Autor: Breuer

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Autor:
Peter Böckli
Hommelhoff/Hopt/v. Werder: Handbuch Corporate Governance
Beitrag:
XX Konvergenz
Datei:
HCGXXböc.doc
1
Konvergenz: Annäherung des monistischen und des dualistischen Führungsund Aufsichtssystems
A.
Einleitung*)
Bis in die frühen Gründerjahre des 19. Jahrhunderts leitete noch ein monistischer «Verwaltungsrat»2 die
Geschicke der deutschen Aktiengesellschaften. Der Entwurf für das Allgemeine Deutsche
Handelsgesetzbuch von 18613 brachte die epochemachende Neuerung: Trennung der Aufsichts- von der
Führungsfunktion, das «dualistische» System, das die Diskussion in Deutschland und international bis
heute beschäftigt. Während am Anfang noch – ähnlich wie es in Frankreich4 und in der Societas
Europaea5 der Fall ist – eine freie Wahl zwischen dem monistischen und dem dualistischen Strukturtyp
zugelassen wurde, führten die Aktiennovellen vom 11. Juni 18706 und vom 18. Juli 18847 und später, im
ordentlichen Recht, der § 248 des HGB vom 14. Mai 1897 das dualistische System mit Aufsichtsrat und
Vorstand zwingend ein8. Dieser organisationale Grundentscheid überlebte alle Regimewechsel und
Gesetzesrevisionen des späten neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts bis zum heutigen Tag,
während in den meisten anderen Industriestaaten – abgesehen im Wesentlichen von Österreich, und dem
in vielen Beziehungen sehr speziellen Fall der Niederlande – sich die eine oder andere Variante des
«Boards» oder «Verwaltungsrats» gehalten und weiterentwickelt hat.
Zunächst steht eines fest: Die deutschen Juristen hatten mit bewundernswerter Konsequenz aus dem
römischen Recht, das damals ja noch der Bezugspunkt ihres gesamten Denkens war, die Idee
entnommen, dass «gestio» einerseits und «electio, instructio et custodia» andererseits auseinander zu
halten seien, und diesen gedanklichen Ansatz in eine funktionsfähige gesellschaftsrechtliche Struktur
umgesetzt. Sie hatten dabei aber kühn dem von den Aktionären gewählten Gremium, dem Aufsichtsrat,
jede instruierende Gewalt entzogen, dessen Funktionen auf «electio et custodia» beschränkt, und damit
die «gestio» – die Führung – konsequent dem Vorstand allein anvertraut.
Dieses «dualistische» System stellt auch mehr als hundert Jahre danach eine funktionstüchtige Variante
für die Spitzengestaltung einer Aktiengesellschaft dar; das beweist zuallererst das französische Recht.
Bei der großen Aktienrechtsreform von 1966 führte der Gesetzgeber in Paris ein Wahlrecht zwischen
dem herkömmlichen, monistischen «Conseil d'administration» und der neuartigen Kombination
«Directoire/Conseil de Surveillance» ein9. Ganz ähnlich ist die Entscheidung des Rates der Europäischen
*) Literaturhinweise am Schluss. – Herzlichen Dank schuldet der Verfasser Herrn Dr. Christoph B. Bühler, LL.M.,
Rechtsanwalt, für die Mitwirkung bei der Sichtung des Materials und für zahlreiche wertvolle Hinweise. Für die
Vornahme der Schlusskontrolle ist Herrn lic.iur. Benno B. Widmer, Rechtsanwalt, zu danken.
2
Zur Geschichte des Aktienrechtes vgl. Riesser, Neuerung, S. 4 ff.
3
Entwurf zum Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch («ADHGB») von 1861; vgl. Schubert, Verhandlungen
ADHGB, Aufsichtsrat in Art. 225 und Vorstand in Art. 227.
4
Art. 118 des Gesetzes Nr. 66-537 vom 24. Juli 1966 über die Handelsgesellschaften («Loi sur les sociétés
commerciales», hiernach «LSC»). Die dualistische Struktur wurde bisher in der Praxis freilich selten gewählt (in
weniger als 5 % der Aktiengesellschaften).
5
Art. 38 der Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Gesellschaft, Societas Europaea, vom 1.
Februar 2002 («VSE»).
6
Art. 209 Ziff. 6 ADHGB, in der Fassung der Aktiennovelle vom 11. Juni 1870. Dazu Hahn, in: Commentar
ADHGB, S. 599.
7
Dazu Riesser, Neuerung, S. 6 ff.
8
«Die Mitglieder des Aufsichtsrats können nicht zugleich Mitglieder des Vorstands ... sein, auch nicht als Beamte
die Geschäfte der Gesellschaft führen», § 248 Abs. 1a HGB vom 14. Mai 1897. Im Interesse «kleiner
Aktiengesellschaften» (so Staub's Kommentar zum HGB, Berlin/Leipzig 1921, § 248 Anm. 2) ließ sowohl die
Gesetzgebung von 1884 wie das HGB noch eine Ausnahme von der Trennung zu.
9
Art. 119 und 128 LSC. Dieses Wahlrecht fand sich in der Regierungsvorlage noch nicht, sondern geht auf Vorstöße
der Deputierten Capitant und Douarec («inspirés du droit allemand») zurück, Merle, Droit Commercial, Nr. 371 und
438.
1
2
Union vom 1. Februar 2002 zu interpretieren, der für die Societas Europaea («SE») in methodischer
Anlehnung an das französische Recht10 der Hauptversammlung die Befugnis verleiht, zwischen dem
dualistischen und dem monistischen System frei zu wählen11.
Umso auffallender ist, dass in der anglo-amerikanischen Welt das dualistische System praktisch unisono
abgelehnt wird – teilweise sogar mit einer unwirschen Handbewegung, ohne dass man auch nur auf das
Thema näher eingehen würde12. Dabei ist nicht zu übersehen, dass eine Verhärtung auch in Deutschland,
im genau umgekehrten Sinne, festzustellen ist: Den ausländischen Beobachtern fällt viel mehr auf als
jenen, die mitten in der deutschen Diskussion stehen, wie einheitlich ablehnend sich die deutschen
Stimmen gegenüber dem «Board»-System verhalten. Zwar findet man vielfältige Äußerungen der Kritik
über die Praxis der deutschen Aufsichtsräte, praktisch jedoch keine, die für Deutschland den Übergang
zum «Board»-System befürworten würden. Statt dessen tritt in der deutschen Debatte um die
Spitzenstruktur seit mindestens zwanzig Jahren wiederholt die Behauptung auf, die beiden Systeme
würden sich annähern; es ist die Theorie der Konvergenz. Der neue Deutsche Corporate Governance
Kodex13 («DCGK») drückt genau diesen Gedanken in seiner Präambel aus:
«Das auch in anderen kontinentaleuropäischen Ländern etablierte duale Führungssystem und das international verbreitete System der
Führung durch ein einheitliches Leitungsorgan (Verwaltungsrat) bewegen sich wegen des intensiven Zusammenwirkens von Vorstand
und Aufsichtsrat in der Praxis aufeinander zu und sind gleichermaßen erfolgreich.»
Eine wissenschaftlich nachvollziehbare Überprüfung dieser Aussage – beide Systeme seien
gleichermaßen erfolgreich – liegt bisher nicht vor und wäre methodisch jedenfalls äußerst aufwändig14.
So etwas ist denn auch nicht die Aufgabe dieses Artikels. Vielmehr geht es darum, der ersten Teilaussage
des DCGK nachzugehen: Stimmt es eigentlich, dass sich die beiden Führungssysteme in der Praxis
aufeinander zu bewegen? Und wenn dies der Fall ist: in welchen Bereichen?
Da beim Leser dieses Handbuches die Kenntnis des deutschen Systems vorauszusetzen ist, soll in der
einleitenden Gegenüberstellung der beiden Systeme zuerst das dualistische System der Societas
Europaea skizziert werden. Vor diesem Hintergrund ist es für einen ausländischen Beobachter umso
leichter, auf die Besonderheiten des deutschen Systems einzugehen. Die im Kontrast dazu stehende
Darstellung des monistischen Systems konzentriert sich zuerst auf das «Board»-System der USamerikanischen, teilweise auch britischen Praxis und untersucht dann kurz den Mischtyp des Schweizer
Aktienrechts. Dieser Mischtyp ist wegen seiner Mittelstellung im Hinblick auf die Konvergenzfrage und
wegen der relativen wirtschaftlichen Bedeutung von nach dem Schweizer Recht funktionierenden großen
Aktiengesellschaften nicht ohne Interesse. Abschließend ist zu prüfen, wo sich nun genau eine
Annäherung zwischen den beiden Systemen in der Praxis vollzieht, aber auch, welche bleibenden
Divergenzen einer völligen Verschmelzung entgegenstehen.
10
Art. 118 LSC. Dazu Merle, Droit Commercial, Nr. 438.
Art. 38 VSE 2002; vgl. Hommelhoff/Teichmann, Europäische Aktiengesellschaft, S. 8.
