"Humanitäre Intervention" und die UN

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"Humanitäre Intervention" und die UN-Charta
Die geplante "Weiterentwicklung" des Völkerrechtes
Von Helge von Horn
Seit Anfang der neunziger Jahre wird als eine Lösung für kriegerische Auseinandersetzungen
oder bei massiven Menschenrechtsverletzungen verstärkt die so genannte "humanitäre
Intervention", also eine militärische Intervention in den betreffenden Staat, in Betracht gezogen.
In den letzten Jahren geschah dies beispielsweise in Somalia, Bosnien, dem Kosovo, Osttimor,
dem Kongo, die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Ziel sollte es meist sein, die Zivilbevölkerung
der Krisenregion zu schützen und den Konflikt zu befrieden. Dies schien auch notwendig, denn
seit Mitte der neunziger Jahre nahm vor allem der Anteil innerstaatlicher Konflikte, meistens
Bürgerkriege, stark zu. Ein Beispiel für die Grausamkeit dieser Konflikte ist sicherlich der
Bürgerkrieg in Ruanda, der in einen Völkermord mündete, dem im Jahr 1994, innerhalb weniger
Wochen zwischen 500.000 bis 1 Million Menschen zum Opfer fielen.
Unabhängig von der Frage nach der Wirksamkeit solcher militärischen Einsätze ergab sich dabei
ein Problem: Es ist offensichtlich, dass ein militärisches Eingreifen in einen selbständigen Staat
mit dem in der UN-Charta verankerten Grundsatz der staatlichen Souveränität nicht zu
vereinbaren ist. Diese Einsätze stehen also vor dem Dilemma, selbst Unrecht zu sein. Eine
Lösung soll nun eine Umdeutung des Völkerrechtes bringen, die vor allem von den Regierungen
von Kanada und Großbritannien, aber auch mit Unterstützung der deutschen Regierung
vorangetrieben wird. Vor allem in Berufung auf den Völkermord in Ruanda 1994 und der Rolle
der internationalen Staatengemeinschaft als einem vermeintlichen "bystander to genocide" wurde
im Jahr 2000 eine Kommission auf Anregung von Kofi Annan ins Leben gerufen, ihr Name war
"International Commission on Intervention and State Souvereignty" - kurz ICISS. Im Herbst
2001 legte sie ihren Abschlussbericht mit dem Titel "The Responsibility to Protect"vor. Eine
breitere Diskussion der darin enthaltenen Thesen fand erst in den letzten beiden Jahren statt.
Staatliche Souveränität als Verantwortung - The Responsibility to Protect
Das Hauptproblem vor dem die Kommission stand, ist die in der UN-Charta in Artikel 2 Absatz
4 festgeschriebene staatliche Souveränität, die jede Einmischung in einen Staat von außen
untersagt. Eine militärische Intervention wird durch das Gewaltverbot explizit geächtet und
einem Staat für einen solchen Fall sogar ein Widerstandsrecht gegen diese Intervention zubilligt
(Artikel 51). Den Ausweg fand die Kommission darin, dass sie den Begriff der staatlichen
Souveränität einfach mit neuen Inhalt gefüllt hat. Nach ihrer Auffassung ist staatliche
Souveränität von nun an nicht als absolut anzusehen, sondern an eine bestimmte Voraussetzung
geknüpft: den Schutz der eigenen Bevölkerung, beispielsweise vor Kriegen oder Verfolgung,
aber auch vor Hungerkatastrophen oder durch Naturereignisse verursachtes Leid. Für den Fall
also, dass die Bevölkerung eines Landes einem , wie es in dem Bericht heißt "großem Leid"
ausgesetzt ist und der Staat diesen Zustand nicht beenden will oder kann, ist die internationale
Staatengemeinschaft gefragt. An sie geht die Verantwortung für die Bürger über, der Staat kann
sich dann nicht mehr auf seine Souveränität berufen.
