker kolonialen Ursprungs gegen den Rassenstaat und gegen
das Regime der white supremacy. Noch bevor der Internationalismus seinen bewussten
Ausdruck in den linken Kräften und Parteien fand, war er schon eine Tatsache: er
umfasste die Kolonialvölker und die Völker kolonialen Ursprungs, die sozialistischen
Länder, die die antikolonialistische und antirassistische Revolution unterstützten, die
Volksmassen im Westen, die das Joch des Faschismus abgeschüttelt hatten und denen es
manchmal, zum Beispiel in Italien, gelungen war, die Ablehnung des Krieges und der
Kriegs- und Hegemoniepolitik in der Verfassung zu verankern.
1. Die antikoloniale Revolution gestern und heute
Um auf die Anfangsfrage zu antworten (wie gestatet sich heute der Internationalismus)
müssen wir uns eine Vorfrage stellen: was ist heute aus der gigantischen antikolonialen
Revolution geworden, die von der Oktoberrevolution gefördert und von Stalingrad
beschleunigt wurde? Sie ist nicht abhanden gekommen, nein. In der palestinensischen
Realität etwa besteht der Kolonialismus in seiner klassischen Form weiter: das beweisen
die ununterbrochene Ausdehnung der israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten,
die damit verbundene Enteignung, Deportation und Ausstoßung des palestinensichen
Volkes und die Verbreitung eines Regimes der Apartheid, wenn wir die Definition
übernehmen, die sogar der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten, Jimmy Carter
benutzt hat. Aber trotz der Übermacht und des barbarischen Einsatzes der israelischen
Kriegsmaschine, die im Übrigen von den Vereinigten Staaten und sogar von der
Europäischen Union unterstützt wird, trotz alledem widersteht das palestinensische Volk
heldenhaft. Die Solidarität mit dem Märtyrer-Volk unserer Tage schlechthin ist ein
wesentliches Element des Internationalismus.
In anderen Teilen der Welt tritt der Kampf zwischen Kolonialismus ud
Antikolonialismus in anderen Formen auf. Auf dem amerikanischen Kontinent begann
das 20. Jahrhundert mit einer bedeutsamen Erklärung Theodore Roosevelts: der
“zivilisierten Welt” insgesamt – behauptete er- falle die “Macht einer internationalen
Polizei” zu und diese Macht würden in Lateinamerika die Vereinigten Staaten ausüben.
Von dieser Wiederaufnahme und Radikalisierung der Monroe-Doktrin ausgehend kommt
es zu den unzähligen militärischen Interventionen, die die nordamerikanische Republik
gegen ihre Nachbarn unternommen hat, die als der zivilisierten Welt fernstehend
betrachtet und mit Barbaren gleichgestellt wurden, die den imperialen Schutz nötig
hatten. Doch ist die Monroe-Doktrin infolge einer Revolution, deren fünfzigsten Jahrestag
man jetzt gerade gefeiert hat, in eine tiefe Krise geraten. Im Verlauf des letzten halben
Jahrhunderts ist jedes Mittel eingesetzt worden, um die kubanische Revolution zu
isolieren, zu diffamieren, abzuwürgen, zu liquidieren, aber heute werden ihre Kraft und
ihre internationale Bedeutung von den Veränderungen bestätigt, die Länder wie
Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien, Nikaragua und Paraguay durchmachen. Auf
jeweils ziemlich unterschiedliche Art ist die antikolonialistische und antikapitalistische
Revolution in Lateinamerika im Vormarsch und auch ihr gilt unserer internationalistische
Solidarität.
