Hinweise zu Didaktik und Methoden Modul 10: Geschichte der europäischen Integration Einführung Die Geschichte der europäischen Integration kann nicht ohne ihre Vorgeschichte dargestellt werden. Frühere Versuche, Staaten vertraglich so aneinander zu binden, dass sie verbindliche Beschlüsse fassen und deren Nichtbeachtung bestrafen können, sind gescheitert (Völkerbund, in gewisser Weise auch Vereinte Nationen). Die Hauptursache dafür hängt mit dem Begriff Souveränität zusammen: Erstmals mit der Gründung der EWG waren Staaten bereit, auf ihre volle und uneingeschränkte Souveränität und damit auf ein Vetorecht zu verzichten. Es ist die historisch einmalige Leistung der EWG-Staaten, dass sie Mehrheitsbeschlüsse als verbindlich anerkennen, auch wenn sie dagegen gestimmt haben. Am Festhalten des Vetorechts scheiterte der Völkerbund und scheitert in der Regel bis heute auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die Übertragung von Hoheitsrechten auf gemeinschaftliche Organe und die Akzeptanz von Mehrheitsbeschlüssen dieser Organe war der Grundstein für den Erfolg der Gemeinschaft, andererseits aber auch Ursache vieler Rückschläge oder Verzögerungen im Laufe der Integration, die ja nach wie vor ein Prozess ist. Nicht selten sind bei Entscheidungen die Interessen einiger Mitgliedstaaten von denen der anderen so verschieden, dass ein Konsens nicht gefunden werden kann, ein Mehrheitsbeschluss jedoch für die Staaten, die nicht zugestimmt haben, schwerwiegende Folgen hätte, die ihnen nicht zugemutet werden können. Es ist erstaunlich, dass die Gemeinschaft selbst in solchen scheinbar ausweglosen Situationen noch Auswege gefunden hat (Beispiel: Luxemburger Vereinbarung 1966 oder Kompromiss von Ioannina 1993). Solche Lösungen wurden zwar von den Medien oft negativ beurteilt, darüber wird aber vergessen, dass selbst jahrelanges Ringen um eine vernünftige Lösung besser ist als jede Lösung auf Schlachtfeldern. Die Geschichte der europäischen Integration ist freilich auch nicht denkbar ohne die beiden verheerenden Weltkriege. Nach 1918 entwickelte Coudenhove-Kalergi seine Vision von Paneuropa, nach 1945 endlich war die Zeit reif für den Versuch, auf Hoheitsrechte zu verzichten. Und selbst damals noch scheiterten erste Versuche, wie das Beispiel des Europarats und der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zeigen. Und es kann daran erinnert werden, dass die EWG-Staaten im Vertrag vereinbart hatten, dass sie in den ersten zwölf Jahren des Bestehens einstimmig im Rat zu entscheiden hatten und erst 2 danach Mehrheitsbeschlüsse erlaubt waren, die dennoch nicht gleich zustande kamen wegen Frankreichs „Politik des leeren Stuhls“. Häufig wird bedauernd darauf verwiesen, dass die europäische Integration auf wirtschaftlichem Gebiet begonnen hat, wo eine rasche Identitätsbildung nicht möglich war. Es darf nicht vergessen werden, dass jeder Versuch der Integration in anderen politischen Bereichen zum Scheitern verurteilt war. Nur auf wirtschaftlichem Gebiet waren rasche Erfolge möglich und war ein Verzicht auf das Vetorecht für alle Staaten erträglich. Alle Reformen des Gründungsvertrags der EWG spiegeln das zähe Ringen um weiteren Verzicht auf Hoheitsrechte wider, sei es durch Erweiterung der Gemeinschaftskompetenzen auf andere Politikbereiche, sei es durch Änderung der Stimmgewichte für die qualifizierte Mehrheit, sei es durch Mitwirkung des Europäischen Parlaments bei Entscheidungen des Rats. Der Gründungsvertrag räumte dem EP nur ein Anhörungsrecht ein, die Einheitliche Europäische Akte von 1986 brachte ihm das Zustimmungsrecht, der Maastrichter Vertrag das Mitentscheidungsrecht, und erst der Vertrag von Lissabon hat die meisten Einschränkungen der Rechte des EP aufgehoben. Lernziele Es gilt zu erkennen, dass – die Europäische Union eine in der Geschichte bisher einmalige Verbindung von Staaten darstellt, die vertraglich vereinbart haben, Hoheitsrechte gemeinsam auszuüben und dabei Mehrheitsbeschlüsse zu akzeptieren, also auf ein Vetorecht zu verzichten; – die Integration der europäischen Staaten ein fortwährender Prozess ist, dessen Ende (Finalität) offen ist; – schon von Anfang an zwei gegensätzliche Modelle der Staatenbildung die Diskussion um Fortschritte in der Integration beherrschen: Staatenbund kontra Bundesstaat, also zwischenstaatliche Zusammenarbeit ohne Mehrheitsbeschlüsse oder gemeinschaftliches Regieren ohne Vetorecht; – der Verzicht auf autonome Ausübung weiterer Hoheitsrechte den Regierungen auch heute nicht immer leichtfällt, was an den Vorbereitungen jeder Vertragsänderung oder der Ratifizierung der Verträge erkennbar wird; – die Europäische Union aus Staaten besteht, die nach wie vor unterschiedliche Interessen haben, die teils historisch bedingt sind (Kolonialismus, Commonwealth, Bündnisse in früheren Jahrhunderten), teils geografisch bedingt (Randlage, Insellage, Mittelmeer), teils wirtschaftlich bedingt (Exportland, Agrarland, Fischereistaat, Energieversorgung), teils politisch bedingt (konservative Regierung, sozialdemokratische Regierung), teils aktuell 3 begründet sind (für oder gegen