12
Bezeichnend für diese Haltung: Hampel Report, Ziff. 1.4; Company Law Review para. 3.49 ff. und 5.74 ff., oder
Wall Street Journal Europe vom 12.-14. Juli 2002, M10: «Shareholder representatives on supervising boards
arguably don't represent shareholders»; Davies, Struktur der Unternehmensführung, S. 285.
13
Ausgearbeitet von der im September 2001 von der Bundesministerin der Justiz berufenen Regierungskommission
«Deutscher Corporate Governance Kodex», in seiner endgültigen Fassung am 26. Februar 2002 festgestellt und
veröffentlicht. Vollständiger Text u. a. in: AG 47. Jg. 2002, S. 236 ff.
14
Vgl. z.B. «Which System is Best?» in: Charkham, Keeping Good Company, S. 349 ff.; Davies, Struktur der
Unternehmensführung, S. 284 ff.
11
3
B.
Die beiden Strukturtypen der Leitung und Überwachung an der
Unternehmensspitze
I.
Das dualistische System als Option in der Societas Europaea und als
vorgeschriebenes Modell im deutschen Aktiengesetz
1.
Das dualistische System der Societas Europaea
Die Verordnung des Rates der europäischen Union in der Fassung vom 1. Februar 2002 über das Statut
der Europäischen Gesellschaft (Societas Europaea) normiert in Art. 39 ff. das dualistische, in Art. 43 ff.
das monistische System und bietet anschließend die notwendigen gemeinsamen Vorschriften15.
Das hier interessierende dualistische System der Societas Europaea («SE») folgt zwar auf weiten
Strecken dem Vorbild des Organpaars «Aufsichtsrat/Vorstand» des geltenden deutschen Aktienrechts16,
bietet aber mit einer Anleihe beim GmbH-Recht ein Wahlrecht zwischen einem kollektiven
«Leitungsorgan» und einem oder mehreren individuellen «Geschäftsführern» an17. Die Kennzeichen
einer klassischen Vorstands-/Aufsichtsrats-Struktur sind in der SE praktisch alle verwirklicht:
–
Die Mitglieder des Leitungsorgans werden vom Aufsichtsorgan bestellt und abberufen18, und
niemand darf zugleich Mitglied des Leitungsorgans und des Aufsichtsorgans sein;
–
Das Aufsichtsorgan wird von der Hauptversammlung bestellt, unter Vorbehalt der Regeln für die
Mitbestimmung der Arbeitnehmer nach dem örtlichen Recht. Es überwacht die Führung der
Geschäfte durch das Leitungsorgan und ist nicht berechtigt, die Geschäfte selbst zu führen 19;
–
Das Aufsichtsorgan hat Anspruch auf regelmäßige Unterrichtung über den Gang der Geschäfte
und die voraussichtliche Entwicklung durch das Leitungsorgan, mit einer sofortigen
Informationspflicht bei außerordentlichen Ereignissen. Das Aufsichtsorgan hat das Recht, vom
Leitungsorgan jegliche für die Überwachung erforderlichen Informationen zu verlangen und
erforderliche Überprüfungen vorzunehmen oder vornehmen zu lassen;
–
Der Vorsitzende des Aufsichtsorgans wird aus dem Kreise der von den Aktionären bestellten
Mitglieder gewählt, wenn Mitbestimmung eingerichtet ist;
–
Für bestimmte Arten von Geschäften des Leitungsorgans muss (nicht nur «kann») die Satzung die
Zustimmung des Aufsichtsorgans vorbehalten20.
Die Bedeutung, die gerade in der SE den zustimmungsbedürftigen Geschäften zugemessen wird, zeigt
sich in Art. 48 Abs. 3: Die Mitgliedstaaten können für die in ihrem Hoheitsgebiet eingetragenen SE
gesetzlich festlegen, welche Arten von Geschäften auf jeden Fall als Vorbehaltgeschäfte in die Satzung
aufzunehmen sind.
Zum Konzept des dualistischen Systems gehört eine starke, rechtlich auf alle Seiten abgesicherte
Führungskompetenz des Leitungsorgans: Dieses führt nach der SE-Verordnung die Geschäfte der
Gesellschaft «in eigener Verantwortung» – in offensichtlicher Anlehnung an das Vorbild des § 76
AktG21.
15
Dazu Hommelhoff/Teichmann, Europäische Aktiengesellschaft, S. 8 f.
§§ 76 ff. AktG für den Vorstand und §§ 95 ff. AktG für den Aufsichtsrat.
17
Art. 39 Abs. 1 VSE 2002.
18
Art. 39 Abs. 2 (Unterabsatz zwei) VSE 2002 sieht vor, dass die Satzung die Stellung und Abberufung des
Leitungsorgans den Aktionären in der Hauptversammlung anvertrauen kann, falls das örtliche Aktienrecht dies
vorsieht.
19
Art. 40 Abs. 1 und 2 VSE 2002.
20
Insoweit geht Art. 48 Abs. 1 VSE 2002 über das derzeitig geltende deutsche Recht hinaus, da § 111 Abs. 4 AktG
bloß die Möglichkeit für die Satzung erwähnt, zustimmungsbedürftige Geschäfte vorzusehen.
21
«Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft zu leiten»; Art. 39 Abs. 1 VSE 2002.
16
4
2.
Das deutsche dualistische System: Besonderheiten des Aufsichtsrats
a)
Ein fein abgestimmtes Konzept mit einem starken Vorstand
Im Vergleich mit dieser knappen Regelung der SE kennt das deutsche Recht eine ganze Anzahl von
Präzisierungen, die das Modell eines «Aufsichtsorgans» und «Leitungsorgans» in zahlreichen Hinsichten
abgrenzen und erweitern.
Die Stellung des Vorstandes ist in der deutschen Praxis dadurch besonders gestärkt, dass – im Gegensatz
zum monistischen System – gegenüber der Hauptversammlung nicht die von den Aktionären gewählten
Personen, sondern die von ihnen nur indirekt, d. h. über den Aufsichtsrat, gewählten Vorstandsmitglieder
auftreten, diese einberufen22 und im Regelfall auch leiten. Es ist auch nicht der Aufsichtsrat, sondern der
Vorstand, der die Tagesordnung festlegt und damit gegenüber den Aktionären eine in der Praxis sehr
weit gehende Führungsfunktion ausübt23. Schließlich kennzeichnet sich die starke Stellung des
Vorstandes im deutschen dualistischen System dadurch, dass der Aufsichtsrat ein Vorstandsmitglied
während seiner Amtszeit nur aus wichtigem Grund vorzeitig abberufen kann24.
Obwohl in der deutschen kritischen Literatur die Erörterungen sich vor allem um die Rolle des
Aufsichtsrates drehen, ist doch, aus der Distanz betrachtet, ganz eindeutig der als kollektives
Beschlussorgan ausgestaltete Vorstand der eigentliche Kern. Seine Macht ist rechtlich stark abgesichert,
gleichzeitig aber doch durch das Verbot der Einzelmachtstellung, wie sie im monistischen System den
«Chief Executive Officer» kennzeichnet, wieder deutlich abgedämpft. Die Stellung des Aufsichtsrates
seinerseits ist seit dem Gesetz über die Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich 25 präzisiert,
so dass heute ein wohl kaum mehr wesentlich zu verbesserndes Gleichgewicht der beiden Organe
erreicht ist.
b)
Der Einfluss der paritätischen Mitbestimmung
Freilich hat das Institut der Mitbestimmung seit 197626 den deutschen Aufsichtsrat eines Unternehmens
mit mehr als 500 Arbeitnehmern stark verändert. Im Inland wählen die Arbeitnehmer direkt ein Drittel
und bei mehr als 2.000 Arbeitnehmern die Hälfte aller Aufsichtsratsmitglieder. Die Mindestzahl der
Aufsichtsratsmitglieder beträgt 20, so dass sich 10 Arbeitnehmer-Vertreter und 10 Vertreter der
Kapitalgeber gegenübersitzen. Obwohl rechtlich die von den Aktionären und die von den Arbeitnehmern
gewählten Aufsichtsratsmitglieder gleichermaßen auf das Unternehmensinteresse verpflichtet sind, hat
die paritätische Mitbestimmung auf den Aufsichtsrat stark abgefärbt. Gewiss ist in der deutschen
Rechtsordnung die Hauptaufgabe (Wahl und Überwachung des Vorstandes) seit 1884 konzeptuell
unverändert, und der Aufsichtsratsvorsitzende ist auch bei paritätischer Mitbestimmung praktisch immer
ein Vertreter der Anteilseigner – und er hat bei der Beschlussfassung zudem den Stichentscheid
(«Zweitstimmrecht»). Nichts kann jedoch darüber hinwegtäuschen, dass der Aufsichtsrat eines
Unternehmens mit mehr als 2.000 Arbeitnehmern zum Austragungsplatz für den institutionalisierten
Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmern und Kapitalgebern geworden ist. Diese Aufgabe ist für die
Aufrechterhaltung des Sozialfriedens in Deutschland sicherlich ausschlaggebend, hat aber grundsätzlich
mit der Überwachung der mit der Geschäftsführung betrauten Personen wenig zu tun und enthält
überdies – weil so viele Untergebene (und den Untergebenen nahe stehende Personen) den Vorstand, die
eigenen Vorgesetzten beaufsichtigen sollen – eine schwer zu rechtfertigende methodische
Unstimmigkeit.
In Deutschland hat man sich inzwischen so sehr an den «mitbestimmten» Aufsichtsrat gewöhnt, dass all'
dies kaum mehr wahrgenommen wird. Die Aufteilung des Aufsichtsrates in «zwei Bänke» mit je
unterschiedlicher Wahl- und Legitimationsbasis hat sich indes spürbar in der Unternehmenspraxis
22
§ 121 Abs. 2 AktG.
§ 124 i.V.m. § 121 Abs. 2 AktG.
24
§ 84 Abs. 3 AktG.
25
Bundesgesetz vom 27. April 1998 (KonTraG), BGBl I/1998, S. 786 ff.
26
Einführung der paritätischen Mitbestimmung der Arbeitnehmer durch § 7 des MitbestG vom 4. Mai 1976.
23
5
ausgewirkt27, in einer Weise, von der ein nicht deutscher, mehr oder weniger ahnungsloser Leser des
Aktiengesetzes keine Vorstellung haben kann:
aa) Es entspricht der Praxis, dass die beiden «Bänke» vor der Sitzung des Aufsichtsrates die wichtigen
Geschäfte unter sich und mit dem Vorstand vorklären28. Der Deutsche Corporate Governance
Kodex geht so weit, anzuregen, dass in mitbestimmten Aufsichtsräten die Vertreter der Aktionäre
einerseits und der Arbeitnehmer andererseits die Sitzungen des Aufsichtsrates jeweils gesondert
vorbereiten sollten, ggf. je mit Mitgliedern des Vorstandes29. Eine solche Vorgehensweise –
welche denen, die im System selber tätig sind, vielleicht gar nicht besonders auffällt – sagt viel aus
über die wirkliche Funktionsweise des Aufsichtsrates. Es bildet sich ein gewisser Dualismus
innerhalb des Dualismus heraus;
bb) Entwickeln die beiden «Bänke» – was durch die «gesonderte Vorbereitung» institutionalisiert wird
– ein Eigenleben, so wirkt dieser Spaltungstendenz andererseits in der Praxis die Institution der der
Sitzung vorausgehenden «Aushandlung» im engsten Kreis entgegen. Im Vorfeld der
Aufsichtsratssitzung dienen Absprachen zwischen dem Aufsichtsratsvorsitzenden, dem Wortführer
der Arbeitnehmervertreter und dem Vorstandsvorsitzenden – typischerweise am Vorabend der
Aufsichtsratssitzung – der Vermeidung einer Konfrontation in der offiziellen Sitzung30. Es geht um
Kompromisse, die im «Rollenspiel»31 der Aufsichtsratssitzung dann nur noch vorgelegt und
genehmigt werden. Diese Praxis wird von der auf beiden «Bänken» geteilten Überzeugung
unterstützt, dass ein Vorlegen von Fragen und Initiativen, die in der Vorbesprechung nicht auf dem
Tisch waren, als Verstoß gegen den «guten Ton» gilt;
cc) Eine echte Beratungs- und Entscheidungstätigkeit in der offiziellen Aufsichtsratssitzung wird
namentlich bei genehmigungspflichtigen Geschäften behindert, da – bei einem Gremium von 20
Personen, statistisch schon eine «große Zahl» – die Wahrscheinlichkeit einer Indiskretion hoch ist,
umso mehr, als je nach der Vorlage eine der beiden «Bänke» aus einem gezielten Informationsleck
taktische Vorteile ableiten kann. Dies führt öfters dazu, dass gerade die brisantesten Geschäfte, bei
denen eine Geheimhaltung für eine sorgfältige Willensbildung geradezu unerlässlich ist, möglichst
lange vor dem Aufsichtsrat abgeschottet und erst im letzten Augenblick vorgelegt werden.
Schließlich entsteht wegen des im Mitbestimmungssystem endemischen Problems von
Indiskretionen auch eine der Idee des Vorbehaltsgeschäftes zuwider laufende Tendenz, den
Katalog der zustimmungsbedürftigen Vorstandsgeschäfte wegen der Mitbestimmung eher
«auszudünnen» und zu kürzen;
dd) Da der mitbestimmte Aufsichtsrat funktional, immer abgesehen von seinen Wahl- und
Überwachungsaufgaben, gesetzlich als Austragungsplatz für Gruppeninteressen eingerichtet ist,
überrascht es nicht, dass vor existenzbestimmenden Entscheiden des Aufsichtsrates die
Beeinflussungsversuche der Gewerkschaften einerseits, der Banken andererseits und schließlich
auch der obersten staatlichen Behörden genau an dieser Stelle ansetzen.
Man ist sich praktisch in einem Punkt weltweit einig – die Effizienz eines körperschaftsrechtlichen
Gremiums nimmt vom Erreichen einer zweistelligen Mitgliederzahl an exponentiell ab 32. Nun verlangt
aber das Gesetz in größeren Unternehmen eine Mindestzahl von 20 Personen, zu denen, jedenfalls wenn
es um wichtige Angelegenheiten geht, meist der fünf bis zehn Personen umfassende Vorstand kommt.
Es wäre heute jedenfalls nicht zu verantworten, das dualistische System noch so in die Diskussion um die
Konvergenz eingehen zu lassen, wie es in seiner kartesianischen Schärfe 1861 entworfen und 1884
27
Die Literatur ist unübersehbar. Für die Konvergenzfrage bedeutsame Hinweise bei Götz, Überwachung der
Aktiengesellschaft, S. 347; Bernhardt, Aufsichtsrat, S. 316 f.; Roe, Differences in Corporate Governance, S. 67;
Baums, Der Aufsichtsrat, S. 14; Hopt, Comparative Corporate Governance; Endres, Unternehmensleitung, S. 454;
Davies, Struktur der Unternehmensführung, S. 283; Ulmer, DCGK, S. 180; ders., Paritätische
Arbeitnehmermitbestimmung, S. 274 ff.
28
Vgl. für diese Praxis Ulmer, DCGK, S. 180.
29
DCGK 2002, Ziff. 3.6 (zit. Anm. 4).
30
Dazu kritisch etwa Bernhardt, Aufsichtsrat, S. 317; Endres, Unternehmensleitung, S. 454 f.; Ulmer, DCGK, S.
180.
31
Bernhardt, Aufsichtsrat, S. 312.
32
Kritik an der schieren Größe des paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrats etwa bei Lutter, Der Aufsichtsrat, S. 176;
ders., Aufsichtsratstätigkeit, S. 302.
6
eingeführt worden ist. Da offenbar irgendwelche Initiativen zur Änderung der Ausgestaltung der Idee
einer Mitbestimmung der Arbeitnehmer politisch keine Chance haben, ist und bleibt der Aufsichtsrat der
«Landeplatz der Mitbestimmung». Es wird kaum jemand bestreiten wollen, dass dies in der
Rechtswirklichkeit der größeren Unternehmen ebenso bedeutsame Auswirkungen hat wie die
herkömmliche Aufgabe der Wahl und Überwachung der Geschäftsführung.
II.
Das monistische System («Board»-System)
1.
Das klassische «Board»-System
Das monistische System kennzeichnete ursprünglich die Aktiengesellschaft sowohl in Frankreich (mit
dem «Conseil d'Administration»)33 wie in Großbritannien (mit dem «Board of Directors»)34. In
verhältnismäßig reiner Ausprägung hat es sich zudem in den US-amerikanischen Einzelstaaten erhalten,
und zwar – was unbedingt zum Systemvergleich gehört – überall ohne irgendeine mit der «deutschen
Mitbestimmung» vergleichbare Repräsentation von Gruppeninteressen.
Obwohl das heutige britische Gesellschaftsrecht sich durchaus von demjenigen der US-amerikanischen
Einzelstaaten unterscheidet – schon wegen der im Vereinigten Königreich zwingenden Umsetzung aller
EU-Richtlinien zum Gesellschaftsrecht –, sind die britischen «Boards of Directors» in vielen Hinsichten
den «Boards» in seiner ehemaligen Kolonie ähnlich35. Freilich mit einer Ausnahme: Im Gegensatz zu den
Usanzen in den Vereinigten Staaten, wo in 93 % aller großen Publikumsgesellschaften die Personalunion
von «Chairman of the Board» und «Chief Executive Officer» gilt36 hat sich in Großbritannien seit dem
«Corporate Governance»-Bericht von Sir Adrian Cadbury des Jahres 199237 die Trennung des
Vorsitzenden des «Boards» von der Funktion des obersten Geschäftsleiters stärker durchgesetzt. Eine der
seit dem Jahr 2000 verbindlichen Vorschriften des «Combined Code»38 der Londoner Börse über die
Corporate Governance-Praktiken verlangt, wenn an der Spitze der Gesellschaft eine Personalunion
eingerichtet wird, einen besonderen Hinweis und eine Begründung im Jahresbericht 39.
Das monistische System herrscht heute weitgehend unangefochten in den Gesellschaftsrechten der USamerikanischen Einzelstaaten40 und in Großbritannien41. Auch viele andere Länder, darunter die Schweiz,
haben im Wesentlichen am monistischen System festgehalten:
–
Das von den Aktionären gewählte «Board of Directors» hat als Gesamtgremium sowohl die
Führungs- wie die Überwachungskompetenz. Es ernennt für die Führung der täglichen Geschäfte
«executive officers» (leitende Angestellte), die ihm verantwortlich sind;
–
Sowohl in der US-amerikanischen wie vor allem in der britischen Praxis besteht das «Board of
Directors» aus zwei Arten von Mitgliedern, den «executive» oder «inside directors»
(geschäftsführenden Mitgliedern) und den «non executive directors» («NEDs» genannt), den
gewöhnlich von außen kommenden Personen, die dazu bestimmt sind, innerhalb des «Boards»
spezifische Überwachungsfunktionen wahrzunehmen;
33
Französisches Aktiengesetz vom 24. Juli 1867, Art. 22. Heute wahlweise immer noch gemäß Art. 89 ff. LSC.
Die Regelungsdichte des englischen «Company Act 1985», Sect. 282 et seq., ist sehr gering, vor allem verglichen
mit dem deutschen Recht. Charkham, Keeping Good Company, S. 262 ff.; Gower’s, Modern Company Law, S. 598
ff.
35
Monks/Minow, Corporate Governance, S. 165 ff.; Henn/Alexander, Laws of Corporation, S. 550 ff.
36
Monks/Minow, Corporate Governance, S. 175 ff.
37
Cadbury Report; dazu Böckli, Corporate Governance - Cadbury Report, S. 150 ff.; Davies, Struktur der
Unternehmensführung, S. 270 ff.
38
«The Combined Code», weil der Kodex aus einer Kombination der als maßgeblich beurteilten Bestimmungen des
«Cadbury Code of Best Practice» (1992), des «Greenbury Report» (1995), des «Hampel Report» (1998) und des
«Turnbull Report» (1999) entstanden ist (obwohl der Kontext der einleitenden Erklärung sich nur auf «Cadbury»
und «Greenbury» bezieht).
39
Combined Code, Abschnitt A.2 und («Code Provision») A.2.1. Dazu Davies, Struktur der Unternehmensführung,
S. 276 ff.
40
Monks/Minow, Corporate Governance, S. 168 ff.
41
Gower’s, Modern Company Law, S. 598 ff.; Companies Act 1985, Sect. 282.
34
7
–
–
–
Zu den typischen Kennzeichen des heutigen «Board»-Systems gehört die Bestellung mehrerer
Ausschüsse, die aus nicht geschäftsführenden «Board»-Mitgliedern zusammengesetzt sind und sich
besonderen Aufgaben der Aufsicht und der Vertiefung widmen;
Das Board nimmt eigenständig und ausschließlich – im Gegensatz zum Aufsichtsrat – sämtliche
Befugnisse gegenüber den Aktionären wahr, und zwar sowohl hinsichtlich der Einberufung und
Leitung der Hauptversammlung der Aktionäre, wie insbesondere auch bei der Festlegung der
Tagesordnung und der Anträge an die Aktionäre;
In strikter Abweichung von den deutschen gesetzlichen Vorschriften werden – sehr oft in USA,
viel seltener freilich in Großbritannien – der Vorsitz des Board als «Chairman» und die Funktion
des «Chief Executive Officer» in einer Person vereinigt.
Die «non executive directors», von der Führung der Geschäfte entlastet, konzentrieren sich im «Board»System im Wesentlichen auf sechs Punkte, die von Anderson/Anthony schon 1986 in unübertrefflicher
Weise lapidar herausgegriffen worden sind42. Es handelt sich dabei um eine holzschnittartige
Darstellung, nicht um eine umfassende Beschreibung, und schon gar nicht um einen juristisch
aufgebauten Kompetenzkatalog:
«(1.) Watching for trouble, (2.) Preparing for a crisis, (3.) Appraising the CEO (chief executive officer), (4.) Forming a judgement about
the next CEO, (5.) Setting standards of performance, (6.) Influencing strategy».
Es muss schon hier auffallen, wie nahe diese Beschreibung bei dem liegt, was das dualistische System
dem Aufsichtsorgan zuweist.
2.
Der Schweizer Mischtyp: monistisches System mit starken dualistischen Elementen
a)
Machtkonzentration bei einem Gremium – dem Verwaltungsrat – nach dem Gesetz
Entgegen dem, was in Deutschland allgemein bekannt ist, hätte die Schweiz auf Grund einer Initiative der
Gewerkschaften aus dem Jahre 197143 um ein Haar die Mitbestimmung der Arbeitnehmer eingeführt. Die
Schweizer Regierung machte sich ein syndikalistisches Anliegen zu eigen und legte dem Volk folgenden
Text zur Abstimmung vor:
«Der Bund ist befugt, Vorschriften aufzustellen über eine angemessene, die Funktionsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der
Unternehmung wahrende Mitbestimmung der Arbeitnehmer»44.
Dieses Modell, das in der Volksabstimmung vom 21. März 1976 nur knapp unterlag, hätte die
Mitbestimmung nicht im Aufsichtsorgan, sondern direkt im monistischen Leitungs- und
Verwaltungsorgan (im Verwaltungsrat) ansetzen wollen. Daher wäre diese Art Mitbestimmung
funktional weiter gegangen als jene der Bundesrepublik45.
In den Schweizer Aktiengesellschaften, die in der Größe etwa den paritätisch mitbestimmten deutschen
Gesellschaften entsprechen, hat sich mittlerweile ein Mischsystem herausentwickelt. Descartes hätte es
unter den pragmatisch denkenden Schweizern nicht leicht gehabt: Er hätte ihnen vergeblich beizubringen
versucht, dass «monistisch» und «dualistisch» zwei logische Alternativen sind. Das Mischsystem liegt
zwischen dem reinen «Board»-System und dem rein dualistischen System: Grundsätzlich hat der
Schweizer Verwaltungsrat die kombinierte Machtfülle sowohl des deutschen Aufsichtsrates wie des
deutschen Vorstands. Er hat einmal alle Funktionen eines Aufsichtsorgans, indem er die Mitglieder der
42
Anderson/Anthony, New Corpoate Directors, 19 unter dem Titel «The real agenda». Was hier fehlt, ist
insbesondere der Aspekt der Strategie («ultimate direction of the Company») und die Finanzverantwortung.
43
Mitbestimmungsinitiative der Schweizer Gewerkschaften vom 25. August 1970, Bundesblatt 1971 III 780; dazu
Schluep, Mitbestimmung, S. 311 ff.
44
Botschaft des Schweizer Bundesrates (Regierungsvorlage) vom 22. August 1973, Bundesblatt 1973 II 237 und
Gegenvorschlag der Bundesversammlung vom 4. Oktober 1974, Bundesblatt 1974 II 886. Hervorhebung beigefügt.
45
Obgleich man mit dem Wort «angemessene» Mitbestimmung verklausuliert die paritätische Mitbestimmung
ausschließen wollte, hätte dieses Schweizer Modell direkt im Leitungs- und Verwaltungsorgan des monistischen
Systems angesetzt und damit den Gewerkschaften – anders als in Deutschland – eine direkte Einflussnahme in der
strategischen Führung der größeren Schweizer Unternehmen gebracht.
8
obersten Geschäftsleitung wählt46 und überwacht47. Ähnlich wie ein Aufsichtsrat oder ein französischer
«Conseil de surveillance» trägt er direkt die Verantwortung für die Ordnungsmäßigkeit der
Rechnungslegung und die Gesetzeskonformität des Jahresabschlusses48. Und schließlich hat er sehr
häufig, ähnlich wie ein Aufsichtsrat, weittragende Kompetenzen hinsichtlich eines Kataloges
zustimmungsbedürftiger Akte der Geschäftsführung49. Der Verwaltungsrat delegiert die
Geschäftsführung an eine «vorstandsähnliche» Geschäftsleitung unter dem Vorbehalt seiner Zustimmung
für bestimmte wichtige Geschäfte im Organisationsreglement gemäß Art. 716b Abs. 1 und 2 OR 1991.
Daneben behält der Verwaltungsrat auch grundsätzlich – unter Vorbehalt eben der Delegation an eine
Geschäftsleitung – fast alle Zuständigkeiten eines deutschen Vorstandes50 für die obersten
Entscheidungen der Unternehmensleitung. Er ist in eigener Verantwortung zuständig für die Gestaltung
des internen Kontrollsystems und der Finanzplanung51, und er hat ferner, wie ein Vorstand oder
«directoire»52, die in der Praxis wichtige Initiative hinsichtlich der Ausschüttungspolitik. Schließlich ist
es der Verwaltungsrat, der die Tagesordnung der Generalversammlung samt Anträgen festlegt, wobei er
deren Ablauf – anders als der Aufsichtsrat – beinahe vollständig in seiner Hand hat. Der Verwaltungsrat
ist es, der die oberste Führungsverantwortung («Oberleitung» genannt), im Sinne der angelsächsischen
«ultimate strategic direction» trägt53, und er ist es, der wie ein Vorstand oder ein «directoire» umfassend
zur Vertretung der Gesellschaft gegenüber Dritten befugt ist 54.
b)
In der Praxis eine starke Tendenz zur Trennung der Funktionen: Delegation der eigentlichen
Führung der Geschäfte
In der Praxis freilich ist es in der Schweiz zu einer Annäherung an das vom deutschen Recht vorgegebene
dualistische System gekommen.