Im zwanzigsten Jahrhundert ist die antikolonialistische Revolution auch in Asien und
in Afrika entflammt. Und heute? Um zu verstehen, worum es jetzt geht, kann man von
einer Betrachtung ausgehen, die Frantz Fanon, der große Theoretiker der algerischen
Revolution anstellt. Als die Kolonialmacht sich gezwungen sah, zu kapitulieren – schreibt
Fanon 1961 – schien sie den Revolutionären zu sagen: “Da ihr die Unabhängigkeit wollt,
nehmt sie euch und krepiert”; auf diese Weise “verwandelt sich die Apotheose der
Unabhängigkeit in den Fluch der Unabhängigkeit”. Man muss in der Lage sein, auf diese
neue Herausforderung nicht mehr militärischen Charakters eine Antwort zu geben: “man
braucht Kapital, Techniker, Ingenieure Mechaniker usw.”. Im Übrigen hatte Mao schon
1949, noch vor der Machteroberung, auf der Bedeutung des ökonomischen Aufbaus
bestanden: Washington hätte China gerne “vom amerikanischen Mehl abhängig
gemacht”, damit es schließlich “in eine amerikanische Kolonie verwandelt” würde. Ohne
den Sieg im Kampf für die landwirtschaftliche und industrielle Produktion war der
militärische Sieg dazu bestimmt, hinfällig und vergeblich zu sein. Mao und Fanon haben
das gewissermaßen vorausgesehen: auf der einen Seite, der tote Punkt, an dem viele
afrikanische Länder angelangt sind, denen es nicht gelungen ist, von der miltärischen
Phase zur ökonomischen Phase der Revolution überzugehen, auf der anderen Seite die
Wende, die sich in antikolonialen Revolutionen wie der chinesischen und vietnamitischen
oder in der indischen Revolution ereignet hat.
2. Die Entstehung der Dritten Welt
Dies ist ein ausschlaggebender Punkt, mit dem man sich noch weiter beschäftigen
sollte. Fragen wir uns, wie sich die Dritte Welt herausgebildet hat, der vom
kolonialistischen und imperialistischen Westen traditionell unterdrückte und
ausgeplünderte Raum. Mit einer langen Geschichte im Hintergrund wies China, das
jahrhunderte- oder jahrtausendelang eine hervorragende Stellung in der Entwicklung der
menschlichen Kultur eingenommen hatte, noch im Jahre 1820 ein BIP
(Bruttoinlandsprodukt) auf, das sich auf 32,4% des Welt-Bruttoinlandsprodukts belief; im
Jahre 1949 war die Volksrepublik China bei ihrer Gründung das ärmste oder eines der
ärmsten Länder der Welt geworden. Nicht viel anders verläuft die Geschichte Indiens, das
immer im Jahre 1820 mit 15,7% zum Welt-BIP beitrug, bevor es ebenfalls in eine
schreckliche Armut verfiel. Das bedeutet, dass wir den Formierungsprozess der Dritten
Welt nicht verstehen können, wenn wir von der Politik der Ausplünderung und des
Industrieabbaus durch die kolonialistischen und imperialistischen Mächte abstrahieren.
Aber zum Prozess der Herausbildung der Dritten Welt trägt noch ein anderer Umstand
bei. Um diesen zu verstehen, müssen wir auf eine Revolution Bezug nehmen , die sich am
Ende des 18. Jahrhunderts in einem Land abspielte, das heute Haiti heißt, aber damals den
Namen Santo Domingo trug. Es ist eine Revolution der schwarzen Sklaven, die
gleichzeitig die Ketten der Kolonialherrschaft und die der Sklaverei sprengte: so entstand
auf dem amerikanischen Kontinent das erste von der Geißel der Sklaverei befreite Land.
Dieser Emanzipatonsprozess wurde von einem schwarzen Jakobiner, Toussaint
Louverture angeführt, einer großen historischen Persönlichkeit, der von unseren
Geschichtsbüchern meist ignoriert wird, der aber in einer demokratischen Gesellschaft
obligatorisch auch in den Büchern der Bürgerkunde vorkommen sollte. Nun gut, nach
dem militärischen Sieg stellte sich Toussaint Louverture das Problem des ökonomischen
Aufbaus: zu diesem Zwecke hätte er auch die weißen, aus den Reihen des besiegten
Feindes stammenden Techniker und Experten einsetzen wollen; aus diesem Grund wurde
er beschuldigt oder zumindest verdächtigt, die weiße Herrschaft wieder herstellen zu
wollen und damit die Revolution zu verraten. Es kam zu einer Tragödie, über die wir
noch heute nachdenken sollten. Santo Domingo war eine recht reiche Insel, dank der
hauptsächlich für den Export bestimmten Zuckerproduktion auf ausgedehnten und
effizient organisierten Plantagen. Der von den Sklaven produzierte Reichtum wurde
natürlich von ihren Herren einkassiert. Waren die ehemaligen Sklaven in der Lage, die
entwickelte Ökonomie, die sie mit der Revolution geerbt hatten, nutzbringend
funktionieren zu lassen? Auf die Niederlage der Linie Toussaint Louvertures folgte in
Haiti/Santo Domingo leider eine rückständige Versorgungs-Landwirtschaft. Die Insel
verfiel auf diese Weise in allgemeines Elend und ist immer noch eines der ärmsten Länder
der Welt. Zum Schluss: die Dritte Welt wird auch aus Ländern gebildet, denen es nicht
gelingt, von der militärischen Phase zur ökonomischen Phase der Revolution
überzugehen, von Ländern, in denen aus dem einen oder anderen Grund die antikoloniale
Revolution eine Niederlage erfährt oder scheitert.