Erweiterungen, für oder gegen Protektionismus, für oder gegen Agrarsubventionen, für oder gegen militärische Aktionen); – diese Uneinigkeit häufig die notwendige geschlossene Haltung in wichtigen Fragen verhindert oder verzögert, vor allem im Bereich der Außenpolitik. Didaktische Absichten Bei aller berechtigten Kritik an der Konstruktion und den Ergebnissen der EU muss anerkannt werden, dass die Gründung der Gemeinschaft das Bestmögliche war für das Europa in der Zeit des Kalten Krieges und es auch heute für das vereinigte Europa ist. Nur die Integration der Staaten konnte und kann den Frieden bewahren in einer Weltregion, in der jahrhundertelang jeder Staat gegen jeden Kriege geführt hat. Die Europäische Union wird heute von der außereuropäischen Welt als Modell des friedlichen Miteinanders von Staaten gesehen. Europa hat nur als Einheit eine Zukunft als mitbestimmende Macht in der Welt neben den Regionen USA/Kanada, Brasilien/Lateinamerika, China/Indien sowie Russland/Zentralasien. ARBEITSBLATT 1 – Die Bedeutung der Souveränität für Staaten M1 bringt eine Definition des Begriffs Souveränität. Die Eigenschaft „von keiner anderen Gewalt abgeleitete Autonomie“ besagt, dass der souveräne Staat in keiner Weise von einem anderen Staat oder einer anderen Macht in seiner Handlungsfreiheit beschränkt ist. Nach diesem klassischen Staatsverständnis sind die Mitgliedstaaten der EU nicht souverän, haben den Grundsatz der Unteilbarkeit der Souveränität aber freiwillig aufgegeben. Darin drückt sich die Besonderheit des Staatenverbundes EU aus. M2 karikiert die Unentschlossenheit einiger Mitgliedstaaten, sich eindeutig für eine Vertiefung der Integration (in Richtung Bundesstaat) oder für die Rückkehr zur ungeteilten Souveränität der Nationalstaaten und zur zwischenstaatlichen Zusammenarbeit (in Richtung Staatenbund) zu entscheiden. M3 bringt die Meinung des Autors zum Ausdruck, dass es in der globalisierten Welt für den einzelnen Staat in Europa keine uneingeschränkte Souveränität geben kann, da seine Handlungen von Entwicklungen in der Welt abhängen, auf die er allein keinen Einfluss mehr hat. Die EU schränkt also die Souveränität nicht ein, sondern ermöglicht sie erst. Der Autor (geboren 1944) war bis 2009 Professor für Soziologie an der Universität München. M4 verweist den Begriff Souveränität in die „Antike“ früherer Jahrhunderte und erklärt ihn für überholt. 4 M5 zitiert aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zum Vertrag von Lissabon. Das Urteil setzt der Bundesregierung Grenzen bei der Übertragung von Hoheitsrechten. M6 zeigt die Ansicht des Autors, dass es nicht Sinn und Absicht des Grundgesetzes sei, einen souveränen Nationalstaat zu schaffen. Der Autor war von 1984 bis 1998 Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof. M7 verweist auf historisch bedingte Hintergründe für die nach wie vor anhaltende Sorge der Staaten und vor allem ihrer Regeirungen vor Souveränitätsverlust. ARBEITSBLATT 2 – Finalität der Europäischen Union M1 erläutert, was unter Finalität der EU zu verstehen ist und weist darauf hin, dass die Vorhersagen über die Finalität sich im Laufe des Integrationsprozesses verändert haben. M2 stellt die gegensätzlichen Ansichten vor, die zwischen Föderalisten (Anhängern des Bundesstaates Europa) und Intergouvernementalisten (Konföderalisten und Anhängern der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in einem Staatenbund) herrschen. Der Autor ist der Ansicht, dass ein Zurück zum „Europa der Vaterländer“ (Konföderation) ebenso wenig realistisch ist wie eine Entwicklung der Union zum Superstaat. M3 verweist auf die pragmatische Lösung der „differenzierten Integration“, das heißt auf Modelle wie „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ oder „Kerneuropa“. Die Währungsunion oder der Schengenraum sind Beispiele für Entwicklungen, an denen Mitgliedstaaten in unterschiedlichem Umfang oder zu verschiedenen Zeiten teilnehmen können. Vertraglich ist dieser Weg durch die „Verstärkte Zusammenarbeit“ geöffnet (Art. 326 bis 334 AEUV). Die „Berliner Erklärung“ in M4 drückt den gemeinsamen Wunsch der Unionsorgane und der Mitgliedstaaten aus, die Vertiefung der EU zu festigen. M5 karikiert unterschiedliche Einstellungen zu EU. Die Karikatur stammt aus den siebziger Jahren, ist aber auch heute nicht unzeitgemäß. Die plakatierten Meinungen können sowohl den Regierungen, den Institutionen wie auch den Bürgerinnen und Bürgern zugeordnet werden. 5 M6 ist ein Auszug aus der seinerzeit viel beachteten Rede des damaligen deutschen Außenministers Joseph (Joschka) Fischer an der Humboldt-Universität in Berlin. Beachtung fand die Rede vor allem wegen des uneingeschränkten Eintretens des Redners für eine politische Union, also für eine bundesstaatsähnliche Finalität der EU. In M7 befürchtet der Autor die Zersplitterung einer auf 40 Mitglieder gewachsenen Union in 20 Jahren, die nur durch strategisch denkende und handelnde Köpfe im Griff zu halten sein wird. Der Autor ist Professor für Politische Wissenschaft an der Universität München und Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung.