LITERATURGESCHICHTE

Werbung
DIE DEUTSCHE LITERATURGESCHICHTE
VOM MITTELALTER BIS ZUR
GEGENWART
DAS INHALTSVERZEICHNIS
Das Mittelalter
Das frühe Mittelalter
Das hohe Mittelalter
Das späte Mittelalter
Seite 3
Seite 3
Seite 3
Seite 5
Frühe Neuzeit (Humanismus und Reformation)
Seite 6
Barock
Seite 6
Die Aufklärung
Seite 7
Sturm und Drang
Seite 8
Die (Weimarer) Klassik
Seite 11
Die Romantik
Seite 13
Das Junge Deutschland und das Biedermeier
Seite 15
Der Poetische Realismus
Seite 17
Die Literatur der Jahrhundertwende
Der Naturalismus
Der Impressionismus
Der Symbolismus
Seite 20
Seite 20
Seite 20
Seite 21
Der Expressionismus
Seite 22
Die Neue Sachlichkeit
Seite 25
Das dritte Reich
Seite 27
Die Trümmerliteratur
Seite 29
Die Literatur in der „Bundesrepublik Deutschland“
Seite 30
Die Literatur in der „Deutsche Demokratische Republik“
Seite 32
Die Literatur im vereinten Deutschland
Seite 34
2
LITERATURGESCHICHTE
Das Mittelalter 750-1500
Das Mittelalter ist in drei Teilen unterzuteilen:
a) das frühe Mittelalter (etwa 750-1170)
b) das hohe Mittelalter (etwa 1170-1350)
c) das späte Mittelalter (etwa 1350-1500)
Im frühen Mittelalter wurde Dichtung nur mündlich verbreitet, weil nur die Geistlichen Lesen und Schreiben
konnten. Das Ziel war nämlich die Christianisierung der germanischen Völker. Die Texte die in den Klöstern
entstanden, dienten hauptsächlich religiösen Zwecken. Leider ist fast alles verloren gegangen.
Zum Glück wurden einige Texte erhalten, da sie aufgeschrieben wurden. Die Sprache, in der geschrieben wurde,
wird Althochdeutsch genannt.
Nicht nur kirchliche Texte, sondern auch Germanische Dichtung ist zum Glück überliefert. Ein Beispiel eines
germanischen Heldenliedes ist das Hildebrandslied (ca. 765). In diesem Lied kämpfen Vater und Sohn
gegeneinander ohne es zu wissen.
Althochdeutsch
welaga nu, waltant got», quad Hiltibrant, «wewurt
skihit.
ih wallota sumaro enti wintro sehstic ur lante,
……
……
nu scal mih suasat chind suertu hauwan,
breton mit sinu billiu, eddo ih imo ti banin werdan.
Neuhochdeutsch
O waltender Gott“, fahr Hildebrand fort, „das Schicksal will
seinen Lauf!
Ich bin sechzig Sommer und Winter außer Landes gegangen.
……..
……..
soll es nun geschehn, daß mich mein eigener Sohn mit dem
Schwert erschlägt,
mich mit seiner Waffe zu Boden fällt – oder daß ich ihm den
Tod bringe.
Die niederländische Übersetzung:
„Wee, almachtige God (riep Hildebrandt), nu wordt het noodlot voltrokken.
Ik trok zestig zomers en winters door het buitenland rond. (….)
Nu moet mijn eigen kind mij met zijn zwaard vermoorden,
met zijn zwaard treffen, of ik zelf moet hem tot dood worden. (….)
Weil der Verfasser dieses Liedes zu wenig Platz hat um es zu Ende zu schreiben, wissen wir nicht genau wie die
Geschichte endet. Wahrscheinlich hat sie ein tragisches Ende; der Vater tötet den Sohn.
Im hohen Mittelalter kam es zu einer neuen deutschen Literatur. Diese Zeit ist auch der erste Höhepunkt der
Literatur, weil viele Werke bewahrt geblieben sind und auch viel Qualität haben. Die Literatur erreichte ihre Blüte
mit dem Rückgang der Macht der Kirche. Im 11. Jahrhundert kam nämlich das Ritterleben in Europa auf und das
brachte Themen wie Treue, Liebe, Mut und Tapferkeit und Abenteuer in die Literatur.
Die Literatur wird „höfische Literatur“ genannt, weil die Dichter auf den Höfen ihre Werke lasen und von Musik
begleitet wurden. Die Sprache, in der geschrieben wurde, wird Mittelhochdeutsch genannt.
Das große Thema des höfischen Romans war die Geschichte von König Artus und den Rittern der Tafelrunde.
Dieser Stoff war aus England über Frankreich in den deutschen Raum gekommen. Ort und Zeit der Artuserzählung
sind nicht feststellbar. Es ist eine Märchengeschichte. Die spannenden Geschichten von Artus, von den Rittern
Lanzelot, Gawan und Parzifal und dem weisen Zauberer Merlin sind uns heute übrigens nicht aus Büchern,
sondern aus den alten Hollywoodfilmen bekannt.
3
Wichtige Ritterepen sind:
 Parzifal (1200-1210) von Wolfram von
Eschenbach
 Erec (um 1190) von Hartmann von Aue
 Tristan und Isolde (um 1210) von Gottfried
von Straßburg
Gottfried von Straßburg, dritte von rechts. Mittelalterliche Abbildung.
Die Verfasser der Legenden und Artusgeschichten nannten meistens ihren Namen, während die Verfasser der
Heldendichtung das nicht machten. Deshalb wissen wir nicht, wer die berühmteste deutsche Heldendichtung des
Mittelalters das Nibelungenlied (um 1200) geschrieben hat.
In dieser Heldendichtung ist der Gedanke der Rache sehr beherrschend, fehlt das christliche Element und
außerdem ist der Ort der Handlung des Nibelungenliedes genau feststellbar: nämlich der Rhein- und Donauraum.
Auch das Leben am Hofe, das Verhältnis der Personen untereinander, ist realistischer und genauer dargestellt.
Das Lied besteht aus zwei Teilen. Die „Aventiuren“ 1-19 erzählen die Geschichte von Siegfried und Kriemhild, die
Aventiuren 20-39 von Kriemhilds Rache an den Nibelungen.
Der erste Teil des Nibelungenliedes handelt von den Taten des Helden Siegfried. Er erobert mit seinem Schwert
„Balmung“ den Schatz der Nibelungen, nimmt dem Zwerg Alberich die Tarnkappe ab und besiegt einen Drachen.
Durch ein Bad im Blut des Drachen wird Siegfried unverwundbar, bis auf eine Stelle zwischen den Schultern, an
der ein Eichenblatt klebte. Siegfried heiratet Kriemhild, die burgundische Königstochter. Vorher muss er allerdings
ihrem Bruder Gunther helfen, die schöne und starke Brünhild zur Frau zu gewinnen. Mit seiner unsichtbar
machenden Tarnkappe hilft er Günther. Später erfährt Brünhild vom Betrug. Hagen, einer ihrer Ritter, kennt das
Geheimnis der verwundbaren Stelle und ermordet Siegfried.
Der zweite Teil handelt von Kriemhilds Rache an Hagen und den Burgundern. Kriemhild wird die Frau des
Hunnenkönigs Etzel (=Attila). Bei einem Besuch der burgundischen Fürsten und ihres Heeres am Hofe Etzels, lässt
Kriemhild Tausende Burgunder ermorden. Sie selbst enthauptet Hagen und wird daraufhin von dessen
Waffenmeister erschlagen.
Das Nibelunglied fängt mit folgender Strophe an:
Mittelhochdeutsch
Uns ist in alten maeren wurders vil geseit
von helden lobebaeren, von grôzer arebeit,
von vröuden hôchgezîten, von weinen und von klagen,
von küener recken strîten muget ir nû wunder hoeren
sagen.
die niederländische Übersetzung
In oude verhalen worden veel wonderbaarlijke dingen
verteld
van roemrijke helden, grote daden,
van vreugde en feesten, van wenen en klagen,
van de strijd van dappere strijders zult gij nu ongehoorde
dingen gaan vernemen.
Dieses Lied will zeigen „wie Freude letztendlich in Kummer verändert“. Deshalb endet die Geschichte so:
Mittelhochdeutsch
Ine kan iu nicht bescheiden, waz sider dâ geschach:
Wan ritte runde vrouwen weinen man dâ sach,
Dar zuo die edeln knehte, ir lieben friunde tôt.
Hie hât daz maere ein ende; daz ist der Nibelunge nôt.
die niederländische Übersetzung
Ik kan u niet vertellen, wat er vervolgens geschiedde:
Slechts dat men ridders, vrouwen en kinderen zag wenen
om de dood van hun geliefden.
Dat is het einde van de strijd der Nibelungen.
Die Geschichte ist sehr bekannt, populär und berühmt und wurde ungefähr 32 Mal umschrieben.
Komponist Richard Wagner hat zum Beispiel das Nibelungenlied zu einem Musikdrama umschrieben.
1876 entstand „der Ring der Nibelungen“, ein Musikoper in vier Teilen, das insgesamt 16 Stunden dauert.
Auch der Gegenwartsverfasser J.R.R. Tolkien hat die Motive aus dem „Ring des Nibelungen“ und aus dem
„Nibelungenlied“ in seinem Buch und Film „The Lord of the Rings“ verwendet.
Und das hat wieder einen Aufschwung der „Fantasy-Gattung“ verursacht.
4
Im späten Mittelalter verlor der Kaiser gegenüber den Landesherren an Macht. Die Städte und ihre Bürger
gewannen durch den wachsenden Handel politische Freiheit und militärische Macht.
Die Kaufleute schlossen sich in mächtigen Organisationen zusammen, zum Beispiel in der Hanse, einem
Städtebund an der Nord- und Ostsee.
Im 13. Jahrhundert zerfiel die Ritterkultur. Im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts wurde die Literatur mehr und
mehr eine Sache des Stadtbürgertums und so entstanden immer mehr realistische Erzählungen, in den
sogenannten Volksbüchern. Nach der Erfindung der Buchdruck (Johannes Gutenberg, so um 1450) konnten diese
und auch andere Bücher gedruckt werden und deshalb konnten mehr Menschen sie lesen.
Wichtige Volksbücher sind zum Beispiel “die Geschichte von Dr. Johann Faust” und “Till Eulenspiegel”. Dieses
letzte Buch, geschrieben von Hermann Bote, ist eine Sammlung von kurzen Erzählungen über die zentrale Figur
“Till Eulenspiegel”. Till ist ein Narr, der mit seinen Streichen den Menschen einen Spiegel vorhalten möchte, so
dass sie sehen, dass sie nicht soviel Weisheit haben als sie selbst denken.
Till Eulenspiegel hält auf dem Titelblatt eine Eule - das Symbol der Weisheit - und einen Spiegel - das Symbol der
Selbsterkenntnis - in den Händen.
Einmal ging er zu den Fleischbänken, wo das Fleisch
feilgeboten wurde. Da sprach ein Metzger ihn an, ob er
nicht etwas kaufen wolle, das er mit sich nach Hause
trüge. Eulenspiegel sagte zu ihm: »Was soll ich mit mir
nehmen?« Der Metzger sprach: »Einen Braten.«
Eulenspiegel sagte ja, nahm einen Braten bei einem Ende
und ging damit davon. Der Metzger lief ihm nach und
sprach zu ihm: »Nein, nicht so! Du musst den Braten
bezahlen!« Eulenspiegel sprach: »Von einer Bezahlung
habt Ihr mir nichts gesagt, sondern Ihr sagtet, ob ich nicht
etwas mit mir nehmen wolle.« Der Metzger habe auf den
Braten gewiesen, damit er den mit sich nach Hause
nehmen solle. Das wolle er mit des Metzgers Nachbarn
beweisen, die dabeistanden.
Die andern Metzger kamen dazu und sagten aus Hass,
dass es wahr sei. Denn die andern waren dem Metzger
feindlich gesonnen. Wenn jemand nämlich zu ihnen kam
und etwas kaufen wollte, rief er die Leute zu sich und zog
sie damit von ihnen ab. Darum stimmten sie zu, dass
Eulenspiegel den Braten behielte. Während der Metzger
also zankte, nahm Eulenspiegel den Braten unter den
Rock, ging damit hinweg und ließ sie sich darüber einigen,
so gut sie konnten.
Aus Till Eulenspiegel: die 58. Historie
Die 58. Historie sagt, wie Eulenspiegel in Erfurt einen
Metzger um einen Braten betrog.
Eulenspiegel konnte seine Schalkheit nicht lassen, als er
nach Erfurt kam, wo er bald mit Bürgern und Studenten
bekannt wurde.
In dieser Zeit sind neben den Volksbüchern auch Volksballaden und Volksliedern mit Liebe und Sitten und
Gebräuchen als Themen sehr wichtig. Die Verfasser der Volkslieder sind meistens wieder unbekannt.
Ein Beispiel von einem Volkslied (Verfasser unbekannt):
Das Mühlrad
Dort hoch auf jenem Berge
da get ein Mülerad,
Das malet nichts denn Liebe
die Nacht bis an den Tag.
Die Müle ist zerbrochen,
die Liebe hat ein End;
'So gesegen dich Gott, mein feines Lieb!'
ietz far ich ins Ellend*
*ietz = jetzt | Ellend = Ausland
5
Frühe Neuzeit (Humanismus und Reformation) 1500-1600
So um 1500 entstand in ganz Europa eine neue Zeit, in der der Mensch immer mehr im Mittelpunkt kommt. Das
Jenseits, das Leben nach dem Tod, ist nicht mehr wichtig, sondern das Diesseits, das Leben auf der Erde.
In dieser Zeit wird die Schönheit der antiken Kunst und Literatur wiederentdeckt. Das ist an sich ganz logisch, weil
bei den Griechen und Römern auch der Mensch im Mittelpunkt stand. Diese Zeit wird dann auch die Renaissance
(auf Deutsch die Wiedergeburt) genannt. Die wissenschaftliche Strömung, die sich mit der Philosophie und
Literatur der Griechen und Römer beschäftigt, heißt Humanismus.
Der bekannteste dieser Humanisten ist Erasmus von Rotterdam (1469-1536). Sein bekanntestes Werk ist Moriae
encomium (Lob der Torheit) aus 1509. In diesem Werk behauptet er, dass der Mensch und sein Leben auf dieser
Erde genauso wichtig sind als das Göttliche und das Jenseits.
Eine Fortsetzung fand die Erneuerungsbewegung von Renaissance und Humanismus durch die von Martin Luther
(1483-1546) eingeleitete Reformation. 1517 fängt die Reformation an, weil Luther dann seine 95 Thesen mit
seiner Kritik an der katholischen Kirche an die Kirchentür in Wittenberg festnagelte.
Luther verstand es, seine Ideen auch in deutlichem Deutsch zu verbreiten. Sie war sowohl in Nord- als auch in
Süddeutschland verständlich, vor allem aber verstand sie auch der einfache Mann. Die Personen, die in früheren
Zeiten die Bibel übersetzt haben, haben zu wenig die Umgangssprache jener Zeit benutzt und zu viel das
lateinische Beispiel. Das ist sehr deutlich im nächsten Beispiel zu sehen:
Nürnberger Bibel von 1483
Ob ich red in der zungen der engel und der menschen
Aber hab ich der lieb nit
Ich bin gemacht als ein glockspeys lautend oder als
ein schell lingend
Luther
Wenn ich mit Menschen und mit Engel zungen redet
Und hette der Liebe nicht
So were ich ein donend Ertz oder eine klingende Schelle
Die niederländische Übersetzung
die niederländische Übersetzung
Of ik spreek in de tongen der engelene en der mensen Als ik met de tongen van mensen en engelen sprak
Maar ik heb de liefde niet
Maar had de liefde niet
Dan ben ik gemaakt als een klokspijs galmend of als
Dan zou ik galmend erts zijn of een luidende bel
een bel luidend
Durch die Erfindung des Buchdrucks verbreitete sich seine Lehre sehr rasch in Deutschland. 1522 erschien das
Neue Testament und 1534 die gesamte Bibel. Bis zu seinem Tode erschienen mehr als 20 Auflagen der Bibel.
Außerdem ist diese Bibelübersetzung von Luther sehr wichtige für die Entwicklung der deutschen Sprache im
deutschen Reich.
