Zeitgeschichte schreiben in der Gegenwart Konferenz ZZF, 20./21.3.2009, Potsdam, Am Neuen Markt, 13.00 Memorialisierung und Medialisierung Der Termin unserer Tagung steht am Beginn eines zeithistorischen Gedenkjahres ohnegleichen. In welcher Verfassung sich die Zeitgeschichte vor dieser jubilarischen Umarmung eines erinnerungsseligen Zeitgeistes präsentiert, ist das zugrunde liegende Thema unserer Tagung, dem ich mich an dieser Stelle widmen will. Zunächst sind zwei herausragende Trends auszumachen, die den Charakter der Zeitgeschichtsschreibung in der Gegenwart prägen: Die Zeitgeschichte profitiert von der partiellen Ablösung der Fortschrittsepoche durch das Gedächtniszeitalter als kulturellem Leitcode. In die Emphase des Wortes „Erinnerung“ samt ihrer Unterscheidung zwischen einem heißen und einem kalten Gedächtnis1 kleiden wir den identitätsstiftenden Wert der Vergangenheitsvergegenwärtigung unserer Tage. Diese unterscheidet sich eklatant von der Diagnose Alfred Heuss‘, der genau vor fünfzig Jahren den „Verlust der Geschichte“ beklagte, die es nur noch als Fachwissenschaft gebe, während sie als lebendige Erinnerung verloren gegangen sei.2 Von diesem identitätsstiftenden Aufmerksamkeitsgewinn der Geschichte zehrt die Zeitgeschichte in besonderem Maße, und das nicht nur in einer Öffentlichkeit, die es sich gefallen lässt, in Harald Schmidts Talkshow mit den Erkenntnissen aus HansUlrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte befasst zu werden. Seit Jahrzehnten schon ist die Zeitgeschichte nicht mehr das in außeruniversitäre Nischen abgedrängte Stiefkind des Faches, in das sie der Triumph des Historismus und seines Objektivitätsideals für ein Jahrhundert verbannt hatte. Verlagshistoriker können diesen Trend mit Zahlen untersetzen: „In den 1950er Jahren war [...] nur jedes 1 Charles S. Maier, Heißes und kaltes Gedächtnis.Zur politischen Halbwertzeit des faschistischen und kommunistischen Gedächtnisses, in: Transit 22, 2001/2002, S. 153-165. 2 Alfred Heuss, Verlust der Geschichte, Göttingen 1959, S. # (zit. b. Blaschke, Einleitung, S. 6). 1 zehnte Geschichtsbuch zeithistorisch. Heute ist es jedes dritte“, konstatierte Olaf Blaschke.3 Die Zeitgeschichte ist dabei offenbar zumindest vorerst zugleich der Gefahr entronnen, mit Jahrhunderts wachsendem an kultureller Abstand zur Katastrophengeschichte Relevanz einzubüßen. Nicht allein des 20. die nahe Vergangenheit selbst, sondern mindestens ebenso der Umgang mit ihr spielt eine mittlerweile zentral gewordene Rolle im kulturellen Selbstverständnis unserer Zeit, wie sie noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wäre. Nicht die Frage, wie die Langfristfolgen der SED-Diktatur politisch ausgeglichen werden können, prägte nächst der Causa Althoff in den vergangenen Wochen den beginnenden Wahlkampf in Thüringen, sondern, ob ein Spitzenkandidat der Partei DIE LINKE die DDR als Unrechtsstaat anzuerkennen bereit ist. Nicht um eine Entschädigung für Dopingopfer des DDR-Leistungssports kreiste in derselben Zeit eine aktuelle Diskussion, sondern um die Frage, ob die einstigen Trainer sich zu einer gemeinsamen Entschuldigung nationalsozialistischen zusammenfinden. Erziehung für die Nicht die mentale Bedeutung der Prägung der Kriegsjugendgeneration stand im Vordergrund der Debatte um die NSDAPMitgliedschaft, sondern die Frage, wie Walter Jens oder Dieter Hildebrandt mit ihr öffentlich umgegangen sind. Die Zeithistorie als Disziplin zur Diktaturaufarbeitung hat ihrerseits auf die schleichende Entwertung ihres kulturellen Kapitals durch Zeitablauf reagiert, indem sie in den letzten beiden Jahrzehnten die Nach- und Rezeptionsgeschichte als eine Geschichte zweiter Ordnung etabliert hat. Die Fachwissenschaft interessiert sich im Einklang mit dem cultural turn für den Konstruktionscharakter historischen Wissens, sie fragt nach Narrativen und Erzählmustern und interessiert sich heute für das Wie nicht weniger als für das Was historischer Erkenntnisbildung und –vermittlung. In welchem Maße die Zeitgeschichte von der Mediengesellschaft profitiert, belegen eindrucksvolle Zahlen: Während die Leserschaft von historischen Fachzeitschriften nach Mediennutzungsanalysen „im statistisch nicht mehr qualifizierbaren Bereich“ liegen, binden zeithistorische Fernsehdokumentationen und Spielfilme regelmäßig 3 Olaf Blaschke, Die „Hand am Puls der Forschung“. Konjunkturen der Zeitgeschichtsschreibung und ihre Verleger seit 1945, VfZ 1/2009, s. 99-115, hier S. 105. 2 ein Millionenpublikum und erreichen gelegentlich Einschaltquoten von über 20%, die allein von Länderspielübertragungen im Fußball übertroffen werden. Überregionale Zeitungen beschäftigen wie selbstverständlich einen oder mehrere Zeitgeschichtsredakteure, und Titelstories zur Zeitgeschichte zählen regelmäßig zu den absatzstärksten Ausgaben des „Spiegel“.4 Bis heute gilt die Auffassung, dass diese Medialisierung und Memorialisierung die Zeitgeschichte als Wissenschaft zwar popularisiert oder herausfordert, aber in ihrem Charakter nicht ändert: „Es gibt keine direkte Konkurrenz zwischen Fachwissenschaft und Medien“, konstatierte Sven-Felix Kellerhoff, selbst als Zeithistoriker-Journalist in der „Welt“ ein Beleg für die enge Beziehung zwischen Wissenschaft und Medien, und auch Hans Mommsen verneinte die Frage, ob „die akademische Zeitgeschichte angesichts dessen eine neue Rolle finden“ müsse.5 Reflexionsinteresse Unter dieser Prämisse richtet vor allem auf schlechte die sich das oder fachtheoretische auch „gelungene Zusammenarbeit zwischen akademischen Historikern und Medien“, für die der Journalist „die Zwänge der Medien ernst“ genommen sehen möchte und die Zeitgeschichte „sachgerecht, mediengerecht und publikumsgerecht“ aufbereitet verlangt6, während der Historiker gegen die historische Mythenbildung durch mediale Komplexitätsreduktion angeht und die Gefahren der Popularisierung beschwört.7 Eine der Leitfragen der vor uns liegenden Konferenz lautet, ob dieses Bild der sich die Hände reichenden oder den Handschlag verweigernden Partner nicht womöglich trügt. Meine These ist, dass die Zeitgeschichte in unserer Zeit einer schleichenden Neuausrichtung unterliegt, die jenseits ihrer methodischen und thematischen Modernisierung und Erweiterung etwa auf die gewachsene geschichtliche Bedeutung 4 Hierzu: Sven-Felix Kellerhoff, Zwischen Vermittlung und Vereinfachung: Der Zeithistoriker und die Medien, in: ZfG 54 (2006), S. 1082-1092, hier S. 1083 ff. 5 „Zeitgeschichtliche Themen in den Medien können die fachwissenschaftliche Aufarbeitung nicht ersetzen und gewiß nicht an deren Stelle treten. Die weit verbreitete enge ereignisgeschichtliche Ausrichtung zeitgeschichtlicher Sujets der Medien fordert die Fachwissenschaft heraus, eine präzise Einordnung in längere geschichtliche Zusammenhänge zu vollziehen. Zugleich muß die Wissenschaft historischer Mythenbildung entgegentreten, zu der Medien aus Gründen der Reduktion von Komplexität vielfach neigen. Es bedarf daher keiner grundlegenden Neuausrichtung der historischen Fachwissenschaft, die namentlich bei der Produktion von zeitgeschichtlichen Filmen häufig übergangen wird.“ Sven-Felix Kellerhoff, „Eindrucksvolles Panorama der späten NS-Zeit“. Der Historiker Hans Mommsen über den ZDF-Film „Dresden“ und die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch das Fernsehen, in: Die Welt, 28.2.2006. 6 Kellerhoff, Zwischen Vermittlung und Vereinfachung, S.1092 u. 1090. 7 So Hans Mommsen im Gespräch mit Kellerhoff, „Eindrucksvolles Panorama der späten NS-Zeit“ 3 des Bildes, des Fernsehens, des Internets liegt. Vielmehr verschiebt sie unbemerkt und hinterrücks mit dem Gegenstand auch die Maßstäbe seiner Erschließung und die Prinzipien des Urteilens und Bewertens – also die „Doxa“ im Sinne Bourdieus. Hierzu möchte ich im Folgenden eine Reihe von Indizien zusammentragen, die den Verdacht erhärten sollen, dass die Zeitgeschichte als Wissenschaft von der Medialisierung und Memorialisierung nicht nur herausgefordert, sondern strukturell verändert wird. Entgrenzung des Gegenstandsfelds Wir alle kennen und nutzen Rothfels‘ Definition der Zeitgeschichte als "Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung".8 Als Rothfels diese klassisch gewordene Gegenstandsbestimmung formulierte, war das „Dritte Reich“ noch keine zehn Jahre vergangen und lag der auf 1917 datierte Epochenbeginn der Zeitgeschichte erst knapp 35 Jahre zurück. Analog müsste die Zeitgeschichte heute mit der Mitte der siebziger Jahre einsetzen, aber sie tut es eben nicht, so sehr im „Strukturbruch“ dieser Jahre der stabile „Rahmen des Fortschritts“ durch andere Ordnungsmuster des gesellschaftlichen Lebens abgelöst wurden.9 Die Zeitgeschichte hat zwar ihren Fokus vom Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik über die Machtergreifung hin zum nationalsozialistischen Zivilisationsbruch verlagert, aber doch zugleich darauf insistiert, dass sie als Geschichte der nicht nur Mitlebenden, sondern auch Mithörenden und Mitsehenden (Thomas Lindenberger) auf dem langen und bis vor 1917 zurückreichenden Übergang von der Gutenberggalaxis zum audiovisuellen Zeitalter beharrt.10 Die Epoche der mitlebenden Zeitgenossen wurde im Zuge des memorial turn zugleich zur Epoche des mitlebenden Gedächtnisses, das in der Regel drei bis vier Generationen umfasst und etwa die NS-Zeit im Zeitgeschichtsdiskurs durch die Stimmen Überlebender wie Jorge Semprun, Eli Wiesel und Wladyslaw Bartoszewski ebenso repräsentiert wie 8 Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 1-8, hier S. 4. 9 Hierzu Anselm Doering Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, bes. S. 10 f. 10 Thomas Lindenberger, Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen 1 (2004), H. 1, S.72-85. 4 durch die Nachgeborener wie Katharina Himmler oder Wiebke Bruhns. Die Zeitzeugenschaft, die in unserem Verständnis heute den Kern der Zeitgeschichtsdefinition ausmacht, hat sich unter dem Druck von Medialisierung und Memorialisierung zu einer konservierbaren und tendenziell unvergänglichen Größe entwickelt, die über Zeitzeugenarchive wie das Spielberg-Archiv oder die Rundfunkarchive Zeitgeschichte von der Zeitgenossenschaft abkoppeln und zugleich mit dem Konzept der sekundären Zeitzeugenschaft arbeiten kann. Pluralisierung der Erzähler und Akteure Der Entgrenzung des Gegenstandsbereichs der Zeitgeschichte entspricht die Pluralisierung ihrer Erzähler. Längst hat die akademische Zeitgeschichte ihr Deutungsmonopol in der Konkurrenz mit Historiker-Journalisten, TV- Zeitgeschichtsredaktionen und Ausstellungsmachern in einem Maße eingebüßt, das sich nur ermessen lässt, wenn man es gegen die Ausgrenzungskraft hält, die das Fach im 20. Jahrhundert etwa gegenüber Emil Ludwig oder Emil Julius Gumbel und noch gegen Sebastian Haffner aufzubieten vermochte. Heute werben Gedenkstätten erfolgreich für ihre Anerkennung als Forschungsmuseen, rücken HistorikerJournalisten und Verleger-Historiker Forschung und Feuilleton nahe aneinander. Umgekehrt engagieren sich zeithistorische Forschungseinrichtungen wie das Münchner IfZ und das Potsdamer ZZF intensiv in zeitgeschichtlichen Lern- und Gedenkorten, und unter dem Rubrum „Wissenstransfer“ bzw. „Public History“ hat sich ein mehr und mehr Raum greifender „Überlappungsraum“ von Fachwissenschaft und massenmedial gestützter Geschichtsvermittlung gebildet.11 Auch die Bildung von zeitgeschichtlichen Themenschwerpunkten bleibt nicht allein der Logik der Forschung selbst überlassen. Zu den zahlreichen Einflussakteuren zählen die großen Förderorganisationen, die - wie etwa die Volkswagen-Stiftung - zu Beginn der neunziger Diktaturenvergleich und Jahre mit Förderprogrammen später die ostmitteleuropäische 11 den diachronen Transfer- und Paul Nolte, Öffentliche Geschichte. Die neue Nähe von Fachwissenschaft, Massenmedien und Publikum: Ursachen, Chancen und Grenzen, in: Michele Barricelli/Julia Hornig (Hg.), Aufklärung, Bildung, „Histotainment“? Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute, Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 131-146. 5 Vergleichsforschung auf den Weg zu bringen suchte. Keine geringere Rolle spielen die Sach- und Fachbuchverlage. Zuweilen sind es Einzelakteure wie Walter Pehle vom Fischer-TB-Verlag, der in den siebziger Jahren mit der sogenannten Schwarzen Reihe ein eigenes Format der fachwissenschaftlichen NS-Aufarbeitung schuf. In anderen Fällen war es ein Verlag wie C.H. Beck, der das von Pierre Nora übernommene Konzept der Erinnerungsorte mit einer von der Antike bis zur DDRErinnerung reichenden Publikationsserie in der Öffentlichkeit verankerte. Der zwanzigste Jahrestag des Mauerfalls hat mit mindestens dreijährigem Vorlauf einen bislang ungekannten Druck von Verlagen erzeugt, schon im Vorfeld des Herbstjubiläums mit einschlägigen Titeln vertreten zu sein: Gleich im Dutzend erschienen zur Leipziger Buchmesse Titel zur deutsch-deutschen Geschichte und besonders zum Herbst 1989, die in mehrheitlich überraschend konventioneller Aufmachung eins ums andere Mal die Geschichte von Mauerbau und Mauerfall erzählen. Was schließlich die strategische Kooperation von Publikumsverlag und Presse zu leisten vermag, bewies im vergangenen Sommer die von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in ihrem Internet-Lesesaal geführte Debatte um Hans-Ulrich Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5. Wissenschaftliche Subjektivierung Der sich darin manifestierende Bedeutungsgewinn der Zeitgeschichte führt, wie es mir scheint, zu einer Dissoziierung der Schreibstile. Auf der einen Seite finden sich immer weiter ausdifferenzierte Fachdiskurse, in denen Rezipienten und Produzenten zeitgeschichtlicher Erkenntnis tendenziell verschmelzen, so dass die Individualität des Zeitgeschichte schreibenden Historikers dahinter zu verschwimmen, wenn nicht gar zu verschwinden droht. Vom „Tod des Autors“ kündet auch die neue Ordnung des Wissens in der „Google-Gesellschaft“, deren hypertextuelle Organisation in der Online-Historiographie des World Wide Web eine „kollektive, vernetzte Schreibwerkstatt“12 erzeugt und die lineare Geschichtserzählung zugunsten einer 12 Jakob Krameritsch, Geschichte(n) im Hypertext. Von Prinzen, DJs und Dramaturgen, in: Geschichte und Informatik, Bd. 15, 2004, S. 33 55. 6 interaktiven Generierung und Aneignung von historischem Wissen auflöst. 