Nach den Statuten fast aller größeren Aktiengesellschaften delegiert der Verwaltungsrat (in einem
sogenannten «Organisationsreglement», das in gewisser Hinsicht den aus den amerikanischen
Gesellschaftsrechten bekannten «Bylaws» entspricht) die exekutive Führung weitgehend an die erwähnte,
als Gremium gestaltete, separate «Geschäftsleitung»55.
Dem Verwaltungsrat verbleibt, anders als dem echt dualistischen «Leitungsorgan», wie es im Vorstand
gegeben ist und z.B. in der Societas Europaea wahlweise eingerichtet werden kann, stets unübertragbar
die oberste Verantwortung für die Festlegung der Strategie («Oberleitung der Gesellschaft»). Diese
schon erwähnte «ultimate strategic direction» – der Entscheid darüber, welche Ziele mit welchen
finanziellen und anderen Ressourcen anzustreben sind56 – ist eine klassische Zuständigkeit des
Leitungsorgans im monistischen System, auch wenn gerade in der neueren deutschen Diskussion die
Neigung festzustellen ist, den Aufsichtsrat etwas enger in die Festlegung der Unternehmensplanung und
damit der obersten strategischen Ausrichtung einzubinden.
46
Art. 716a Abs. 1 Ziff. 4 des Schweizer Obligationenrechtes («OR») in der Fassung vom 4. Oktober 1991. Vgl.
Böckli, Kernkompetenzen; Kammerer, Unübertragbare und unentziehbare Kompetenzen.
47
Art. 716a Abs. 1 Ziff. 5 OR.
48
Art. 716a Abs. 1 Ziff. 3/6 OR und Art. 662 OR.
49
Vorbehaltsgeschäfte gestützt auf Art. 716b Abs. 1 OR.
50
Der deutsche Vorstand handelt allerdings nach der Usanz in Absprache mit dem Aufsichtsrat, gesetzlich unter
Vorlage der Vorschläge gem. § 170 AktG.
51
Art. 716a Abs. 1 Ziff. OR. Art. 716a Abs. 1 Ziff. 3 OR spricht (in einer 1983 gewählten, etwas veralteten
Ausdrucksweise) von der «Finanzkontrolle».
52
Art. 126 LSC.
53
Art. 716a Abs. 1 Ziff. 1 OR. Dazu Botschaft des Bundesrates (1983), 96, Ziff. 215.11 und 177 ff., Ziff. 332.3.
54
Allerdings ist die Zeichnungsberechtigung in der Schweiz meist personell begrenzt auf die Mitglieder des
Verwaltungsrates, die im Unternehmen leitende Funktionen ausüben, die «executive directors» oder
geschäftsführenden Verwaltungsratsmitglieder, Art. 718 OR.
55
Art. 716b OR. Vgl. Böckli, Kernkompetenzen, S. 33 ff.; Böckli, Schweizer Aktienrecht, Rdnr. 1583 ff.; Müller et
al., Der Verwaltungsrat, S. 122 ff; Krneta, Verwaltungsrat, Rdnr. 1692 ff; Trigo Trinidade, Le Conseil
d`Administration, S. 155 ff.
56
Art. 716a Abs. 1 Ziff. 1 OR.
9
In der Praxis ist somit auch das schweizerische System in einem gewissen Sinne «dualistisch». Dabei
geht indessen der Schnitt nicht – wie in Deutschland – zwischen Wahl und Beaufsichtigung einerseits
und Führung andererseits hindurch. Man teilt vielmehr der Geschäftsleitung die eigentliche Führung der
Geschäfte, dem Verwaltungsrat aber alle strategischen Leitungskompetenzen, also die «instructio», zu;
der Schnitt geht mitten durch die Exekutivbefugnisse hindurch. Der Verwaltungsrat behält stets nebst der
Wahl, Abberufung und Überwachung der Geschäftsleitung die oberste Leitungsfunktion. Die
Aufgabenteilung entspricht daher ziemlich genau dem römisch-rechtlichen Denkmodell für den
Auftraggeber mit seinen «drei A» (Auswahl, Anweisung, Aufsicht).
c)
Tatsächliches Übergewicht der «Geschäftsleitung»
In der Rechtswirklichkeit ist indessen ausschlaggebend, dass die Mitglieder des Verwaltungsrates
gewöhnlich zum weit überwiegenden Teil nebenamtlich tätig sind. Diese von außen kommenden
Personen sind auf die professionelle Geschäftsleitung nicht nur für die Führung der täglichen Geschäfte,
sondern entgegen dem gesetzlichen Modell gerade auch für die Ausübung ihrer Strategie- und
Gestaltungsfunktionen angewiesen. Es kommt am Schluss meist im Wesentlichen dazu, dass der
Verwaltungsrat, der überwiegend aus «nicht exekutiven» Mitgliedern besteht57 zwar das «decision
taking» in eigener Verantwortung erbringt, die Geschäftsleitung jedoch den ganzen Prozess des «decision
shaping» von der ersten Anregung bis zur beschlussreifen Vorlage beherrscht.
Seit dem Erscheinen des «Cadbury Report» im Jahre 199258 – mit seiner inzwischen international
geradezu kanonisch gewordenen Dreiheit der Ausschüsse («Audit Committee» und «Remuneration
Committee», dazu ein «Nomination Committee») – hat sich auch in den Schweizer Verwaltungsräten die
Einrichtung von zwei bis drei Ausschüssen immer mehr verbreitet. Die Ausschüsse gehören seit dem 1.
Juli 2002, dem Inkrafttreten des «Swiss Code», der Schweizer Empfehlungen zur Corporate Governance,
zum Standard der größeren Gesellschaften59. Die Arbeit in den Ausschüssen zwingt die Mitglieder des
Verwaltungsrates dazu, mindestens in einem, oft aber in zwei Bereichen ihrer gesetzlichen Zuständigkeit
vertiefende praktische Arbeit zu leisten, was die Fachkompetenz mindestens teilweise erhöht, der
Machtverschiebung zum Management hin entgegenwirkt und wenigstens die Wahrscheinlichkeit erhöht,
dass eine seriöse und unabhängige Überwachungsarbeit geleistet wird.
C.
Tendenz zur Annäherung der Strukturtypen
Auch in jenen Rechtsgebieten, in denen es nicht, wie in der Schweiz, zur Ausprägung eines «Mischtyps»
gekommen ist, vor allem also in der angelsächsischen Welt und in Deutschland, Österreich und
Holland60, ist eine zunehmende Tendenz zu einer Annäherung der Strukturtypen festzustellen. Diese
Konvergenz ist darauf zurückzuführen, dass beide Systeme Nachteile haben und diese im Laufe der Zeit
immer offensichtlicher geworden sind. Man sucht letztlich den Ausgleich für Schwächen des einen
Systems in gezielten Anleihen beim anderen.
I.
Konzeptionelle Schwächen des dualistischen Systems
Eine konzeptionelle Schwäche des dualistischen Systems – immer abgesehen von den ganz besonderen
Problemen, die aus der paritätischen Mitbestimmung entstehen – liegt im Gedanken, man könne andere
Menschen überwachen, ohne dabei zu sein. So logisch und bestechend der Gedanke einer Trennung von
Geschäftsführung einerseits und Wahl und Überwachung andererseits ist – eine strenge personelle und
institutionelle Trennung von zwei Menschengruppen führt zu einem Informationsproblem, das trotz allen
gesetzlichen Bemühungen zur Förderung des Informationsflusses und trotz allen Mahnungen zu
57
Watter, Nicht exekutives Mitglied, S. 659 ff.
Cadbury Code of Best Practice (1992), Ziff. 2.4. (Note 7), 3.3 und 4.3.
59
«Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance» vom 25. März 2002, in Kraft getreten am 1. Juli 2002,
anwendbar erstmals auf das Geschäftsjahr 2002 («SCBP 2002»), Ziff. 21 ff.
60
Zum Sonderfall Japans Charkham, Keeping Good Company, S. 70 ff.
58
10
intensiverem Zusammenwirken61 kaum überwindbar ist. Ein Gremium von zwanzig und mehr Personen
einerseits und ein solches von fünf bis zehn Personen andererseits kann sich gar nicht häufig treffen,
schon wegen des organisatorischen Aufwands einer solchen Veranstaltung.
Zwar gilt der Satz von der Unmöglichkeit einer Selbstüberwachung – und hier greift dann die
Konvergenz, wie zu zeigen sein wird, ein – aber es gilt mindestens so unerbittlich ein weiterer Satz:
«Niemand kann andere überwachen, ohne selbst dabei zu sein». Die Abwesenden haben nicht nur im
Sprichwort Unrecht62: Für das «Dabeisein» gibt es auch in der Überwachung der Geschäftsführung
keinen Ersatz. Überholt ist die frühere Vorstellung, dass effiziente und zeitgerechte Überwachung durch
ein intellektuelles Über-die-Bücher-Gehen, eine Überprüfung im Rückblick möglich sei. Sobald eine
Gesellschaft in wirtschaftlich raue Gewässer gerät, zeigt sich noch und noch in der Praxis: Die
herkömmliche Prozedur der Aufsicht – dass man nämlich den an der Front tätigen, in ihre eigenen
Handlungen und Unterlassungen verstrickten Personen höfliche und im äußersten Fall bohrende Fragen
stellt – reicht nirgends hin. Denn mehr noch als im monistischen System muss sich in der institutionellen
Trennung das Phänomen der Asymmetrie des Nachrichtenflusses schädlich auswirken: Jede Hierarchie
begünstigt das Hochkommen von guten Nachrichten, aber sie filtert, verzögert oder verhindert das
Hochkommen schlechter Nachrichten. Keine handelnde Person setzt sich selbst ohne Not gegenüber
anderen ins Unrecht. Gerade besonders gefährliche Ereignisse und Unterlassungen werden den
Mitgliedern eines personell und institutionell strikt getrennten Aufsichtsorgans oft besonders spät in
ihrer wahren Tragweite erkennbar.
Überwachung ist nicht nur eine kritische Analyse im Nachhinein, sondern ein anspruchsvoller
Erkenntnis- und Beurteilungsprozess in der Echtzeit. Wer Aufsicht ausüben will, muss – von der
Asymmetrie des Nachrichtenflusses stets behindert – sowohl die betrieblichen Abläufe wie insbesondere
die handelnden Menschen nah, vor allem auch zeitnah, begleiten. Ein Organ von zwanzig Personen, vor
allem, wenn es noch in zwei «Bänke» unterteilt ist, kann eine solche nahe Begleitung schwerlich leisten.
Insoweit als daher das dualistische System nach seinem klassischen Grundgedanken «eine Überwachung
ohne Dabeisein» einrichtet, enthält es letztlich fast eine ebenso schwer wiegende konzeptionelle
Schwäche wie ein «sich selbst überwachender» Verwaltungsrat.
II.
Konzeptuelle Schwächen des monistischen Systems
Das monistische System – von dessen reiner Ausprägung man freilich fast überall abgekommen ist –
enthält den Widerspruch, dass von den handelnden Personen verlangt wird, sich selbst zu überwachen.
Die Dinge müssen sich jedoch vor allem dann zuspitzen, wenn der Präsident des Leitungs- und
Verwaltungsorgans selber gleichzeitig die oberste Stelle in der exekutiven Geschäftsführung besetzt, wie
dies beim französischen «Président-directeur général» («PDG»)63 und in den USA beim «Chairman and
Chief Executive Officer»64 der Fall ist. Diese Extremgestaltung einer «monistischen Spitze im
monistischen System» ist zwar auch in Großbritannien und in der Schweiz möglich, wird aber – außer in
Sondersituationen – zunehmend in Frage gestellt65 und ist tendenziell im Zurückgehen begriffen.
Das monistische System hat auch ohne Personalunion den Nachteil einer in der Praxis sehr spürbaren
Gruppendynamik, die es den einzelnen außenstehenden Mitgliedern des Gremiums erschwert, zwischen
dem Pol einer aktiven Mitwirkung bei der strategischen Führung und dem Pol der Überwachung und
kritischen Infragestellung ständig hin- und herzugehen. Es besteht eine natürliche Tendenz für einige
wenige, aktiv in die Geschäftsführung einbezogene Mitglieder, einen Kern oder «inneren Kreis» zu
61
DCGK Ziff. 3.
«Les absents ont toujours tort».
63
Gemäß einem Gesetz vom 16. November 1940 und einem «Décret-Loi» vom 4. März 1943, mit denen das
Frankreich des Vichy-Régimes das Führerprinzip ihrer damaligen Besatzer nachahmen wollte; wahlweise immer
noch gemäß Art. 98 ff. LSC zur Teilreform des rechtlichen Statuts des «PDG» (Président-directeur général) in
Frankreich gemäß Gesetz vom 15. Mai 2001, dazu Merle, Droit Commercial, Nr. 417.
64
Monks/Minow, Corporate Governance, S. 175.
65
Vgl. kritisch schon Cadbury Report, Ziff. 4.7/4.9: mit klarem Vorzug für die Trennung Hampel Report, Ziff. 3.17;
mit Erfordernis einer veröffentlichten Rechtfertigung im Fall einer Personalunion Combined Code A.2.1.
62
11
bilden und die übrigen Mitglieder des Verwaltungsrates in einen «äußeren Kreis» abzudrängen. Ist dies
geschehen, fällt es den Mitgliedern des «äußeren Kreises» keinesfalls leichter als einem Mitglied eines
Aufsichtsrates im dualistischen System, ihre Überwachungsaufgabe auszuführen. Die in den äußeren
Kreis abgedrängten Mitglieder eines monistischen Verwaltungsrates, denen eigentlich die
Überwachungsfunktion zustehen sollte, haben selten einen Vorsitzenden, der ausschließlich ihre Belange
vertritt und die Information für die Überwachungstätigkeit eigenständig beschafft. Der deutsche
Aufsichtsrat dagegen hat immer seinen eigenen Präsidenten. Letztlich kämpfen die Menschen sowohl im
dualistischen wie im monistischen System mit durchaus vergleichbaren Problemen des Abseitsstehens
und einer vorgegebenen Informationsasymmetrie.
Es verwundert daher nicht, dass ein großer Teil der Anstrengungen um die «Corporate Governance», die
ja als Leitprinzip aus der Welt des monistischen Systems stammt, darauf ausgerichtet ist, die spezifischen
Schwächen geradezu dieses Systems zu beheben. Getan wird das mit Mitteln, die notwendigerweise zu
einer Konvergenz der Systeme führen.
III.
Die Konvergenz der Systeme
Aus der Analyse der besonders ins Auge stechenden Schwächen der beiden Systeme folgt, dass beide
darauf ausgehen müssen, so weit wie möglich die Stärken des anderen zu übernehmen, um die eigenen
Schwächen auszugleichen. Was in den letzten Jahren mit bemerkenswerter Folgerichtigkeit ablief, ist
denn auch ein solcher Prozess.
1.
Übernahme von Ideen des monistischen ins dualistische System
So sehr das dualistische System rein kartesianisch überzeugt – sein Hauptproblem bleibt genau jene
Trennung, die es einrichtet. Die Gefahr einer gewissen Abschottung zwischen denen, die handeln, und
jenen, die getrennt von ihnen sie überwachen sollten, wird dabei durch den Apparat der Mitbestimmung
letztlich noch erhöht. In der Praxis dient nun eine ganze Anzahl von Neuerungen dazu, das
Abschottungsproblem des dualistischen Systems zu überwinden:
a)
An die Stelle des ursprünglichen dialektischen Gegensatzes von «Führung» einerseits und
«Überwachung» andererseits tritt mehr und mehr die Anregung – und im Deutschen Corporate
Governance Kodex – die Aufforderung, dass Vorstand und Aufsichtsrat «eng zusammenarbeiten»
sollen. Nicht anders als im Mischsystem, wo letztlich der Verwaltungsrat die strategische
Ausrichtung und die Organisation gar nicht ohne ein enges Zusammenwirken mit der
Geschäftsleitung festlegen kann, stimmt der deutsche Vorstand die strategische Ausrichtung des
Unternehmens mit dem Aufsichtsrat ab und erörtert mit ihm in regelmäßigen Abständen den Stand
der Umsetzung66.
b)
Der schon lange im Gesetz enthaltene Gedanke, dass der Aufsichtsrat über die im letzten Grund
antithetische Überwachung hinaus den Vorstand beraten soll, wird erweitert durch die
Aufforderung zu synthetischem Verhalten, zu einer offenen Diskussion zwischen diesen Organen.
Und die Informationsversorgung des Aufsichtsrates wird zur gemeinsamen Aufgabe beider
Gremien, des Leitungs- und des Aufsichtsorgans67.
c)
Die informelle Vorberatung der Geschäfte des Aufsichtsrates im magischen Dreieck
«Aufsichtsratsvorsitzender/Vorstandsvorsitzender/Spitze der Arbeitnehmervertreter» dient einer
pragmatischen Überwindung der ursprünglich im Gesetz so scharf eingerichteten Trennung. Sogar
eine so banale Einrichtung wie ein ständiges Büro des Aufsichtsratsvorsitzenden und die
Bereitstelllung von Mitarbeitern zur Begleitung des Unternehmens wirken in derselben Richtung.
Ziel ist eindeutig, dem obersten Aufseher ein minimales «Dabeisein» zu erlauben.
d)
Die Einrichtung von besonderen Ausschüssen68 nach angloamerikanischem Muster erlaubt es dem
Aufsichtsrat, sich enger mit den Abläufen und Problemen des Unternehmens vertraut zu machen.
Diese Ausschusstätigkeit bezieht ihn notwendigerweise viel stärker in die Echtzeit ein. Es wird
66
DCGK Ziff. 3.1 und 3.2.
DCGK Ziff. 3.4 und 3.5.
68
DCGK Ziff. 5.3.