Barock 1600-1700
Die Kultur des 17. Jahrhunderts wird Barock (portugiesisch „barocco“ – „unregelmäßige Perle“) genannt, eine
Reaktion auf die Reformation. Diese Bezeichnung war ursprünglich negativ gemeint, denn Unsicherheit und Chaos
bestimmten das Leben, Denken und Fühlen der Menschen in Deutschland. Nicht nur der Dreißigjährige Krieg
(1618-1648) war die Ursache hierfür, denn fast die Hälfte der 18 Millionen Deutschen starb, sondern auch der
Gegensatz zwischen der bewussten Hinwendung zur Welt („carpe diem“- „genieß den Augenblick“) und einer
Abwendung von der Welt („memento mori“- „gedenke des Todes“). Beide waren nicht miteinander in
Übereinstimmung zu bringen. Der Ausdruck dieses Gegensatzes in der Kunst ist sehr gut in barocken Gebäuden
und Gemälden zu sehen, zum Bespiel die Frauenkirche in Dresden, Versailles in Paris oder Schloss Schönbrunn in
Wien.
Im Gegensatz zum 16. Jahrhundert entwickelte sich eine kunstvolle Dichtung in der deutschen Sprache, die den
antiken Kunstauffassungen entsprach. Wichtig ist vor allem Martin Opitz (1597-1639) mit seinem Werk „Buch von
der Deutschen Poeterey“ (1624), in dem die wichtigsten Regeln der lateinischen Dichtkunst auf die deutsche
Sprache angewendet werden.
Wichtige deutschen Dichter im 17. Jahrhundert sind zum Beispiel Andreas Gryphius, der versucht hat in Lyrik und
Drama die furchtbaren Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges auszudrücken, und Hans Jakob Christoffel von
Grimmelshausen, der mit Romanen anfängt. Er schreibt einen Bildungsroman, in dem die Hauptperson viel in
6
seinem Leben und im Krieg lernt. Außerdem gibt es den „höfischen Roman“, den „Ritter- und Zauberroman“ und
den „Schelmenroman“ (ein Schelm ist ein Narr).
Im 17. Jahrhundert erreicht das Kirchlied seinen Höhepunkt mit den Texten von Paul Gerhardt (evangelische
Kirchenlieder) und Angelus Silesius (katholische Kirchenlieder), wofür Johann Sebastian Bach (1685-1750)
teilweise die Musik geschrieben hat.
Die Aufklärung 1700-1780
Im 18. Jahrhundert entwickelte sich in ganz Europa eine von der Vernunft bestimmte Denkweise, der
Rationalismus. Man spricht von Aufklärung, weil Philosophen und Schreiber behaupteten, dass die Wahrheit nicht
nur in der Bibel stand, sondern auch von den Menschen selbst bedacht werden musste. Die persönliche Erfahrung
des Glaubens war das Wichtigste. Das hatte natürlich großen Einfluss auf die Literatur. Die Dichter begannen ihre
eigene innere Gefühlswelt zu gestalten. Man nannte diese Richtung die Empfindsamkeit.
Wichtige Philosophen in Europa waren Descartes, Voltaire, Didérot aus Frankreich, Locke und Hume aus England
und Kant aus Deutschland.
Immanuel Kant (1724-1804) sagte zum Beispiel: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner
selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Vertaling: Verlichting betekent, dat de mens de onmondigheid waar hij zelf
schuld aan heeft, achter zich laat. Außerdem sagte er: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu
bedienen“. Vertaling: Heb de moed je eigen verstand te gebruiken.
Die wichtigsten Dichter aus der Aufklärung waren Gelehrte. Am Anfang hatte vor alle Johann Christoph Gottsched
(1700-1766) einen großen Einfluss auf die Literatur in dieser Zeit.
Im Sinne der Rationalismus wollte Gottsched auf Grund der Vernunft Regeln aufstellen. Nur hohe
Standespersonen durften in einer Tragödie auftreten, während in einer Komödie Bürger auftreten konnten. Auch
muss eine Tragödie die drei Einheiten einhalten: die Einheit der Handlung (nur eine und keine Nebenhandlungen),
die Einheit der Zeit (Zeitdauer von etwa zwölf Stunden) und die Einheit des Ortes (ein Akt soll an einem Ort
spielen). Es sollte damit die Steigerung der Spannung und die Konzentration auf das Wesentliche erreicht werden.
Ein Dichter soll sich einen moralischen Lehrsatz wählen. Und das Ganze wird in fünf Teilen von gleicher Länge
eingeteilt (fünf Akte).
Die nächste Generation protestierte gegen die Auffassungen von Gottsched, vor allem Gotthold Ephraim Lessing
(1729-1781) machte das. Er behauptete, dass Kreativ sein erheblich wichtiger war als sich an die Regeln von
Gottsched zu halten. Darum wurden die Schauspieler auch „menschlicher“, das heißt, dass sie wie alle Menschen
Schwäche, Fehler und Selbstverantwortung zeigen. Im Theater konnte dieses erzieherische Ziel dargestellt
werden, aber auch mit Gedichten und Fabeln versuchten die Dichter den Menschen besser und tugendhafter zu
machen.
Lessing hat viele Fabeln, ungefähr 60, geschrieben. Eine Fabel ist eigentlich eine Erzählung, in der Tiere mit
menschlichen Eigenschaften auftreten. In einer Fabel wird eine allgemeine Wahrheit oder eine sinnvolle
Lebensweisheit verdeutlicht. Der bekannteste Fabelerzähler, der Römer Aesopus (620-560 v. Chr.), war ein
Beispiel für Lessing, aber auch für den berühmten französischen Dichter La Fontaine.
Hier sind zwei Fabeln von Lessing aufgenommen.
Der Esel und der Wolf
Der Strauß
Ein Esel begegnete einem hungrigen Wolfe. "Habe
Mitleid mit mir", sagte der zitternde Esel, "ich bin ein
armes krankes Tier; sieh nur, was für einen Dorn ich mir
in den Fuß getreten habe!"
"Wahrhaftig, du dauerst mich", versetzte der Wolf. "Und
ich finde mich in meinem Gewissen verbunden, dich von
deinen Schmerzen zu befreien."
Kaum ward das Wort gesagt, so ward der Esel zerrissen.
Das pfeilschnelle Rentier sah den Strauß und sprach: »Das
Laufen des Straußes ist so außerordentlich eben nicht;
aber ohne Zweifel fliegt er desto besser.«
Ein andermal sah der Adler den Strauß und sprach:
»Fliegen kann der Strauß nun wohl nicht; aber ich glaube,
er muss gut laufen können.«
Außerdem hat Lessing wichtige Theaterstücke wie z.B. Minna von Barnhelm, Emilia Galotti und Nathan
der Weise geschrieben. Diese Stücke werden auch heutzutage noch in den Theatern auf die Bühne
gebracht.
7
Sturm und Drang 1770-1786
Die jugendliche Reaktion auf die Aufklärung war die kurze Periode des „Sturm und Drang“. Die meist jungen
Männer, die gegen jede Form von Tyrannei waren, wollten auch in künstlerischen Dingen keine Bevormundung.
Sturm und Drang war eine Übergangszeit (von der Aufklärung mit Autonomie und Ratio zur Klassik, in der Gefühl
und Vernunft wichtig sind) und eigentlich sehr aktuell, weil der Aufstand von Söhnen gegen ihre Väter, das Rufen
um Demokratie, die Schönheit der Natur, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen und die unbeantwortete
Liebe ein Paar der wichtigsten Themen waren. Diese Themen gehören natürlich auch zu einer Periode des
Erwachsenwerdens.
Bei den Stürmern und Drängern werden die persönliche Erfahrung, die Gefühle und das Genie, das nach Freiheit
strebt, beschrieben und sie wurden von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) inspiriert.
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) hat in bezug hierauf sehr wichtige Wörter geschrieben: himmelhoch
jauchzend zum Tode betrübt. Vertaling: hemelhoog juichend, dodelijk bedroefd.
Er wurde zum wichtigsten Vertreter der Sturm und Drang Bewegung. Goethe benutzte eine neue Lyrik, weil er in
seinen Gedichten eine ganz neue Sprache, vor allem eine neue Sprachmelodie verwendete. Diese neue
Kunstauffassung hat er von Johann Gottfried Herder (1744-1803), der Natürlichkeit, Einfachheit und
Ausdruckskraft von der Dichtung forderte. Herder wies übrigens auch auf die Schönheit von Volksliedern hin.
Goethe wollte diese Forderungen verwirklichen. Er machte das in seinen wichtigsten Gedichte Willkommen und
Abschied (1771) über seine Liebe zu Friederike Brion, Mailied (1771) und Prometheus (1774), ein Lobgesang auf
die Götter.
Goethe hat auch verschiedene Dramen und Romane geschrieben. Vor allem in zwei Werken gestaltete Goethe die
neuen (Gefühls)Erfahrungen, nämlich im Drama Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (1773) und im
Roman Die Leiden des jungen Werthers (1774).
Als Vorbild für das Drama Götz von Berlichingen galten die Dramen von Shakespeare. Sie setzten sich über allen
rationalen Regelzwang hinweg und stellten individuelle Charaktere in ihrer Natürlichkeit dar.
Im Werther wählt Goethe die Form des Briefromans, in dem der Held – der Ich-Erzähler – seine eigenen Gefühle
und Gedanken in Briefen direkt zum Ausdruck bringt (Werther schreibt seinem Freund Wilhelm). Werther ist ein
junger Mann mit tiefer seelischer Empfindungen und hohen Erwartungen. Überall stößt er an unüberwindliche
Grenzen: in der Kunst, in der Gesellschaft und in der Liebe. Er liebt Lotte, die jedoch bereits mit einem anderen
verlobt ist. Er steigert sich so in diese Liebe hinein, dass die Verzweiflung über die Unmöglichkeit nur in einem
Selbstmord enden kann. Das Neue in diesem Roman war das Darstellen dieses totalen Scheiterns von Werther
und dass die Hauptperson ein Bürger war und nicht jemand vom Adel.
Werthers Freitod hat natürlich verursacht, dass das Buch verboten wurde, aber trotzdem wurde es von vielen
Menschen gelesen. Goethe hat in diesem Roman, der erste moderne Roman in Deutschland, auch eigene
Erfahrungen (kennzeichnend für die Sturm und Drang Periode) beschrieben. Er hatte sich nämlich verliebt in
Charlotte Buff, aber sie hat sich schon mit jemandem verlobt und konnte Goethes Liebe nicht beantworten.
Weil der Roman so populär war, hatte Goethe in der zweiten Auflage die nächste Warnung hinzugefügt:
„Sei ein Mann, und folge mir nicht nach“. Vertaling: wees een man en doe mij niet na.
Im 19. und 20. Jahrhundert spielte der Wertherroman und das Werther-Fieber in der Literatur und Philosophie
eine große Rolle. Auch in Deutschland, denn 1939 hat Thomas Mann einen Roman (Lotte in Weimar)
veröffentlicht, in dem Charlotte Buff in einer späteren Begegnung in Weimar Goethe trifft. Außerdem hat Ulrich
Plenzdorf 1973 Die neuen Leiden des jungen W. geschrieben. Dieses Stück wird noch immer im Theater aufgeführt
und ist auch verfilmt worden.
Goethe im Alter von 30 Jahren.
8
Im Brief „Nach Eilfe“ (Vertaling: na elven) wird beschrieben wie Werther (im Original von Goethe) sein
Ende vorbereitet und wie er Tod angetroffen wird.
Nach Eilfe
»Alles ist so still um mich her, und so ruhig meine Seele. Ich danke dir, Gott, der du diesen letzten Augenblicken diese Wärme,
diese Kraft schenkest.
Ich trete an das Fenster, meine Beste, und sehe, und sehe noch durch die stürmenden, vorüberfliehenden Wolken einzelne
Sterne des ewigen Himmels! Nein, ihr werdet nicht fallen! Der Ewige trägt euch an seinem Herzen, und mich. Ich sehe die
Deichselsterne des Wagens, des liebsten unter allen Gestirnen. Wenn ich nachts von dir ging, wie ich aus deinem Tore trat,
stand er gegen mir über. Mit welcher Trunkenheit habe ich ihn oft angesehen, oft mit aufgehabenen Händen ihn zum Zeichen,
zum heiligen Merksteine meiner gegenwärtigen Seligkeit gemacht! Und noch – o Lotte, was erinnert mich nicht an dich!
Umgibst du mich nicht! Und habe ich nicht, gleich einem Kinde, ungenügsam allerlei Kleinigkeiten zu mir gerissen, die du
Heilige berührt hattest!
Liebes Schattenbild! Ich vermache dir es zurück, Lotte, und bitte dich, es zu ehren. Tausend, tausend Küsse habe ich darauf
gedrückt, tausend Grüße ihm zugewinkt, wenn ich ausging oder nach Hause kam. Ich habe deinen Vater in einem Zettelchen
gebeten, meine Leiche zu schützen. Auf dem Kirchhofe sind zwei Lindenbäume, hinten in der Ecke nach dem Felde zu; dort
wünsche ich zu ruhen. Er kann, er wird das für seinen Freund tun. Bitte ihn auch. Ich will frommen Christen nicht zumuten,
ihren Körper neben einen armen Unglücklichen zu legen. Ach, ich wollte, ihr begrübt mich am Wege, oder im einsamen Tale,
daß Priester und Levit vor dem bezeichneten Steine sich segnend vorübergingen und der Samariter eine Träne weinte.
Hier, Lotte! Ich schaudre nicht, den kalten, schrecklichen Kelch zu fassen, aus dem ich den Taumel des Todes trinken soll! Du
reichtest mir ihn, und zage nicht. All! All! So sind alle die Wünsche und Hoffnungen meines Lebens erfüllt! So kalt, so starr an
der ehernen Pforte des Todes anzuklopfen.
Daß ich des Glückes hätte teilhaftig werden können, für dich zu sterben! Lotte, für dich mich hinzugeben! Ich wollte mutig, ich
wollte freudig sterben, wenn ich dir die Ruhe, die Wonne deines Lebens wiederschaffen könnte. Aber ach! Das ward nur
wenigen Edeln gegeben, ihr Blut für die Ihrigen zu vergießen und durch ihren Tod ein neues, hundertfältiges Leben ihren
Freunden anzufachen.
In diesen Kleidern, Lotte, will ich begraben sein, du hast sie berührt, geheiligt; ich habe auch deinen Vater darum gebeten.
Meine Seele schwebt über dem Sarge. Man soll meine Taschen nicht aussuchen. Diese blaßrote Schleife, die du am Busen
hattest, als ich dich zum ersten Male unter deinen Kindern fand – o küsse sie tausendmal und erzähle ihnen das Schicksal ihres
unglücklichen Freundes. Die Lieben! Sie wimmeln um mich. Ach wie ich mich an dich schloß! Seit dem ersten Augenblicke dich
nicht lassen konnte! – diese Schleife soll mit mir begraben werden. An meinem Geburtstage schenktest du sie mir! Wie ich das
alles verschlang! – ach, ich dachte nicht, daß mich der Weg hierher führen sollte! – sei ruhig! Ich bitte dich, sei ruhig!
– Sie sind geladen – es schlägt zwölfe! So sei es denn! – Lotte! Lotte, lebe wohl! Lebe wohl!«
Ein Nachbar sah den Blick vom Pulver und hörte den Schuß fallen; da aber alles stille blieb, achtete er nicht weiter drauf.
Morgens um sechse tritt der Bediente herein mit dem Lichte. Er findet seinen Herrn an der Erde, die Pistole und Blut. Er ruft, er
faßt ihn an; keine Antwort, er röchelt nur noch. Er läuft nach den Ärzten, nach Alberten. Lotte hört die Schelle ziehen, ein
Zittern ergreift alle ihre Glieder. Sie weckt ihren Mann, sie stehen auf, der Bediente bringt heulend und stotternd die
Nachricht, Lotte sinkt ohnmöchtig vor Alberten nieder.
Als der Medikus zu dem Unglücklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls schlug, die Glieder waren alle
gelähmt. Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Man ließ ihm
zum Überfluß eine Ader am Arme, das Blut lief, er holte noch immer Atem.
Aus dem Blut auf der Lehne des Sessels konnte man schließen, er habe sitzend vor dem Schreibtische die Tat vollbracht, dann
ist er heruntergesunken, hat sich konvulsivisch um den Stuhl herumgewälzt. Er lag gegen das Fenster entkräftet auf dem
Rücken, war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Frack mit gelber Weste.
Das Haus, die Nachbarschaft, die Stadt kam in Aufruhr. Albert trat herein. Werthern hatte man auf das Bett gelegt, die Stirn
verbunden, sein Gesicht schon wie eines Toten, er rührte kein Glied. Die Lunge röchelte noch fürchterlich, bald schwach, bald
stärker; man erwartete sein Ende.
