Zeitgeschichte schreiben in der Gegenwart

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Zeitgeschichte schreiben in der Gegenwart
Konferenz ZZF, 20./21.3.2009, Potsdam, Am Neuen Markt, 13.00
Memorialisierung und Medialisierung
Der Termin unserer Tagung steht am Beginn eines zeithistorischen Gedenkjahres
ohnegleichen. In welcher Verfassung sich die Zeitgeschichte vor dieser jubilarischen
Umarmung eines erinnerungsseligen Zeitgeistes präsentiert, ist das zugrunde
liegende Thema unserer Tagung, dem ich mich an dieser Stelle widmen will.
Zunächst sind zwei herausragende Trends auszumachen, die den Charakter der
Zeitgeschichtsschreibung in der Gegenwart prägen: Die Zeitgeschichte profitiert von
der partiellen Ablösung der Fortschrittsepoche durch das Gedächtniszeitalter als
kulturellem Leitcode. In die Emphase des Wortes „Erinnerung“ samt ihrer
Unterscheidung zwischen einem heißen und einem kalten Gedächtnis1 kleiden wir
den identitätsstiftenden Wert der Vergangenheitsvergegenwärtigung unserer Tage.
Diese unterscheidet sich eklatant von der Diagnose Alfred Heuss‘, der genau vor
fünfzig Jahren den „Verlust der Geschichte“ beklagte, die es nur noch als
Fachwissenschaft gebe, während sie als lebendige Erinnerung verloren gegangen
sei.2
Von diesem identitätsstiftenden Aufmerksamkeitsgewinn der Geschichte zehrt die
Zeitgeschichte in besonderem Maße, und das nicht nur in einer Öffentlichkeit, die es
sich gefallen lässt, in Harald Schmidts Talkshow mit den Erkenntnissen aus HansUlrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte befasst zu werden. Seit Jahrzehnten schon
ist die Zeitgeschichte nicht mehr das in außeruniversitäre Nischen abgedrängte
Stiefkind des Faches, in das sie der Triumph des Historismus und seines
Objektivitätsideals für ein Jahrhundert verbannt hatte. Verlagshistoriker können
diesen Trend mit Zahlen untersetzen: „In den 1950er Jahren war [...] nur jedes
1
Charles S. Maier, Heißes und kaltes Gedächtnis.Zur politischen Halbwertzeit des faschistischen und
kommunistischen Gedächtnisses, in: Transit 22, 2001/2002, S. 153-165.
2
Alfred Heuss, Verlust der Geschichte, Göttingen 1959, S. # (zit. b. Blaschke, Einleitung, S. 6).
1
zehnte Geschichtsbuch zeithistorisch. Heute ist es jedes dritte“, konstatierte Olaf
Blaschke.3
Die Zeitgeschichte ist dabei offenbar zumindest vorerst zugleich der Gefahr
entronnen,
mit
Jahrhunderts
wachsendem
an
kultureller
Abstand zur Katastrophengeschichte
Relevanz
einzubüßen.
Nicht
allein
des 20.
die
nahe
Vergangenheit selbst, sondern mindestens ebenso der Umgang mit ihr spielt eine
mittlerweile zentral gewordene Rolle im kulturellen Selbstverständnis unserer Zeit,
wie sie noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wäre. Nicht die Frage,
wie die Langfristfolgen der SED-Diktatur politisch ausgeglichen werden können,
prägte nächst der Causa Althoff in den vergangenen Wochen den beginnenden
Wahlkampf in Thüringen, sondern, ob ein Spitzenkandidat der Partei DIE LINKE die
DDR als Unrechtsstaat anzuerkennen bereit ist. Nicht um eine Entschädigung für
Dopingopfer des DDR-Leistungssports kreiste in derselben Zeit eine aktuelle
Diskussion, sondern um die Frage, ob die einstigen Trainer sich zu einer
gemeinsamen
Entschuldigung
nationalsozialistischen
zusammenfinden.
Erziehung
für
die
Nicht
die
mentale
Bedeutung
der
Prägung
der
Kriegsjugendgeneration stand im Vordergrund der Debatte um die NSDAPMitgliedschaft, sondern die Frage, wie Walter Jens oder Dieter Hildebrandt mit ihr
öffentlich umgegangen sind.
Die Zeithistorie als Disziplin zur Diktaturaufarbeitung hat ihrerseits auf die
schleichende Entwertung ihres kulturellen Kapitals durch Zeitablauf reagiert, indem
sie in den letzten beiden Jahrzehnten die Nach- und Rezeptionsgeschichte als eine
Geschichte zweiter Ordnung etabliert hat. Die Fachwissenschaft interessiert sich im
Einklang mit dem cultural turn für den Konstruktionscharakter historischen Wissens,
sie fragt nach Narrativen und Erzählmustern und interessiert sich heute für das Wie
nicht weniger als für das Was historischer Erkenntnisbildung und –vermittlung.
In welchem Maße die Zeitgeschichte von der Mediengesellschaft profitiert, belegen
eindrucksvolle Zahlen: Während die Leserschaft von historischen Fachzeitschriften
nach Mediennutzungsanalysen „im statistisch nicht mehr qualifizierbaren Bereich“
liegen, binden zeithistorische Fernsehdokumentationen und Spielfilme regelmäßig
3
Olaf Blaschke, Die „Hand am Puls der Forschung“. Konjunkturen der Zeitgeschichtsschreibung und ihre
Verleger seit 1945, VfZ 1/2009, s. 99-115, hier S. 105.