67
12
e)
möglich, wenigstens ansatzweise den schon lange geforderten Schritt von der bloßen «ex postArbeitsweise» zu einer «ex ante-Involvierung» zu tun.
Der satzungsmäßige Katalog der zustimmungsbedürftigen Geschäfte schließlich erlaubt es, den
Aufsichtsrat direkt in Entscheidungen von grundlegender Bedeutung für das Unternehmen
einzubinden69. Jedenfalls in diesem Umfange ist dem Vorstand eine Politik der vollendeten
Tatsachen schon rein prozedural verwehrt.
Ein Gespann von Aufsichtrat und Vorstand, das wirklich so funktioniert, kann für sich in Anspruch
nehmen, dass die Schwächen sowohl des einen wie des anderen Systems so weit wie möglich vermieden
werden.
2.
Übernahme von Ideen des dualistischen Systems in das monistische System
Dennoch: Die Deutschen müssen sich nun einmal damit abfinden, dass es kaum einen einzigen
angelsächsischen Autor gibt, der den Übergang zum dualistischen System – selbst zu einem im
dargestellten Sinne nachgebesserten System – befürworten würde. Umso erstaunlicher ist es andererseits,
dass ein großer Teil der Corporate Governance-Ideen, die seit dem Ende der 60er Jahre in den USA
allmählich entstanden70 und 1992 im epochemachenden britischen «Cadbury»-Bericht formuliert worden
sind71, trotz allem auf eine Konvergenz mit dem dualistischen System hinauslaufen.
Freilich wird die Grundidee eines einzigen, an der Spitze des Unternehmens stehenden Leitungs- und
Überwachungsorgans nicht aufgegeben. In folgenden Bereichen ist jedoch eine Annäherung (oder sogar
eine Übernahme von Gestaltungsideen aus dem dualistischen System) festzustellen:
a)
Eigentlich war die Einteilung in «executive» und «non executive» (oder «inside» und «outside»)
directors schon vor Jahrzehnten in der anglo-amerikanischen Literatur anzutreffen. Aber erst seit
dem «Cadbury Report» und erst recht in den letzten Jahren hat sich diese Unterscheidung
akzentuiert und beinahe bis zu einem «Quasi-Dualismus» innerhalb des monistischen Gremiums
entwickelt. Den «NEDs», den nicht geschäftsführenden Mitgliedern des «Boards», wird jetzt
umfassend die Funktion der Überwachung zugewiesen. Sie erhalten sogar – was die
Ernsthaftigkeit dieses Unterfangens belegt – einen eigenen Vorsitzenden, den sogenannten
«independent lead director». Dies ist ein besonders erfahrenes, normalerweise älteres Mitglied des
Verwaltungsrates, an das sich die außenstehenden Mitglieder mit Problemen wenden können.
Dieser eigentliche «Geheimrat» ist befugt, eine Sitzung unabhängig vom «Chairman» oder
«Board» einzuberufen und zu leiten.
b)
Innerhalb des Bereichs der Überwachung erhalten die nicht geschäftsführenden Mitglieder ganz
besonders zwei Funktionen übertragen, jene des «Audit Committee» und des «Remuneration
Committee». Zu diesem Zweck wird – über die «nicht exekutive» Eigenschaft hinaus – verlangt,
dass die betreffenden außenstehenden Verwaltungsratsmitglieder in einem strikten Sinne
«unabhängig» sind. Sie dürfen weder mit den die oberste Leitung wahrnehmenden Personen
verbunden sein noch in mehr als geringfügigen Geschäftsbeziehungen mit der Gesellschaft stehen,
noch der Geschäftsführung angehören oder vor einiger Zeit angehört haben. Auch dürfen sie nicht
durch andere Gründe an der Ausübung ihres unabhängigen Urteils gehindert werden72.
c)
Der Prüfungsausschuss bildet sich ein eigenständiges Urteil über die Qualität der externen Prüfer
und des internen Kontrollsystems sowie ihres Zusammenwirkens, überwacht die «Compliance»
(Einhaltung der anwendbaren Normen) und verschafft sich ein unabhängiges Bild von der
Integrität des Jahresabschlusses73. Das «Remuneration Committee» seinerseits ist dazu aufgerufen,
mit seinen unabhängigen «Board»-Mitgliedern die in jüngster Zeit besonders brisant gewordenen
69
DCGK Ziff. 5.1.1. Vgl. dazu vor allem Lutter, Unternehmensplanung, S. 208 ff., demzufolge sogar das Budget
und die Mittelfristplanung zu Vorbehaltsgeschäften gemacht werden können.
70
Das Startsignal ist jedenfalls in der Einführung der «Audit Committees» in USA zu erblicken, gemäß Vorschlag
von 1967 (Empfehlung des «American Insitute of Certified Public Accountants» AICPA), verwirklicht seit den
siebziger Jahren durch den New York Stock Exchange.
71
Dazu Böckli, Corporate Governace – Cadbury Report, S. 150 ff.; Davies, Struktur der Unternehmensführung, S.
270 ff.
72
Combined Code (1999) des London Stock Exchange, Abschnitt A.3.2.
73
Blue Ribbon Committee (Millstein/Whitehead, Hrsg.) 1999; SCBP (2002) Ziff. 23/24.
13
d)
e)
Aspekte der Gesamtentschädigung für die Spitzenkräfte zu überwachen. Dabei geht es
insbesondere um die Boni und Aktienoptionen und die Gefahren von kontraproduktiven Anreizen.
Es ist unschwer zu erkennen, dass genau diese Funktion im dualistischen System automatisch dem
Aufsichtsrat zukommen muss, der ja nicht nur die obersten Führungskräfte wählt, sondern auch –
mindestens in den Eckwerten – die Bezüge festzusetzen hat.
Einen weiteren Schritt zur Annäherung an die Grundidee des dualistischen Systems hat in jüngster
Zeit der New York Stock Exchange getan. Nach den am 6. Juni 2002 veröffentlichten Vorschlägen
seines «Listing Standards Committee»74 muss die Mehrheit jedes «Board» einer börsennotierten
Gesellschaft im definierten Sinne vom Management «unabhängig» sein.
Einen großen Schritt zur Konvergenz tut der New York Stock Exchange außerdem mit der neuen
Anforderung, dass die non executive directors (die «NEDs») sich regelmäßig zu Sondersitzungen
in Abwesenheit des Managements zu treffen haben75. Damit ist praktisch schon beinahe so etwas
wie ein «Aufsichtsrat» innerhalb des monistischen Board konstituiert. Dieser interne Ausschuss
der nicht geschäftsführenden Mitglieder tritt mit seinem eigenen Vorsitzenden (nach britischer
Ausdrucksweise dem «independend lead director») – und mit einer eigenen Geschäftsordnung
zusammen; er führt auch sein eigenes Protokoll.
Unter dem Blickwinkel der Konvergenz besonders aufschlussreich ist die neueste Entwicklung um das
Audit Committee. Dieses übernimmt ganz eindeutig Verantwortungen, die ursprünglich – vielleicht mit
etwas unrealistischen Erwartungen – dem Aufsichtsrat zugeordnet worden waren76, nun modernisiert und
natürlich im Rahmen des monistischen Systems. Seit der Veröffentlichung des «Blue Ribbon Report» im
Jahre 199977 und der darauf folgenden Weisung der amerikanischen Börsenaufsichtsbehörde SEC obliegt
dem Prüfungsausschuss vor allem die eigenständige kritische Durchsicht des Einzel- und
Konzernabschlusses sowie der Quartalsabschlüsse im Hinblick auf allfällige Abweichungen von den
anwendbaren Rechnungslegungs-Standards und die Qualität des Abschlusses überhaupt. Genau dies ist
seit jeher – schon seit dem Jahre 1884 – eine der Kernaufgaben des Aufsichtsorgans in einem
dualistischen System78. Zwar kann sich nach den neuesten Bestimmungen des «Sarbanes-Oxley Act»
vom 24. Juli 200279 das Audit Committee auf eine «eidesstattliche Erklärung» des obersten
Geschäftsleiters (CEO) und des Finanzchefs (CFO) stützen, wonach der Konzernabschluss in allen
wesentlichen Hinsichten integer und richtig ist. Aber dem Prüfungsausschuss verbleibt die unentziehbare
Verantwortung, den entscheidenden Beschluss über die Vorlagefähigkeit des Jahresabschlusses
gegenüber dem Gesamt-«Board» zu fassen. Erst danach kann dieser den Jahresabschluss feststellen und
den Aktionären den entsprechenden formellen Antrag stellen. Insoweit verfährt ein Prüfungsausschuss
weitgehend wie ein Aufsichtsorgan; eine stärkere Annäherung ist kaum vorstellbar.
74
New York Stock Exchange, Corporate Accountability and Listing Standards Committee, Report of June 6 (2002).
Die Anforderungen an die «Unabhängigkeit» der außenstehenden «Board»-Mitglieder werden verschärft: «The
Board must affirmatively determine that the director has no material relationship with a listed company. In addition,
there is a five year «cooling off»-period for former employees of the listed company or of its independent auditor, for
former employees of any company whose compensation includes an officer on the listed company and for immediate
family members of the foregoing. Directors' fees must be the sole compensation an Audit Committee member
receives from the listed company. Further, an Audit Committee member associated with a major shareholder (one
owning 20% of more of the listed company's equity) may not vote in an Audit Committee proceeding».