Von dem Weine hatte er nur ein Glas getrunken.«Emilia Galotti« lag auf dem Pulte aufgeschlagen.
Von Alberts Bestürzung, von Lottens Jammer laßt mich nichts sagen.
Der alte Amtmann kam auf die Nachricht hereingesprengt, er küßte den Sterbenden unter den heißesten Tränen. Seine
ältesten Söhne kamen bald nach ihm zu Fuße, sie fielen neben dem Bette nieder im Ausdrucke des unbändigsten Schmerzens,
küßten ihm die Hände und den Mund, und der älteste, den er immer am meisten geliebt, hing an seinen Lippen, bis er
verschieden war und man den Knaben mit Gewalt wegriß. Um zwölfe mittags starb er. Die Gegenwart des Amtmannes und
seine Anstalten tuschten einen Auflauf. Nachts gegen eilfe ließ er ihn an die Stätte begraben, die er sich erwählt hatte. Der
Alte folgte der Leiche und die Söhne, Albert vermocht's nicht. Man fürchtete für Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein
Geistlicher hat ihn begleitet.
9
Neben Herder und Goethe ist (Johann Christoph) Friedrich Schiller (1759-1805) der dritte Vertreter des „Sturm
und Drang“. Während Goethe in Freiheit aufwuchs, wuchs Friedrich Schiller mit viel Unfreiheit und Zwang auf.
Schreiben durfte er auch nicht und darum machte er das meistens nachts.
1780 vollendet er „Die Räuber“, ein typisches Sturm und Drang Drama. Das Thema dieses Werkes ist nämlich der
Widerstand gegen die Unterdrückung und die Unfreiheit bei der Erziehung.
1782 fand die Uraufführung in Mannheim statt, aber weil der Herzog empört ist, verbietet er Schiller noch
weitere Theaterstücke zu schreiben und dann flieht Schiller aus Stuttgart nach Mannheim.
Andere Werke von Schiller sind Kabale und Liebe (1783), das bedeutendste bürgerliche Trauerspiel (in Anlehnung
an Lessings Emilia Galotti) und Don Carlos (1787/88). Das letzte Stück ist eines der schönsten Theaterstücke von
Schiller und wird auch heutzutage noch in Deutschland und in den Niederlanden auf die Bühne gebracht.
Außerdem hat Giuseppi Verdi (1813-1901) die gleichnamige Oper geschrieben.
Schiller findet die Bühne hervorragend geeignet um das Bürgertum einiges zu lehren. Auf der Bühne konnten
nämlich aktuelle Probleme zur Diskussion gestellt werden.
Schiller hat auch schöne Gedichte geschrieben.
Die Ode „an die Freude“ (1785) ist eines der berühmtesten Gedichte Friedrich Schillers und der Titel seiner
Bearbeitung im 4. Satz der 9. Sinfonie (1823) von Ludwig von Beethoven (1770-1827). Die Ode beschreibt das
Ideal einer Gesellschaft von gleichberechtigten Menschen, die durch das Band der Freude und der Freundschaft
verbunden sind. Später wurde dieses Lied dann auch das Volkslied des vereinten Europas.
Freude schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten Feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum!
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt.
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.
Schiller im Alter von 35 Jahren
Übrigens hat auch Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) mit seiner Oper Die Zauberflöte (1791) die Ideen der
Stürmer und Dränger sehr gut beschrieben.
In dieser Oper befinden sich viele komische Fragmente, aber ungefähr in der Mitte der Oper lässt Mozart diese
sehr revolutionären Wörter singen: „… und Sterbliche sind Götter gleich“. Vertaling: … stervelingen zijn goden
gelijk. Das war für diese Zeit, in der man zweifelte an Gott und seine Existenz, ziemlich gewagt.
Goethe kommt 1775 in Weimar an. Schiller besucht erst 1787 Weimar. Er lernt Goethe kennen und später
befreundet er sich mit Goethe. Das ist der Anfang der Klassik.
Ein Denkmal von Goethe und Schiller in Weimar
10
Die (Weimarer) Klassik 1786-1805
Die Klassik ist in Deutschland verbunden mit den Namen von zwei Städten und Dichtern. Die Stadt Weimar ist mit
dem Dichter Johann Wolfgang Goethe verbunden und Jena mit dem Dichter und Professor für Geschichte
Friedrich Schiller. Die Periode ihrer Freundschaft ist der Höhepunkt der literarischen Entwicklung der Klassik.
Goethe kam 1775 auf Einladung des Herzogs Karl August nach Weimar, weil Karl August und seine Mutter
wollten, dass Weimar ein kulturelles Zentrum wurde. Goethe verblieb dort bis zu seinem Tode 1832. Die ersten
zehn Jahre war er Minister, aber weil das zu viel Zeit kostete, konnte Goethe sich zu wenig auf seine Arbeit als
Dichter konzentrieren. Darum ging er nach Italien, wo er letztendlich sein Gleichgewicht wiederfand. Zurück in
Weimar konzentrierte Goethe sich auf seine Arbeit als Künstler, so wie die Künstler der Antike das völlig auf ihren
eigentlichen Auftrag machte: Natur und Kunst. Goethe hat seine Kunstauffassung auch sehr deutlich in einem
Gedicht, mit zwei der nächsten Zeilen, beschrieben (1802):
In der Beschränkung zeigt sich der Meister, und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben. Vertaling: In de beperking
pas toont zich de meester, en wetten slechts kunnen ons vrijheid geven.
Goethe versuchte zunächst eine Begegnung mit Schiller zu vermeiden, aber dann entdeckte er, dass Schiller auch
nicht mehr der Sturm und Drang Dichter war. Auf verschiedenen Wegen hatte sie nämlich nach dem gleichen Ziel
gestrebt. 1794 begegnen sie sich zum ersten Mal.
Richtungweisend ist der Gedanke der Humanität (mit der Zurückbesinnung auf die Antike), die reine
Menschlichkeit im Dienst der gesamten Menschlichkeit. Ziel ist harmonische Übereinstimmung von Gefühl und
Verstand im Menschen (im Gegensatz zur Aufklärung, wo Gefühl und Verstand nicht übereinstimmten). Literatur
und Philosophie sind für sie wichtige Mittel dazu.
Im Mittelpunkt von Goethes und Schillers Weltbetrachtung steht der Gedanke der Bildung. Der Mensch muss zur
Freiheit und Verantwortung erzogen werden. Die Bühne war für sie der Ort wo das stattfinden musste.
1799 zieht Schiller auch nach Weimar um. Sie arbeiten zusammen an „Xenien“, das sind kurze Sprüche die der
Gastgeber seinem Gast sagt während er ein Geschenk gibt.
Schiller und Goethe schreiben beide Balladen. Die Ballade, die aus der europäische Volksdichtung stammt,
bekommt bei Goethe und Schiller eine klassische Form. Bei Goethe bleibt das unmittelbare Erleben der Natur
bestimmend und bei Schiller spielt das Gedankliche und die dramatische Entwicklung der Handlung eine größere
Rolle.
Goethe schrieb in dieser Periode unter anderem Egmont (1787) und Iphigenie auf Tauris (1786-1788).
Schiller schrieb neben Balladen vor allem Dramen mit einem historischen Thema in dieser Periode, wie
Maria Stuart (1800), Die Jungfrau von Orléans (1801) und sein letztes Drama Wilhelm Tell (1804). Schiller ist selbst
nie in der Schweiz gewesen und kannte das Land also nur aus den Geschichten von Goethe.
Die Geschichte spielt so um 1300. Schiller verbindet die Tell-Sage mit dem Freiheitskampf der Schweizer Kantone
(die Schweizer werden hier Eidgenossen genannt) gegen die Landvögte (insbesondere der Landvogt Gessler) der
Habsburger.
Den Schweizern wird bewusst, dass sie nur eine Chance haben, ihre Freiheit zu retten: nicht einzeln, sondern
gemeinsam gegen die Unterdrücker zu kämpfen. Heimlich kommen sie zusammen und schwören:
Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben!
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.
Gessler zwingt die Eidgenossen einen Hut zu grüßen (Symbol für Gessler), aber die Eidgenossen sehen das als eine
Erniedrigung. Tell macht es darum auch nicht und daraufhin nimmt Gessler Tells Sohn als Geisel. Tell bekommt
erst seinen Sohn zurück, wenn er mit einem Bogen einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schießt. Nachdem es Tell
gelungen ist, schießt er auch auf Gessler und tötet ihn. Die Eidgenossen erklären darauf die Unabhängigkeit.
Schiller stirbt 1805 nach vielen Jahren eine Lungenkrankheit gehabt zu haben.
11
Schiller hat Goethe angespornt seine unvollendeten Werke wieder zur Hand zu nehmen, aber nach Schillers Tod
ging das sehr schwierig. Trotzdem vollendete er den Roman Wilhelm Meister und das Drama Faust.
Goethes bekannteste Dichtung ist der Faust. Sein ganzes Leben hat er sich damit beschäftigt: In der Sturm und
Drang-Periode schrieb er den Urfaust (erst 1887 gedruckt, 1808 erschien Faust. Der Tragödie erster Teil und 1832
nach seinem Tode der zweite Teil.
Goethe schließt beim Volksbuch Historie von D.Johann Fausten (1587) an. Faust ist in seinem unbezähmbaren
Erkenntnisdrang unzufrieden mit dem, was die Wissenschaften zu bieten haben.
Am Anfang der Tragödie ist Faust (Zeile 354-369) völlig verzweifelt; er weiß nämlich nicht, ob der Mensch zum
Guten oder zum Schlechten geneigt ist.
Origineel
Faust:
Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerey und Medicin,
Und leider auch Theologie!
Durchaus studirt, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Thor!
Und bin so klug als wie zuvor;
Heiße Magister, heiße Doctor gar,
Und ziehe schon an die zehen Jahr'
Herauf, herab und quer und krumm,
Meine Schüler an der Nase herum Und sehe, daß wir nichts wissen können!
Das will mir schier das Herz verbrennen.
Zwar bin ich gescheidter als alle die Laffen,
Doctoren, Magister, Schreiber und Pfaffen;
Mich plagen keine Scrupel noch Zweifel,
Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel
Vertaling
Nu heb ik filosofie,
rechten en medicijnen en, o spijt,
daarnaast ook nog theologie
lang gestudeerd met noeste vlijt.
Hier sta ik nu, ik arme dwaas!
niets wijzer dan ik was, helaas.
Ik ben magister, doctor bovendien,
en houd nu al zo'n jaar of tien
bij hoog en laag, van vroeg tot laat
al mijn studenten aan de praat beseffend niets te kunnen weten!
Dat heeft zich in mijn hart gevreten.
Wel ben ik wijzer dan al die papen,
doctoren, magisters en dat soort knapen,
'k word niet gekweld door vrome twijfel,
ben ook niet bang voor hel of duivel -
Faust verbindet sich mit dem Teufel Mephistopheles (der eigentlich ein Hund ist) und der sich anbietet, ihm das
wirkliche Leben zu zeigen. Sie stürzen sich in die Welt. Faust verliebt sich in ein Mädchen, Gretchen, das für ihn
die höchste Form der Weiblichkeit verkörpert. Er erlebt alle Wonnen der sinnlichen Liebe. Sie bekommt ein Kind
von ihm. Sie aber glaubt, dass Faust sie verlassen hat. In ihrer Verzweiflung tötet sie das Kind, worauf sie als
Kindsmörderin hingerichtet wird. Das Leben bedeutet also nicht nur höchste Erhebung, sondern auch tiefe
Schuld. Am Ende von Faust I (Zeile 4544-4549) wird Gretchen, oder eigentlich Margarete, im Himmel
aufgenommen, weil sie immer eine religiöse Beharrlichkeit gezeigt hat.
Origineel
Margarete:
Ich darf nicht fort; für mich ist nichts zu hoffen.
Was hilft es, fliehn? Sie lauern doch mir auf.
Es ist so elend, betteln zu müssen
Und noch dazu mit bösem Gewissen!
Es ist so elend, in der Fremde schweifen
Und sie werden mich doch ergreifen!
Vertaling
Ik mag niet weg, wat heb ik nog te hopen!
En waarom vluchten? Ze pakken me toch.
Niets ergers dan bedelen om eten,
nog bovendien met een slecht geweten!
Niets ergers dan zwerven in den blinde
en ze weten me toch te vinden!
Am Ende von Faust I scheint Mephistopheles von Faust zu gewinnen, aber im zweiten Teil gewinnt Faust es nach
einer langen Suche doch von Mephistopheles. Er gelingt dann zur Einsicht, dass die Grübelei über Sinn und
Zusammenhang in der Welt wenig Wert hat. Freiheit muss tagtäglich erobert werden!
Origineel
Faust:
Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Vertaling
Ja, één devies ben ik steeds trouw gebleven,
geen andere wijsheid heeft voor mij gezag:
slechts hij verdient de vrijheid en het leven
die ervoor vecht van dag tot dag.
12
Die Romantik 1798-1835
Schon während der Goethezeit wandte eine jüngere Dichtergeneration (geboren um 1770) sich von den Idealen
der Klassik ab, weil sie erkannte, dass die klassische griechische Kunst mit ihrem harmonischen Menschenbild
(Gleichgewicht zwischen Geist und Natur) ein einmaliger und unwiederholbarer Höhepunkt in der
Menschheitsgeschichte gewesen ist. Sie sprachen von „Entzauberung der Welt“, vertaling: onttovering van de
wereld.
Die Romantiker lehnen die Grenzen für den Menschen ab und folgen ihrem Gefühl. Sie bevorzugen eine
musikalische Sprache (Verse und Prosa). Ihre historische Vorliebe gilt der eigenen Geschichte und dem Mittelalter
(Volkspoesie und Ritterzeit) und nicht mehr der Antiken. Die Romantiker waren nicht zufrieden mit der
Wirklichkeit, in der sie lebten. Sie sehnten sich nach einer besseren Welt (mit zum Beispiel Auslandsreisen), in der
die Gesellschaft harmonisch sein würde, und wollten das Unmögliche erleben, kehrten doch immer wieder in die
Wirklichkeit zurück. Das Ideal und die Wirklichkeit standen also auf unsicheren Füßen. Außerdem hatte man viel
Aufmerksamkeit für Traum und Tod, weil das Themen waren, die nicht so oft im Alltagsleben vorkamen. Als vierte
Merkmal sieht man, dass die Romantiker sich gegen die starren Regeln der Literatur gewehrt haben, so wie
Goethe und Schiller das auch in der Sturm und Drangperiode gemacht haben. Die Flucht aus der Wirklichkeit
wurde durch eine Phantasie-, Traum- und Märchenwelt ermöglicht.
Die Romantik besteht aus zwei Teilen: die Ältere Romantik (1798-1815) und Jüngere Romantik (1815-1835).
Die Ältere Romantik ist in Jena entstanden und war stark philosophisch, literaturkritisch und theoretisch.
Die Autoren, wie zum Beispiel die Brüder Schlegel, die Brüder Grimm, Ludwig Tieck und Novalis, waren literarisch
sehr produktiv und zeigten ein größeres Interesse für das Historische und vor allem für die eigene deutsche
Geschichte. Ihre Kunst war viel gefühlsmäßiger und oft eine Stimmungskunst: der dunkle Wald, die abendliche
Stille, bezaubernde Musik, Liebe, Mondschein und das Geheimnisvolle sind einige Kennzeichen. Ihre Vorliebe gilt
deshalb dem Märchen.
Die Jüngere Romantik wurde vor allem aus Berlin und Heidelberg von Achim von Arnim, Joseph von Eichendorff.
E.T.A. Hoffmann und Clemens Brentano geschrieben. Die Geschichten, die geschrieben wurden, waren literarisch
mit viel Natur und oft waren es auch Gruselgeschichten.
Das Wort „romantisch“ bedeutet „romanhaft“. In der Gattung des Romans sollten sich alle anderen literarischen
Formen vereinigen. Dieses künstlerische Verfahren sollte die „unendliche Fülle“ der Welt, die „Ahnung des
Ganzen“ vermitteln. Romantische Poesie ist gleichzeitig ein Lebensprinzip; Kunst und Leben werden eins. Der
Dichter schreibt und reflektiert zugleich über den Vorgang und die Bedingungen des Schreibens. Das Leben wird
zum Roman, zum gelebten Kunstwerk.
Ende des 18. Jahrhunderts bekam dieser Begriff „Romantik“ eine positive Bedeutung. Freiheit, Kreativität und
Echtheit wurden die zentralen Gedanken gegenüber der klassischen Gekünsteltheit.
Musik nahm eine wichtige Rolle ein. Der Autor E.T.A. Hoffmann (1776-1822) hat sich selbst zum Beispiel als dritte
Name „Amadeus“ gegeben. Und in dieser Zeit war Ludwig von Beethoven (1770-1827) ein bedeutender Musiker.
Außerdem wurden Gedichte sehr oft als Musikstück aufgeführt, wie bei Joseph von Eichendorff.
Das höchste Streben für einen romantischen Künstler war die Synthese, also das Zusammenfügen von allen
Kunstformen (Musik, Malerei und Literatur). Richard Wagner (1813-1883) hat das sehr gut in seinen
Musikdramen, eine Art Opern, gemacht. Er schrieb den Text und die Musik, aber führte auch die Regie, machte
die Bühnendekorationen und dirigierte. Diese Musikdramen waren außerdem typisch „romantisch“, weil Wagner
oft mittelalterliche Themen benutzte. Wichtig sind Tannenhäuser (1845: Nach dem Roman „Heinrich von
Ofterdingen“ von Novalis mit Kritik an Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, 1795/96 und der Klassik),
Lohengrinn (1850), Tristan und Isolde (1865) und der Ring des Nibelungen (1876).
Die Märchen: weil die Jugend und die Jugendlichen zum Leitbild wurden, dachte man, dass man das Kind
zurückfand in der Phantasiewelt der Märchen. Die (Nicht-)Wirklichkeit ist hier natürlich sehr vage.
Die Brüder Grimm (Jakob 1785-1863 und Wilhelm 1786-1859) haben sehr viele Märchen aufgeschrieben, aber
auch einen wichtigen Beitrag geliefert an der Geschichte der Deutschen Sprache. Die erste deutsche Grammatik
ist nämlich von Jakob Grimm und zusammen haben die Brüder am ersten deutschen Wörterbuch gearbeitet.
Außerdem sind die Brüder die Gründer der Germanistik (vertaling: de taalkunde).
Wichtige Märchen sind natürlich Rotkäppchen, Schneewittchen, Hänsel und Gretel und Aschenputtel.
Auf der nächsten Seite sind zwei kurze Märchen zu lesen:
13
Der süße Brei
Es war einmal ein armes, frommes Mädchen, das lebte mit
seiner Mutter allein, und sie hatten nichts mehr zu essen.
Da ging das Kind hinaus in den Wald, und begegnete ihm
da eine alte Frau, die wußte seinen Jammer schon und
schenkte ihm ein Töpfchen, zu dem sollt es sagen:
»Töpfchen, koche«, so kochte es guten, süßen Hirsebrei,
und wenn es sagte: »Töpfchen, steh«, so hörte es wieder
auf zu kochen.
Die drei Faulen
Ein König hatte drei Söhne, die waren ihm alle gleich lieb,
und er wußte nicht, welchen er zum König nach seinem
Tode bestimmen sollte. Als die Zeit kam, daß er sterben
wollte, rief er sie vor sein Bett und sprach 'liebe Kinder, ich
habe etwas bei mir bedacht, das will ich euch eröffnen:
welcher von euch der faulste ist, der soll nach mir König
werden.' Da sprach der älteste 'Vater, so gehört das Reich
mir, denn ich bin so faul, wenn ich liege und will schlafen,
und es fällt mir ein Tropfen in die Augen, so mag ich sie
nicht zutun, damit ich einschlafe.' Der zweite sprach
'Vater, das Reich gehört mir, denn ich bin so faul, wenn ich
beim Feuer sitze, mich zu wärmen, so ließ ich mir eher die
Fersen verbrennen, eh ich die Beine zurückzöge.' Der dritte
sprach 'Vater, das Reich ist mein, denn ich bin so faul, sollt
ich aufgehängt werden, und hätte den Strick schon um
den Hals, und einer gäbe mir ein scharfes Messer in die
Hand, damit ich den Strick zerschneiden dürfte, so ließ ich
mich eher aufhenken, ehe ich meine Hand erhübe zum
Strick.' Wie der Vater das hörte, sprach er 'du hast es am
weitesten gebracht und sollst der König sein.'
Das Mädchen brachte den Topf seiner Mutter heim, und
nun waren sie ihrer Armut und ihres Hungers ledig und
aßen süßen Brei, sooft sie wollten.
Auf eine Zeit war das Mädchen ausgegangen, da sprach
die Mutter: »Töpfchen, koche«, da kocht es, und sie ißt
sich satt; nun will sie, daß das Töpfchen wieder aufhören
soll, aber sie weiß das Wort nicht. Also kocht es fort, und
der Brei steigt über den Rand hinaus und kocht immerzu,
die Küche und das ganze Haus voll und das zweite Haus
und dann die Straße, als wollt's die ganze Welt satt
machen, und ist die größte Not, und kein Mensch weiß
sich da zu helfen. Endlich, wie nur noch ein einziges Haus
übrig ist, da kommt das Kind heim und spricht nur:
»Töpfchen, steh«, da steht es und hört auf zu kochen, und
wer wieder in die Stadt wollte, der mußte sich durchessen.
Wie vorher schon geschrieben, ist auch Ludwig Tieck (1773-1853) ein wichtiger Autor. Er hat die Novelle „der
blonde Eckbert“ geschrieben und verschiedene Kunstmärchen, selbst ausgedachte Märchen, wie „der gestiefelte
Kater“ (beide 1797).
Achim von Arnim (1781-1831) und Clemens Brentano (1778-1842) haben zwischen 1806 und 1808 eine
Sammlung Volkslieder und Gedichte unter dem Namen „Des Knaben Wunderhorn- Alte deutsche Lieder“
herausgegeben. Ein Beispiel aus dieser Sammlung ist in den Niederlanden bekannt als das niederländische
Kinderlied „Schipper mag ik overvaren“.
Abzählreim
Ahne, Krahne, wickele, wahne,
Wollen wir nit nach England fahren,
England ist verschlossen,
Schlösser sind verrostet,
Schlüssel ist verloren,
Müssen wir ein Loch nein bohren,
Sind wir nein gekrochen,
Haben die Töpf verbrochen,
Wenn der Kessel tief ist,
Wenn die Milch süß ist,
Wenn die Puppen tanzen,
Wollen wir Lanzen pflanzen.
Eine der wichtigsten und meistgelesenen Novellen dieser Zeit ist „Aus dem Leben eines Taugenichts“ (1826) von
Joseph von Eichendorff. Die Novelle handelt vom Sohn eines Müllers, der mit seiner Geige in die Welt hinauszieht,
weil er nicht taugt. Er gibt sein Schicksal völlig in die Hand des Zufalls.
E.T.A. Hoffmann hatte viel Aufmerksamkeit für Nacht und Tod, Wahnsinn und Mord. Zum Beispiel in „Der
Sandmann“ (1817) und „Das Fräulein von Scuderi“ (1819).
Über die Romantik wurde auch oft gewitzelt; Goethe machte das schon und später auch Heinrich Heine.
Aber das romantische Gedankengut gibt es übrigens auch heutzutage noch und zwar in der alternativen Musikund Kunstszene „Gothic“, im Ballett „der Nussknacker“ (Tschaikowski) oder in den Büchern und Filmen über
„Harry Potter“ und bei dem niederländischen Autor Gerard Reve. Und das hat man E.T.A. Hoffmann und Heinrich
von Kleist („der Zerbrochene Krug“ und „Michael Kohlhaas“) zu verdanken.
14
Das Junge Deutschland und das Biedermeier 1830-1850
In dieser Periode von Revolution und Unterdrückung entstehen für Deutschland zwei sehr wichtige Sachen:
nämlich die deutsche Fahne und die deutsche Nationalhymne. Der Dichter August Heinrich Hoffmann von
Fallersleben schrieb die Nationalhymne „Das Lied der Deutschen“ 1841 auf Helgoland (heutzutage eine Insel in
Nord-Deutschland, aber früher gehörte es zu England. Fallersleben war nämlich aus Deutschland verwiesen). Die
erste Strophe mit den Zeilen „Deutschland, Deutschland über alles“ muss aufgefasst werden als ein Schrei um
nationale Einheit. Später haben die Nazis es einen Schrei um eine Weltherrschaft genannt. Deshalb wird
heutzutage nur noch die dritte Strophe gesungen.
Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach laßt uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand Blüh im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland.
Auch die deutsche Fahne ist in dieser Zeit entstanden und zwar im Jahre 1848, das Revolutionsjahr. Der Dichter
Ferdinand Freiligrath hat das Gedicht über die Farben der Fahne geschrieben. Das ganze Gedicht besteht aus
zwölf Strophen, deren letzten drei Zeilen immer dieselbe sind; deshalb hier nur die erste Strophe.
In Kümmernis und Dunkelheit,
Da mußten wir sie bergen!
Nun haben wir sie doch befreit,
Befreit aus ihren Särgen!
Ha, wie das blitzt und rauscht und rollt!
Hurra, du Schwarz, du Rot, du Gold!
Pulver ist schwarz,
Blut ist rot,
Golden flackert die Flamme!
1848 war auch das Jahr, in dem Karl Marx zusammen mit Friedrich Engels „das Manifest der kommunistischen
Partei“ herausgegeben hat. Im Manifest beschrieben sie einen Kampf der Arbeiter, die nichts hatten, gegen die
Eigentümer der Fabriken, die alles hatten. Marx und Engels dachten, dass die Arbeiter siegen würden und das
würde dann zu einer Gesellschaft ohne Klassen führen, wobei die Produktionsmittel geteilt würden.
Die zwei literarischen Strömungen in dieser Zeit sind sehr unterschiedlich voneinander: die Dichter des Jungen
Deutschlands haben sich stark politisch engagiert, während die Dichter des Biedermeiers sich absolut nicht mit
Politik befasst haben. Die Dichter des Biedermeiers fanden ihr Glück im häuslichen Kreis, in der Behaglichkeit und
Geborgenheit, in einer idyllisch dargestellten Landschaft. (Bieder=„braaf/netjes“). Wichtige Dichter aus dem
Biedermeier sind Eduard Mörike (1804-1875)und Annette Droste-Hülshoff (1797-1848).
Der Weiher
Er liegt so still im Morgenlicht,
So friedlich, wie ein fromm Gewissen;
Wenn Weste seinen Spiegel küssen,
Des Ufers Blume fühlt es nicht;
Libellen zittern über ihn,
Blaugoldne Stäbchen und Karmin,
Und auf des Sonnenbildes Glanz
Die Wasserspinne führt den Tanz;
Schwertlilienkranz am Ufer steht
Und horcht des Schilfes Schlummerliede;
Ein lindes Säuseln kommt und geht,
Als flüstre's: Friede! Friede! Friede!
Annette von Droste-Hülshoff
hat dieses Gedicht geschrieben
Biedermeier gab es vor allem bei österreichischen Dichtern und im Süden Deutschlands. Im Norden war nämlich
die Protestbewegung von Luther sehr wichtig, so wie auch die Aufklärung und der Sturm und Drang und das alles
ging an Bayern und das Gebiet der Donaumonarchie vorbei.
15
In Österreich waren Franz Grillparzer (1791-1872) und Adalbert Stifter (1805-1868) sehr wichtig.
Das Junge Deutschland war vor allem mit den Namen von Heinrich Heine (1797-1856) und Georg Büchner (18131837) verbunden. Diese Dichter unterstützen die revolutionäre Bewegung im Jahr 1848 und befassten sich schon
ab ungefähr 1830 mit politischen Werken. Sie wollten mit ihren Werken eine Revolution in der Gesellschaft
zustande bringen. Büchner wollte das noch radikaler als Heine, fast so wie Karl Marx.
Das Junge Deutschland war für die deutschen Fürsten, es gab ungefähr 35 kleine Staaten in Deutschland mit
genauso viel Fürsten, eine Art Spuk geworden. Das Junge Deutschland war keine gut organisierte Bewegung, aber
kann eher eine liberale und revolutionäre Mentalität mit den nächsten Idealen genannt werden: das Streben nach
politischer Freiheit, die Aufhebung der Zensur, der Kampf gegen eine konservative Geistlichkeit und die Kritik an
der individualistische Literatur aus der Klassik und Romantik.
Als Goethe 1832 stark, sagte Heinrich Heine, dass die Literatur sich ändern würde. Die neuen Themen der
Literatur mussten etwas mit der Aktualität zu tun haben. Die Realität musste für jeden zur Sprache gebracht
werden. Das war also die Aufgabe für die neue Generation Autoren. Die deutsche Sprache änderte sich übrigens
auch, weil die Autoren in dieser Zeit der Industrialisierung viel mehr Möglichkeiten hatten um ihre Werke zu
verbreiten, wie zum Beispiel in Zeitungen und Zeitschriften. Leider gab es viel Zensur, so dass Werke im Ausland
gedruckt werden mussten.
Heinrich Heine hat sehr viele Werke geschrieben, Gedichte, aber auch Bücher.
Sein bekanntestes Gedicht ist die Loreley aus dem „Buch der Lieder“ (1827). Die Lieder in diesem Buch kann man
eigentlich romantisch und volkstümlich nennen, obwohl Heine schon früh die Romantiker kritisierte.
Ich weiß nicht was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Sie kämmt es mit goldenem Kamme
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.
Die Luft ist kühl und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh.
Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar;
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lore-Ley getan.
Dieses Gedicht stand früher in allen Schulbüchern, aber ohne den Namen von Heine. Seine Werke wurden 1933
auch in Berlin verbrannt; wahrscheinlich weil er eigentlich Jude war (obwohl er zum Christentum übergetreten ist)
oder weil er ab 1831 in Frankreich wohnte und veröffentlichte. Er hatte viel Kritik an der Zensur, strebte nach
Freiheit, zeigte viel Spott und Ironie und darum fürchteten die Fürsten in Deutschland Heine. Weil er Angst vor
der Zensur hatte, schreibt er später vor allem Reisebilder über die Reisen die er durch Europa gemacht hat, wie
zum Beispiel „die Harzreise“ (1826). In diesem Werk übte er wieder viel Kritik.
Im allgemeinen werden die Bewohner Göttingens
eingeteilt in Studenten, Professoren, Philister und Vieh [...]
Der Viehstand ist der bedeutendste. [...] Die Zahl der
Göttinger Philister muss sehr groß sein, wie Sand, oder
besser gesagt, wie Kot am Meer.
'Over het algemeen worden de inwoners van Göttingen
ingedeeld in studenten, professoren, kleinburgers en vee ..
Maar het vee is er de belangrijkste stand. … Het aantal
kleinburgers in Göttingen moet erg groot zijn, zo veel als
zand of liever gezegd zo veel als blubber uit de zee.'
Auch über die Holländer schreibt Heine nicht gerade positive Sachen. Aus: „Aphorismen und Fragmente“.
Die Affen sehen auf die Menschen herab wie auf eine
Entartung ihrer Rasse, so wie die Holländer das Deutsche
für verdorbenes Holländisch erklären.
'Zoals apen neerkijken op de mens als een degeneratie van
hun ras, zo beschouwen de Hollanders het Duits als een
verbastering van het Nederlands.'
Spätere Werke von Heine: „Deutschland. Ein Wintermärchen“ (1844), was eigentlich eine Reimversion ist vom
„Kommunistischen Manifest“ von Marx und „die schlesischen Weber“ (1847), in denen er immer soziale
Missstände anprangerte. 1856 stirbt Heine in Paris, wo er auch auf Montmartre begraben wird.
16
Der Poetische Realismus 1850-1880
In dieser Periode wird das Selbstbewusstsein der Menschen immer größer durch die Entwicklung der Industrie,
der Wirtschaft und der Naturwissenschaften. Diese Industrialisierung führte zur Proletarisierung weiter Schichten
der Bevölkerung. Der Gegensatz der Klassen, von Stadt und Land wird vielen bewusster.
Eine neue Blütezeit der Literatur bricht an. Die Dichter und Philosophen verlassen die Ideen des Idealismus aus
der Sturm und Drang-Periode, der Klassik und Romantik und beschäftigen sich mehr mit der Realität.
Der Mensch im Hier und Jetzt steht im Mittelpunkt des Interesses der Dichter und Philosophen, was übrigens
schon in der Periode des Jungen Deutschlands entstanden ist. Man denkt, alles mit dem Menschenverstand
erklären zu können und man ist dann auch sehr positiv eingestellt.
Der Schweizer Gottfried Keller (1819-1890) ist einer der wichtigsten Vertreter des Realismus. Er glaubt nicht an
Unsterblichkeit und deshalb beschäftigt er sich vor allem mit der Wirklichkeit des diesseitigen Lebens und ist also
sehr positiv hierüber.
Mit viel Humor, ein Merkmal dieser Periode, beschreibt er seine Zeitgenossen in der Novellenzyklus „die Leute
von Seldwyla“ (1856/1874) mit in jedem Band fünf Geschichten. Er wollte mit diesem Buch die Gesellschaft des
19. Jahrhunderts kritisieren. Übrigens ist die Novelle die bevorzugte Gattungsform in dieser Periode.
Ein anderer wichtiger Autor ist Theodor Storm (1817-1888), der neben Gedichten auch viele Novellen geschrieben
hat. Sein Werk ist eher pessimistisch zu nennen. Sein Hauptthema ist der Kampf des Menschen mit dem Schicksal.
Seine wichtigsten Novellen sind „Immensee“ (1849) und „der Schimmelreiter“ (1888), eigentlich eine Geschichte
in einer Geschichte, also eine Rahmenerzählung.
Theodor Fontane (1819-1898) ist im Norden
Deutschlands der wichtigste Erzähler.
Er schrieb Romane wie „Irrungen und Wirrungen“
(1888), „Frau Jenny Treibel“ (1892) und „Effi Briest“
(1895). Die Themen seiner Romane drehen sich
hauptsächlich um das Berliner Besitzbürgertum und
den Adel mit seinen veralteten
Standesvorstellungen.
Theodor Fontane
Im letzten der genannten Romane heiratet die junge, lebensfrohe Effi (17 Jahre alt)einen älteren, etwas steifen
Baron von Instetten (38 Jahre alt). Aus Langeweile und Neugier lässt sie sich mit dem Major von Campas, der ihr
den Hof macht, kurze Zeit ein, den sie aber auch bald wieder vergisst. Nach einigen Jahren findet Instetten zufällig
die Briefe des Majors, die sein Ehrgefühl verletzen. Im Duell tötet er den Major, die Ehe wird geschieden und Effi
aus der Gesellschaft ausgestoßen. Vereinsamt stirbt sie bald.
Dieses Buch ist schon sehr oft verfilmt, im Jahre 2008 zum letzten Mal.
Wilhelm Busch (1832-1908)zeichnete immer viel und machte Gedichte mit einem pessimistischen aber
humoristischen Unterton. Busch findet den Menschen eigentlich schlecht und unverbesserlich.
Sein Buch „Max und Moritz“ (1865) kann der erste Comic in Deutschland genannt werden. Busch hat sieben
Streiche, die Max und Moritz gemacht haben, aufgeschrieben.
Auf den nächsten Seiten ist der erste Streich abgedruckt.
Max und Moritz
17
Erster Streich
Mancher gibt sich viele Müh'
Mit dem lieben Federvieh;
Einesteils der Eier wegen,
Welche diese Vögel legen,
Zweitens: weil man dann und wann
Einen Braten essen kann;
Drittens aber nimmt man auch
Ihre Federn zum Gebrauch
In die Kissen und die Pfühle,
Denn man liegt nicht gerne kühle. -
Kikeriki ! Kikikerikih ! !
Tak, tak, tak! - da kommen sie.
Hahn und Hühner schlucken munter
Jedes ein Stück Brot hinunter;
Seht, da ist die Witwe Bolte,
Die das auch nicht gerne wollte.
Aber als sie sich besinnen,
Konnte keines recht von hinnen.
Ihrer Hühner waren drei
Und ein stolzer Hahn dabei. Max und Moritz dachten nun:
Was ist hier jetzt wohl zu tun? -Ganz geschwinde, eins, zwei, drei,
Schneiden sie sich Brot entzwei,
In die Kreuz und in die Quer
Reißen sie sich hin und her,
Flattern auf und in die Höh',
Ach herrje, herrjemine !
In vier Teile, jedes Stück
Wie ein kleiner Finger dick.
Diese binden sie an Fäden,
Übers Kreuz, ein Stück an jeden,
Und verlegen sie genau
In den Hof der guten Frau.
Kaum hat dies der Hahn gesehen,
Fängt er auch schon an zu krähen:
Ach, sie bleiben an dem langen,
Dürren Ast des Baumes hangen. -Und ihr Hals wird lang und länger,
18
Ihr Gesang wird bang und bänger;
Jedes legt noch schnell ein Ei,
Und dann kommt der Tod herbei. -
Tiefbetrübt und sorgenschwer
Kriegt sie jetzt das Messer her;
Nimmt die Toten von den Strängen,
Daß sie so nicht länger hängen
Witwe Bolte in der Kammer
Hört im Bette diesen Jammer;
Ahnungsvoll tritt sie heraus:
Ach, was war das für ein Graus !
Und mit stummem Trauerblick
Kehrt sie in ihr Haus zurück. Dieses war der erste Streich,
Doch der zweite folgt sogleich.
www.wilhelm-busch.de
(Geschichten, Max und Moritz, Max und Moritz-Film)
"Fließet aus dem Aug', ihr Tränen!
All mein Hoffen, all mein Sehnen,
Meines Lebens schönster Traum
Hängt an diesem Apfelbaum! !"
Die niederländische Zusammenfassung:
Eerste streek: Max en Moritz vangen de kippen van Witwe
Bolte met stukjes brood, die met touw aan elkaar vast zijn
gemaakt. De kippen vliegen zich vast in de boom, waar ze
door Witwe Bolte uit hun lijden worden verlost.
19
Die Literatur der Jahrhundertwende 1880-1910
In einer kurzen Zeit gab es viele literarische Strömungen und Gegenströmungen unter anderem weil die
Gesellschaft sich so schnell entwickelte.
Der Naturalismus 1880-1900
Durch die Industrialisierung und die Zusammenballung großer Menschenmassen in den Großstädten entstanden
in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ganz neue soziale Probleme. Mit der Verarmung breiter Schichten der
Bevölkerung entstand ein neues Thema für die Literatur, das des Naturalismus.
Weil die Naturalisten vor allem auf die sozialen Missverhältnisse, die Welt der Dirnen, Alkoholikern, Bettler usw.,
das elende Dasein des Proletariats, und die Ausbeutung der Arbeiter aufmerksam machen, sind ihre Werke eine
sehr scharfe Kritik an der Gesellschaft und an der Oberflächlichkeit des Bürgertums.
Dichtung bekommt beinahe den Charakter von Reportage, weil der Mensch als ein Produkt von Vererbung und
Umwelt, als Opfer ohne freien Willen betrachtet wurde und trägt deshalb keine Verantwortung für seine Fehler.
Naturalisten arbeiteten sehr wissenschaftlich, weil sie fanden, dass Literatur als exakte Wissenschaft getrieben
werden musste und das bedeutete, dass sie weitergingen mit dem Realismus und radikalisierten. Sie wollten also
die Wirklichkeit so beschreiben, so wie sie tatsächlich aussah und damit auch Einsamkeit, Armut, Alkoholismus,
Wohnungsnot usw. anprangerten.
Gerhart Hauptmann (1862-1946) ist der wichtigste Vertreter dieser Richtung in Deutschland. Wichtige Werke von
ihm sind die Novelle „Bahnwärter Thiel“ (1888) und die Dramen „Vor Sonnenaufgang“ (1889) und „die Weber“
(1892). Hauptmann gewann übrigens 1912 den Literaturnobelpreis.
Am Ende des Jahrhunderts entwickelten sich als Reaktion auf den Realismus und Naturalismus einige
Gegenströmungen. Sie gingen davon aus, dass die Realität in der Kunst nicht darstellbar ist und dass die Kunst
sich auf ihre eigenen Mittel besinnen müsse, um Erfahrungen zum Ausdruck bringen zu können.
Der Impressionismus
Im Impressionismus (=Eindruckskunst) ging es um die Darstellung der persönlichen Empfindungen (des
Gesehenen, Gehörten und Gefühlten) und Stimmungen des Augenblicks. Der Begriff wurde aus der Malerei
übernommen. Mit ihm wurden die französischen Maler wie Monet, Cézanne und Renoir bezeichnet, die nicht
mehr im Atelier, sondern in der freien Natur malten. In der Dichtkunst kann hier Detlev von Liliencron (18441909) genannt werden, weil er die Empfindungen und Stimmungen auch so schön detailliert beschreiben hat.
Herbst
Astern blühen schon im Garten,
Schwächer trifft der Sonnenpfeil.
Blumen, die den Tod erwarten
Durch des Frostes Henkerbeil.
Brauner dunkelt längst die Heide,
Blätter zittern durch die Luft.
Und es liegen Wald und Weide
Unbewegt in blauem Duft.
Pfirsich an der Gartenmauer,
Kranich auf der Winterflucht.
Herbstes Freuden, Herbstes Trauer,
Welke Rosen, reife Frucht
Paul Cézanne
(Aus "Adjutantenritte und andere Gedichte", 1883)
Claude Monet
Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts kommen viele romantische Themen wieder zurück, wie zum Beispiel das
Phantastische, das Reisen, die unerfüllte Sehnsüchte und der Tod und darum wird diese Periode auch „die
Neuromantik oder der Symbolismus“ genannt. Es ist eigentlich eine extreme Form des Impressionismus.
20
Der Symbolismus
Diese Strömung wurde wie der Impressionismus stark von Frankreich beeinflusst und lehnt die Überbewertung
von Vererbung und Umwelt sowie die einseitige Betonung des Materiellen ab. Die Symbolisten reagierten auf die
moderne Gesellschaft und wollten nicht mehr die unmittelbare Wirklichkeit darstellen, sondern sie schufen eine
Welt der Schönheit. Die Dinge, die einen symbolischen Charakter haben, verweisen auf etwas anders, auf eine
tiefere Bedeutung. Der Dichter zog sich zurück und schrieb nicht für die Massen, sondern nur für Menschen mit
feiner Bildung, für eine geistige Elite also. Er wollte eine „Kunst nur um der Kunst willen“ schaffen („l’art pour
l’art“), also keine Kunst zu politischen/gesellschaftlichen Zwecken.
Wichtigste Vertreter des Symbolismus waren der Dichter Stefan George (1868-1933) und der Philosoph (und
Dichter) Friedrich Nietzsche (1844-1900). Nietzsche nannte die christliche Lehre mit der Verherrlichung des
Leiden, der Selbstaufopferung und Armut eine Sklavenmoral. Und der alte Mensch mit seiner Sklavenmoral sollte
eigentlich Platz machen für einen neuen Menschen, den Übermenschen. Dieser Gedanke wurde später durch
Hitler, ohne dass er auf die wirklichen Absichten von Nietzsche geachtet hat, stark missbraucht.
Andere Dichter des Symbolismus sind Hugo von Hoffmannsthal (1874-1929) und Arthur Schnitzler (1862-1931), so
wie George Österreicher und Rainer Maria Rilke (1875-1926).
Von Hoffmannsthal hat auch mit dem Komponisten Richard Strauss (1864-1949)zusammengearbeitet. Zusammen
schrieben sie Dramen und Operetten.
Rilke ist ein guter Wortkünstler. Er fühlte sich eigentlich nirgends zu Hause. Er wurde in Prag geboren, hat in
Deutschland studiert und ging dann nach Paris, wo er sich am meisten zu Hause fühlte. Dort war er Sekretär des
Bildhauers Auguste Rodin, bei dem er „sehen lernen“ wollte. Seine Gedichte wurden unter Rodins Einfluss
„Dinggedichte“, also Gedichte worin Dinge sehr gut beschrieben wurden. Dinge werden in seinen Gedichte in ein
neues Licht gestellt und dadurch entstanden überraschende, neue Aspekte. In diesen Gedichten erhielten Tiere,
Pflanzen, Städte und Personen mit lyrischem Handwerkszeug eine künstlerische Form. So ist das berühmte
Gedicht „Der Panther“ (1903) die sprachliche Nachempfindung des gefangenen wilden Tieres.
Und im Gedicht „Liebeslied“ kommt das ersehnte Glück endlich zur Ruhe.
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Liebeslied
Wie soll ich meine Seele halten, dass
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hin heben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
O süßes Lied.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille und hört im Herzen auf zu sein.
Dann als letzte muss Hermann Hesse (1877-1962) noch genannt werden.
Das Werk von Hesse zeigt viele neuromantische, aber auch impressionistische Züge. Bei ihm spielt der Konflikt
zwischen Geist und Leben eine bedeutende Rolle. Auch er hat den Literaturnobelpreis bekommen und zwar im
Jahre 1946. Seine Bücher sind eigentlich Berichte über sein eigenes Innenleben und über seine zahlreichen
seelischen (psychischen) Krisen. Wichtige Werke von ihm sind „Peter Camenzind“ (1904), „Demian“ (1919) und
„Narziss und Goldmund“ (1930). Er hat vor allem Entwicklungsromane geschrieben.
Die Naturalisten sind also ziemlich traditionell geblieben, während wir bei den Impressionisten und Symbolisten
von einer Sezession (vertaling: „een breuk“) sprechen können; sie werden dann auch „die Modernen“ genannt.
Aber die wirklich radikalere Revolte fand bei den Expressionisten statt.
21
Der Expressionismus 1910-1925
Es ist eine Ausdruckskunst. Das innere Erlebnis des Künstlers, seine Wirklichkeit, soll im Kunstwerk zum Ausdruck
gebracht werden. Die Expressionisten wollten das, was sie fühlten, herausschreien, und den Leser durch die
Sprache schockieren. Ihre Kunst ist ein flammender Protest gegen die bürgerliche Gesellschaft des 19.
Jahrhunderts, gegen das erstickende Klima des preußischen Untertanenstaates. Die Kunst sucht nach neuen
Werten und Idealen und strebt nach einer neuen sozialen Menschheit.
Die Expressionisten wollten eine neue Welt aufbauen, die nicht auf Egoismus, Macht und Besitz, sondern auf
Freiheit, Gerechtigkeit und Humanität beruht. In dieser Hinsicht zeigt der Expressionismus eine deutliche
Verwandtschaft mit dem Sturm und Drang. Beide sind revolutionär und streben nach einer radikalen Veränderung
der bestehenden Verhältnisse. Man ist auch ziemlich unsicher, weil alles wächst (Wirtschaft, Städte, Film usw.)
und man hat Angst vor dem drohenden Krieg. Diese Gefühle kommen sehr gut zum Ausdruck im Gemälde
„Potsdamer Platz“ (1913) von Ludwig Meidner und das Gedicht „Weltende“ (1911) von Jakob van Hoddis.
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Die bevorzugten Gattungen sind übrigens die Lyrik und das Drama mit beliebten Themen wie Krieg, Verfall und
Untergang, die Erneuerung der Menschheit, der neue Mensch, das Verhältnis zu Gott, Opferbereitschaft,
Revolution und Generationskonflikt. Aber neben der Krisenstimmung gab es auch Lebensfreude, Glück und
Menschenliebe und zum Beispiel Kino- und Kneipenbesuch in der Stadt.
Kurze, unvollständige Sätze und große Überzeugungskraft kennzeichnen die Sprache.
Wichtige Dichter sind Gottfried Benn (1886-1956), Georg Heym (1887-1912) und Georg Trakl (1887-1914).
Wichtige Autoren der Dramen sind Georg Kaiser (1878-1945) und Alfred Döblin (1867-1914).
Die Expressionisten fühlen sich eigentlich ein bisschen einen Fremden in der Welt. Die Kreativität des Dichters
wird stark betont, aber das Göttliche und die Bindung mit der Natur und Landschaft fehlen völlig. Eine Idee wird
zum Ausdruck gebracht und nicht mehr die Wirklichkeit, denn so schön ist die Wirklichkeit auch nicht mehr. Alles
im Leben hat mit dem drohenden Weltende zu tun. Die alte Welt ist endgültig vorbei und ob etwas neues im
Anzug ist, ist unsicher. Dieser Gedanke hat Else Lasker-Schüler (1869-1945) wunderbar beschrieben im Gedicht
„Weltende“ (1905).
Weltende
Komm, wir wollen uns näher verbergen...
Das Leben liegt in aller Herzen
Wie in Särgen.
Es ist ein Weinen in der Welt,
Als ob der liebe Gott gestorben wär,
Und der bleierne Schatten, der niederfällt,
Lastet grabesschwer.
Du! wir wollen uns tief küssen Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
An der wir sterben müssen.
22
Franz Kafka (1883-1924)
Er gehört chronologisch in diese Periode, aber sein Werk lässt sich schwer einer literarischen Strömung
einordnen, weil es vorwiegend autobiographisch ist. Kafka schrieb in erster Linie nur für sich selbst. Durch das
Schreiben versuchte er sich nämlich aus seiner Isolation und von seinen Ängsten zu befreien. Die Menschen in
seinen Werken sind wie er: sie sind unsicher, fühlen sich nutzlos und missbraucht in einer Welt, der sie nicht
gewachsen sind. Im Mittelpunkt seiner Erzählungen und Romane steht die Problematik des unterdrückten und
manipulierten Individuums in einer unüberschaubar gewordenen, bürokratischen und manchmal unwirklichen
Welt. Sein Werk handelt aber meistens vom aussichtslosen Kampf eines einsamen, kontaktarmen Menschen;
gegen verborgene, unbekannte Mächte, auf die er überhaupt keinen Einfluss hat und gegen die er sich nicht
wehren kann. Die unbekannten Mächte und Gesetze bedrohen den Menschen und richten ihn schließlich geistig
und körperlich zugrunde. Das eigentliche Thema von Kafkas Werk ist die Entfremdung (vertaling: vervreemding)
und die Ohnmacht des Menschen im modernen Industriezeitalter. Außerdem weist sein Werk surrealistische Züge
auf (und nicht so viele expressionistische Züge), wie zum Beispiel die Verschmelzung von Wirklichkeit und
Traum/Phantasie.
Surrealistische Geschichten haben realistische und unrealistische Züge, in denen Visionen, Halluzinationen,
Unbewusstes und Träume eine wichtige Rolle spielen.
Während seines Lebens hat Kafka nicht viel veröffentlicht. Sein Freund Max Brod hat das, gegen den Willen von
Kafka, nach dessen Tod gemacht.
Kafkas Geschichten sind verantwortlich für das Entstehen des Wortes „Kafkaesk“. Mit einer kafkaesken Welt wird
gemeint, dass die Welt eine scheinbare Logik enthält, aber letztendlich nicht verstanden werden kann. Hier gibt
es zwei Beispiele.
Kleine Fabel
‘Ach’, sagte die Maus, ‘die Welt wird enger mit jedem Tag.
Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter
und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der
Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so
schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer
bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.’ ‘Du musst nur die Laufrichtung ändern’, sagte die Katze
und fraß sie.
Gibs auf!
Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich
ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr
verglich, sah ich, dass es schon viel später war, als ich
geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der
Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg
unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch
nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in
der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem
Weg. Er lächelte und sagte: ‘Von mir willst du den Weg
erfahren?’ ‘Ja’, sagte ich, ‘da ich ihn selbst nicht finden
kann.’ ‘Gibs auf, gibs auf’, sagte er und wandte sich mit
einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem
Lachen allein sein wollen.
Obwohl man den Ich-Erzähler aus einem literarischen Werk niemals mit dem Schriftsteller selbst verwechseln
darf, ist man sich in der Kafka-Forschung darüber einig, dass Kafka persönliche Probleme in seiner Arbeiten
erzählerisch verarbeitet. Sehr wahrscheinlich ist also die Ich-Person Franz Kafka.
Es ist vielleicht nicht zufällig, dass in Kafkas Werken Höhe und Tiefe, Schuld und Unschuld, draußen und drinnen
und ein ständiges Zögern wichtige Themen sind als kryptische Ausdrücke für die Ohnmacht des Einzelnen
gegenüber einer als feindlich empfundenen Umwelt.
Es ist nicht so, dass Kafka nur schwere und abstrakte Themen behandelt hat. Seine Geschichten sind oft absurd,
aber es gibt auch eine Menge zu Lachen. Sein Sprachgebrauch ist genau und klar, das ist auch in der Parabel „Vor
dem Gesetz“ (1915). Die Geschichte ist auch als Türhüterlegende oder Türhüterparabel bekannt. Die Handlung
besteht darin, dass ein „Mann vom Land“ vergeblich versucht, den Eintritt in das Gesetz zu erlangen, das von
einem Türhüter bewacht wird. Die Parabel ist ein Teil aus dem neunten Kapitel „im Dom“ vom Roman „Der
Prozess“ (geschrieben in den Jahren 1914-1925, aber erst 1925 veröffentlicht) und wurde als einziger Teil des
Romans von Kafka selbst veröffentlicht.
23
Franz Kafka, Vor dem Gesetz
Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber
der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später
werde eintreten dürfen. »Es ist möglich«, sagt der Türhüter, »jetzt aber nicht.« Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer
und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht
er und sagt: »Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und
ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des
dritten kam nicht einmal ich mehr ertragen.« Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll
doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine
große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die
Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen.
Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten.
Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber
teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht
einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll,
um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: »Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst,
etwas versäumt zu haben.« Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die
andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den
unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er
wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er
auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob
es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der
unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe
alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er
seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der
Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. »Was willst du denn jetzt noch wissen?« fragt der
Türhüter, »du bist unersättlich. « »Alle streben doch nach dem Gesetz«, sagt der Mann, »wieso kommt es, daß in den vielen
Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?« Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein
vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war
nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«
Die Erstausgabe 1925
24
Die Neue Sachlichkeit 1920-1933
Die Literatur nach 1918 (nach dem Ersten Weltkrieg, der Deutschland verloren hat) wird nicht mehr nur durch
Stilbegriffe, sondern vor allem durch politische Ereignisse bestimmt. Das bedeutet, dass die Schriftsteller dieser
Zeit an den politischen Ereignissen beteiligt sind oder von ihnen betroffen werden. Eine gewisse Nüchternheit
(man hat wieder ein Bedürfnis nach Objektivität) lässt sich feststellen, so dass man von Neuer Sachlichkeit
gesprochen hat. Die Texte nehmen geradezu den Charakter von Reportagen an und darin wird die alltägliche
Realität möglichst objektiv und sachlich beschrieben. Die Sprache ist nüchtern und hart, aber auch spöttisch,
manchmal sogar zynisch.
Die wichtigsten Verstreter sind Erich Kästner (1899-1974), Erich Maria Remarque (1898-1970) und Bertolt Brecht
(1898-1956). Diese drei Schriftsteller waren Soldat im Ersten Weltkrieg und das hat natürlich Einfluss auf ihre
Werke. Auch werden die Werke dieser drei Schriftsteller 1933 verboten und teils auch bei den berühmten
Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 verbrannt.
Erich Kästner hat das berühmte Gedicht „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?“ über den Krieg
geschrieben. Das Gedicht ist eigentlich eine Parodie auf ein Gedicht von Goethe „Kennst du das Land, wo die
Zitronen blühn?“. Beide Dichter schreiben über dasselbe Land, aber machen das auf eine ganz andere Art und
Weise, natürlich auch, weil die Zeit ganz anders ist.
Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?
Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!
Dort stehn die Prokuristen stolz und kühn
in den Bureaus, als wären es Kasernen.
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn
im dunklen Laub die Goldorangen glühn,
ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht
die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl? Dahin!
dahin möcht´ ich mit dir, o mein Geliebter ziehn.
Dort wachsen unterm Schlips Gefreitenknöpfe.
Und unsichtbare Helme trägt man dort.
Gesichter hat man dort, doch keine Köpfe.
Und wer zu Bett geht, pflanzt sich auch schon fort!
Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach
es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
was hat man dir, du armes Kind getan?
Kennst du es wohl? Dahin!
dahin möcht' ich mit dir, o mein Beschützer ziehn.
Wenn dort ein Vorgesetzter etwas will
- und es ist sein Beruf etwas zu wollen steht der Verstand erst stramm und zweitens still.
Die Augen rechts! Und mit dem Rückgrat rollen!
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg;
in Höhlen wohnt der Drachen alte Brut
es stürzt der Fels und über ihn die Flut.
Kennst du ihn wohl? Dahin!
dahin geht unser Weg! O Vater, lass uns ziehn!
( Johann Wolfgang von Goethe)
Die Kinder kommen dort mit kleinen Sporen
und mit gezognem Scheitel auf die Welt.
Dort wird man nicht als Zivilist geboren.
Dort wird befördert, wer die Schnauze hält.
Kennst du das Land? Es könnte glücklich sein.
Es könnte glücklich sein und glücklich machen!
Dort gibt es Äcker, Kohle, Stahl und Stein
und Fleiß und Kraft und andre schöne Sachen.
Selbst Geist und Güte gibt's dort dann und wann!
Und wahres Heldentum. Doch nicht bei vielen.
Dort steckt ein Kind in jedem zweiten Mann.
Das will mit Bleisoldaten spielen.
Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün.
Was man auch baut - es werden stets Kasernen.
Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!
(Erich Kästner)
Kästner
25
Goethe
Erich Maria Remarque
Remarque hat 1929 das Buch „Im Westen nichts
Neues“ geschrieben. Es ist vielleicht das bekannteste
Kriegsbuch über den ersten Weltkrieg. Remarque
schilderte in seinem Roman die Kriegserlebnisse
einiger junger Männer, die sich als Achtzehnjährige
direkt von der Schulbank weg freiwillig gemeldet
hatten. Als sie die Wirklichkeit des Krieges erleben,
verändert sich ihr ganzes Leben, alles, was sie bisher
gelernt hatten, wird fragwürdig. Der Turnlehrer
Kantorek hatte die Jungen aufgefordert sich freiwillig
zu melden und das hatten die Jungen gemacht. Die
Hauptperson Paul Bäumer stirbt am Tag, an dem „Im
Westen nichts Neues“ passiert ist. Es war also ein
Tag im Oktober 1918, an dem „der Heeresbericht
sich nur auf den Satz beschränkte „im Westen sei
nichts Neues zu melden.“ Dieses Buch wurde
verschiedene Male verfilmt.
Das Buch
Poster zum Film
Bertolt Brecht
Brecht war ein Pazifist und war also davon überzeugt, dass ein Krieg nie Probleme lösen kann. Schon mit seinen
Gedichten wollte er den Leser zum Nachdenken bringen und ihn etwas lehren. Letztendlich entwickelte er sich zu
einem der begabtesten Dramatiker und hatte dadurch einen sehr großen Einfluss auf die Entwicklung des Dramas
im 20. Jahrhundert.
Brecht schrieb Lehrstücke, mit denen er das Publikum schockieren und wachrütteln wollte. Der Zuschauer (oder
Leser) sollte nicht unterhalten, sondern belehrt und zum kritischen Nachdenken gezwungen werden.
Er wollte ein aktives Publikum. Damit das Publikum Distanz zur Handlung nehmen konnte, gebrauchte er den
sogenannten Verfremdungseffekt (V-Effekt) im epischen Theater (Parabeltheater; keine Akteneinteilung, offenes
Ende), das heißt dass mit Hilfe bestimmter technischer Mittel das Geschehen auf der Bühne auf eine ungewohnte
Weise dargestellt wird. Der Zuschauer darf sich nicht mit den Bühnengestalten identifizieren.
Ein V-Effekt besteht darin, dass:
 Das Schauspiel zur Parabel wird.
 Vor dem Beginn des Stückes, eines neuen Bildes oder einer neuen Episode ein Sprecher kommentiert, was
geschehen wird (keine Spannung also).
 Das Drama oft unterbrochen wird durch Lieder, Diaprojektionen, Filmfragmente oder Texttafeln.
 Ungewöhnliche Ausdrücke verwendet werden.
In all seinen Werken war Brechts Hauptziel die Entlarvung (vertaling: ontmaskering) der bürgerlichen Gesellschaft.
Ein wichtiges Werk von Brecht ist „Mutter Courage und ihre Kinder“ (1938/1939).
In dieser „Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg“ (1624-1635) geht es um die Marketenderin Anna Fierling, die
mit ihren beiden Söhnen und der stummen Tochter Kattrin die Kriegsarmeen begleitet, um Geschäfte zu machen.
Sie verliert ihre Söhne an den Krieg, doch sie lernt nichts daraus. Ihre Tochter warnt nachts die Stadt Halle vor
dem Überfall durch kaiserliche Truppen und wird erschossen. Die „Mutter Courage“ zieht weiter, denn sie „muss
wieder in den Handel kommen“ um Geld zu verdienen und zu überleben.
Denkmal von
Brecht in Berlin
Szene aus einer Bühnenaufführung
von Mutter Courage und ihre Kinder
26
Das dritte Reich 1933-1945
In einem diktatorischen Staat kann Literatur sich im allgemeinen nicht frei entwickeln. So versuchten auch die
Nazis nach der Machtübernahme im Jahre 1933 energisch, die Literatur in den Dienst der eigenen
Weltanschauung zu stellen.
Bücher, die den nationalsozialistischen Zwecken nicht dienstbar waren, betrachteten die damaligen Machthaber
als “entartet”, solche Bücher wurden eingesammelt und öffentlich verbrannt. So fanden am
10. Mai 1933 in ganz Deutschland die Bücherverbrennungen statt, wobei die Werke von Heinrich Heine, Heinrich
Mann, Erich Kästner und vielen anderen deutschen Autoren den Flammen übergeben wurden.
Jeder, der in Deutschland veröffentlichen wollte, musste Mitglied der Reichsschrifttumskammer sein. Diese
Kammer wurde im September 1933 errichtet und auf diese Weise war die „Gleichschaltung“ der Schriftsteller
abgeschlossen. Mit diesen Maßnahmen war es möglich das gesamte literarische Leben in Deutschland zu
kontrollieren. Für alle nicht genehmen Künstler und Schriftsteller bedeutete das praktisch Berufsverbot.
Die Schriftsteller in Deutschland und Österreich, die sich dem Regime nicht fügen wollten, reagierten verschieden
auf die radikalen Zustände. Sie können in vier Gruppen verteilt werden:
1) Einige Schriftsteller blieben in Deutschland und versuchten mit ihren Werken eine geistige Opposition gegen
das Nazi-Regime zu errichten. Sie gingen in die innere Emigration und leisteten damit passiven Widerstand. Zu
ihnen gehören Erich Kästner, Ernst Wiechert und Werner Bergengruen.
Bei den Nazis standen diese Schriftsteller immer unter Verdacht und darum mussten sie aufpassen. Sie schrieben
darum über sichere, nicht politische Themen wie die Natur. Eigentlich wurden sie von den Nazi-Machthabern
missbraucht, weil die Nazis mit dieser Literaturpolitik zeigen wollte, wie liberal sie waren, weil derartige Bücher
(meistens Romane in realistischer und traditionalistischer Sprache) erscheinen durften.
2) Es hat neben den verdeckten Formen der literarischen Opposition aber auch eine direkte antifaschistische
Untergrundliteratur gegeben, die vor allem von sozialistischen und kommunistischen Autoren getragen wurde.
Ihre Werke konnten natürlich nur heimlich veröffentlicht werden. Zu diesen Autoren gehören Jan Petersen und
Wolfgang Langhoff. Langhoff hat einige Zeit in einem Straflager gesessen. Dort entstand sein berühmtes
Moorsoldatenlied über seine Erfahrungen in diesem Lager.
Die Moorsoldaten
Wohin auch das Auge blicket,
Moor und Heide nur ringsum.
Vogelsang uns nicht erquicket,
Eichen stehen kahl und krumm.
Wir sind die Moorsoldaten
und ziehen mit dem Spaten ins Moor.
Auf und nieder gehn die Posten,
keiner, keiner kann hindurch.
Flucht wird nur das Leben kosten,
vierfach ist umzäunt die Burg.
Wir sind die Moorsoldaten...
Doch für uns gibt es kein klagen,
ewig kann´s nicht Winter sein.
Einmal werden froh wir sagen:
Heimat, du bist wieder mein.
Dann ziehn die Moorsoldaten
nicht mehr mit dem Spaten ins Moor!
Hier in dieser öden Heide
ist das Lager aufgebaut,
wo wir fern von jeder Freude
hinter Stacheldraht verstaut.
Wir sind die Moorsoldaten...
Heimwärts, heimwärts jeder sehnet,
nach den Eltern, Weib und Kind.
Manche Brust ein Seufzer dehnet,
weil wir hier gefangen sind.
Wir sind die Moorsoldaten...
Morgens ziehen die Kolonnen
in das Moor zur Arbeit hin.
Graben bei dem Brand der Sonne,
doch zur Heimat steht ihr Sinn.
Wir sind die Moorsoldaten...