Der Bericht gliedert dabei die Verantwortung der Staatengemeinschaft in drei
Teilverantwortungen:
 In eine "Verantwortung zu Verhindern" ("Responsibility to Prevent"): Konflikte können
nach Ansicht der Kommission vor allem dadurch effektiv verhindert werden, indem
demokratische Strukturen und Ökonomische Entwicklung befördert werden. Die
Etablierung eines demokratischen Regimes und ein ökonomisches
Entwicklungsprogramm, wie von Weltbank und IWF vielfach durchgeführt, sollen
Konflikte gar nicht erst entstehen lassen. Die Staatengemeinschaft hat sich dafür
einzusetzen.

Greifen diese präventiven Maßnahmen aber nicht, soll nach der Vorstellung der
Kommission aus der "Verantwortung zu Verhindern" die "Verantwortung zu Reagieren"
("Responsibility to React") erwachsen: Die möglichen Eingriffsmöglichkeiten reichen
dabei von Sanktionen bis hin zu militärischen Intervention.
Dabei ist die Bedingung für eine militärische Intervention, dass es sich um eine akute
Bedrohung des Lebens einer großen Anzahl von Menschen handelt oder in großem
Umfang ethnische Säuberungen oder gar Völkermord passiert. Wobei es unerheblich ist,
ob die Gewalt von staatlicher oder nicht staatlicher Seite ausgeht, ob sie innerhalb von
Staaten oder über Grenzen hinweg stattfindet.
 Letzter Teilbereich ist die "Verantwortung zum Wideraufbau" ("Responsibility to
Rebuild"). Sie beinhaltet vor allem das zur Verfügung stellen von Hilfe beim
Wideraufbau von durch die Intervention oder den vorhergehenden Konflikt zerstörter
Infrastruktur und bei der Versöhnung ehemalig verfeindeter Gruppen.
Zur Legitimation von militärischen Interventionen gibt es nach Ansicht der Kommission auf der
internationalen Ebene kein geeigneteres Organ, als den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Es
sollte also versucht werden, vor jeder Intervention die Zustimmung des Sicherheitsrates zu
erhalten und dieser sollte sich in "konstruktiver Weise" mit der Situation auseinander setzen.
Nach dem Willen der Kommission heißt dies aber auch, dass, wenn sich der Sicherheitsrat nicht
auf Maßnahmen einigen kann, andere Staatenzusammenschlüsse oder sogar einzelne Staaten zu
militärischen Mitteln greifen können.
Konsequenzen des Konzeptes
In dem Falle einer internationalen Anerkennung dieses Konzeptes der "Responsibility to Protect"
wird das derzeit geltende Völkerrecht grundlegend verändert. Dann kann und muss, in Fällen wo
von schweren Menschenrechtsverletzungen oder humanitären Katastrophen berichtet wird, der
Sicherheitsrat Maßnahmen bis hin zur militärischen Intervention beschließen. Tut er dies nicht,
aus welchen Gründen soll dabei unerheblich sein, so geht dieses Recht auf andere
Staatenzusammenschlüsse oder gar auf einzelne Staaten über.
Dieses eröffnet in letzter Konsequenz die Möglichkeit, dass wenn einzelne Staaten oder
Staatszusammenschlüsse militärische Maßnahmen gegen einen anderen Staat durchführen, dieser
sich in Zukunft weder auf seine Souveränität noch auf das Selbstverteidigungsrecht berufen
kann, wenn nur die Interventions-Begründung sorgfältig genug vorbereitet worden ist.
Es bietet gleichzeitig eine Legitimation für Eingriffe in Staaten, die sich den Vorstellungen der
Industrieländer von "Entwicklung" durch Strukturanpassung, Privatisierung und Freihandel
widersetzen. Denn dieser Widerstand wird dafür verantwortlich gemacht, dass es in den Staaten
nicht zu einem anstieg des Wohlstandes kommt, der in den Prognosen von IWF und Weltbank so
oft in Aussicht gestellt wurde. Damit ist der Staat nicht willens, seiner Bevölkerung diese
Entwicklung zuzugestehen, Zwangsmaßnahmen bis hin zu militärischen Interventionen ließen
sich mit dem Konzept der "Responsibility to Protect" nun ohne viel Mühe begründen.