13 Auf der anderen Seite steht nicht weniger machtvoll die von den Publikumsverlagen verkaufsfördernd inszenierte Gelehrtenpersönlichkeit, die mit schöpferischer Kraft und in oft eher konventionellem Duktus die zeithistorische Meistererzählung formt – ein ausgezeichnetes Anschauungsmaterial bietet hier der diesjährige Frühjahrskatalog des C.H.Beck-Verlags, der in Bild und Wort suggestiv auf den einsamen Kampf zwischen dem großen Autor und seinem großen Gegenstand abstellt: „Die Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts – Jürgen Osterhammels opus magnum“ oder „Lothar Gall über Walther Rathenau – Innenansichten eines Zeitalters“.14 Offenbar erzeugt gerade die Komplexität und gewachsene Unübersichtlichkeit der so detailtief beforschten Zeitgeschichte das Bedürfnis nach der personellen Verbürgung für die grand récits, deren Geltungskraft sich nicht mehr allein oder auch nur primär auf singuläre Gedankentiefe oder überragende Stoffbeherrschung zu stützen vermag, wie dies noch etwa Fischers „Griff Bracher/Schulze/Sauers „Nationalsozialistische nach der Weltmacht“ oder Machtergreifung“ oder auch Groehlers „Luftkrieg“ zu behaupten vermochten. Zeitgeschichtsschreibung heute ersetzt enzyklopädische Autorität in gewisser Weise durch empathische Subjektivität. Auf die Beklemmung des Gefühls setzte bis in die Wortwahl Jörg Friedrichs Buch 13 „Die ‚Gutenberg-Galaxis‘ war durch Linearität, Textualität, individuelle Wissensproduktion und Autorenschaft sowie Eindeutigkeit und duale Realitätskonstruktion gekennzeichnet. In der ‚Turing-Galaxis‘ hingegen dominieren Diffusität, Intertextualität, dialogische und kollaborative Wissensproduktion, Mehrdeutigkeit und Hyperrealität.“ Michael Schetsche, Die digitale Wissensrevolution – Netzwerkmedien, kultureller Wandel und die neue soziale Wirklichkeit, in: zeitenblicke 5 (2006), Nr. 3, URL: http://www.zeitenblicke.de/2006/3/Schetsche/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-6419, Abs. 7 (Zugriff vom 16.3.2009). S. auch Angelika Epple, Verlinkt, vernetzt, verführt – verloren? Innovative Kraft und Gefahren der Online-Historiographie, in: Ebd., S. 15-33. 14 Zur Uneinheitlichkeit der publizistischen Entwicklungstrends vgl. Blaschke: „Gehen Wissenschaft und Öffentlichkeit weiter auseinander oder näher aufeinander zu? Die wachsende Zahl von Aufsätzen, die in Zeitschriften und Sammelbänden erscheinen und nicht im Buchhandel auftauchen, spricht für eine Auseinanderentwicklung. Die Flucht in das Sachbuch spricht für eine Annäherung. [...] Schließlich könnte es sein, daß die Kluft zwischen zwei Klassen von Historikern weiter aufreißt: zwischen denen, die einen breiten Markt bedienen können, und denen, die mit ihren Spezialuntersuchungen ausschließlich ein jeweils schrumpfendes Segment von Fachspezialisten ansprechen.“ Olaf Blaschke, Einleitung. Schlechte Zeiten für Geschichtsbücher?, in: Ders./Hagen Schulze (Hg.), Geschichtswissenschaft und Buchhandel in der Krisenspirale? Eine Inspektion des Feldes in historischer, internationaler und wirtschaftlicher Perspektive, München 2006, S. 1-17, hier S. 3. 7 über den Bombenkrieg „Der Brand“.15, und dDer „Ton des solitären Außenseiters“, wie dies Michael Wildt nannte, kompensierte in Götz Alys „Volksstaat“ die mangelhafte Berücksichtigung der Forschungsliteratur16 Auch Konrad Jarauschs „Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995“ und erst recht Hans-Ulrich Wehlers Fünfter Band der Deutschen Gesellschaftsgeschichte bekannten sich zu ihren generationsspezifischen Blickwinkeln ganz unbefangen nicht nur im Vorwort, sondern legten ihn ihren Darstellungen offensiv zugrunde. Ebenso einer empathischen Subjektivität verpflichtet sind die jüngst erschienenen Großerzählungen des Umbruchs von 1989/90: Ehrhart Neubert nennt seine umfangreiche Darstellung des Herbstes 1989 wie selbstverständlich „Unsere Revolution“, und Ilko-Sascha Kowalczuk vergewissert sich seiner Untersuchung zum „Endspiel“ des deutschen Kommunismus an der Macht mit einem förmlichen Lob der Subjektivität.17 Dieser Trend zur wissenschaftlichen Subjektivierung schließt erkennbar an den auf Pluralisierung und Individualisierung gerichteten Wertewandel in der Gesellschaft an, der sich in der Zeitgeschichte als Rückkehr von der Struktur zur Erzählung und vom distanzierten Erklärer zum empathischen Erzähler abbildet. Man vergleiche die Authentizitätssehnsucht stillende Wirkungsmacht des heutigen Zeitzeugen mit der nüchternen Korrektivfunktion, den ihm die Zeitgeschichte noch vor vier Jahrzehnten zuschrieb, wenn etwa Hans Rothfels die „Möglichkeit der Verifizierung durch Befragung noch lebender Zeugen und durch das historische Kreuzverhör“ pries. 18 Dem wundersamen Aufstieg des mit geschichtsreligiösen Zügen ausgestatteten 15 Ulrich Raulff, Geschichte und die Erziehung des Gefühls, in: Ulrich Borsdorf/Heinrich Grütter/Jörn Rüsen (Hg.), Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004, S. 105-123. 16 Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M. 2005S. 362; Michael Wildt, Alys Volksstaat. Hybris und Simplizität einer Wissenschaft, in: Mittelweg 36 14 (2005), H. Juni/Juli 2005, S. 69-80, hier S.71. 17 „Man setze zwei Historiker vor denselben Stapel von Akten und gebe ihnen die gleiche Aufgabe. Als Produkt wird man ganz verschiedene Bücher erhalten, die sich unter Umständen gegenseitig ausschließen. [...] Ich verkünde hier keine objektive Wahrheit, sehr wohl aber meine eigene, die ich so darlegen möchte, dass sie nachvollziehbar und plausibel ist, selbst wenn man sie nicht teilt.“ Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, s. 18. Vgl. auch die publizistische Resonanz auf die Leipziger Buchmesse 2009: Susanne Beyer, Fast vergessenes Glück. Dieses Jahr stürzt sich die Verlagsbranche auf das Mauerfall-Jubiläum. Zur Leipziger Buchmesse erscheint ein ganzer Schwung deutsch-deutscher Bücher. Die Autoren verlangen, dass 20 Jahre danach auch der Westen über seine Rolle in der Geschichte des geteilten Landes nachdenkt, in: Der Spiegel, 11/2009, 9.3.2009, S. 152-154. 18 Hans Rothfels, Die Zeit, die dem Historiker zu nahe liegt, in: Fs. für Hermann Heimpel, Bd. 1, Göttingen 1971, S. 28-35, hier S. 33. 8 Zeitzeugen entspricht in der Literatur für den Fall der DDR die Konjunktur von Memoiren und Lebensgeschichten, die die gerade zu Ende gegangene Buchmesse in Leipzig wieder eindrucksvoll unter Beweis stellte. Sie reicht von Egon Krenz‘ und Günter Schabowskis Machthabermemoiren bis zu Susanne Schädlichs Familienerzählung über den deutsch-deutschen Bruderverrat und den zahlreichen Erinnerungsanthologien, die in diesem Frühjahr etwa Jan Schönfelder („Das Wunder der Friedlichen Revolution“) Renatus Deckert („Die Nacht, in der die Mauer fiel“), Julia Franck („‘Grenzübergänge‘“. Autoren aus Ost und West erinnern sich“ und M. Fraumann („Die DDR war ein Teil meines Lebens“) herausgaben. Zeitgeschichte droht sich hier wieder in Zeitgeschichten aufzulösen, die die unterschiedlichen postkommunistischen Erzählmilieus nach 1989 unvergleichlich viel stärker bedienen als die postfaschistischen nach 1945. Zugleich reflektieren sie den Umstand, dass der abgeschlossene Realsozialismus anders als der abgeschlossene Nationalsozialismus noch keinen allgemein akzeptierten Platz im kulturellen Gedächtnis gefunden hat. Historischer Perspektivismus In einem allerdings wiederholt die Zeitgeschichte nach 1989 ihre Konstituierungsphase nach 1945, nämlich in ihrer Abhängigkeit von einer voraufgegangenen Epochenzäsur. Das Ende des Kalten Krieges und die deutsche Vereinigung 1990 traf die Zeitgeschichte denkbar überraschend und ließ sie zu nationalstaatlichen und totalitarismusgeschichtlichen Deutungsmodellen zurückfinden, deren Ausmusterung sie eben noch als Befreiung von überholten Denkmustern erlebt hatte. Als der mit der Abgeklärtheit des Althistorikers auf die aufgeregte Nabelschau der Zeithistorie blickende Alexander Demandt 1984 für das Recht der „Ungeschehenen Geschichte“ eintrat, erörterte er in seinem „Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn ...?“ernsthaft die Möglichkeit, daß etwa Pontius Pilatus Jesus begnadigt, Karl Martell die Araber nicht abgewehrt oder der deutsche Bauernkrieg Erfolg gehabt hätte. Einzlene Annahmen aber schloss er aus seiner kontrafaktischen Geschichte aus, weil sie selbst dem über 2000 Jahre hinwegblickenden Althistoriker allzu abwegig schienen – so etwa die absurde 9 Vermutung, ein sowjetischer Generalsekretär könnte den Marxismus verurteilen oder der sozialistische Ostblock seine Macht freiwillig preisgeben.19 Das Jahr 1989 kehrte wissenschaftlich überwunden Geglaubtes nach oben und machte fachlich modernere Trends zu Altpapier. Mit Ausnahme der sogenannten „alten“ DDR-Forschung, die mit sich selbst ins Gericht ging, warum sie das Selbstverständliche verkannt habe, hat dies merkwürdigerweise dennoch das disziplinäre Selbstverständnis der Zeithistorie nicht merklich erschüttert, sondern lediglich die Emsigkeit der Neuausrichtung auf die epochale Polverschiebung gefördert. Zeitgeschichte lebt, lässt sich in Anlehnung an Wolfgang Böckenförde sagen, von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann, und sie hat zudem die disziplinäre Neigung, diese außerfachliche Abhängigkeit in wissenschaftliche Evidenz zu verwandeln. Solche teleologische Konformität hat sie mit der Autobiographik gemein, deren Narrative ebenso die Brüche der erzählten Zeit mit der Kohärenz der Erzählzeit in Beziehung zu setzen haben. Erst Sehepunkte20 machen Zeitgeschichte möglich, und mit Recht beharrte Hans Rothfels darauf, dass das Feld der Zeitgeschichte als „Geschichte der jüngsten Epoche“21 die Zeit vor der jeweils letzten Epochenzäsur behandle. Die danach kommende und vom Heute nur zeitlich, aber nicht epochal abgetrennte Zeit verdiente, als „Gegenwartsgeschichte“ eine eigene Subdisziplin zu werden, deren tastende Deutungskonzepte zwar Orientierungsbedarf formulieren, aber selbst keine Orientierungspunkte besitzen.22 Hier zeigt sich, wie verletzlich und volatil eine Zeitgeschichte ist, die ins Offene hineinschreiben muss, und wie vergeblich sie ihrer Zeit sinngebende Zäsuren abzuringen sucht und sei es auch bloß das Jahr 2000 als Abschluss des Jahrhunderts der Extreme. Natürlich formulierte Aly seine These vom 19 Alexander Demandt, Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn ...?, Götingen 1984, S. #. 