Wesentlich ist zunächst die negatorische Komponente der Freiheit

Werbung
KRUZIFIXE IN SCHULRÄUMEN ALS MENSCHENRECHTSVERLETZUNG?
Professor Dr. Stefan Mückl, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.
I.
Gerichtliche Auseinandersetzungen über die Zulässigkeit religiöser Symbole in der
öffentlichen Schule können der Aufmerksamkeit nicht nur der juristischen Fach-, sondern
auch der allgemeinen Öffentlichkeit stets gewiß sein. Derartige Verfahren werden – mit
überaus unterschiedlichem Ausgang – seit knapp zwei Jahrzehnten nicht nur vor den
nationalen (Verfassungs-)Gerichten, sondern vermehrt auch vor europäischen Spruchkörpern
geführt. Kontroverser Beurteilung unterfallen insbesondere zwei Sachverhalte: Die
Zulässigkeit der Ausstattung der Unterrichtsräume mit religiösen Symbolen (bisher:
durchweg mit einem Kreuz bzw. einem Kruzifix) sowie die Statthaftigkeit der Verwendung
religiöser Symbole durch die am Unterricht beteiligten Personen (zumeist: das Tragen eines
Kopftuches durch Frauen – wobei es rechtlich einen gewichtigen Unterschied macht, ob die
Trägerin eine Lehrkraft1 oder aber eine Schülerin2 ist).
Die Entscheidung der 2. Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)
vom 3. November 2009 in der Rechtssache Lautsi gegen Italien betritt also keineswegs
Neuland. Auf nationaler Ebene hatten bereits das Schweizerische Bundesgericht (1990)3 und
das deutsche Bundesverfassungsgericht (1995)4 über vergleichbare Konstellationen zu
befinden gehabt. Speziell die letztgenannte Entscheidung hatte in Deutschland einen bis dahin

Die in den Fußnoten verwendeten Abkürzungen folgen den juristischen Gepflogenheiten: BGE (Amtliche
Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts); BVerfG (Bundesverfassungsgericht);
BVerfGE (Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts); BVerwGE (Amtliche
Sammlung der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts); EGMR (Europäischer Gerichtshof für
Menschenrechte); EKMR (Europäische Kommission für Menschenrechte); EMRK (Europäische
Menschenrechtskonvention); EuGRZ (Europäische Grundrechte-Zeitschrift); GG (Grundgesetz für die
Bundesrepublik Deutschland); NJW (Neue Juristische Wochenschrift); SchwBGer (Schweizerisches
Bundesgericht); VVDStRL (Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer); ZaöRV
(Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht); ZRP (Zeitschrift für Rechtspolitik).
1
SchwBGer, in: BGE Bd. 123 II, S. 296, hat ein behördliches Kopftuch-Verbot gegenüber einer muslimischen
Lehrerin bestätigt. Diese Entscheidung steht nach EGMR, in: NJW 2001, S. 2871 (Dahlab/Schweiz), mit der
EMRK im Einklang. – Dagegen hat das BVerfGE Bd. 108, S. 282, ein derartiges Kopftuchverbot – zumindest
ohne spezialgesetzliche Grundlage – für verfassungswidrig erklärt.
2
Die Problematik stellt sich mit einer gewissen Schärfe vor allem in Frankreich. Dort hatte bereits 1994 der
Conseil d’État ein die nachfolgende Praxis prägendes Rechtsgutachten vorgelegt, dazu näher P. Rädler,
Glaubensfreiheit und staatliche Neutralität an französischen Schulen, in: ZaöRV Bd. 56 (1996), S. 353. –
Verwandt ist die Konstellation eines an Hochschul-Studentinnen gerichtetes Kopftuch-Verbots, wie es in der
Türkei gilt: Türkisches Verfassungsgericht, in: EuGRZ 1990, S. 146; der EGMR sah im 2004/2005
entschiedenen Fall Şahin/Türkei (in: EuGRZ 2005, S. 31 [Kammer] sowie in: EuGRZ 2006, S. 28 [Große
Kammer]) darin keinen Verstoß gegen die Glaubensfreiheit.
3
SchwBGer, in: BGE Bd. 116 Ia, S. 352.
4
BVerfGE Bd. 93, S. 1.
1
gänzlich unbekannten Sturm der Ablehnung und Empörung in weiten Teilen der
Öffentlichkeit ausgelöst. Nicht anders verliefen die Reaktionen auf den Straßburger Spruch
vom November 2009 – sowohl im betroffenen Staat selbst wie auch auf europäischer Ebene
haben (über alle politischen Grenzen) hinweg Unverständnis und zum Teil überaus heftige
Kritik vorgeherrscht5.
Die Entscheidungen des BVerfG von 1995 wie des EGMR von 2009 haben nicht nur
vergleichbare Reaktionen hervorgerufen, sondern weisen sowohl von den tatsächlichen
Umständen des Falles wie vom Duktus des erkennenden Gerichts erkennbare Ähnlichkeiten
auf. So liegt es nahe, bei der Analyse des Spruchs des EGMR in der Rechtssache Lautsi gegen
Italien auch den vorgängigen Beschluß des BVerfG mit einzubeziehen (II.). Diesem ersten
Schritt hat die Untersuchung zu folgen, ob und inwieweit sich diese Entscheidung in das
System der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) im allgemeinen und der
bisherigen Rechtsprechungspraxis des EGMR zur Gewährleistung der Gedanken-,
Gewissens- und Glaubensfreiheit (Art. 9 EMRK) im besonderen einfügt (III.). Schließlich
sind Folgewirkungen auf das Verhältnis von Staat und Kirche – bzw. allgemeiner – Religion
in den Vertragsstaaten der EMRK zu bedenken (IV.).
II.
Die Rechtssache Lautsi gegen Italien nahm ihren Anfang im Schuljahr 2001-2002 in einer
öffentlichen Schule in der Provinz Padua: Die aus Finnland stammende Mutter6 zweier
schulpflichtiger, seinerzeit 11 und 13 Jahre alten Jungen, verlangte die Entfernung der in den
Klassenräumen angebrachten Kruzifixe. Dieses Ansinnen begründete sie mit dem „Prinzip
der Laizität“, nach dem sie ihre Kinder erzogen wissen wollte, und verwies zur Abstützung
ihrer Position auf eine Entscheidung des Italienischen Kassationsgerichtshofs aus dem Jahr
20007, demzufolge die Anbringung von Kruzifixen in den Wahllokalen8 zur Durchführung
der staatlichen Wahlen mit dem verfassungsgesetzlichen Prinzip der Laizität des Staats
5
Fundierte juristische Würdigung bei S. Cañamares Arribas, La Cruz de Estrasburgo. En torno a la sentencia
Lautsi v. Italia, del Tribunal Europeo de Derechos Humanos, in: Revista General de Derecho Canónico y
Derecho Eclesiástico del Estado 22 (2010), S. 1 ff.
6
Zu einer der Merkwürdigkeiten des Falles rechnet der Umstand, daß als Beschwerdeführerin allein die Mutter
(in ihrem Namen wie dem ihrer beiden Söhne) auftritt – nicht aber der (mit der Beschwerdeführerin auch
verheiratete) Vater, obschon er im gesamten Zeitraum des Rechtsstreits mit der Familie zusammenlebte und auch
ihm das elterliche Sorgerecht für die Söhne zustand.
7
Corte Costituzionale, Beschluß vom 1. März 2000, n° 4273.
8
Im Tatsächlichen dürfte es sich um dieselben Räumlichkeiten gehandelt haben, dienen doch auch Schulräume
als Wahllokale (in denen vermutlich die vorhandenen Kruzifixe am Wahltag nicht eigens entfernt wurden).
2
unvereinbar sei. Im Laufe des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ergänzte die
Beschwerdeführerin ihr Vorbringen, indem sie auf eine – angebliche – Verletzung des
Prinzips der Unparteilichkeit der öffentlichen Verwaltung sowie des elterlichen
Erziehungsrechts abhob. Der innerstaatliche Rechtsschutz hatte indes keinen Erfolg; im Jahr
2006 entschied der italienische Staatsrat, die Glaubensfreiheit sei nicht verletzt, da das
Kruzifix nicht nur ein religiöses Symbol sei, sondern auch die säkularisierten Werte (valeurs
laïques) der italienischen Verfassung verkörpere9.
