Landtagspräsident Gebhard Halder Referat vor der Seniorenplattform Bodensee Donnerstag, 13.10.2005 Zuerst möchte ich mich bedanken, dass ich in einem so gut besetzten Kreis von Referenten vor Ihnen sprechen darf. Ich möchte den Veranstaltern auch dazu gratulieren, dass sie sich ein höchst wichtiges, aktuelles Thema für die Veranstaltung ausgesucht haben. Tatsächlich sprechen wir ja gerne über die offene Bodenseeregion und über die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg. Wenn wir jedoch selbstkritisch sind, dann sehen wir, dass wir viel öfters an Grenzen stoßen, als wir es gerne sehen würden. Ich denke dabei nur etwa an die Verkehrsverhältnisse im Bodenseeraum. Die Veranstalter haben mich gebeten, ein Referat zum Spannungsverhältnis zwischen dem Brüsseler EUZentralismus und dem Anspruch, dass sich Europa aus seinen Regionen definiert, zu halten. Ich wurde gebeten, die österreichische Sicht und Erfahrung zu vertreten. Diesem Wunsch komme ich gerne nach. Immerhin bin ich doch nun schon lang genug Parlamentarier, um zwischen Anspruch und Wirklichkeit so mancher Parole unterscheiden 2 zu können. Nicht zuletzt habe ich in meiner Funktion als Landtagspräsident nunmehr auch ein Jahr lang Gelegenheit gehabt, die Wirklichkeit des Europas der Regionen in Brüssel hautnah selbst zu erleben. Europa der Regionen Lassen Sie mich meine Ausführungen mit ein paar Bemerkungen zum Europa der Regionen beginnen. Es handelt sich nicht um bloßes Schlagwort. Allerdings drückt der Begriff auch Ansprüche aus, die in Wahrheit nicht eingelöst werden können. Man könnte nämlich meinen, es seien (nur) die Regionen, die Europa begründen. Damit macht man allerdings die Rechnung ohne den Wirt. Noch immer sind es nämlich die Mitgliedstaaten, die Europa rechtlich tragen und sie sind es auch, die in Europa eine rechtlich viel bedeutsamere Rolle spielen als die Regionen. Ich glaube auch nicht, dass es in absehbarer Zeit dazu kommt, dass die Nationalstaaten von der Bildfläche verschwinden. Sie haben weiterhin ganz wesentliche Funktionen: In der Außen- und Sicherheitspolitik und in vielen anderen überregionalen Aufgaben sind die Nationalstaaten noch immer unverzichtbar. 3 Gerade das Verfassungsreferendum in Frankreich war ja sehr deutlich von der Furcht der Menschen geprägt, die Europäische Verfassung könne dazu führen, dass der Nationalstaat noch mehr an Bedeutung verlieren würde. Und genau dieses Ergebnis wollten die Menschen nicht. Ich denke, dass wir das respektieren müssen. „Europa der Regionen“ drückt – richtig verstanden – daher nicht aus, dass die Regionen an die Stelle der Mitgliedstaaten treten. Es geht vielmehr um ein Sichtbarmachen der Regionen, dass sie neben den Mitgliedstaaten als eigenständige Akteure auf der europäischen Ebene auftreten. Diesen Anspruch begründen die Regionen daraus, dass es heute immer mehr Aufgaben gibt, die nicht mehr auf der lokalen Ebene erfüllt werden können. Genauso gibt es viele Aufgaben, die, wenn sie effizient und bürgernah abgewickelt werden sollen, auch nicht vom Nationalstaat erledigt werden können. Hier ist die Stunde der historisch gewachsenen Regionen gekommen, die eine Erfüllung öffentlicher Aufgaben im überschaubaren Rahmen gewährleisten können. Ich denke hier an die immer wichtigeren Bereiche der Pflegevorsorge, an die 4 infrastrukturelle Versorgung der Bevölkerung im Spitalswesen, im Bildungswesen und im öffentlichen Verkehr. Gerade in Österreich sehen wir, wie sich der Bund aus dem ländlichen Raum zurück zieht. Es ist daher Aufgabe der Länder, den ländlichen Raum funktionsfähig zu erhalten und dort Bildungs- und andere Infrastrukturen aufrecht zu halten. Ich möchte aber auch nicht auf die Gemeinden vergessen, die weiterhin wichtige Aufgaben als erste und den Bürgerinnen und Bürgern nächstgelegene Stufe der staatlichen Ebenen erfüllen. Es ist daher auch nicht überraschend, wenn wir mehr oder weniger in ganz Europa – von den Kleinstaaten wie Luxemburg oder Malta abgesehen – vier Ebenen vorfinden: Die Gemeinden, die Regionen, die nationale Ebene und die europäische Ebene. Diese Vierstufigkeit ist daher nicht antiquiert, wie manche glauben. Im Gegenteil: Sie ist modern und wird auch dort entdeckt, wo es bisher kaum regionale Entscheidungsebenen gab, wie zum Beispiel in Frankreich oder auch in den neuen Beitrittsländern. Auf einer Exkursion des Europaausschusses habe ich