1 Zusatzthema zu Modul 10 Geschichte der EU Die Politik des

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Zusatzthema zu Modul 10 Geschichte der EU
Die Politik des leeren Stuhls
Die Gründer der Europäischen Gemeinschaften mussten erhebliche Rücksicht nehmen auf
die tief verwurzelte Furcht der Regierungschefs und der Parlamente vor
Souveränitätsverlust. In den Römischen Verträgen von 1957 wurde deshalb vereinbart, dass
alle wichtigen Beschlüsse zunächst einstimmig gefasst werden mussten. Erst nach einer
Übergangs- und Übungszeit von mindestens acht Jahren sollten Mehrheitsbeschlüsse
möglich sein, und das auch nur in wenigen Politikbereichen, die nicht zum Unberührbaren
der Staaten zählten. In der Gemeinsamen Agrarpolitik und der Handelspolitik war dieser
Übergang für Anfang 1966 festgelegt. Dieser Übergang führte zur ersten schweren Krise der
Gemeinschaft, die bis heute nachwirkt. Welche Schwierigkeiten es den Regierungen immer
noch machte, auf nationale Hoheitsrechte zu verzichten, anderen Regierungen ein
Mitsprache-, ja sogar ein Mitentscheidungsrecht in inneren Angelegenheiten einzuräumen,
zeigte drastisch die „Politik des leeren Stuhls“ Mitte 1965.
Zur Mitte des Jahres 1965 endete die Präsidentschaft Frankreichs, am 1. Juli übernahm
Italien den Vorsitz. Zur ersten Sitzung der Landwirtschaftsminister unter italienischem Vorsitz
hatte die Kommission einen Vorschlag eingereicht, über den der Ministerrat entscheiden
sollte. Die Zoll-Einnahmen der Mitgliedstaaten aus Agrarexporten sollten nicht mehr in deren
Haushalte fließen, sondern in eine neue Gemeinschaftskasse in Brüssel, sozusagen als
Einnahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Die Vorlage der Kommission
sah vor, den im Gründungsvertrag für Anfang 1966 festgelegten Übergang zu
Mehrheitsbeschlüssen schon jetzt, ein halbes Jahr früher, einzuleiten.
Bis dahin lebte die Gemeinschaft von Finanzbeiträgen der Mitgliedstaaten. Diese Gelder
wurden den nationalen Haushalten entnommen, waren also von den Parlamenten der
Staaten bereits „genehmigt“ worden. Wenn nun die Gemeinschaft über eigene Einnahmen
verfügen, einen eigenen Haushalt bilden sollte, müsste er vom Europäischen Parlament
abgesegnet werden. Dieses Parlament hatte aber damals nur beratende Aufgaben. Es hätte
eine gesetzgeberische Aufgabe erhalten müssen, nämlich das Recht, den Haushalt der
Gemeinschaft zu genehmigen. Die staatlichen Einnahmen aus den Agrarexporten waren
zwar verhältnismäßig gering, aber den nationalen Parlamenten wäre die Verfügungsgewalt
darüber entzogen worden. Ein kleines, aber ein erstes Stückchen Souveränität wäre von den
Staaten auf die Gemeinschaft übertragen worden.
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Fünf der sechs Staaten waren bereit dazu, Frankreich nicht. In Frankreich regierte zu dieser
Zeit Charles de Gaulle. Der französische Minister brach die Sitzung ab, verließ den Saal und
hinterließ einen leeren Stuhl. Damit war es den übrigen Ministern unmöglich geworden, den
gewünschten Beschluss zu fassen.
Frankreich blieb bis Ende des Jahres im Rat durch einen leeren Stuhl vertreten. Beschlüsse,
die ja allesamt noch einstimmig zustande kommen mussten, waren damit unmöglich
geworden. Die „Politik des leeren Stuhls“ blockierte die Gemeinschaft.
Anfang 1966 übernahm Luxemburg die Präsidentschaft. Noch im Januar 1966 trafen die
sechs Mitgliedstaaten in Luxemburg eine Vereinbarung, die einen Ausweg aus der Krise des
leeren Stuhls wies: Mehrheitsbeschlüsse waren ja nun, weil vertraglich vereinbart, möglich,
doch wenn ein Mitgliedstaat zu verstehen gab, dass er einer Beschlussvorlage nicht
zustimmen konnte, wurde nicht abgestimmt, sondern so lange weiterverhandelt, bis ein
Ergebnis erreicht war, dem alle zustimmen konnten (Konsensverfahren). Formal war somit
die Forderung des Gründungsvertrags nach Mehrheitsbeschlüssen erfüllt. Jeder Staat
konnte aber, wie bei einstimmigen Beschlüssen, ein unliebsames Ergebnis verhindern, hatte
also nach wie vor ein Vetorecht. Die Luxemburger Vereinbarung hat drei Jahrzehnte überlebt
und wurde noch 1994 im Kompromiss von Ioannina etwas verändert wieder aufgewärmt.
Die Regelung wurde schließlich sogar in das Primärrecht übernommen. Im Vertrag von
Lissabon wird sie für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik vorgeschrieben. Dort
heißt es in Artikel 31 EUV Absatz 2: „Erklärt ein Mitglied des Rates, dass es aus
wesentlichen Gründen der nationalen Politik, die es auch nennen muss, die Absicht hat,
einen mit qualifizierter Mehrheit zu fassenden Beschluss abzulehnen, so erfolgt keine
Abstimmung. Der Hohe Vertreter bemüht sich in engem Benehmen mit dem betroffenen
Mitgliedstaat um eine für diesen Mitgliedstaat annehmbare Lösung. Gelingt dies nicht, so
kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit veranlassen, dass die Frage im Hinblick auf einen
einstimmigen Beschluss an den Europäischen Rat verwiesen wird.“
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