3. Der Imperialismus und die Verurteilung der aufständischen Völker zum Hungertod
Nichts könnte man vom Kampf zwischen Kolonialismus und Antikolonialismus,
zwischen Imperialismus und Antiimperialismus verstehen, wenn man sich nicht
vergegenwärtigte, dass er auch auf ökonomischem Gebiet geführt wird. Gleich nach der
von Toussaint Louverture geleiteten Revolution erklärte die Washingtoner Führung, das
Land, das es so unverschämt gewagt hatte, die Sklaverei abzuschaffen, zum Hungertod
(starvation) verdammen zu wollen. Das Gleiche hat sich im 20. Jahrhundert wieder
ergeben. Sofort nach dem Oktober 1917 bedrohte Herbert Hoover, damals ein hoher
Exponent der Wilson-Administration und späterer Präsident der Vereinigten Staaten,
nicht nur Sowjetrussland, sondern alle Völker, die die Tendenz zeigten, sich von der
bolschewistischen Revolution anstecken zu lassen, ausdrücklich mit “absolutem Hunger”
und mit “Hungertod”. Eine Politik, die heute noch weiter geht: alle wissen, dass der
Imperialismus versucht, Kuba wirtschaftlich abzuschnüren und es möglichst auf eine Art
Gaza zu reduzieren, wo die Unterdrücker ihre Macht über Leben und Tod nicht nur mit
den terroristischen Bombardierungen, sondern schon vorher mit der Kontrolle der
lebenswichtigen Güter ausüben können. Was die Volksrepublik China anbetrifft, so
rühmte sich anfangs der sechziger Jahre ein Mitarbeiter der Kennedy-Administration, und
zwar Walt. W. Rostow, dass es den Vereinigten Staaten gelungen sei, die ökonomische
Entwicklung des großen asiatischen Landes “jahrzehntelang” zu verlangsamen! Heute
noch betreibt Washington gegen China eine Politik des technologischen Embargos, jene
Politik, die es bis zuletzt gegen die Sowjetunion geführt hatte.
Die internationalistische Solidarität muss sich also auch jenen Ländern zuwenden,
denen es gelungen ist, von der militärischen Phase zur eigentlich ökonomischen Phase der
antikolonialistischen und antiimperialistischen Phase überzugehen. Der Bedeutung dieses
Übergangs sind sich die lateinamerikanischen Führer sehr wohl bewusst. Um nur ein
Beispiel zu nennen: der Vizepräsident Boliviens hat vor einiger Zeit eine sehr wichtige
Parole ausgegeben: “Industrialisierung oder Tod!”. Für Alvaro Garcia Linera geht es
darum, “den progressiven Abbau der kolonialen ökonomischen Abhängigkeit zu
realisieren”. In dieser Perspektive wird der wachsende technologische und
Handelsaustausch mit einem Land wie China wichtig; die Drohung der ökonomischen
Abschnürung durch den Imperialismus wird auf diese Weise weniger offenkundig, der
Kampf gegen die Monroe-Doktrin auch auf ökonomischer Ebene erleichtert.
Schon zeichnet sich also eine grundlegende Konvergenz zwischen den Ländern und
den Völkern ab, die Vorkämpfer der antikolonialistischen und antiimperialistischen
Revolution sind. Diese internationalistische Front dehnt sich tendenziell aus. Nach ihrem
Sieg im Kalten Krieg haben die Vereinigten Staaten, auch unter Ausnutzung des
Einverständnisses der Europäischen Union, Länder wie Albanien und das Gebiet Kosovo
in Halbkolonien verwandelt. Dies bestätigt meine These: die Dritte Welt und der koloniale
oder halkoloniale Raum, den der Kapitalismus braucht, entsteht einerseits infolge der
direkten Initiative des Imperialismus andererseits durch die Niederlage bzw. das
Scheitern bestimmter Revolutionen, sei es aus inneren Gründen, sei es wiederum wegen
des Eingreifens des Imperialismus. Man darf nicht vergessen, dass sogar Russland Gefahr
lief eine Halbkolonie zu werden. Auch dieses Land leistet also dem wahnwitzigen Plan
Washingtons, seine Herrschaft auf Weltebene aufzuzwingen, Widerstand.
Leider fehlt dieser antikolonialistischen und antiimperialistischen Front, die ins Leben
gerufen werden könnte, noch eine wesentliche Komponente: sie hat noch nicht die volle
Solidarität der Oppositionsbewegungen, die
doch in den vorgeschrittenen
kapitalistischen Ländern existieren. Wie lässt sich das erklären? Es ist kein neues Problem.
In der Zweiten Internationale fehlte es in Europa gewiss nicht an Stimmen, die den
kolonialen Expansionismus im Namen des Exports der Zivilisation rechtfertigten. Es
waren die Stimmen, gegen die, unter anderen, Rosa Luxemburg energisch angekämpft
hatte. Heute zieht es die herrschende Ideologie vor, von Menschenrechten und vom
Kampf gegen den Autoritarismus, den Totalitarismus, den Fundamentalismus zu reden,
aber der kolonialistische bzw. neokolonialistische Kern dieser Haltung ändert sich nicht.
4. Der Imperialismus als Hauptfeind der Menschenrechte
Um das zu verstehen, braucht man nicht auf Marx oder Lenin zu verweisen. Ich möchte
hier von der Rede ausgehen, die Franklin Delano Roosevelt am 6. Januar 1941 gehalten
hat. Der amerikanische Präsident ruft dazu auf, neben den traditionellen Freiheiten der
liberalen Tradition (Rede- und Religionsfreiheit) niemals den “Vorrang der
Menschenrechte” aus den Augen zu verlieren und fordert gleichzeitig die “Freiheit von
Not” (freedom from want) und die “Freiheit von Angst” (freedom from fear). Konzentrieren
wir uns zunächst auf die letzten beiden Forderungen. Nun gut: ein erheblicher Teil der
Bevölkerung der Vereinigten Staaten hat noch nicht einmal eine Krankenversicherung;
aber nicht genug damit, haben die in den letzten Zeiten in Washington aufeinander
folgenden Administrationen einen weltweiten Kreuzzug ausgerufen, um den Sozialstaat
auch in den Ländern abzuschaffen, in denen er noch mehr oder weniger vorhanden ist.
Wenn F. D. Roosevelt dagegen die “Freiheit von Angst” fordert, denkt er an NaziDeutschland, das damit drohte, seine Nachbarländer zu überfallen. Heute sind es vor
allem die Vereinigten Staaten, die an allen Ecken der Welt Angst und Schrecken vor
Bombardierungen, vor Zerstörungen in großem Umfang und sogar vor atomarer
Vernichtung verbreiten. Um damit zu beginnen, die “Freiheit von Angst” zu realisieren,
rief F. D. Roosevelt, in indirekter Polemik gegen das Dritte Reich, nach Abrüstung. Heute
geben die Vereinigten Staaten für die Rüstung allein so viel aus, wie der Rest der Welt
zusammengenommen. Das heißt, zumindest was diese grundlegenden “Menschenrechte”
wie “Freiheit von Not” und “Freiheit von Angst” angeht, ist der Hauptfeind gerade das
Land, das sich als unanfechtbarer Richter in Sachen Menschenrechte aufspielt.
Auch wenn wir uns auf die klassischen Rechte der liberalen Tradition konzentrieren,
liegen die Dinge nicht viel anders. Wer hat im Frühjahr 1999 mit Bombenangriffen die
jugoslawischen Fernsehjournalisten ermordet, deren Schuld es war, die Meinung der
Führungsspitze und der Ideologen der NATO nicht zu teilen und hartnäckig die von
ihrem Land erlittene Aggression zu verurteilen? Und wie viele Journalisten sind “zufällig”
vom Feuer der Besatzungstruppen im Irak oder in Palestina getötet worden? Erfreuen sich
der “allgemeinen Rede- und Vereinigungsfreiheit” die Einwohner Gazas, die Hamas in
freien Wahlen gewählt haben, aber danach zunächst zur ökonomischen Abchnürung und
zur Blockade und daraufhin zu grausamen Bombardierungen und zur Invasion verurteilt
worden sind? Und erfreuten und erfreuen sich dieser Rechte die Häftlinge von Abu
Ghraib und Guantamano? Zum Schluss: die Araber und die Muslime, die es in den USA
wagen, sich an einer Spendenaktion zugunsten der Bevölkerung von Gaza und Hamas zu
beteiligen, riskieren, als “Terroristen” verfolgt und verurteilt zu werden. Um es mit Marx
zu sagen, “die tiefe Heuchelei der bürgerlichen Zivilisation und die von ihr nicht zu
trennende Barbarei liegen unverschleiert vor unseren Augen, sobald wir den Blick von
ihrer Heimat, in der sie unter respektablen Formen auftreten, nach den Kolonien wenden”
oder nach den Völkern kolonialen Ursprungs, die in der Metropole leben. In diesem Fall
zeigen sich die “Heuchelei” und die “Barbarei” in ihrer “ganzen Nacktheit”. Was das
Schicksal bestätigt, dem heutzutage Gaza ausgeliefert ist.
