Vorwort von António Vitorino

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Vorwort
António Vitorino
Präsident von Notre Europe
Als Mitglied der Europäischen Kommission von 1999 bis 2004 habe ich die Entwicklung der
Rolle Deutschlands innerhalb der EU aufmerksam verfolgt. Deutschland erlebte damals eine
Art „Normalisierung“: Gerhard Schröder, der erste nach dem Zweiten Weltkrieg geborene
Bundeskanzler, hatte den Mut, festzustellen, dass Deutschland eigene nationale Interessen
habe, die sich nicht notwendigerweise mit den europäischen deckten. Die „deutsche Macht“
war wieder da.
Ich erinnere mich auch daran, dass es Deutschland bei den Verhandlungen zum Vertrag von
Nizza im Dezember 2000 gelang, den anderen Mitgliedstaaten, vor allem Frankreich,
aufzuzwingen, dass die Anzahl der deutschen Mitglieder im Europäischen Parlament seiner
Stellung als größtem Mitgliedstaat der Union entsprach. Auch bei den Verhandlungen über
den mehrjährigen Finanzrahmen der EU (2007–2014) hielt Deutschland an einer harten Linie
fest. Und bei der EU-Erweiterung um die ost- und mitteleuropäischen Länder 2004 und 2007,
die im Einklang mit den deutschen Interessen in der Region stand, spielte es ebenfalls eine
Schlüsselrolle.
Als Kommissar habe ich zudem Deutschlands politisches System und seine potenziellen
Auswirkungen auf die Europapolitik kennengelernt. Waren es seinerzeit 15 EU-Minister, die
sich bei den Treffen des Europäischen Rats versammelten, traf ich in Deutschland mehrmals
mit den für Justiz und Inneres zuständigen Ministern der 16 Bundesländer zusammen. Die
Prinzipien der Subsidiarität und der Kompetenzteilung sind in Deutschland im Vergleich zur
Situation auf EU-Ebene wohlbekannt. Ich hatte die Gelegenheit, 2001/2002 gemeinsam mit
Michel Barnier beim Konvent über die Zukunft Europas die Kommission zu repräsentieren,
und ich kann mich genau daran erinnern, wie die deutschen Vertreter versuchten, diesen
beiden Prinzipien innerhalb des neuen Rahmenwerks für die Europäische Union stärkeres
Gewicht zu verschaffen. Ihre Forderung, einen Kompetenzkatalog zu erstellen, wurde
abgelehnt, doch in der Frage der „geteilten Befugnisse“ setzten sie eine klarere Definition der
europäischen Zuständigkeiten durch.
Als portugiesischer Staatsbürger dürfte meine Wahrnehmung des deutschen
Krisenmanagements in der Staatsschuldenkrise etwas anders ausfallen. Deutschlands
Regierung steht einigen Mitgliedstaaten, darunter auch meinem eigenen Land, sehr kritisch
gegenüber. Doch muss man sich die enorme Entwicklung der deutschen Position in Sachen
Finanzhilfen und Wirtschaftsregierung während der Griechenlandkrise und darüber hinaus
klarmachen. Während des EU-Konvents war Deutschland noch nicht einmal bereit, darüber
zu diskutieren, wie eine Wirtschaftsregierung auf europäischer Ebene aussehen könnte; ein
Jahrzehnt später ergreift es die Initiative und wirbt für ein rechtliches Rahmenwerk, das auf
fiskalischer Disziplin basiert. Das mag noch nicht ausreichen, um die nationale
Wirtschaftspolitik der EU-Länder so zu koordinieren, dass die Unterschiede in der
Wettbewerbsfähigkeit beseitigt werden, aber es ist nichtsdestotrotz ein außerordentlich
wichtiger Schritt nach vorn.
Deutschlands Problem ist nicht so sehr, dass es mit seiner Forderung nach fiskalischer
Disziplin Recht hat. Es muss vielmehr lernen, wie es Recht haben sollte. Das ist aus
politischer Sicht der schwierigste Punkt, den es zu bewältigen gilt. Der deutsche
Ordoliberalismus verlangt nach Strenge, Sparsamkeit und nach Maßnahmen zur finanziellen
Konsolidierung. Doch man braucht auch Wirtschaftswachstum, um die Märkte zu beruhigen
und die negativen Auswirkungen der Rezession so gering wie möglich zu halten. Die deutsche
Politik hat das inzwischen begriffen, wie der von den fünf Wirtschaftsweisen vorgeschlagene
Schuldentilgungspakt und jüngste öffentliche Äußerungen zur Inflation in der Eurozone und
zur Entwicklung der deutschen Binnennachfrage belegen. Man könnte sagen, dass Berlin
seine ökonomischen Präferenzen in steigendem Maße den anderen Ländern der Eurozone
aufzwingt. Aber wenn wir diesen Grad an wirtschaftlichem Erfolg genössen, wären wir nicht
auch versucht, die anderen von den Vorzügen unserer Methoden zu überzeugen?
Als Präsident von Notre Europe, einer Organisation mit einer wahrhaft paneuropäischen
Vision, möchte ich eines unterstreichen: Es herrscht keinerlei Zweifel daran, dass Deutschland
stark im europäischen Projekt verankert bleiben will. Die Erklärungen von Bundeskanzlerin
Merkel sind in dieser Hinsicht sehr eindeutig. Sie fordert sogar mehr EU-Integration, wie man
den Beschlüssen des letzten CDU-Parteitags und vielen ihrer jüngsten Reden entnehmen
kann.
Deutschland erlebt derzeit seinen „unipolaren Moment“ in Europa. Die deutsche Regierung
und Verwaltung fühlen sich in dieser Situation, die auch Gefahren für den Zusammenhalt und
das Fortbestehen des europäischen Projekts birgt, nicht ganz wohl. In der Außenpolitik wie in
der Wirtschaft kann Deutschland in der EU entschiedene Führungsstärke ausüben. Doch es
muss dies auch wollen. Alle anderen Mitgliedstaaten erkennen die De facto-Führungsrolle
Deutschlands an, sind aber oft nur zögerlich bereit, sich das volle Ausmaß der Konsequenzen
vor Augen zu führen. Deutschland wiederum muss Sorge tragen, die europäischen Partner
nicht im Stich zu lassen, wenn es um den Einsatz ökonomischer Instrumente zur Erreichung
außenpolitischer Ziele geht.
Das Hauptaugenmerk des EPIN-Working-Papers „Deutschland aus Sicht der anderen
Mitgliedstaaten“ richtet sich auf die Darstellung der verschiedenen Haltungen der
Mitgliedsländer gegenüber Deutschland. Sie ermöglicht dem Leser, einige interessante
Schlüsse zu ziehen und die Länder in verschiedene Kategorien einzuordnen:
Viele nord- und osteuropäische Länder stehen der deutschen Haltung in der Krise eher positiv
gegenüber. Diese Länder sind wirtschaftlich oft eng mit Deutschland verflochten und/oder
haben ähnliche kulturelle Standards. Viele osteuropäische Länder erinnern sich auch daran,
dass Deutschland im EU-Erweiterungsprozess nach dem Ende des Kommunismus eine
wichtige und positive Rolle gespielt hat.
Die südeuropäischen Länder dagegen stehen der deutschen Haltung eher kritisch gegenüber.
Sie üben teils sehr heftige Kritik, wie im Falle Griechenlands, wo Deutschland „als Inbegriff
des Bösen und als Hauptverantwortlicher für die griechische Tragödie gilt“. Diese Länder sind
von der Krise stark betroffen und nicht bereit, zu akzeptieren, was sie in einigen Phasen der
Eurokrise als einen Mangel an deutscher Solidarität wahrnehmen.
Und schließlich glaube ich, dass man sich den Fall Frankreichs anschauen sollte, nicht nur
wegen der besonderen Beziehungen zwischen beiden Ländern, sondern auch, weil es oft
heißt, wenn sich Deutschland und Frankreich einig werden, dann können sich die anderen
Länder anschließen. Kulturell steht Frankreich, anders als Deutschland, den südeuropäischen
Ländern in vielerlei Hinsicht nahe. Doch beide Länder brauchen einander: Deutschland
braucht Frankreich, um seine Entscheidungen zu legitimieren, Frankreich braucht
Deutschland, um weiterhin eine Schlüsselrolle in der europäischen Politik zu spielen. Das
„Merkozy“-Tandem ist scharf kritisiert worden: Es hat versucht, Lösungen für die Krise zu
finden, doch es wäre klüger gewesen, gegenüber den anderen EU-Ländern offener zu sein und
der Rolle der europäischen Institutionen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Der neue französische Präsident François Hollande ist sich der Bedeutung der deutschfranzösischen Beziehungen bewusst. Seinen ersten Auslandsbesuch im Präsidentenamt hat er
bewusst in Deutschland gemacht, um Angela Merkel zu treffen. Sie mögen in der Frage
Sparpolitik versus Wachstum nicht die gleichen Prioritäten setzen, doch sie neigen beide zu
einer konsensorientierten Haltung. Das könnte sich als sehr hilfreich erweisen, wenn es darum
geht, die anhaltende Krise in der Eurozone zu bewältigen, zumal Hollande ebenfalls Wert
darauf legt, die europäischen Institutionen und die anderen EU-Mitgliedstaaten mit
einzubeziehen, was ich begrüße. Jenseits der Finanz- und Wirtschaftskrise leidet die EU aber
auch an einer Vertrauenskrise, und Deutschland kommt weiterhin eine wichtige Rolle bei ihrer
Bewältigung zu.
António Vitorino ist Präsident von Notre Europe.
Aus dem Englischen von Luisa Seeling.
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