75
New York Stock Exchange, Committee Report, S. 2.1, Abs. 1 und 2.
76
Bis zur Notverordnung des Reichspräsidenten Hindenburg vom 19. September 1931, vgl. Klausing, Reform des
Aktienrechts, S. 172, oblag dem Aufsichtsrat eine Art «Audit Committee»-Funktion, indem er sich selbst ein Bild von
der Korrektheit des Jahresabschlusses erarbeitete, § 246 Abs. 1 Sätze 2 und 3 HGB 1897.
77
Blue Ribbon Committee (1999).
78
§ 246 Abs. 1 Satz 3 HGB 1897: «Er hat die Jahresrechnung, die Bilanzen und die Vorschläge zur
Gewinnverteilung zu prüfen ...».
79
H.R. 3763. Sect. 301/302.
14
IV.
Verbleibende Divergenzen
Indessen wäre es trotz aller Annäherung nicht erlaubt, geradezu von einer Angleichung zu sprechen80. So
weit auch im monistischen System ein gewisser «Dualismus» innerhalb des Leitungs- und
Verwaltungsorganes gehen mag, letztlich liegt doch die Gesamtverantwortung stets beim «Board» als
Einheit. Und nur dem monistischen System ist es eigen, dass das Gremium im Krisenfall praktisch
sämtliche obersten Entscheidungen schlagartig bei sich konzentrieren und alle in einer Körperschaft ohne
Aktionärsbeschluss möglichen Eingriffe selber umsetzen kann. Zwar wird eine Eingriffspflicht des
Aufsichtsrates ebenfalls betont – was gewiss ein Element der Annäherung ist81 –, und dem Vorstand
empfohlen, da und dort an den Aufsichtsratssitzungen zur Verbesserung der gegenseitigen Kontaktnahme
teilzunehmen82. Aber insgesamt ist ein gemeinsamer Beschluss, ein unmittelbares Sitzungserlebnis und
damit auch ein direkter Informationsaustausch der vornehmlich führenden und der in erster Linie
überwachenden Personen nur im monistischen System möglich83.
Auch kann das dualistische System nie so weit gehen, dem Vorstand seine im Gesetz festgeschriebenen,
sehr weitgehenden Führungsprärogativen zu nehmen. Würde das getan, so wäre das dualistische System
im Mark getroffen und gelähmt. Es ist und bleibt der Vorstand, der die Geschäftspolitik festlegt, so weit
auch immer die an das monistische System gerichtete Aufforderung zu «engem Zusammenwirken» und
«offener Diskussion» gehen mag.
Was schließlich im dualistischen System ebenfalls nicht, oder jedenfalls nur schwer machbar ist, ist eine
starke Konzentration der obersten Exekutivbefugnisse auf einen einzigen «CEO» (Chief Executive
Officer), der – gewissermaßen wie der Präsident der Vereinigten Staaten im staatlichen Bereich – in der
Körperschaft maximale Einzelbefugnisse hat und sich höchstselbst ein «Kabinett» von weiteren
Spitzenkräften zusammenstellt, die alle ihm unterstellt sind. Ohne Klimmzüge und Verstauchungen lässt
sich diese «pyramidal» aufgebaute Hierarchie nicht auf das Aufsichtsrat/Vorstand-System aufpflanzen.
Das dualistische System ist eben auf eine organisationale «Zweiheit» auch in dem Sinn ausgerichtet, dass
sich zwei kollektiv verantwortliche Gremien gegenüberstehen, nicht ein Kollektivgremium und eine
einzige Führungspersönlichkeit mit umfassenden Einzelkompetenzen.
Eine wichtige Divergenz bleibt auch unter dem Kriterium der «Unabhängigkeit». Eigentlich ist uns erst
im Kontrast zu den angelsächsischen Bestrebungen der Corporate Governance, die seit der Mitte der 60er
Jahre zunehmend auf die «Unabhängigkeit» einer Mehrheit der Mitglieder des obersten
körperschaftlichen Organs abzielen, so richtig klar geworden: Die Hälfte des deutschen Aufsichtsrats, die
Vertreter der Arbeitnehmerseite im Mitbestimmungsmodell, können nicht als «unabhängig» im
angelsächsischen Sinne eingestuft werden. Sie stehen wirtschaftlich sogar besonders weitgehend in einer
Abhängigkeit – nämlich vom Management, das die Arbeitgeberfunktion ausübt. Sie können in der
Sichtweise der nun einmal angloamerikanisch geprägten Corporate Governance weder «outside
directors» noch gar «independent non executive directors» sein. Trotz aller Bemühungen um eine
Konvergenz ist es einem mitbestimmten Aufsichtsrat schlechterdings unmöglich, die Forderung nach
einer Mehrheit von außenstehenden, unabhängigen Mitgliedern zu erfüllen. Unmöglich scheint es auch,
in einem mitbestimmten Aufsichtsrat die beiden wichtigsten Ausschüsse – das «Audit Committee» und
das «Compensation Committee» – ausschließlich mit unabhängigen Personen zu besetzen, sollen sich
nicht die Arbeitnehmervertreter aus diesen Ausschüssen ausgeschlossen sehen.
D.
Ergebnis
Zusammenfassend ist der Schluss erlaubt, dass das monistische und das dualistische System für die
Gestaltung der Unternehmensspitze sich in der Tat erheblich angenähert haben. Dies in dem Sinne, dass
80
Skeptisch gegenüber dem Gedanken einer gewissen Konvergenz vor allem Davies, Struktur der
Unternehmensführung, S. 283.
81
Vgl. z.B. für die Eingriffspflicht des Aufsichtsrats den «Balsam»-Entscheid, LG Bielefeld, AG 45.Jg. 2000
S.136 ff.
82
Schneider, Teilnahme von Vorstandsmitgliedern, S. 873 ff.
83
Company Law Review (2000) para. 3.152.
15
das eine, das dualistische, den Trennungsgedanken primär verwirklicht und sekundär den Nachteil einer
institutionellen Ferne durch Bemühungen um ein Zusammenwirken zu überwinden sucht, während das
andere, das monistische, das «Dabeisein» und eine Begleitung der exekutiv tätigen Personen in der
Echtzeit vorrangig verwirklicht, dann aber sekundär wiederum sich darum bemüht, eine funktionale
Trennung gewisser Führungs- und Überwachungsfunktion zu erreichen. Insoweit ist es zulässig und
sinnvoll, von einer Annäherung, ja mit gewissen Vorbehalten sogar von einer Konvergenz zu sprechen.
Völlig ausgeklammert bleibt dabei aber der das Aufsichtsratssystem heute tief greifend prägende Effekt
der paritätischen Mitbestimmung. In diesem einen Bereich, der in einer auf die Gesellschaftswirklichkeit
abzielenden vergleichenden Betrachtung einen beträchtlichen Stellenwert haben muss, gibt es nur etwas
festzustellen: Eine offenbar unüberwindliche Divergenz.
16
Literaturhinweise
Anderson/Antony (New Corporate Directors): The New Corporate Directors. New York 1986.
Baums, Th. (Der Aufsichtsrat): Der Aufsichtsrat - Aufgaben und Reformfragen. In: Zeitschrift für
Wirtschaftsrecht, 16. Jg. 1995, S. 11-18.
Bernhardt, W. (Aufsichtsrat): Aufsichtsrat - die schönste Nebensache der Welt? In: Zeitschrift für das
gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht, 159. Jg. 1995, S. 310-321.
Bleicher, K. (Aufsichtsrat): Der Aufsichtsrat im Wandel. Gütersloh 1987.
Bleicher/Leberl/Paul (Unternehmensverfassung): Unternehmungsverfassung und Spitzenorganisation.
Wiesbaden 1989.
Blue Ribbon Committee (Millstein/Whitehead): Improving the Effectiveness of corporate Audit
Committees. New York 1999.
Böckli, P. (Verwaltungsrat oder Aufsichtsrat): Verwaltungsrat oder Aufsichtsrat? Konvergenz der
Systeme in der Spitzenverfassung der Aktiengesellschaft. In: Festschrift für Walter Reist zum 65.
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Böckli, P. (Kernkompetenzen): Die unentziehbaren Kernkompetenzen des Verwaltungsrates. In:
Schriften zum neuen Aktienrecht 7, Zürich 1994.
Böckli, P. (Schweizer Aktienrecht): Schweizer Aktienrecht. 2. Aufl., Zürich 1996.
Böckli, P. (Corporate Governance- Cadbury Report): Corporate Governance: The «Cadbury Report» and
the Swiss Board Concept of 1991. In: Schweizerische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, 68. Jg. 1996, S.
149-163, auch in: Pinto/Visentini (Hrsg.): The Legal Basis of Corporate Governance in Publicly Held
Corporations. The Hague/London/Boston 1998, S. 195 ff.
Böckli, P. (Corporate Governance): Corporate Governance auf Schnellstraßen und Holzwegen. In: Der
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