Das heißt aber nicht, dass man leugnen soll, dass sich Probleme der Beachtung der
Menschenrechte auch in Ländern und bei Völkern stellen, die in der antikolonialistischen
und antiimperialistischen Revolution engagiert sind und sogar in den Ländern, die sich
auf den Sozialismus berufen. Es genügt, Autoren wie Madison oder Hamilton zu lesen,
um zu verstehen, das die Herrschaft der Gesetze, die rule of law dort nicht wirksam sein
kann, wo es eine Bedrohung der nationalen Sicherheit gibt. Sich über das Fehlen an
Demokratie in Ländern zu entrüsten, die auf diplomatischer, ökonomischer und
militärischer Ebene einer mehr oder weniger drückenden Belagerung ausgesetzt sind, ist
Ausdruck von Wahnwitz oder realpolitischem Zynismus. Anders gesagt, gibt es keine
wirkliche Demokratie ohne Demokratie in den internationalen Beziehungen und der
Hauptfeind der Demokratie in den internationalen Beziehungen ist ein Land, das nach
Clinton wie nach Bush jr. und nach so vielen anderen Präsidenten, den Anspruch erhebt,
die von Gott auserwählte Nation mit der Aufgabe zu sein, die Welt in alle Ewigkeit zu
führen und zu beherrschen.
Auch der heutige “Imperialismus der Menschenrechte”, wie er mit Recht genannt
worden ist, ist nichts vollkommen Neues. Als Kuba am Anfang des 20. Jahrhunderts nach
einer heroischen Revolution die Unabhängigkeit von Spanien eroberte, zwang
Washington das formell unabhängige Land, in seine Verfassung die sogenannte PlattKlausel einzuführen, mit der den Vereinigten Staaten das Recht zuerkannt wurde,
militärisch auf der Insel zu intervenieren, immer wenn sie glaubten, dass der sorglose
Genuss des Eigentums und der Freiheit bedroht sei. So, als ob heute die angehenden
Herren der Welt den Anspruch erhöben, die Platt-Klausel auf weltweiter Ebene geltende
zu machen!
Der “Imperialismus der Menschenrechte” ist es, der die Linke in den kapitalistischen
Ländern schwächt.
5. Ein neuer historischer Block auf internationaler Ebene
Es wirken auch andere Faktoren mit. In Europa und in den Vereinigten Staaten leben
bedeutende Gruppen von Immigranten aus dem Nahen Osten und aus der arabischen und
islamischen Welt. Sie, die oft ihre Familie zurückgelassen haben, leiden besonders intensiv
an der Tragödie, die mehr denn je auf dem palestinensischen Volk lastet. Sie stehen in
vorderster Reihe, um gegen den Kolonialismus und den Imperialismus, gegen Israel und
die Vereinigten Staaten zu demonstrieren und aus diesem Grund werden diese
Immigranten, abgesehen von der inneren Logik des Kapitalismus, besonders ausgebeutet,
ausgegrenzt und oft willkürlich verhaftet, um in den geheimen Gefängnissen der CIA
gefoltert zu werden. Bemüht sich die westliche Linke genügend darum, eine enge und
permanente Verbindung zu diesen Gemeinschaften herzustellen? Diese vernachlässigen
zu wollen, wäre so, als ob in den Vereinigten Staaten der white supremacy die
amerikanische kommunistische Partei bei ihrer Agitation die Schwarzen nicht
berücksichtigt hätte. Das ist dagegen nicht der Fall. Auch wenn die amerikanischen
Kommunisten zunächst durch den Terror des McCartyismus und später durch die Krise
des sozialistischen Lagers stark geschwächt worden sind, haben sie über lange Zeit
hinweg, die Freiheit riskierend und auch unter Einsatz ihres Lebens, gegen die
Diskriminierungen, die Demütigungen, die Unterdrückung, die vom white supremacyRegime entfesselte Lynchjustiz gekämpft.
Die niggers, von denen die US-amerikanischen Rassisten mit Verachtung sprachen,
werden heute im Westen von den arabischen und islamischen Immigranten repräsentiert;
sie beschränken sich nicht darauf, die “Freiheit von Not” zu fordern, sie wollen nicht als
Arme an ein paternalistisches Mitleid appellieren. In erster Linie fordern sie –um eine
philosophische Sprache zu benutzen – die Anerkennung; sie erheben den Anspruch, in
ihrer menschlichen Würde, in ihrer Kultur, in ihren nationalen Forderungen anerkannt zu
werden und zwar ausgehend von der nationalen Forderung des palestinensischen Volkes,
des heutigen Märtyrervolkes schlechthin!
Nur wenn der Einfluss des “Imperialismus der Menschenrechte” und die
Islamfeindlichkeit (die heute den Platz der traditionellen rassistischen Geißel
eingenommen hat) völlig ausgeschaltet werden, nur wenn so vorgegangen wird, kann die
in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern präsente Oppositionsbewegung einen
wirklichen Beitrag zum Kampf gegen die Reaktion leisten.
Wir befinden uns heute in einer Lage, die auf der einen Seite auch positive und sogar
erfreuliche Perspektiven aufweist: 1. im Gefolge des antiimperialistischen Kampfes blühen
Völker und Kulturen wieder auf, die vom Kolonialismus vernichtet worden waren: man
denke an die wachsene Rolle der Indios in Lateinamerika; 2. die außerordentliche
Entwicklung eines Landes wie China zerbricht das technologische Monopol, das in den
Händen des Imperialismus lag. Das was die Historiker als das “große
Auseinanderklaffen” bezeichnen, d. h. die Kluft, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt
zwischen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern und Dritter Welt aufgetan hatte, diese
“great divergence” reduziert sich allmählich; 3. Die Bewusstwerdung der Krise des
Kapitalismus gibt der Perspektive des Sozialismus nicht nur in der Dritten Welt, sondern
auch in den vorgeschrittenen kapitalistischen Ländern wieder Auftrieb. Auf der anderen
Seite steckt das führende Land des Kapitalismus zwar in einer tiefen ökonomischen Krise
und gerät auf internationaler Ebene immer mehr in Verruf; gleichzeitig hält es aber
weiterhin an dem Anspruch fest, das von Gott auserwählte Land zu sein, verstärkt
fieberhaft seinen sowieso schon monströsen Kriegsapparat und breitet seine Militärbasen
bis an alle Ecken der Welt aus. All das verspricht nichts Gutes. Das gleichzeitige
Vorhandensein vielversprechender Perspektiven und furchtbarer Bedrohungen lässt die
Konstruktion auf internationaler Ebene eines neuen historischen Blocks, um Gramscis
Sprache zu benutzen, besonders dringlich erscheinen. Kein einfaches Unternehmen, denn
es geht darum, Kräfte miteinander zu verbinden, die in recht unterschiedlichen historischkulturellen Kontexten und politischen und geopolitischen Situationen angesiedelt sind.
Nur dieser neue historische Block kann dem Internationalismus neuen Auftrieb geben und
er kann nur dann konstruiert werden, wenn die kommunistischen Parteien, auch die der
vorgeschrittenen kapitalistischen Länder, den Stolz ihrer eigenen Geschichte wieder
finden und außerdem besser lernen, eine konkrete Analyse der konkreten Lage
vorzunehmen.
Bibliographische Hinweise:
Frantz Fanon, Les damnés de la terre, Librairie François Maspero, Paris, 1961, S. 54-55.
Alvaro Garcia Linera in un’intervista a Pablo Stefanoni, in “il manifesto” vom 22. Juli
2006, S. 3.
Mao Tsetung, Ausgewählte Werke, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking, 1969,
Bd. 4, S. 483 (Der Bankrott der idealistischen Geschichtsauffassung, 16. September 1949).
Karl Marx-Friedrich Engels, Werke, Dietz, Berlin 1955-89, Bd. 9, S. 225 (Die künftigen
Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien)
Franklin Delano Roosevelt, Four Freedoms Speech (6. Januar 1941), in Richard HofstadterBeatrice Hofstadter, Great Issues in American History, Vintage Books, New York, 1982, S.
386-91.
(Imperialismus der Menschenrechte, in XIV. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz
2009, Junge Welt, Berlin, 2009; S. 11-13)
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