vor wenigen Tagen die regionale Gliederung der 5 Slowakei kennengelernt. Auch in diesem Staat, der kleiner ist als Österreich, gibt es nunmehr eine durchaus beachtliche regionale Differenzierung. Unterschiedliche Strukturen der Regionen in Europa Die Regionen in Europa sind von einer bunten Vielfalt geprägt, in wirtschaftlicher, ethnischer, aber auch in politischer Hinsicht. Diese Vielfalt belebt Europa zweifellos. Allerdings muss man auch eingestehen, dass die Regionen gerade wegen dieser Unterschiede nicht jenen politischen Stellenwert haben, der Ihnen in Europa eigentlich zukommen sollte. Der Ausschuss der Regionen in der EU, der ja die Regionen vertreten sollte, ist derzeit nämlich noch ein Gremium, das über vergleichsweise wenig Rechte verfügt. Die Mitgliedstaaten als entscheidende Organe im Rat wollen verständlicherweise keine Konkurrenz aufkommen lassen. Die Stellungnahmen des AdR werden von der Kommission zwar in vielen Fällen berücksichtigt, trotzdem gibt es nach wie vor keine Möglichkeit, europäische Gesetze beim Europäischen Gerichtshof wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip anzufechten. 6 Eine derartige Möglichkeit wäre in der Europäischen Verfassung vorgesehen gewesen. Ob es nun in absehbarer Zeit zu einer Verankerung eines solchen Klagerechtes kommt, ist völlig offen. Man muss auch sehen, dass im AdR sehr unterschiedliche Regionen vertreten sind: Da sind auf der einen Seite, die, wie ich sie nenne, „starken“ Regionen aus den Bundesstaaten. Die deutschen Bundesländer sind hier an erster Stelle zu nennen, aber auch die Regionen und Länder Belgiens und Österreichs. Auch die Regionen Italiens und Spaniens spielen eine gewichtige Rolle. Diese starken Regionen sind aber insgesamt in der Minderzahl: Es gibt vor allem in den neuen Beitrittsländern viele Regionen, die eben nicht historisch gewachsen sind, deren Rechte auch noch nicht besonders stark ausgeprägt sind und die im Grunde nur ausführende Organe des Staates sind. Sie wehren sich mitunter nicht so stark gegen Einschränkungen ihres Gestaltungsspielraumes wie die in dieser Hinsicht sensibleren „starken“ Regionen. Unterschiedliche Interessenlagen der Regionen Noch etwas ist besonders wichtig: Die Regionen in Europa weisen nicht nur unterschiedliche Strukturen auf, sie haben 7 auch ganz unterschiedliche Interessen. Die Interessen der österreichischen Länder auf der einen Seite und der spanischen Regionen können, um nur ein Beispiel zu nennen, in der Frage der Nutzung von Wasserressourcen unterschiedlicher nicht sein. Ich stelle zuletzt im AdR auch fest, dass gerade die Regionen der neuen Beitrittsländer sehr wohl in der Lage sind, in bestimmten Fragen gemeinsame Positionen zu bilden, zum Beispiel in der Sozialpolitik, die unsere Standards unterlaufen. Umso wichtiger wären Gegenstrategien der Regionen in den „alten“ EU-Ländern. Diese Netzwerkbildung, die so wichtig wäre und von der wir so viel sprechen, sie funktioniert noch nicht ganz. Gerade diese Aufgabe wird den Regionen aber niemand abnehmen, diese Hausaufgaben müssen sie schon selbst machen. Ich bin daher der Überzeugung, dass der Vorarlberger Landtag in seinem Bestreben, in Europa Partner zu finden, und zwar starke Partner, in der Vergangenheit einen richtigen Weg gegangen ist, für dessen Fortsetzung ich mich stark einsetze. Ich bin auch der Meinung, dass sich gerade die Regionen der Alpenländer, die so viele Gemeinsamkeiten aufweisen, stärker vernetzen müssten, also zum Beispiel die österreichischen 8 Länder, Bayern, Baden-Württemberg, Südtirol, Trentino. Und im Rahmen des EWR zählt da natürlich auch Liechtenstein dazu. Gerade unter diesem Aspekt wäre es schon sehr erfreulich, wenn im AdR auch unsere Schweizer Freunde einmal Partner sein könnten. Es muss aber klar sein: An der Vernetzung müssen wir noch weiter arbeiten, das funktioniert heute noch nicht optimal. Gibt es einen Brüsseler Zentralismus? Es sind daher auch die schwachen Mitwirkungsmöglichkeiten der Regionen dafür verantwortlich, wenn viele Entscheidungen in Brüssel den Eindruck erwecken, als arbeite da schon ein sehr bürgerferner Apparat. Ich möchte mich aber davor hüten, alles Unangenehme dem Zentralismus in Brüssel in die Schuhe zu schieben. Das wäre zu simpel. Wir dürfen nicht verkennen, dass es die Mitgliedstaaten der EU selbst sind, die im Rat neben dem Europäischen Parlament der Gesetzgeber