Moorsoldaten
27
3) An der anderen Seite gab es auch Schriftsteller die sehr gerne über das Nazi-Regime schrieben. Zur
Unterstützung des nationalsozialistischen Gedankens wurde vor allem die “Heimatdichtung” bevorzugt. In dieser
Dichtung wurde die heile Welt mit seinen natur- und bodenverbundenen Bewohnern und überhaupt der
deutsche Mensch auf deutschem Boden, dessen Blut sich noch rein erhalten hat, verherrlicht.
Daneben legten die Nazis großen Wert auf Werke, in denen Kriegsbegeisterung, Heldentum, Kameradschaft und
Verherrlichung des Germanentums zum Ausdruck gebracht wurden.
Schriftsteller, die das Nazi-Regime unterstützten, schrieben “Blubodichtung”. Hierin werden Blut (der Deutschen)
und Boden (Deutschland) ausführlich beschrieben. Diese Bücher haben nur sehr wenig mit Literatur zu tun, weil
sie nur dem Nazi-Regime dienen.
Hans Grimm und Hans Friedrich Blunck sind zwei Blubo-Schriftsteller. Diese Schriftsteller haben anfangs über das
Regime geschrieben, weil sie so dachten, einigermaßen frei zu sein, aber später zeigten sie doch nicht mehr so
einverstanden mit dem Nazi-Regime zu sein.
4) Die Exilliteratur. Viele (sogar mehr als zweitausend Schriftsteller und Journalisten) Personen verließen ihr Land
und gingen ins Exil (=verbanning) und schrieben da einfach weiter. Zu ihnen gehören Autoren wie Stefan Zweig,
Heinrich und Thomas Mann, Alfred Döblin, Bertolt Brecht und Anna Seghers. Ihre zwischen 1933 und 1945
entstandenen Werke bezeichnet man als Exilliteratur. Verbunden waren diese Schriftsteller nur durch die Flucht
vor den existenzbedrohenden Maßnahmen des Nazi-Regimes. Die Unterschiede und Interessen der
verschiedenen Gruppierungen waren zu groß, um eine Einheitsfront gegen den Nationalsozialismus bilden zu
können. Aber gerade ihre Vielfalt demonstriert auch ihre Bedeutung.
Die meisten dieser Werke wurden bereits vor 1945 im Ausland veröffentlicht.
Bertolt Brecht
Winterhilfe
Die Winterhelfer treten
Mit Fahnen und Trompeten
Auch in das ärmste Haus.
Sie schleppen stolz erpreßte
Lumpen und Speisereste
für die armen Nachbarn heraus.
Die Hand, die ihren Bruder erschlagen
Reicht, daß sie sich nicht beklagen
Eine milde Gabe in Eil
Es bleiben die Almosenwecken
Ihnen im Halse stecken / Und auch das Hitlerheil.
(Eine der 24 Szenen aus dem Drama ‚ Furcht und Elend
des Dritten Reiches')
Die Bücherverbrennungen
Die Schriftsteller, die aus Deutschland und Österreich geflohen sind, haben Kritik an den Schriftstellern der
inneren Emigration ausgeübt. Sie fanden nämlich, dass die Schriftsteller, die in Deutschland geblieben sind,
keinen Widerstand geleistet haben. Umgekehrt fanden die gebliebenen Schriftsteller, dass die geflohenen
Schriftsteller ihr Heimatland verraten haben.
Bertolt Brecht hat das 1938 sehr schön beschrieben:
Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten
einschließt!
Vertaling: 'Wat zijn het voor tijden, waarin een gesprek over bomen bijna een misdaad is omdat er daarmee tegelijkertijd over
zoveel misdaden wordt gezwegen.' Bertolt Brecht, An die Nachgeborenen, 1938.
28
Die Trümmerliteratur 1945-1947
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches herrschte in Deutschland das totale Chaos.
Nur zögernd setzt die Rückkehr der Emigranten ein. Zu den älteren Schriftsteller gesellt sich allmählich eine
jüngere Generation von Dichtern. In den ersten Nachkriegsjahren spielt in der Literatur die jüngste Vergangenheit
eine wichtige Rolle. Dichter und Schriftsteller befassen sich oft mit der Schuldfrage des deutschen Volkes an den
Ereignissen zwischen 1933 und 1945. In ihren Werken versuchen sie das Geschehene zu analysieren und kritisch
zu betrachten.
Diese Literatur wird Trümmerliteratur (weil das ganze Land in Trümmern lag) oder Kahlschlag-Literatur (weil das
Land nach dem Krieg kahl war und weil die Sprache nach zwölf Jahren Nazi-Zeit zerstört worden war) genannt. Die
Schriftsteller schreiben über Kriegserlebnisse, über den Nationalsozialismus und seine Auswirkungen, über die
harte Realität der ersten Nachkriegsjahre, aber auch über die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. So finden wir in
diesen Werken nicht nur Trauer und Resignation, sondern auch Zukunftsglauben und Optimismus.
Das Ende von Nazi-Deutschland war auch ein neuer Anfang. Deshalb wird von „Stunde Null“ gesprochen.
In der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch nicht so viel Papier, so dass vor allem Theaterstücke (von
den Schriftstellern, die aus den Vereinigten Staaten zurückkehrten), Kurzgeschichten, Hörspiele und Gedichte
geschrieben und gespielt wurden. In diesem Zusammenhang sind vor allem Carl Zuckmayer und Bertolt Brecht
sehr wichtig gewesen. Aber eigentlich ist der wichtigste Vertreter der Trümmerliteratur Wolfgang Borchert (19211947). Er schrieb die berühmte Geschichte „Nachts schlafen die Ratten doch“.
Ein anderer wichtiger Schriftsteller war Günther Eich (1907-1972). Er schrieb das Gedicht „Inventur“: ein Soldat
steht zwischen den Trümmern und denkt darüber nach was er im Moment nach dem Krieg noch hat.
Inventur
Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.
Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.
Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.
Dies ist mein Notizbuch,
dies ist meine Zeltbahn,
dies ist mein Handtuch,
dies ist mein Zwirn.
Geritzt hier mit diesem
kostbaren Nagel,
den vor begehrlichen
Augen ich berge.
Günther Eich 1945/1946
Im Brotbeutel sind
ein Paar wollene Socken
und einiges, was ich
niemand verrate,
so dient er als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
zwischen mir und der Erde.
Auch Heinrich Böll (1917-1985) hatte großen Einfluss auf die Literatur nach 1945. Böll war am Ostfront und als er
wieder in Deutschland zurück war, schrieb er Kurzgeschichten wie „Der Zug war pünktlich“ und „Wanderer
kommst du nach Spa….“ über die Gräuel des Krieges, die Einsamkeit der zurückgebliebenen Frauen und den
Aufschwung des Schwarzmarkts. Er bekommt für seine Werke im Jahre 1972 den Nobelpreis für Literatur.
Im Jahre 1947 gründeten Hans Werner Richter und Alfred Andersch die „Gruppe 47“ (die es bis etwas 1977
gegeben hat). Diese Gruppe von ungefähr 100 Schriftstellern war sehr bedeutend für die neue deutsche
literarische Tradition. Sie sahen den Menschen und die Gesellschaft als etwas Absurdes und der Mensch musste
mit seiner Existenz wieder ins Reine kommen. Jean Paul Sartre nannte diese Zeit Existentialismus.
29
Die Literatur in der „Bundesrepublik Deutschland“ 1949-1989
In der Trümmerliteratur gab es vor allem eine Vergangenheitsbewältigung (= pogingen om met het verleden in
het reine te komen), aber neben dieser Vergangenheitsbewältigung wenden sich die Schriftsteller in den fünfziger
Jahren in zunehmendem Maße ihrer Gegenwart zu, indem sie kritisch Stellung zu den Verhältnissen im
Nachkriegsdeutschland nehmen. Das Wirtschaftswunder und die daraus entstandene Konsumgesellschaft, der
Ost-West-Konflikt und seine Folgen, atomare Aufrüstung und Kriegsdrohung (Koreakrise) treten immer stärker in
den Vordergrund. Daraus erfolgt in den sechziger Jahren eine an Schärfe zunehmende Gesellschaftskritik, ein
immer größer werdendes Engagement der Schriftsteller, und durch die Erschütterung durch den Bau der Berliner
Mauer am 13. August 1961, durch den Vietnamkrieg und durch die Studentenrevolte von 1968, setzt eine
Politisierung der Literatur ein. Hans Magnus Enzensberger und Franz Josef Degenhardt haben verschiedene
Gedichte in diesem Zusammenhang geschrieben.
In dieser Zeit gab es nicht besonders viele Änderungen in bezug auf die Literatur.
Anfangs gab es den Existentialismus. Der Mensch hatte in dieser absurden, chaotischen und sinnlosen Welt nur
zwei Sachen die sicher waren: er existiert und er wird mal sterben. Die Absurdität der Existenz, die Verurteilung
zur Freiheit in einer von Gott verlassenen Welt, der Verlust aller alten Werte und die Suche nach neuen
Orientierungen waren die Themen des Existentialismus.
Ingeborg Bachmann und Paul Celan schrieben u.a. in diesem Stil Gedichte.
Eine andere literarische Auffassung ist die des symbolischen Realismus. Die Romane van Heinrich Böll, Günther
Grass und Martin Walser gehören hierzu. Sie erzählen exemplarische Lebensläufe aus der Nazizeit oder der neuen
Bundesrepublik. Ihre Geschichten sind symbolische Darstellungen der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts.
Auch das Hörspiel war nach 1945 und in den fünfziger Jahren in Deutschland die Form von Literatur, die das
größte Publikum erreichte. Viele Autoren, wie Andersch, Böll, Eich, Kaschnitz, Bachmann und Walser wandten
sich dem Hörspiel zu. Das hatte nicht nur künstlerische, sonders auch finanzielle Gründe: die wiederholten
Aussendungen bei den verschiedenen deutschen Rundfunkanstalten brachten mehr ein als ein Buch in relativ
kleiner Auflage. Die große Publikumswirksamkeit des Rundfunks wurde jedoch schon in den sechziger Jahren
durch das konkurrierende Medium Fernsehen stark beeinträchtigt.
In den siebziger und achtziger Jahren wurde das Hörspiel die Sache eines kleinen, exklusiven Publikums. Neue
Autoren erprobten neue Spielformen, die die technisch-akustischen Möglichkeiten des Rundfunks ausnutzten. Sie
machten das unter anderem mit Montage.
Das Hörspiel kennzeichnet sich durch eine einfache Handlung und wenig Personen.
Für Kinder und Jugend wurde auch in den sechziger und siebziger Jahren geschrieben. Meistens sind es
Geschichten, die in spannenden und phantasievollen Märchenwelten geschrieben wurden. Otfried Preussler hat
hiermit angefangen und wird auch der Autor des bekanntesten westdeutschen Kinderbuches der Nachkriegszeit
genannt. Er schrieb nämlich 1962 „Der Räuber Hotzenplotz“. Später forderte die Zeit eine realistischen
Jugendliteratur, in der die Probleme behandelt wurden, die Kinder und Jugendliche in ihrem wirklichen leben
haben. Leonie Ossowski, Christine Nöstlinger und Mirjam Pressler machten das sehr gut. In den achtziger Jahren
schlug der Trend um. Eine Fülle von Fantasy-Literatur überschwemmte den Markt. Sie bietet Märchen- und
Zauberwelten, vermischt mit Science-Fiction-Elementen.
1961 entstand die so genannten Arbeiterliteratur. Sie bezieht sich auf die tägliche Politik der Arbeiter und hat
eine praktische Funktion. Sie will sich mit der industriellen Arbeitswelt der Gegenwart und mit ihren sozialen
Problemen auseinandersetzen und versucht, dem Arbeiter seine Probleme bewusst zu machen (vergleiche
Naturalismus).
Günter Wallraff (geb. 1942) brachte Reportagen aus der Arbeitswelt, um die unwürdigen Arbeitsbedingungen
vieler Menschen ins Bewusstsein zu führen. Seine Methode ist von verschiedenen Seiten kritisiert worden.
Vertreter der Wirtschaft beschimpften ihn als „kommunistischen Psychopathen“. Die betroffenen Firmen haben
viele Prozesse gegen ihn geführt. Sie konnten aber die Wahrheit der von Wallraff beschriebenen Zustände nicht
unterdrücken. Dieses Thema wurde auch in der Migrantenliteratur von in Deutschland lebenden Ausländern
aufgegriffen.
30
Günter Wallraff hat sich im Buch „Ganz Unten“
(1985) zwei Jahre lang als türkischer Arbeiter (Ali)
verkleidet. Ganz Unten ist eine Reportage über das
Leben eines türkischen Gastarbeiters in der BRD.
Wallraff hatte, vermummt mit einfachen Mitteln,
wie dunklen Kontaktlinsen und schwarzer Perücke,
längere Zeit als der türkische Gastarbeiter Ali auf
Baustellen, in einem Hochofen, als Fahrer eines
Arbeitsvermittlers und sogar als Versuchsperson in
einem Laboratorium für Arzneien gearbeitet. Der
Mann auf dem Bild (rechts) ist Günter Wallraff in
seiner Verkleidung als türkischer Arbeiter Ali.
Im untenstehenden Fragment unterhält ein deutscher Vorarbeiter sich mit dem Tunesier Jussuf und Ali über
Frauen und Urlaub.
„Hör mal, das sind doch ganz scharfe Frauen da bei euch. So richtige Wildkatzen. Wenn man denen erst mal den Schleier
‚runterreißt, dann sind die doch echt geil. Hast du denn keine Schwester? Oder ist die noch zu jung? Bei euch muss man ja
immer gleich heiraten“. Jussuf versucht, seine Demütigung vor uns anderen Kollegen zu überspielen […]. „Hör mal, wie sprecht
ihr überhaupt? Sprecht ihr Spanisch?“- Jussuf erträgts nicht länger. Er wendet sich ab, rechtfertigt sich aber noch und sagt:
„Nein Arabisch. Ich muss zu Toilett.“Der Vorarbeiter nimmt’s zum Anlass, sich bei uns niederzulassen um ebenfalls in Urlaubsstimmung und ins Schwärmen zu
geraten. Er räkelt sich. „Jetzt im Süden sein. Keine Arbeit. Immer Sonne. Und Frauen, Frauen.“. Zu mir (Ali) gewandt: „Hab’ ich
recht? Bei euch in Anatolien kann man doch schon für eine Ziege eine Frau kaufen.“ Als ich (Ali) unbeteiligt in eine andere
Richtung schaue, fordert er mich: „Stimmt etwa nicht? Wie bist du denn an deine Alte geraten?“- „Die Deutsche meine immer,
könn alles kauf,“ antwortet Ali. „Aber die schönst’ Sach auf der Welt kriegs nicht für Geld. Darum die Deutsch’ auch so arm,
trotz ihr viel Geld.“ Der Vorarbeiter fühlt sich angegriffen und zahlt’s Ali heim: „Eure anatolischen Haremsdamen, die möchte
ich nicht geschenkt haben. Die sind doch dreckig, die stinken. Die muss man erst einmal gründlich abschrubben.“ […] Jussuf
nimmt mich (Ali) anschließend zur Seite und sagt: „Is nicht gut, dass wir Deutsch gelernt und verstehen. Immer viel Ärger.
Besser so tun, als ob wir nicht verstehn.“ Er erzählt von jüngeren tunesischen Kollegen, die aufgrund ähnlicher Erfahrungen
und Demütigungen die deutsche Sprache ganz bewusst nicht weiter erlernen und „egal, was Meister sagt, immer „ja Meister“,
sagen, so gibt auch kein Palaver.“
Über diese Zeit sagt Wallraff: „Was ich da erfahren habe, hat meine Erwartungen übertroffen. In negativem Sinne.
Ich habe mitten in der BRD Zustände erlebt, wie sie eigentlich nur in Geschichtsbüchern über das neunzehnte
Jahrhundert beschreiben werden.
Der bekannteste deutsche Roman der Nachkriegszeit ist „Die Blechtrommel“ (1959) von Günter Grass
(geb. 1927). Er wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und hat eine Gesamtauflage von annähernd vier
Millionen. Das Buch ist symbolisch und realistisch. So hat zum Beispiel die Figur des Blechtrommlers Oskar
Matzerath die symbolische und moralische Funktion des Widerstands. Dieses Buch wurde 1979 auch noch
verfilmt. Auch Grass veröffentlichte Bücher mit Themen wie Umweltfragen, Kriegsgefahr, Atomkrieg und DritteWelt-Problematik.