2
ein Millionenpublikum und erreichen gelegentlich Einschaltquoten von über 20%, die
allein von Länderspielübertragungen im Fußball übertroffen werden. Überregionale
Zeitungen
beschäftigen
wie
selbstverständlich
einen
oder
mehrere
Zeitgeschichtsredakteure, und Titelstories zur Zeitgeschichte zählen regelmäßig zu
den absatzstärksten Ausgaben des „Spiegel“.4 Bis heute gilt die Auffassung, dass
diese Medialisierung und Memorialisierung die Zeitgeschichte als Wissenschaft zwar
popularisiert oder herausfordert, aber in ihrem Charakter nicht ändert: „Es gibt keine
direkte Konkurrenz zwischen Fachwissenschaft und Medien“, konstatierte Sven-Felix
Kellerhoff, selbst als Zeithistoriker-Journalist in der „Welt“ ein Beleg für die enge
Beziehung zwischen Wissenschaft und Medien, und auch Hans Mommsen verneinte
die Frage, ob „die akademische Zeitgeschichte angesichts dessen eine neue Rolle
finden“
müsse.5
Reflexionsinteresse
Unter
dieser
Prämisse
richtet
vor
allem
auf
schlechte
die
sich
das
oder
fachtheoretische
auch
„gelungene
Zusammenarbeit zwischen akademischen Historikern und Medien“, für die der
Journalist „die Zwänge der Medien ernst“ genommen sehen möchte und die
Zeitgeschichte „sachgerecht, mediengerecht und publikumsgerecht“ aufbereitet
verlangt6, während der Historiker gegen die historische Mythenbildung durch mediale
Komplexitätsreduktion angeht und die Gefahren der Popularisierung beschwört.7
Eine der Leitfragen der vor uns liegenden Konferenz lautet, ob dieses Bild der sich
die Hände reichenden oder den Handschlag verweigernden Partner nicht womöglich
trügt. Meine These ist, dass die Zeitgeschichte in unserer Zeit einer schleichenden
Neuausrichtung unterliegt, die jenseits ihrer methodischen und thematischen
Modernisierung und Erweiterung etwa auf die gewachsene geschichtliche Bedeutung
4
Hierzu: Sven-Felix Kellerhoff, Zwischen Vermittlung und Vereinfachung: Der Zeithistoriker und die Medien, in:
ZfG 54 (2006), S. 1082-1092, hier S. 1083 ff.
5
„Zeitgeschichtliche Themen in den Medien können die fachwissenschaftliche Aufarbeitung nicht ersetzen und
gewiß nicht an deren Stelle treten. Die weit verbreitete enge ereignisgeschichtliche Ausrichtung
zeitgeschichtlicher Sujets der Medien fordert die Fachwissenschaft heraus, eine präzise Einordnung in längere
geschichtliche Zusammenhänge zu vollziehen. Zugleich muß die Wissenschaft historischer Mythenbildung
entgegentreten, zu der Medien aus Gründen der Reduktion von Komplexität vielfach neigen. Es bedarf daher
keiner grundlegenden Neuausrichtung der historischen Fachwissenschaft, die namentlich bei der Produktion
von zeitgeschichtlichen Filmen häufig übergangen wird.“ Sven-Felix Kellerhoff, „Eindrucksvolles Panorama der
späten NS-Zeit“. Der Historiker Hans Mommsen über den ZDF-Film „Dresden“ und die Herausforderung der
Geschichtswissenschaft durch das Fernsehen, in: Die Welt, 28.2.2006.
6
Kellerhoff, Zwischen Vermittlung und Vereinfachung, S.1092 u. 1090.
7
So Hans Mommsen im Gespräch mit Kellerhoff, „Eindrucksvolles Panorama der späten NS-Zeit“
3
des Bildes, des Fernsehens, des Internets liegt. Vielmehr verschiebt sie unbemerkt
und hinterrücks mit dem Gegenstand auch die Maßstäbe seiner Erschließung und
die Prinzipien des Urteilens und Bewertens – also die „Doxa“ im Sinne Bourdieus.
Hierzu möchte ich im Folgenden eine Reihe von Indizien zusammentragen, die den
Verdacht erhärten sollen, dass die Zeitgeschichte als Wissenschaft von der
Medialisierung und Memorialisierung nicht nur herausgefordert, sondern strukturell
verändert wird.
Entgrenzung des Gegenstandsfelds
Wir alle kennen und nutzen Rothfels‘ Definition der Zeitgeschichte als "Epoche der
Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung".8 Als Rothfels diese klassisch
gewordene Gegenstandsbestimmung formulierte, war das „Dritte Reich“ noch keine
zehn Jahre vergangen und lag der auf 1917 datierte Epochenbeginn der
Zeitgeschichte erst knapp 35 Jahre zurück. Analog müsste die Zeitgeschichte heute
mit der Mitte der siebziger Jahre einsetzen, aber sie tut es eben nicht, so sehr im
„Strukturbruch“ dieser Jahre der stabile „Rahmen des Fortschritts“ durch andere
Ordnungsmuster
des
gesellschaftlichen
Lebens
abgelöst
wurden.9
Die
Zeitgeschichte hat zwar ihren Fokus vom Ersten Weltkrieg und der Weimarer
Republik über die Machtergreifung hin zum nationalsozialistischen Zivilisationsbruch
verlagert, aber doch zugleich darauf insistiert, dass sie als Geschichte der nicht nur
Mitlebenden, sondern auch Mithörenden und Mitsehenden (Thomas Lindenberger)
auf dem langen und bis vor 1917 zurückreichenden Übergang von der
Gutenberggalaxis
zum
audiovisuellen
Zeitalter
beharrt.10
Die
Epoche
der
mitlebenden Zeitgenossen wurde im Zuge des memorial turn zugleich zur Epoche
des mitlebenden Gedächtnisses, das in der Regel drei bis vier Generationen umfasst
und etwa die NS-Zeit im Zeitgeschichtsdiskurs durch die Stimmen Überlebender wie
Jorge Semprun, Eli Wiesel und Wladyslaw Bartoszewski ebenso repräsentiert wie
8
Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 1-8, hier S. 4.