sind. Es trifft leider zu, dass viele Dinge, die zentral in Brüssel beschlossen werden, gerade über Initiative einiger Mitgliedstaaten selbst zustande gekommen sind. Ich glaube, dass die Mitgliedstaaten im Rat selbst zurückhaltender werden und die Dichte der Regulierung kritisch überprüfen 9 müssten. Aber auch hier gibt es natürlich unterschiedliche Interessenlagen. Wir in den Regionen müssen nicht nur auf der Brüsseler Ebene selbst aktiv sein, wir müssen auch engen Kontakt mit unseren nationalen Regierungen halten, die verpflichtet sind, die Interessen der Regionen in der EU zu vertreten. Immerhin setzt sich ja die Republik Österreich aus den Ländern zusammen. Dazu kann ich allerdings sagen, dass die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in Österreich in Europafragen recht gut funktioniert. Verbesserungsfähig ist natürlich alles, aber im Großen und Ganzen sind wir damit zufrieden. Die einheitlichen Länderstellungnahmen werden von der Bundesregierung auf der EU-Ebene vertreten. Das kann man beispielsweise den jährlichen Berichten des Instituts für Föderalismus entnehmen. Aber Österreich ist nur ein kleines Land. In anderen, viel größeren Staaten, klappt die Zusammenarbeit zwischen der nationalen Regierung und den Regionen und Ländern nicht so gut. Dies dürfte dann auch ein Grund sein, weshalb die Interessen der Regionen doch recht oft zu kurz kommen. 10 Was müsste geschehen? Die gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden haben Europa in eine Krise gestürzt. Dazu kam der noch immer ungelöste Streit um die Finanzierung der Union. Gerade die Finanzen sind ja nicht gerade das unwichtigste Thema. Die Debatte um die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist auch nicht gerade geeignet, das Vertrauen in die Union zu stärken. Auch wenn man berücksichtigt, welche Versprechungen der Türkei in den letzten Jahren immer wieder gemacht wurden: Angesichts der großen Vorbehalte in der Bevölkerung so vieler Mitgliedstaaten der EU und der vielen offenen Fragen, was die Aufnahmefähigkeit der Union auf der einen Seite und die inneren Strukturen der Türkei auf der anderen Seite betrifft, scheinen mir die Beitrittsverhandlungen ein übereilt. Und dieser Schritt ist nicht gerade geeignet, das Vertrauen der Menschen in die Europäische Union zu stärken. Hier bestätigt sich wieder einmal, dass die Union zu viele Dinge gleichzeitig erledigen will: Erweiterung nach außen und Vertiefung der Integration nach innen. Nur: Das funktioniert so eben nicht. Die gescheiterte Europäische Verfassung hat gezeigt, dass die 11 Vertiefung nach innen ohne Zustimmung der Bevölkerung so nicht machbar ist. Dabei könnte eine maßvolle Vertiefung der Integration in verschiedenen Bereichen gerade auch den Regionen beweisen, dass Europa auch für sie da ist: Wenn ich an die gewaltigen Schäden der Hochwasserkatastrophe vom August dieses Jahres in Vorarlberg denke, dann könnte ein kleiner Beitrag aus dem Solidaritätsfonds schon auch ein Beweis für die Bevölkerung sein, dass Europa auch solidarisch sein kann. Mir ist bewusst, dass dieselben Grundsätze auch für portugiesische Regionen gelten müssen, die von den schrecklichen Waldbränden betroffen waren. Bis heute sehe ich leider wenig Bewegung in diesen Angelegenheiten. Trotzdem sollten wir nach vorne blicken: Wenn wir den Regionen, die so viele europäische Aufgaben erfüllen, wie Sozial- und Umweltstandards, mehr Gehör verschaffen wollen, müssten drei Dinge geschehen: 1. Eine Aufwertung des Ausschusses der Regionen in Richtung effizienter Mitwirkungsrechte. Das bedeutet auch, dass der AdR in Angelegenheiten, die vitale 12 Interessen der Regionen betreffen, Zustimmungs- und Klagerechte bekommen müsste. 2. Die Regionen müssen aber auch selbst eigenständige Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof erhalten. Dabei müsste das Subsidiaritätsprinzip endlich klare Konturen bekommen. 3. Die Regionen müssen selbst an der europäischen Gesetzgebung beteiligt werden. Sie müssen Stellungnahmerechte erhalten, die dazu führen, dass die Kommission die Gesetzesentwürfe überarbeiten müsste. Dabei handelt es sich um alte Forderungen der Regionen. Sie konnten bisher nicht realisiert werden. Wenn Europa aber wirklich näher zu den Bürgerinnen und Bürgern kommen will, wird es sich doch etwas ernsthafter mit diesen sehr gut begründeten Punkten auseinander setzen müssen.