Patrick Süskind (geb. 1949) hat „Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders“ (1985) geschrieben. Es war der erste
Roman von Süskind und es wurde das international erfolgreichste Buch eines deutschen Autors überhaupt.
Inzwischen ist das Buch 2006 als „Perfume: The Story of a Murderer“ verfilmt. Dieses Buch ist das wichtigste
Beispiel für einen postmodernen Roman. Der Postmodernismus wird diese Zeit in der Literatur genannt. Die
Schriftsteller benutzen viele literarische und kulturgeschichtliche Anspielungen, die auf alle möglichen Weisen
interpretiert werden können.
Auch in „Das Parfum“ ist das der Fall. Der Roman ist natürlich als spannender Kriminalroman zu lesen (mit einer
Anfangsszene, die eine deutliche Bezug zur „Blechtrommel“ enthält. Aber die Konstruktion der Handlung hat auch
etwas Parabelhaftes. Nur wofür dieser Roman ein Gleichnis ist, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen:
Manche fühlen sich vom „größten Parfumeur aller Zeiten“ an den „größten Führer aller Zeiten“ erinnert; andere
sehen in Grenouilles (die Hauptperson) Passion für die Düfte ein Gleichnis für die Tätigkeit des Künstlers
überhaupt.
31
Die Literatur in der „Deutsche Demokratische Republik“ 1949-1989
In der DDR plante und leitete die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) das gesamte politische und
gesellschaftliche Leben. So erwartet der Staat vom Autor, dass er bewusst und entschieden für den Sozialismus
und den gesellschaftlichen Fortschritt Partei ergreift, dass er in seinen Werken der Parteilinie treu bleibt. Die
Literatur hat also die Aufgabe, dem Volk im Kampf für den sozialistischen Aufbau zu helfen und es zu aktivem
Handeln zu begeistern. Entwickeln die Dichter aber Ideen, die dem Staat, der Partei ungefällig sind, dann werden
sie als Verräter des Volkes betrachtet. Sie werden entweder mundtot gemacht (d.h. sie dürfen nicht länger ihre
Werke veröffentlichen) oder sie werden ausgebürgert (d.h. sie verlieren ihre ostdeutsche Staatsangehörigkeit).
Wolf Biermann hat beides erfahren.
Eigentlich war es so, dass es zwar keine Hitler-Diktatur mehr gab, aber wohl eine Ost-Diktatur. Auch hatte die DDR
ein bestimmtes Selbstbild. Man hatte nämlich die Auffassung, dass der DDR-Staat entstanden ist, dadurch dass er
sehr gut gegen die Nazi-Diktatur gekämpft hat.
Viele Schriftsteller gingen in den siebziger Jahren in den Westen, wie etwa Reiner Kunze, Sarah Kirsch, Günter
Kunert, Jurek Becker und Stefan Heym. Diejenigen unter ihnen, die, obwohl sie jetzt im Westen leben, dem
Sozialismus treu geblieben sind, bilden sozusagen eine neue Exilliteratur.
Die erste Phase in der Literaturgeschichte der DDR (1945-1949) stand im Zeichen der Überwindung des
Faschismus und der Entwicklung einer „antifaschistisch-demokratischen Ordnung“. Sie wird von den
Schriftstellern beherrscht, die aus der Emigration zurückkehrten. Diese Emigranten bestimmen in starkem Maße
das literarische Leben in der sowjetischen Zone. Es handelt sich vor allem um sozialistische Schriftsteller wie Anna
Seghers, Johannes R. Becher, Arnold Zweig oder Bertolt Brecht.
Becher hatte einen großen Einfluss. Er war ab 1954 der Kultusminister der DDR und er hat den Text für das DDRVolkslied geschrieben. Dieser Text wurde später übrigens verboten wegen der Zeile „Deutschland einig
Vaterland“, weil die DDR nicht mehr ein vereintes Deutschland wollte. Die erste Strophe ist hier zu lesen:
Auferstanden aus Ruinen
Auferstanden aus Ruinen
Und der Zukunft zugewandt,
Laß uns dir zum Guten dienen,
Deutschland, einig Vaterland.
Alte Not gilt es zu zwingen,
Und wir zwingen sie vereint,
Denn es muß uns doch gelingen,
Daß die Sonne schön wie nie
Über Deutschland scheint.
Die DDR-Hymne
Der zweite Abschnitt (1949-1961) wird als Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus oder als Aufbau
des Sozialismus bezeichnet. Der positive Beitrag, den die Partei von den Schriftstellern erwartet, liegt vor allem in
der Bewusstseinsbildung der arbeitenden Massen, die dadurch das richtige Verhältnis zum Sozialismus finden
sollen. Der „sozialistische Realismus“ wird als maßgebende Kunstdoktrin eingeführt. Im Mittelpunkt des
literarischen Werkes hat der arbeitende Mensch zu stehen, der sich voller Begeisterung für die Verwirklichung der
sozialistischen Ideale einsetzt. Die (äußere) Wirklichkeit soll dargestellt werden, parteilich und optimistisch (nicht
kritisch), gezeigt an positiven Helden, an denen die Leser sich ein Beispiel nehmen sollen. Neben dem Aufbau des
Sozialismus stehen in den fünfziger Jahren die Ereignisse und Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges ebenfalls im
Mittelpunkt des Interesses.
Bertolt Brecht (1898-1956) kommt nach dem Krieg nach Deutschland zurück. Er arbeitet beim Theater „Berliner
Ensemble“ und hat da die Chance seine eigenen Werke aufführen zu lassen. Sein Verhältnis zu den Machthabern
ist zwiespältig. An der einen Seite hoffte er, dass die DDR den Menschen ein besseres Leben geben konnte, aber
an der anderen Seite fand er, dass die SED zu viel von den Schriftstellern verlangte. Brecht hat das auf folgende
Weise beschrieben:
Die Kunst ist nicht dazu befähigt, die Kunstvorstellungen von Büros in Kunstwerke umzusetzen. Nur Stiefel kann man nach
Maß anfertigen' (vertaling=De kunst is niet geschikt om de kunstvoorstelling van bureaus in kunstwerken om te zetten. Alleen
laarzen kunnen op maat gesneden worden)
Brecht bekommt Probleme mit der Partei, weil er eine andere Meinung hatte, aber er wird nicht gestraft, weil
Brechts Name in der Welt zu groß war.
32
Weil die meisten Schriftsteller mehr Freiheit haben wollten und bessere wirtschaftlichen Aussichten flohen mehr
als zwei Millionen Menschen in den Westen. Weil die DDR-Regierung das nicht wollte, wurde die Mauer am 13.
August 1961 gebaut. Die DDR-Regierung behauptete, dass die Mauer gebaut wurde um die sozialistischen
Errungenschaften (=verworvenheden) zu schützen. Man sprach damals über die Mauer als Antifaschistischer
Schutzwall.
Die Zeit danach (1961-1971) wird als Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse umschrieben. Für die
Literatur entwickelt sich langsam ein besseres Klima. Themen der Literatur der sechziger Jahre sind u.a. die
Probleme der wissenschaftlich-technischen Revolution.
Romane über die Mauer wurden kaum geschrieben. Christa Wolf hat aber ein ganz schönes Buch über eine Liebe,
die durch den Bau der Mauer beendet wird, geschrieben: „Der geteilte Himmel“ (1962).
Diese Zeit wird übrigens auch die Ankunftsliteratur genannt, weil die Errungenschaften des Sozialismus jetzt im
Mittelpunkt stehen. Auch Brigitte Reimann und Erwin Strittmatter sind in dieser Periode wichtig.
In der Zeit vor der Wende (1971-1989) ist der Diskussionsraum sicher größer geworden, obwohl er immer noch
seine deutlichen Grenzen hat. Die Literatur muss nach wie vor im Sinne des sozialistischen Realismus der
Bewusstseinsbildung dienen. Aber es geht jetzt mehr um das individuelle Erleben und Verhalten in der
sozialistischen Gesellschaft, d.h. dass nicht mehr nur äußere Wirklichkeit, sondern auch die Gedanken und
Gefühle des Menschen und seine seelischen Probleme immer häufiger zum Thema der Literatur werden.
Auffallend ist, dass gerade in den siebziger Jahren immer mehr Autoren offene Kritik übten und deshalb in den
Westen übersiedelten.
Diese Zeit wird auch die Tauwetterphase genannt, weil die DDR-Regierung den Künstlern mehr Freiheit gab.
Ulrich Plenzdorf hat während dieser Tauwetterphase das Buch „Die neuen Leiden des jungen W.“ (1972)
geschrieben. Der Titel, das Thema und der Aufbau sind genauso wie Goethes „Die Leiden des jungen Werther“
(1774). Die Jugendliche in der DDR äußerten viel Begeisterung für Plenzdorfs Buch und obwohl die Regierung sich
Sorgen um die vielen Reaktionen machte, wurde das Buch nicht verboten.
Wolf Biermann hatte viel mehr Probleme mit der DDR-Regierung. Biermann wohnte seit 1953 in der DDR, wo er
Autor und Sänger seiner eigenen Lieder war, die nicht gerade gut durch die DDR-Regierung empfangen wurden.
Ab 1965 durfte er dann auch nicht mehr auftreten oder das Land verlassen. 1976 wurde dieses Verbot
aufgehoben und besuchte er die BRD, wo er sich kritisch über die DDR-Regierung äußerte und die Folge war, dass
er die DDR nicht mehr einreisen durfte. Diese Ausbürgerung führte zu vielen Protesten von Schriftstellern. Der
Staat hat daraufhin viele Personen verhaftet und Schriftsteller durften nicht mehr ihre Werke veröffentlichen.
Viele Schriftsteller (z.B. Christa Wolf, Sarah Kirsch, Jurek Becker, Stephan Hermlin oder auch die BRD-Schriftsteller
Günter Wallraff und Heinrich Böll) haben über die Ausbürgerung von Biermann geschrieben und gesprochen.
Zwölf von ihnen haben der DDR-Regierung sogar einen Brief geschrieben mit der Frage, die Ausbürgerung von
Biermann nochmals zu überdenken, weil sie fanden, dass Biermann nichts Falsches gemacht hat. Die
Schriftsteller, die diesen Brief unterschrieben haben, wurden übrigens aus der Partei und aus dem
Schriftstellerverband rausgeschmissen.
In der Zeit kurz vor der Wende versuchten die Schriftsteller in ihren Werken Kritik an dem Staat auszuüben. In
Berlin entstand eine Art Unterground-Literatur. Schriftsteller veröffentlichten ihre Werke bei kleinen Verlagen
(keine DDR-Verlage) und gaben heimlich Vorträge.
Die Wende und das Ende der DDR (1989-1990). Nach der Wende (am 9. November 1989) und der
Wiedervereinigung (am 3. Oktober 1990) bestand Deutschland nicht mehr aus zwei Staaten. Nach der
Wiedervereinigung gibt es keine DDR-Literatur mehr (also keine Literatur mehr die durch den Staat kontrolliert
und verordnet wurde), aber in der Literatur kommen schon viele Ost-West-Probleme vor. Themen sind dann vor
allem die Verarbeitung der DDR-Vergangenheit und die Anpassungsprobleme mit dem Lebensstil im Westen.
Claudia Rusch, Meine freie deutsche Jugend
Viele junge Schriftsteller schreiben über ihre Zeit in
der DDR. Ein schönes Beispiel ist von Claudia Rusch
mit ihrem Buch „Meine freie deutsche Jugend“. Ihr
Abschied von der DDR beschreibt sie auf folgende
Weise:
Die wahrscheinlich glücklichste Fügung meines Lebens
bestand in der Gleichzeitigkeit meines Schulabschlusses
und dem Ende der DDR... Die Welt öffnete sich mit all
ihren Möglichkeiten in dem Moment, als ich amtlich
erwachsen wurde. Was für ein timing. Hollywoodreif.
33
Die Literatur im vereinten Deutschland
Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 erschien den Deutschen wie ein Märchen, das wahr wird. Für
die Westdeutschen (die Wessis) änderte sich durch die Vereinigung wenig oder nichts, für die Ostdeutschen (die
Ossis) änderte sich alles. Nach dem märchenhaften Augenblick, in dem die Menschen auf der Mauer tanzten,
folgte die Ernüchterung.
Nach der Wiedervereinigung werden viel mehr andere Themen in der Literatur benutzt. Obwohl die deutsche
Literatur nach der Wende die Aufgabe hat, die die Literatur immer gehabt hat: „Gedächtnis der Verluste und
Verletzungen und der Schönheit des Sagbaren zu dienen“.
Christa Wolf erzählt in „Was bleibt“ (1990) von ihrer Überwachung durch die Stasi. Westdeutsche Kritiker griffen
sie scharf an, weil sie diese 1979 entstandene Erzählung erst jetzt, nach der Wende, veröffentlichte.
Das 1992 von ostdeutschen Politikern und Schriftstellern gegründete Komitee für Gerechtigkeit versuchte, dem
immer schwächeren Einfluss der Ostdeutschen ein neues Forum zu schaffen.
Außerdem bestimmen viele Schriftstellerinnen die ersten Trends. Wie zum Beispiel Judith Hermann und Juli Zeh.
Aber auch mit dem Thema der Vergangenheitsbewältigung befassen die Schriftsteller sich häufig.
Weil die Vergangenheit so umstritten war, versuchten die Schriftsteller immer stärker einen Standpunkt in bezug
auf dieses Thema zu äußern. Innerhalb der deutschen Literatur entstanden so einige interessanten Bücher.
Zum Beispiel „Der Vorleser“ (1995) von Bernhard Schlink. Schlink beschreibt das Problem der persönlichen
Verantwortlichkeit während dem Nationalsozialismus und verbindet dieses Thema mit der Zeit in
Nachkriegsdeutschland und die Generation von 1968. Das Buch ist 2008 als „The Reader“ verfilmt worden.
Auch Marcel Beyer und mehr oder weniger auch Günter Grass haben zu diesem Thema ein Buch geschrieben.
In der Literatur nach der Wende wird auch das Thema der Lebensgeschichte sehr wichtig. Einerseits sind diese
Bücher dann eine Art Biographie und andererseits kann auf diese Weise die jüngste Geschichte verarbeitet oder
sogar bewältigt werden. Martin Walsers Roman „Ein springender Brunnen“ (1998) handelt von diesem Thema.
Hierin beschreibt Walser die Geschichte vom Jungen Johann, der am Bodensee während des dritten Reiches
aufwächst. Im Hintergrund spielt also deutlich den Faschismus eine Rolle.
Walser wollte mit seinem Roman tatsächlich keine direkte Kritik an der Nazizeit üben, sondern seine
Jugenderlebnisse unbelastet von späteren (politischen) Deutungen literarisch festhalten. Um Missverständnissen
vorzubeugen, weist er aber gleich auf der ersten Seite des Buchs auf diese Schreibabsicht hin:
„Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es
passierte. Allerdings ist man dem näher als anderen. Obwohl es die Vergangenheit, als die Gegenwart war, nicht gegeben hat,
drängt sie sich jetzt auf, als habe es sie so gegeben, wie sie sich jetzt aufdrängt. Aber solange etwas ist, ist es nicht das, was es
gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Als das war, von dem wir jetzt sagen,
dass es gewesen sei, haben wir nicht gewusst, dass es ist. Jetzt sagen wir, dass es so und so gewesen sei, obwohl wir damals,
als es war, nichts von dem wussten, was wir jetzt sagen.“
Nicht nur die westdeutschen Schriftsteller, sondern auch die ostdeutschen Schriftsteller befassen sich mit dem
Thema der Lebensgeschichte und der Sozialisierung. In diesen Büchern werden nicht nur die Erfahrungen in der
DDR, sondern auch im vereinten Deutschland beschrieben. Sehr oft tritt dann die Staatsicherheitsdienst hervor.
Bücher von Brigitte Burmeister, Erich Loest, Kerstin Hensel und Thomas Brussig sind hier sehr empfehlenswert.
In der heutigen Zeit spielt die Konfrontation zwischen der Literatur in Ost- und Westdeutschland eine weniger
große Rolle. Die Themen in der Literatur sind zwar noch unterschiedlich, aber schon viel weniger als vor zwölf
oder sogar zwanzig Jahren. Die neuen Schriftsteller verarbeiten die Vergangenheit zwar immer noch, aber sie
machen das auf eine andere Weise.
Außerdem verschiebt die Literatur, weil viele Schriftsteller ausländischer Herkunft (aus der Türkei, aus Ungarn
oder zum Beispiel aus Russland) eine immer wichtigere Rolle in der deutschen Literatur spielen.
34
Herunterladen