9
Hierzu Anselm Doering Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit
1970, Göttingen 2008, bes. S. 10 f.
10
Thomas Lindenberger, Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die
audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen 1 (2004), H. 1, S.72-85.
4
durch die Nachgeborener wie Katharina Himmler oder Wiebke Bruhns. Die
Zeitzeugenschaft,
die
in
unserem
Verständnis
heute
den
Kern
der
Zeitgeschichtsdefinition ausmacht, hat sich unter dem Druck von Medialisierung und
Memorialisierung zu einer konservierbaren und tendenziell unvergänglichen Größe
entwickelt, die über Zeitzeugenarchive wie das Spielberg-Archiv oder die
Rundfunkarchive Zeitgeschichte von der Zeitgenossenschaft abkoppeln und zugleich
mit dem Konzept der sekundären Zeitzeugenschaft arbeiten kann.
Pluralisierung der Erzähler und Akteure
Der Entgrenzung des Gegenstandsbereichs der Zeitgeschichte entspricht die
Pluralisierung ihrer Erzähler. Längst hat die akademische Zeitgeschichte ihr
Deutungsmonopol
in
der
Konkurrenz
mit
Historiker-Journalisten,
TV-
Zeitgeschichtsredaktionen und Ausstellungsmachern in einem Maße eingebüßt, das
sich nur ermessen lässt, wenn man es gegen die Ausgrenzungskraft hält, die das
Fach im 20. Jahrhundert etwa gegenüber Emil Ludwig oder Emil Julius Gumbel und
noch gegen Sebastian Haffner aufzubieten vermochte. Heute werben Gedenkstätten
erfolgreich für ihre Anerkennung als Forschungsmuseen, rücken HistorikerJournalisten und Verleger-Historiker Forschung und Feuilleton nahe aneinander.
Umgekehrt engagieren sich zeithistorische Forschungseinrichtungen wie das
Münchner IfZ und das Potsdamer ZZF intensiv in zeitgeschichtlichen Lern- und
Gedenkorten, und unter dem Rubrum „Wissenstransfer“ bzw. „Public History“ hat
sich ein mehr und mehr Raum greifender „Überlappungsraum“ von Fachwissenschaft
und massenmedial gestützter Geschichtsvermittlung gebildet.11
Auch die Bildung von zeitgeschichtlichen Themenschwerpunkten bleibt nicht allein
der Logik der Forschung selbst überlassen. Zu den zahlreichen Einflussakteuren
zählen die großen Förderorganisationen, die - wie etwa die Volkswagen-Stiftung - zu
Beginn
der
neunziger
Diktaturenvergleich
und
Jahre
mit
Förderprogrammen
später
die
ostmitteleuropäische
11
den
diachronen
Transfer-
und
Paul Nolte, Öffentliche Geschichte. Die neue Nähe von Fachwissenschaft, Massenmedien und Publikum:
Ursachen, Chancen und Grenzen, in: Michele Barricelli/Julia Hornig (Hg.), Aufklärung, Bildung,
„Histotainment“? Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute, Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 131-146.
5
Vergleichsforschung auf den Weg zu bringen suchte. Keine geringere Rolle spielen
die Sach- und Fachbuchverlage. Zuweilen sind es Einzelakteure wie Walter Pehle
vom Fischer-TB-Verlag, der in den siebziger Jahren mit der sogenannten Schwarzen
Reihe ein eigenes Format der fachwissenschaftlichen NS-Aufarbeitung schuf. In
anderen Fällen war es ein Verlag wie C.H. Beck, der das von Pierre Nora
übernommene Konzept der Erinnerungsorte mit einer von der Antike bis zur DDRErinnerung reichenden Publikationsserie in der Öffentlichkeit verankerte. Der
zwanzigste Jahrestag des Mauerfalls hat mit mindestens dreijährigem Vorlauf einen
bislang ungekannten Druck von Verlagen erzeugt, schon im Vorfeld des
Herbstjubiläums mit einschlägigen Titeln vertreten zu sein: Gleich im Dutzend
erschienen zur Leipziger Buchmesse Titel zur deutsch-deutschen Geschichte und
besonders zum Herbst 1989, die in mehrheitlich überraschend konventioneller
Aufmachung eins ums andere Mal die Geschichte von Mauerbau und Mauerfall
erzählen. Was schließlich die strategische Kooperation von Publikumsverlag und
Presse zu leisten vermag, bewies im vergangenen Sommer die von der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung in ihrem Internet-Lesesaal geführte Debatte um Hans-Ulrich
Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5.
Wissenschaftliche Subjektivierung
Der sich darin manifestierende Bedeutungsgewinn der Zeitgeschichte führt, wie es
mir scheint, zu einer Dissoziierung der Schreibstile. Auf der einen Seite finden sich
immer weiter ausdifferenzierte Fachdiskurse, in denen Rezipienten und Produzenten
zeitgeschichtlicher Erkenntnis tendenziell verschmelzen, so dass die Individualität
des Zeitgeschichte schreibenden Historikers dahinter zu verschwimmen, wenn nicht
gar zu verschwinden droht. Vom „Tod des Autors“ kündet auch die neue Ordnung
des Wissens in der „Google-Gesellschaft“, deren hypertextuelle Organisation in der
Online-Historiographie
des
World
Wide
Web
eine
„kollektive,
vernetzte
Schreibwerkstatt“12 erzeugt und die lineare Geschichtserzählung zugunsten einer
12
Jakob Krameritsch, Geschichte(n) im Hypertext. Von Prinzen, DJs und Dramaturgen, in: Geschichte und
Informatik, Bd. 15, 2004, S. 33 55.