20 „Das, was in der Welt geschieht, wird von verschiedenen Leuten auch auf verschiedene Art angesehen: daß, wenn viele eine Beschreibung von einer Geschichte machen sollten, in jeder etwas Besonderes würde angetroffen werden, wenn sie sich gleich insgesamt die Sache, soviel an ihnen gelegen, richtig vorgestellt hätten. [...] Diejenigen Umstände unserer Seele, unseres Leibes und unserer ganzen Person, welche machen oder Ursache sind, daß wir uns eine Sache so und nicht anders vorstellen, wollen wir den Sehe-Punkt nennen.“ Johann Martin Chladni/Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Leipzig 1742, §§ 308-09, S. 71 ff. 21 Rothfels, Die Zeit, die dem Historiker zu nahe liegt, S. 31. 22 Zur Unterscheidung zwischen Zeitgeschichte und Gegenwartsgeschichte immer noch anregend: Fritz Ernst, Zeitgeschehen und Geschichtsschreibung. Eine Skizze, in: Die Welt als Geschichte. Eine Zs. für Universalgeschichte, 17 (1957), H. 3, S. 137-189. 10 „Dritten Reich“ als „Volksstaat“ vor dem Hintergrund, dass der Sozialstaat klassischer Prägung an sein Ende gekommen sei; natürlich wurden die Ambitionen der Globalgeschichte von dem Glauben unterstützt, dass mit dem 11. September 2001 das Zeitalter einer neuen Ost-West-Konfrontation heraufdämmerte; und natürlich wurde das Konzept der Zivilgesellschaft von der Annahme getragen, dass Staat und Staatlichkeit Lenkungsinstrumente der Vergangenheit darstellten. Wie schnell solche Fluchtpunkte der Zeitgeschichtsschreibung auch wieder überholt sein können, erleben wir selbst in diesen Monaten angesichts der globalen Wirtschaftskrise, die sich anschickt, als zäsursetzender Fluchtpunkt die globale Prosperitätshoffnung nach dem Ende der Systemkonkurrenz als voreilig zu erweisen.23 Die Verwischung der Grenze zwischen Fiktionalität und Faktizität Die besondere Wahrheitsanspruch Sehepunkt-Abhängigkeit stärker als den der Zeitgeschichte anderer tangiert Disziplinen. ihren Historische Perspektivenwandel entwerten zeithistorische Erkenntnis, wie dies der Umbruch von der zeitgenössischen DDR-Forschung bis 1990 zur nachzeitigen DDR-Aufarbeitung seit 1990 eindrucksvoll vorführte. Sie beeinflussen ebenso auch die Produktion von Zeitgeschichte, deren zeitgerechte Reorganisierung besonders in der Autobiographik greifbar wird24. So wird etwa in den von 1972 bis 1997 fortgeschriebenen Lebenserinnerungen Manfred von Ardennes, der Entschluss des Autors, in den Osten statt in den Westen zu gehen, fortlaufend uminterpretiert. Ein nicht weniger aufschlussreiches Beispiel autobiographischer Reorganisierung liefert in unseren Tagen Günter Schabowski, der mittlerweile die historische Bedeutung der 23 Ein erstes und noch journalistisches Beispiel dieser narrativen Neujustierung durch zeitliche Datierung und semantische Codierung bot der „Spiegel“ in seiner Reportage „Gorillas Spiel“: „Am 15. September 2008 verschwand Lehman Brothers aus der Finanzwelt, und mit Lehman verschwand die Finanzwelt, wie wir sie kannten. Es verschwand das Vertrauen, es verschwanden Milliarden Dollar und Euro, am Ende oder jedenfalls zwischenzeitlich sogar die Überzeugung, dass der Kapitalismus des Westens das letztgültige Wirtschaftssystem sei, stabil und wetterfest. Mit dem 15. September begann die größte Wirtschaftskrise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die Krise, mit der die Welt jahrelang wird leben müssen. An jenem 15. September 2008 begann eine neue Unsicherheit. Das Weltwirtschaftsbeben.“ Der Spiegel 11/2009, S. 42. 24 Manfred von Ardenne, Ein glückliches Leben für Technik, Berlin (O) 1972; ders., Sechzig Jahre für Forschung und Fortschritt, Berlin (O) 1987; ders., Die Erinnerungen, München 1990; ders., Erinnerungen fortgeschrieben. Ein Forscherleben im Jahrhundert des Wandels der Wissenschaften und der politischen Systeme, Düsseldorf 1997. 11 Pressekonferenz vom 9. November 1989 so stark internalisiert hat, dass er nun den einstigen Zufallscharakter seiner maueröffnenden Sätze in eine geplante Handlung umdeutet.25 Einem analogen Reorganisationsmuster folgen die zahlreich gewordenen Revolutionserzählungen, die die Enttäuschung vieler Regimegegner über den unvermuteten Fall der Mauer ebenso marginalisieren wie deren „Hoffnung auf eine sozialistische Perspektive“.26 Zeitgeschichte schreiben heißt in der Gegenwart daher auch, dass die Grenzen zwischen Faktizität und Fiktionalität auf neue Proben gestellt werden. Es verändert das Bild der Zeitgeschichte, wenn das historische Ereignisfernsehen mit seinen „Doku-Dramen“, „Dokufiktionen“ und „Re-Enactments“ die mediale Präsentation von Zeitgeschichte prägt und nicht nur den Mangel an mediengerechten Sachzeugnissen ausgleicht, sondern den Übergang zwischen Original und Mimesis ästhetisch inszeniert, wie es etwa der ZDF-Dreiteiler „Die Wölfe“ im Wechsel von monochromen und polychromen Szenen tat. Wie ungewollt erfolgreich diese Authentifizierung des Fiktionalen mittlerweile geworden ist, zeigt sich, wenn in jüngster Zeit auch historische Spielfilme unter das Wahrheitsgebot des Presserechts gestellt werden, wie es 2006 dem Contergan-Film des Drehbuchautors Benedikt Röskau erging.27 Die 25 „Günter Schabowski will nicht mehr als der Mann darstehen, der durch Unkonzentriertheit Weltgeschichte geschrieben hat. „Wir haben fast alles falsch gemacht“, nennt das 80-jährige Ex-Politbüromitglied und SEDRenegat seine in dieser Woche erschienenen Erinnerungen. Am Abend des Mauerfalls aber will Schabowski gerade nichts falsch gemacht haben. Sein hastiges Vorlesen der neuen Reiseregelungen der DDR vor der internationalen Presse, seine gestammelte Antwort „Das trifft nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich“ auf die Nachfrage des italienischen Journalisten Riccardo Ehrmann – alles Taktik? [...]Im Großen und Ganzen schon, sagt Schabowski heute. Er kam aus der Sitzung des Zentralkomitees. „Auf dem Weg zur Pressekonferenz überlegte ich mir, wie ich taktisch am klügsten vorgehen sollte“. Jan Sternberg, GESCHICHTE: „Sofort, unverzüglich“. Günter Schabowski will sich am Abend des 9. November nicht mehr versprochen haben, in: Märkische Allgemeine Zeitung, 4.3.2009. 26 Aufruf zu vereinigten Bürgerinitiativen für einen neuen Sozialismus, 26.11.1989, in: Ostsee Zeitung, Nr. 282, 30.11.1989. 27 „Als ich meinen Film über den „Contergan“-Skandal geschrieben habe, konnte ich auf ein halbes Dutzend hervorragender Dokumentationen aus dreißig Jahren zurückgreifen. Die Filme wurden oft – und immer zu Recht – ausgezeichnet, wurden gesendet und in Fachkreisen diskutiert und von allen Seiten mehr oder weniger geduldet. Sie beeindruckten, sie bewegten aber sie bewirkten – nichts. [...]Doch plötzlich sollte ein Spielfilm über diesen Skandal gedreht werden und allein das Vorhaben löste eine Welle hektischer und aggressiver Tätigkeiten aus, die keiner der zum Teil wesentlich kritischeren Dokumentarfilme provoziert hatte. Wie bekannt, klagte die Herstellerfirma „Chemie Grünenthal“, noch heute im Besitz der Aachener Familie Wirtz, gegen mein Drehbuch. Gegen das Drehbuch? Das war überraschend, das hatte es so noch nie gegeben. Lag aber nahe, denn der Film war zum Zeitpunkt an dem der „Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung“ gestellt wurde, zwar abgedreht aber noch nicht geschnitten und endgefertigt. [...] Dieser Klage wurde in erster Instanz vor dem Landgericht Hamburg stattgeben: die 24. Zivilkammer, geleitet von dem in Fachkreisen inzwischen für seine interessanten Urteile durchaus berühmten und gefürchteten Richter Andreas Buske, 12 für das historische Ereignisfernsehen signifikante „Kombination aus fiktionalen und nichtfiktionalen Elementen“28 verwebt eine historische Rahmenhandlung mit einer unhistorischen Binnenhandlung melodramatischen Zuschnitts, wie sie der im Oktober 2008 ausgestrahlte Mauerfallfilm um die in den Westen geschmuggelten Aufnahmen der Leipziger Montagsdemonstrationen schon im Titel zum Ausdruck bringt: „Wir sind das Volk - Liebe kennt keine Grenzen“.29Hier wie in anderen Doku-Dramen emanzipiert sich die Geschichtskultur von der Vetokraft der Quelle und projiziert die Weltvorstellungen der Gegenwart in den historischen Raum, ohne auf das Gütesiegel der historischen Authentizität verzichten zu müssen30 und ohne sich der kategorialen Differenz zwischen Faktizität und Fiktionalität überhaupt noch bewusst zu sein.31 Auch in der wissenschaftlichen Zeitgeschichtsschreibung werden die Grenzen zwischen Faktum und Fiktion offenbar fließender, wie sich an der gedächtnistheoretischen Debatte der letzten Jahre und der sakralisierenden Aufwertung des Zeitzeugen ablesen lässt. So argumentierte Aleida Assmann vor meinte, dass der Film, von dem man inzwischen die erste von drei Stunden angesehen hatte, eine so hohe Authentizität besitze, dass der Zuschauer nicht mehr zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden könne, und darum unter das viel strengere Presserecht falle, sich also nicht auf den Verfassungsartikel der Kunstfreiheit berufen könne.