Schon jetzt haben die Argumente aus dem Report Eingang in die Debatten der Vereinten
Nationen gefunden. Besonders in der Zeit um den 10. Jahrestag des Massakers in Ruanda wurde
von Seiten des UN-Generalsekretärs Kofi Annan massiv für das Konzept geworben.
Die kanadische Regierung strebt, wenn sich Kräfteverhältnisse günstig entwickeln, eine
Verabschiedung einer Resolution auf einer UN Generalversammlung an. Darin soll vor allem die
neue Konzeption der "Souveränität als Verantwortung" anerkannt werden. Diese "kalte"
Änderung des Völkerrechtes per Neudefinition eines Begriffes ist nicht nur einfacher
Durchsetzbar, weil die Konsequenzen vielfach unabsehbar sind, sondern auch wesentlich
schneller zu realisieren, als eine Änderung der UN-Charta in ihrem Wortlaut.
Mittlerweile wird die angestrebte Neuregelung sogar von einigen friedenspolitischen Gruppen
propagiert. Etwa als Mittel zur Eindämmung der Präventivkriegsstrategie der USA, da
Interventionen ja in dem Bericht an klare Vorbedingungen gebunden sind. Dabei sollte gerade
aus der Begründung des Krieges gegen den Irak der umgekehrte Schluss gezogen werden. Eine
Legitimation von Kriegen, die in erster Linie den ökonomischen und geostrategischen Interessen
der Kriegführenden Staaten dienen, und eine solche Erleichterung stellt der Bericht der ICISS
dar, sollte so schwer wie möglich gemacht werden. So ist dieser Report, so hoffnungsvoll ihn
manche auch betrachten mögen, ein Schritt in die falsche Richtung.
Viele Kritiker befürchten somit, dass es bei der Durchsetzung dieses neuen "weiterentwickelten"
Völkerrechts nicht in erster Linie um Humanität und die Verhinderung von
Menschenrechtsverletzungen geht. Ziel sei vielmehr ein Mittel zu etablieren um Staaten, die von
Verschuldung, Verarmung, von bestehenden Kriegen betroffen sind oder durch Bürgerkrieg zu
Zerfallen drohen, auch dann unter Kontrolle halten zu können, wenn kein existierendes,
einheitliches Staatswesen mehr vorhanden ist, das zur Einhaltung internationaler
Verpflichtungen gedrängt werden könnte. Auf diese Weise können ökonomische und
geostrategische Interessen in diesen Staaten weiter verfolgt werden.
Die Momentan noch recht strikten Regelungen für eine militärische Intervention, wie sie in dem
Bericht genannt werden und die von Befürwortern des Berichtes gern als Indiz für seine
Ausgewogenheit angeführt werden, bieten gegen einen verstärkten Interventionismus keinerlei
Schutz. Ist das Prinzip erst einmal geändert und sind Interventionen grundsätzlich legitimiert,
dann ist es um so einfacher, die Eingriffsschwelle stückweise zu senken. Diese Tendenz spiegelt
sich in der momentan Diskussion wieder, so initiierte die Friedrich-Ebert-Stiftung eine
öffentlichen Diskussion zu Frage der "Spielregeln eines neuen Interventionismus". In den dort
Vorgestellten Diskussionsbeiträgen namenhafter Politikwissenschaftler sind die dargestellten
Gründe, bei denen eine Intervention zulässig sein soll, gegenüber dem ICISS Bericht erheblich
ausgeweitet.
Falls das Konzept, das die ICISS in ihrem Bericht präsentiert hat, sich international durchsetzt,
werden sich die militärischen Interventionen, die unter den Stichwort "humanitär" geführt
werden immens ausweiten. Schließlich braucht sich dann kein Staat mehr einen Bruch des
Völkerrechts vorhalten lassen, wenn er seine ökonomischen und geostrategischen Interessen
militärisch durchsetzen will. Diese nun "humanitären" Interventionen brauchen nur noch eine
gelungene Begründung.
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