6
interaktiven Generierung und Aneignung von historischem Wissen auflöst. 13 Auf der
anderen Seite steht nicht weniger machtvoll die von den Publikumsverlagen
verkaufsfördernd inszenierte Gelehrtenpersönlichkeit, die mit schöpferischer Kraft
und in oft eher konventionellem Duktus die zeithistorische Meistererzählung formt –
ein
ausgezeichnetes
Anschauungsmaterial
bietet
hier
der
diesjährige
Frühjahrskatalog des C.H.Beck-Verlags, der in Bild und Wort suggestiv auf den
einsamen Kampf zwischen dem großen Autor und seinem großen Gegenstand
abstellt: „Die Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts – Jürgen Osterhammels opus
magnum“ oder „Lothar Gall über Walther Rathenau – Innenansichten eines
Zeitalters“.14
Offenbar erzeugt gerade die Komplexität und gewachsene Unübersichtlichkeit der so
detailtief beforschten Zeitgeschichte das Bedürfnis nach der personellen Verbürgung
für die grand récits, deren Geltungskraft sich nicht mehr allein oder auch nur primär
auf singuläre Gedankentiefe oder überragende Stoffbeherrschung zu stützen
vermag, wie dies noch etwa Fischers „Griff
Bracher/Schulze/Sauers
„Nationalsozialistische
nach der Weltmacht“ oder
Machtergreifung“
oder
auch
Groehlers „Luftkrieg“ zu behaupten vermochten. Zeitgeschichtsschreibung heute
ersetzt enzyklopädische Autorität in gewisser Weise durch empathische Subjektivität.
Auf die Beklemmung des Gefühls setzte bis in die Wortwahl Jörg Friedrichs Buch
13
„Die ‚Gutenberg-Galaxis‘ war durch Linearität, Textualität, individuelle Wissensproduktion und Autorenschaft
sowie Eindeutigkeit und duale Realitätskonstruktion gekennzeichnet. In der ‚Turing-Galaxis‘ hingegen
dominieren Diffusität, Intertextualität, dialogische und kollaborative Wissensproduktion, Mehrdeutigkeit und
Hyperrealität.“ Michael Schetsche, Die digitale Wissensrevolution – Netzwerkmedien, kultureller Wandel und
die
neue
soziale
Wirklichkeit,
in:
zeitenblicke
5
(2006),
Nr.
3,
URL:
http://www.zeitenblicke.de/2006/3/Schetsche/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-6419, Abs. 7 (Zugriff vom
16.3.2009). S. auch Angelika Epple, Verlinkt, vernetzt, verführt – verloren? Innovative Kraft und Gefahren der
Online-Historiographie, in: Ebd., S. 15-33.
14
Zur Uneinheitlichkeit der publizistischen Entwicklungstrends vgl. Blaschke: „Gehen Wissenschaft und
Öffentlichkeit weiter auseinander oder näher aufeinander zu? Die wachsende Zahl von Aufsätzen, die in
Zeitschriften und Sammelbänden erscheinen und nicht im Buchhandel auftauchen, spricht für eine
Auseinanderentwicklung. Die Flucht in das Sachbuch spricht für eine Annäherung. [...] Schließlich könnte es
sein, daß die Kluft zwischen zwei Klassen von Historikern weiter aufreißt: zwischen denen, die einen breiten
Markt bedienen können, und denen, die mit ihren Spezialuntersuchungen ausschließlich ein jeweils
schrumpfendes Segment von Fachspezialisten ansprechen.“ Olaf Blaschke, Einleitung. Schlechte Zeiten für
Geschichtsbücher?, in: Ders./Hagen Schulze (Hg.), Geschichtswissenschaft und Buchhandel in der Krisenspirale?
Eine Inspektion des Feldes in historischer, internationaler und wirtschaftlicher Perspektive, München 2006, S.
1-17, hier S. 3.
7
über den Bombenkrieg „Der Brand“.15, und dDer „Ton des solitären Außenseiters“,
wie dies Michael Wildt nannte, kompensierte in Götz Alys „Volksstaat“ die
mangelhafte Berücksichtigung der Forschungsliteratur16 Auch Konrad Jarauschs
„Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995“ und erst recht Hans-Ulrich Wehlers
Fünfter Band der Deutschen Gesellschaftsgeschichte bekannten sich zu ihren
generationsspezifischen Blickwinkeln ganz unbefangen nicht nur im Vorwort, sondern
legten ihn ihren Darstellungen offensiv zugrunde. Ebenso einer empathischen
Subjektivität verpflichtet sind die jüngst erschienenen Großerzählungen des
Umbruchs von 1989/90: Ehrhart Neubert nennt seine umfangreiche Darstellung des
Herbstes 1989 wie selbstverständlich „Unsere Revolution“, und Ilko-Sascha
Kowalczuk vergewissert sich seiner Untersuchung zum „Endspiel“ des deutschen
Kommunismus an der Macht mit einem förmlichen Lob der Subjektivität.17
Dieser Trend zur wissenschaftlichen Subjektivierung schließt erkennbar an den auf
Pluralisierung und Individualisierung gerichteten Wertewandel in der Gesellschaft an,
der sich in der Zeitgeschichte als Rückkehr von der Struktur zur Erzählung und vom
distanzierten Erklärer zum empathischen Erzähler abbildet. Man vergleiche die
Authentizitätssehnsucht stillende Wirkungsmacht des heutigen Zeitzeugen mit der
nüchternen Korrektivfunktion, den ihm die Zeitgeschichte noch vor vier Jahrzehnten
zuschrieb, wenn etwa Hans Rothfels die „Möglichkeit der Verifizierung durch
Befragung noch lebender Zeugen und durch das historische Kreuzverhör“ pries. 18
Dem wundersamen Aufstieg des mit geschichtsreligiösen Zügen ausgestatteten
15
Ulrich Raulff, Geschichte und die Erziehung des Gefühls, in: Ulrich Borsdorf/Heinrich Grütter/Jörn Rüsen
(Hg.), Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004, S. 105-123.
16
Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M. 2005S. 362;
Michael Wildt, Alys Volksstaat. Hybris und Simplizität einer Wissenschaft, in: Mittelweg 36 14 (2005), H.
Juni/Juli 2005, S. 69-80, hier S.71.
17
„Man setze zwei Historiker vor denselben Stapel von Akten und gebe ihnen die gleiche Aufgabe. Als Produkt
wird man ganz verschiedene Bücher erhalten, die sich unter Umständen gegenseitig ausschließen. [...] Ich
verkünde hier keine objektive Wahrheit, sehr wohl aber meine eigene, die ich so darlegen möchte, dass sie
nachvollziehbar und plausibel ist, selbst wenn man sie nicht teilt.“ Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die
Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, s. 18. Vgl. auch die publizistische Resonanz auf die Leipziger
Buchmesse 2009: Susanne Beyer, Fast vergessenes Glück. Dieses Jahr stürzt sich die Verlagsbranche auf das
Mauerfall-Jubiläum. Zur Leipziger Buchmesse erscheint ein ganzer Schwung deutsch-deutscher Bücher. Die
Autoren verlangen, dass 20 Jahre danach auch der Westen über seine Rolle in der Geschichte des geteilten
Landes nachdenkt, in: Der Spiegel, 11/2009, 9.3.2009, S. 152-154.
18
Hans Rothfels, Die Zeit, die dem Historiker zu nahe liegt, in: Fs. für Hermann Heimpel, Bd. 1, Göttingen 1971,
S. 28-35, hier S. 33.
8
Zeitzeugen entspricht in der Literatur für den Fall der DDR die Konjunktur von
Memoiren und Lebensgeschichten, die die gerade zu Ende gegangene Buchmesse
in Leipzig wieder eindrucksvoll unter Beweis stellte. Sie reicht von Egon Krenz‘ und
Günter
Schabowskis
Machthabermemoiren
bis
zu
Susanne
Schädlichs
Familienerzählung über den deutsch-deutschen Bruderverrat und den zahlreichen
Erinnerungsanthologien, die in diesem Frühjahr etwa Jan Schönfelder („Das Wunder
der Friedlichen Revolution“) Renatus Deckert („Die Nacht, in der die Mauer fiel“),
Julia Franck („‘Grenzübergänge‘“. Autoren aus Ost und West erinnern sich“ und M.
Fraumann („Die DDR war ein Teil meines Lebens“) herausgaben. Zeitgeschichte
droht sich hier wieder in Zeitgeschichten aufzulösen, die die unterschiedlichen
postkommunistischen Erzählmilieus nach 1989 unvergleichlich viel stärker bedienen
als die postfaschistischen nach 1945. Zugleich reflektieren sie den Umstand, dass
der
abgeschlossene
Realsozialismus
anders
als
der
abgeschlossene
Nationalsozialismus noch keinen allgemein akzeptierten Platz im kulturellen
Gedächtnis gefunden hat.
Historischer Perspektivismus
In
einem
allerdings
wiederholt
die
Zeitgeschichte
nach
1989
ihre
Konstituierungsphase nach 1945, nämlich in ihrer Abhängigkeit von einer
voraufgegangenen Epochenzäsur. Das Ende des Kalten Krieges und die deutsche
Vereinigung 1990 traf die Zeitgeschichte denkbar überraschend und ließ sie zu
nationalstaatlichen
und
totalitarismusgeschichtlichen
Deutungsmodellen
zurückfinden, deren Ausmusterung sie eben noch als Befreiung von überholten
Denkmustern erlebt hatte. Als der mit der Abgeklärtheit des Althistorikers auf die
aufgeregte Nabelschau der Zeithistorie blickende Alexander Demandt 1984 für das
Recht der „Ungeschehenen Geschichte“ eintrat, erörterte er in seinem „Traktat über
die Frage: Was wäre geschehen, wenn ...?“ernsthaft die Möglichkeit, daß etwa
Pontius Pilatus Jesus begnadigt, Karl Martell die Araber nicht abgewehrt oder der
deutsche Bauernkrieg Erfolg gehabt hätte. Einzlene Annahmen aber schloss er aus
seiner kontrafaktischen Geschichte aus, weil sie selbst dem über 2000 Jahre
hinwegblickenden Althistoriker allzu abwegig schienen – so etwa die absurde
9
Vermutung, ein sowjetischer Generalsekretär könnte den Marxismus verurteilen oder
der sozialistische Ostblock seine Macht freiwillig preisgeben.19 Das Jahr 1989 kehrte
wissenschaftlich überwunden Geglaubtes nach oben und machte fachlich modernere
Trends zu Altpapier. Mit Ausnahme der sogenannten „alten“ DDR-Forschung, die mit
sich selbst ins Gericht ging, warum sie das Selbstverständliche verkannt habe, hat
dies merkwürdigerweise dennoch das disziplinäre Selbstverständnis der Zeithistorie
nicht merklich erschüttert, sondern lediglich die Emsigkeit der Neuausrichtung auf die
epochale Polverschiebung gefördert. Zeitgeschichte lebt, lässt sich in Anlehnung an
Wolfgang Böckenförde sagen, von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren
kann, und sie hat zudem die disziplinäre Neigung, diese außerfachliche Abhängigkeit
in wissenschaftliche Evidenz zu verwandeln. Solche teleologische Konformität hat sie
mit der Autobiographik gemein, deren Narrative ebenso die Brüche der erzählten Zeit
mit der Kohärenz der Erzählzeit in Beziehung zu setzen haben.
Erst Sehepunkte20 machen Zeitgeschichte möglich, und mit Recht beharrte Hans
Rothfels darauf, dass das Feld der Zeitgeschichte als „Geschichte der jüngsten
Epoche“21 die Zeit vor der jeweils letzten Epochenzäsur behandle. Die danach
kommende und vom Heute nur zeitlich, aber nicht epochal abgetrennte Zeit
verdiente, als „Gegenwartsgeschichte“ eine eigene Subdisziplin zu werden, deren
tastende Deutungskonzepte zwar Orientierungsbedarf formulieren, aber selbst keine
Orientierungspunkte besitzen.22 Hier zeigt sich, wie verletzlich und volatil eine
Zeitgeschichte ist, die ins Offene hineinschreiben muss, und wie vergeblich sie ihrer
Zeit sinngebende Zäsuren abzuringen sucht und sei es auch bloß das Jahr 2000 als
Abschluss des Jahrhunderts der Extreme. Natürlich formulierte Aly seine These vom
19
Alexander Demandt, Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn ...?,
Götingen 1984, S. #.
20
„Das, was in der Welt geschieht, wird von verschiedenen Leuten auch auf verschiedene Art angesehen: daß,
wenn viele eine Beschreibung von einer Geschichte machen sollten, in jeder etwas Besonderes würde
angetroffen werden, wenn sie sich gleich insgesamt die Sache, soviel an ihnen gelegen, richtig vorgestellt
hätten. [...] Diejenigen Umstände unserer Seele, unseres Leibes und unserer ganzen Person, welche machen
oder Ursache sind, daß wir uns eine Sache so und nicht anders vorstellen, wollen wir den Sehe-Punkt nennen.“
Johann Martin Chladni/Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Leipzig
1742, §§ 308-09, S. 71 ff.
21
Rothfels, Die Zeit, die dem Historiker zu nahe liegt, S. 31.
22
Zur Unterscheidung zwischen Zeitgeschichte und Gegenwartsgeschichte immer noch anregend: Fritz Ernst,
Zeitgeschehen und Geschichtsschreibung. Eine Skizze, in: Die Welt als Geschichte. Eine Zs. für
Universalgeschichte, 17 (1957), H. 3, S. 137-189.
10
„Dritten Reich“ als „Volksstaat“ vor dem Hintergrund, dass der Sozialstaat klassischer
Prägung an sein Ende gekommen sei; natürlich wurden die Ambitionen der
Globalgeschichte von dem Glauben unterstützt, dass mit dem 11. September 2001
das Zeitalter einer neuen Ost-West-Konfrontation heraufdämmerte; und natürlich
wurde das Konzept der Zivilgesellschaft von der Annahme getragen, dass Staat und
Staatlichkeit Lenkungsinstrumente der Vergangenheit darstellten. Wie schnell solche
Fluchtpunkte der Zeitgeschichtsschreibung auch wieder überholt sein können,
erleben wir selbst in diesen Monaten angesichts der globalen Wirtschaftskrise, die
sich anschickt, als zäsursetzender Fluchtpunkt die globale Prosperitätshoffnung nach
dem Ende der Systemkonkurrenz als voreilig zu erweisen.23
Die Verwischung der Grenze zwischen Fiktionalität und Faktizität
Die
besondere
Wahrheitsanspruch
Sehepunkt-Abhängigkeit
stärker
als
den
der
Zeitgeschichte
anderer
tangiert
Disziplinen.
ihren
Historische
Perspektivenwandel entwerten zeithistorische Erkenntnis, wie dies der Umbruch von
der zeitgenössischen DDR-Forschung bis 1990 zur nachzeitigen DDR-Aufarbeitung
seit 1990 eindrucksvoll vorführte. Sie beeinflussen ebenso auch die Produktion von
Zeitgeschichte, deren zeitgerechte Reorganisierung besonders in der Autobiographik
greifbar wird24. So wird etwa in den von 1972 bis 1997 fortgeschriebenen
Lebenserinnerungen Manfred von Ardennes, der Entschluss des Autors, in den
Osten statt in den Westen zu gehen, fortlaufend uminterpretiert. Ein nicht weniger
aufschlussreiches Beispiel autobiographischer Reorganisierung liefert in unseren
Tagen Günter Schabowski, der mittlerweile die historische Bedeutung der
23
Ein erstes und noch journalistisches Beispiel dieser narrativen Neujustierung durch zeitliche Datierung und
semantische Codierung bot der „Spiegel“ in seiner Reportage „Gorillas Spiel“: „Am 15. September 2008
verschwand Lehman Brothers aus der Finanzwelt, und mit Lehman verschwand die Finanzwelt, wie wir sie
kannten. Es verschwand das Vertrauen, es verschwanden Milliarden Dollar und Euro, am Ende oder jedenfalls
zwischenzeitlich sogar die Überzeugung, dass der Kapitalismus des Westens das letztgültige Wirtschaftssystem
sei, stabil und wetterfest. Mit dem 15. September begann die größte Wirtschaftskrise seit dem Ende des
Zweiten Weltkriegs, die Krise, mit der die Welt jahrelang wird leben müssen. An jenem 15. September 2008
begann eine neue Unsicherheit. Das Weltwirtschaftsbeben.“ Der Spiegel 11/2009, S. 42.
24
Manfred von Ardenne, Ein glückliches Leben für Technik, Berlin (O) 1972; ders., Sechzig Jahre für Forschung
und Fortschritt, Berlin (O) 1987; ders., Die Erinnerungen, München 1990; ders., Erinnerungen fortgeschrieben.
Ein Forscherleben im Jahrhundert des Wandels der Wissenschaften und der politischen Systeme, Düsseldorf
1997.
11
Pressekonferenz vom 9. November 1989 so stark internalisiert hat, dass er nun den
einstigen Zufallscharakter seiner maueröffnenden Sätze in eine geplante Handlung
umdeutet.25
Einem
analogen
Reorganisationsmuster
folgen
die
zahlreich
gewordenen Revolutionserzählungen, die die Enttäuschung vieler Regimegegner
über den unvermuteten Fall der Mauer ebenso marginalisieren wie deren „Hoffnung
auf eine sozialistische Perspektive“.26
Zeitgeschichte schreiben heißt in der Gegenwart daher auch, dass die Grenzen
zwischen Faktizität und Fiktionalität auf neue Proben gestellt werden. Es verändert
das Bild der Zeitgeschichte, wenn das historische Ereignisfernsehen mit seinen
„Doku-Dramen“, „Dokufiktionen“ und „Re-Enactments“ die mediale Präsentation von
Zeitgeschichte prägt und nicht nur den Mangel an mediengerechten Sachzeugnissen
ausgleicht, sondern den Übergang zwischen Original und Mimesis ästhetisch
inszeniert, wie es etwa der ZDF-Dreiteiler „Die Wölfe“ im Wechsel von monochromen
und polychromen Szenen tat. Wie ungewollt erfolgreich diese Authentifizierung des
Fiktionalen mittlerweile geworden ist, zeigt sich, wenn in jüngster Zeit auch
historische Spielfilme unter das Wahrheitsgebot des Presserechts gestellt werden,
wie es 2006 dem Contergan-Film des Drehbuchautors Benedikt Röskau erging.27 Die
25
„Günter Schabowski will nicht mehr als der Mann darstehen, der durch Unkonzentriertheit Weltgeschichte
geschrieben hat. „Wir haben fast alles falsch gemacht“, nennt das 80-jährige Ex-Politbüromitglied und SEDRenegat seine in dieser Woche erschienenen Erinnerungen. Am Abend des Mauerfalls aber will Schabowski
gerade nichts falsch gemacht haben. Sein hastiges Vorlesen der neuen Reiseregelungen der DDR vor der
internationalen Presse, seine gestammelte Antwort „Das trifft nach meiner Kenntnis ... ist das sofort,
unverzüglich“ auf die Nachfrage des italienischen Journalisten Riccardo Ehrmann – alles Taktik? [...]Im Großen
und Ganzen schon, sagt Schabowski heute. Er kam aus der Sitzung des Zentralkomitees. „Auf dem Weg zur
Pressekonferenz überlegte ich mir, wie ich taktisch am klügsten vorgehen sollte“. Jan Sternberg, GESCHICHTE:
„Sofort, unverzüglich“. Günter Schabowski will sich am Abend des 9. November nicht mehr versprochen haben,
in: Märkische Allgemeine Zeitung, 4.3.2009.
26
Aufruf zu vereinigten Bürgerinitiativen für einen neuen Sozialismus, 26.11.1989, in: Ostsee Zeitung, Nr. 282,
30.11.1989.
27
„Als ich meinen Film über den „Contergan“-Skandal geschrieben habe, konnte ich auf ein halbes Dutzend
hervorragender Dokumentationen aus dreißig Jahren zurückgreifen. Die Filme wurden oft – und immer zu
Recht – ausgezeichnet, wurden gesendet und in Fachkreisen diskutiert und von allen Seiten mehr oder weniger
geduldet. Sie beeindruckten, sie bewegten aber sie bewirkten – nichts. [...]Doch plötzlich sollte ein Spielfilm
über diesen Skandal gedreht werden und allein das Vorhaben löste eine Welle hektischer und aggressiver
Tätigkeiten aus, die keiner der zum Teil wesentlich kritischeren Dokumentarfilme provoziert hatte. Wie
bekannt, klagte die Herstellerfirma „Chemie Grünenthal“, noch heute im Besitz der Aachener Familie Wirtz,
gegen mein Drehbuch. Gegen das Drehbuch? Das war überraschend, das hatte es so noch nie gegeben. Lag
aber nahe, denn der Film war zum Zeitpunkt an dem der „Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung“
gestellt wurde, zwar abgedreht aber noch nicht geschnitten und endgefertigt. [...] Dieser Klage wurde in erster
Instanz vor dem Landgericht Hamburg stattgeben: die 24. Zivilkammer, geleitet von dem in Fachkreisen
inzwischen für seine interessanten Urteile durchaus berühmten und gefürchteten Richter Andreas Buske,
12
für das historische Ereignisfernsehen signifikante „Kombination aus fiktionalen und
nichtfiktionalen Elementen“28 verwebt eine historische Rahmenhandlung mit einer
unhistorischen Binnenhandlung melodramatischen Zuschnitts, wie sie der im Oktober
2008 ausgestrahlte Mauerfallfilm um die in den Westen geschmuggelten Aufnahmen
der Leipziger Montagsdemonstrationen schon im Titel zum Ausdruck bringt: „Wir sind
das Volk - Liebe kennt keine Grenzen“.29Hier wie in anderen Doku-Dramen
emanzipiert sich die Geschichtskultur von der Vetokraft der Quelle und projiziert die
Weltvorstellungen der Gegenwart in den historischen Raum, ohne auf das Gütesiegel
der historischen Authentizität verzichten zu müssen30 und ohne sich der kategorialen
Differenz zwischen Faktizität und Fiktionalität überhaupt noch bewusst zu sein.31
Auch in der wissenschaftlichen Zeitgeschichtsschreibung werden die Grenzen
zwischen
Faktum
und
Fiktion
offenbar
fließender,
wie
sich
an
der
gedächtnistheoretischen Debatte der letzten Jahre und der sakralisierenden
Aufwertung des Zeitzeugen ablesen lässt. So argumentierte Aleida Assmann vor
meinte, dass der Film, von dem man inzwischen die erste von drei Stunden angesehen hatte, eine so hohe
Authentizität besitze, dass der Zuschauer nicht mehr zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden könne,
und darum unter das viel strengere Presserecht falle, sich also nicht auf den Verfassungsartikel der
Kunstfreiheit berufen könne.“ Dokudramen, „Biopics und „Reenactments - Verfilmung von tatsächlichen
Ereignissen - Welche rechtlichen und praktischen Schwierigkeiten ergeben sich? Podiumsdiskussion auf dem
Filmfest
Hamburg
2008,
Äußerung
Benedikt
Röskau.
http://www.drehbuchautoren.de/files/Podiumsdiskussion_R%C3%B6skau_Okt.2008.pdf,
Zugriff
vom
15.3.2009. Das Urteil des Hamburger Landgerichts wurde am 5.9.2007 vom Bundesverfassungsgericht
aufgehoben.