“ Dokudramen, „Biopics und „Reenactments - Verfilmung von tatsächlichen Ereignissen - Welche rechtlichen und praktischen Schwierigkeiten ergeben sich? Podiumsdiskussion auf dem Filmfest Hamburg 2008, Äußerung Benedikt Röskau. http://www.drehbuchautoren.de/files/Podiumsdiskussion_R%C3%B6skau_Okt.2008.pdf, Zugriff vom 15.3.2009. Das Urteil des Hamburger Landgerichts wurde am 5.9.2007 vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben. 28 Andreas Dörner, Der Eventfilm als geschichtspolitisches Melodram, in: APuZ 2008, H. 52, S. 28-32, hier S. 29. 29 Die Boulevardberichterstattung war sich im Urteil einig: „Der Film ist super gemacht und total authentisch," (Susi Groth, Tränenreiche Premiere des Mauerdramas in Berlin, in: Super-Illu, 2.10.2008, http://www.superillu.de/framework/print/supervision_print_836197.html, Zugriff vom 16.3.2009) Tatsächlich aber hatte einer der drei Protagonisten, Roland Jahn, den Filmemachern die realitätsgetreue Verwendung seiner Biographie ausdrücklich untersagt. 30 Ich folge hier der einleuchtenden Argumentation von Andreas Dörner, dem zufolge „sich in den Medienprodukten die Selbstverständlichkeiten einer politischen Kultur wider(spiegeln), weil jeweils der Erwartungshorizont des Publikums berücksichtigt werden muss, um erfolgreich zu sein. In dieser Hinsicht verstärken die Medien vorhandene ‚Normalitäten‘ und stellen sie auf Dauer.“ Dörner, Der Eventfilm als geschichtspolitisches Melodram, S. 31. 31 So bewertete das Feuilleton die am 18.3.2009 auf „Arte“ ausgestrahlte Collage „Lincolns letzter Tag“ des Regisseurs Wilfried Hauke, die „aus historischen Fotografien, Zitaten aus dem Off und nachgestellten, teils dramatischen, teils elegischen Szenen“ arrangiert wurde, unbefangen als dokumentarische Leistung: „Die Collage scheut nicht zurück vor einer Verbindung von Bürgerbildung und Unterhaltung, verdichtet Historisches in Bildern und dichtet marginal, wenn geschichtlich abgesichert, weniges ‚aus dramaturgischen Gründen‘ hinzu. Wo das Experimentelle in den Hintergrund rückt, kann das Narrative gedeihen – eine der Stärken dieser Dokumentation.“ Einer wollte Brutus sein – eine Doku über das Attentat auf US-Präsident Lincoln, in: Der Tagesspiegel, 18.3.2009. 13 kurzem , dass der Zeitzeuge in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust ein Vermächtnis, einen „kostbaren Schatz“ darstelle, dessen „historisches und moralisches Gewicht“ Anspruch auf Übernahme durch die nicht betroffene Nachwelt habe. Hierzu führt Aleida Assmann im Anschluss an Avishai Margalit die Figur des „moralischen Zeugen“ ein, dessen Erinnerungen „sich gelegentlich als faktisch inakkurat erweisen“ mögen, ihn gleichwohl aber dank ihrer Authentizität und ihres oft traumatischen Gehaltes im Vergangenheitsdiskurs der Gegenwart mit der „Autorität“ „gesellschaftlich akkreditierter Zeugen“ ausstatten. Hier wird eine zeittypische Verschiebung von der historischen Wahrheit zur historischen Authentizität als Kern der zeitgeschichtlichen Auseinandersetzung fassbar. Sie manifestiert sich auf den unterschiedlichsten Ebenen: in den Publikumserfolgen des neuen „Dokumentarromans“32 wie Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“ oder jetzt Karl Heinz Bittels Thomas-und-Klaus-Mann-Roman „Eine Art Verrat“ und Thorsten Beckers Luther-Roman „Das ewige Haus“; sie zeigt sich in David Chippendales spurenästhetischer Rekonstruktion des Neuen Museums wie in dem nationalen Entsetzen über den unwiederbringlichen Verlust an Authentizität, der sich mit dem Brand der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar und dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs verbindet. Die Sehnsucht nach einer „authentischen Vergangenheit“ prägt die Narrationen der Zeitgeschichte in der architektonischen Neuschöpfung des Verlorenen aus der Einbeziehung originaler Fragmente ebenso wie in den Ausstellungserfolgen einer DDR-Alltagskultur und in der Konjunktur von zeithistorischen Gedenk- und Erinnerungsorten, deren wissenschaftliche Begleitung heute selbstverständliche Aufgabe der Fachwissenschaft geworden ist. Spätestens hier zeigt sich, dass die Aufgabe, Zeitgeschichte in der Gegenwart zu schreiben, die Verpflichtung auf eine Doppelrolle enthält: nämlich sowohl als Teil der anerkannten Erinnerungskultur ihrer Zeit zu wirken wie als ihr kritisches Gegenüber. Diese Doppelrolle zu akzeptieren und dennoch auf der kategorialen Differenz von Faktizität und Fiktionalität zu bestehen – dies scheint mir die eigentliche Herausforderung an die Zeitgeschichte im Medien- und Gedächtniszeitalter. 32 Der Begriff findet sich in Martin Thoemmes Besprechung des Werks von Karl Heinz Bittel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, 2.3.2009. 14