28
Andreas Dörner, Der Eventfilm als geschichtspolitisches Melodram, in: APuZ 2008, H. 52, S. 28-32, hier S. 29.
29
Die Boulevardberichterstattung war sich im Urteil einig: „Der Film ist super gemacht und total authentisch,"
(Susi Groth, Tränenreiche Premiere des Mauerdramas in Berlin, in: Super-Illu, 2.10.2008, http://www.superillu.de/framework/print/supervision_print_836197.html, Zugriff vom 16.3.2009) Tatsächlich aber hatte einer
der drei Protagonisten, Roland Jahn, den Filmemachern die realitätsgetreue Verwendung seiner Biographie
ausdrücklich untersagt.
30
Ich folge hier der einleuchtenden Argumentation von Andreas Dörner, dem zufolge „sich in den
Medienprodukten die Selbstverständlichkeiten einer politischen Kultur wider(spiegeln), weil jeweils der
Erwartungshorizont des Publikums berücksichtigt werden muss, um erfolgreich zu sein. In dieser Hinsicht
verstärken die Medien vorhandene ‚Normalitäten‘ und stellen sie auf Dauer.“ Dörner, Der Eventfilm als
geschichtspolitisches Melodram, S. 31.
31
So bewertete das Feuilleton die am 18.3.2009 auf „Arte“ ausgestrahlte Collage „Lincolns letzter Tag“ des
Regisseurs Wilfried Hauke, die „aus historischen Fotografien, Zitaten aus dem Off und nachgestellten, teils
dramatischen, teils elegischen Szenen“ arrangiert wurde, unbefangen als dokumentarische Leistung: „Die
Collage scheut nicht zurück vor einer Verbindung von Bürgerbildung und Unterhaltung, verdichtet Historisches
in Bildern und dichtet marginal, wenn geschichtlich abgesichert, weniges ‚aus dramaturgischen Gründen‘ hinzu.
Wo das Experimentelle in den Hintergrund rückt, kann das Narrative gedeihen – eine der Stärken dieser
Dokumentation.“ Einer wollte Brutus sein – eine Doku über das Attentat auf US-Präsident Lincoln, in: Der
Tagesspiegel, 18.3.2009.
13
kurzem , dass der Zeitzeuge in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust
ein Vermächtnis, einen „kostbaren Schatz“ darstelle, dessen „historisches und
moralisches Gewicht“ Anspruch auf Übernahme durch die nicht betroffene Nachwelt
habe. Hierzu führt Aleida Assmann im Anschluss an Avishai Margalit die Figur des
„moralischen Zeugen“ ein, dessen Erinnerungen „sich gelegentlich als faktisch
inakkurat erweisen“ mögen, ihn gleichwohl aber dank ihrer Authentizität und ihres oft
traumatischen Gehaltes im Vergangenheitsdiskurs der Gegenwart mit der „Autorität“
„gesellschaftlich akkreditierter Zeugen“ ausstatten.
Hier wird eine zeittypische Verschiebung von der historischen Wahrheit zur
historischen Authentizität als Kern der zeitgeschichtlichen Auseinandersetzung
fassbar. Sie manifestiert sich auf den unterschiedlichsten Ebenen: in den
Publikumserfolgen des neuen „Dokumentarromans“32 wie Jonathan Littells „Die
Wohlgesinnten“ oder jetzt Karl Heinz Bittels Thomas-und-Klaus-Mann-Roman „Eine
Art Verrat“ und Thorsten Beckers Luther-Roman „Das ewige Haus“; sie zeigt sich in
David Chippendales spurenästhetischer Rekonstruktion des Neuen Museums wie in
dem nationalen Entsetzen über den unwiederbringlichen Verlust an Authentizität, der
sich mit dem Brand der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar und dem Einsturz des
Kölner
Stadtarchivs
verbindet.
Die
Sehnsucht
nach
einer
„authentischen
Vergangenheit“ prägt die Narrationen der Zeitgeschichte in der architektonischen
Neuschöpfung des Verlorenen aus der Einbeziehung originaler Fragmente ebenso
wie in den Ausstellungserfolgen einer DDR-Alltagskultur und in der Konjunktur von
zeithistorischen Gedenk- und Erinnerungsorten, deren wissenschaftliche Begleitung
heute selbstverständliche Aufgabe der Fachwissenschaft geworden ist.
Spätestens hier zeigt sich, dass die Aufgabe, Zeitgeschichte in der Gegenwart zu
schreiben, die Verpflichtung auf eine Doppelrolle enthält: nämlich sowohl als Teil der
anerkannten Erinnerungskultur ihrer Zeit zu wirken wie als ihr kritisches Gegenüber.
Diese Doppelrolle zu akzeptieren und dennoch auf der kategorialen Differenz von
Faktizität und Fiktionalität zu bestehen – dies scheint mir die eigentliche
Herausforderung an die Zeitgeschichte im Medien- und Gedächtniszeitalter.
32
Der Begriff findet sich in Martin Thoemmes Besprechung des Werks von Karl Heinz Bittel in der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“, 2.3.2009.
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