Der Sachverhalt in der Rechtssache Lautsi entspricht im Wesentlichen der Konstellation,
welche zum Kruzifix-Beschluß des BVerfG geführt hatte: Dort wandte sich ein Elternpaar aus
der bayerischen Oberpfalz, das der anthroposophischen Weltanschauung nach der Lehre
Rudolf Steiners anhing, sowohl im eigenen Namen wie dem ihrer drei minderjährigen Kinder
gegen die Ausstattung der von diesen frequentierten Schulräume. Sie rügten, durch die
Darstellung eines „sterbenden männlichen Körpers“ würde auf ihre Kinder im Sinne des
Christentums eingewirkt, was ihren Erziehungsvorstellungen und ihrer Weltanschauung
(sowie derer ihrer Kinder) zuwiderlaufe. Während der Rechtsweg vor den bayerischen
Verwaltungsgerichten durchweg erfolglos blieb, erkannte hingegen der Erste Senat des
BVerfG auf die Verfassungsbeschwerde der Elternpaars mehrheitlich10 einen Verstoß gegen
das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes [GG]) sowie gegen die
(„negative“) Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG).
In seiner rechtlichen Bewertung formuliert der EGMR11 in überaus knapper Form
„allgemeine Grundsätze“ (Tz. 47), die er sodann – auf gut doppeltem Raum – auf den Fall
anwendet (Tz. 48-58). Hinsichtlich der grundsätzlichen Maßstäbe legt die Kammer einen
erkennbaren Schwerpunkt auf das elterliche Erziehungsrecht (Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls
zur EMRK). Dieses verlange ein schulisches Umfeld, welches sich als offen und die
Integration fördernd erweisen müsse. Die Schule dürfe keine Schaubühne missionarischer
Aktivitäten oder der Predigt sein (théâtre d’activités missionaires ou de prêche), sondern
müsse die Begegnung der verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen
ermöglichen (Tz. 47c). Dem Staat erwachse daraus positiv die Verpflichtung, die
9
Consiglio di Stato, Beschluß vom 13. Februar 2006, n° 7314/2006.
Der Beschluß erging mit 5:3 Stimmen. Die tiefgreifende Spaltung des erkennenden Senats offenbaren die
pointierten Sondervotum: Den Dissens in der materiellen Rechtsfrage bekunden die Richter Seidl, Söllner und
Frau Haas (BVerfGE Bd. 93, 1 [25]); letztere hielt überdies die Verfassungsbeschwerde bereits für unzulässig
(BVerfGE Bd. 93, S. 1 [33]).
11
Die Entscheidung ist auf Französisch – einer der Amtssprachen des EGMR – abgefaßt; soweit zum besseren
Verständnis erforderlich, wird im Folgenden auf die Originalfassung Bezug genommen.
10
3
Unterrichtsinhalte „objektiv, kritisch und pluralistisch“ darzubieten und verbiete ihm negativ,
ein Ziel der Indoktrination (but d’endoctrinement) zu verfolgen, das den Eindruck
hervorrufen könnte12, die religiösen oder weltanschaulichen Ziele der Eltern nicht zu
respektieren (Tz. 47d). Der Konventionsgewährleistung der Glaubensfreiheit dagegen widmet
die Kammer nur wenige – freilich in dezidiertem Ton gehaltene – Zeilen: Dem Hinweis, die
Garantie umfasse auch die negative Komponente, wird sogleich das Diktum angeschlossen,
die Verpflichtung des Staates zur Neutralität sei unvereinbar mit seiner wie auch immer
gearteten Kundgabe bezüglich der Legitimität religiöser Überzeugungen oder deren
Ausdrucksformen. Im schulischen Bereich habe die Neutralität den Pluralismus zu
garantieren (Tz. 47e).
Aus den dergestalt zusammengestellten Maßstäben schreitet die Kammer zur konkreten
Fallentscheidung. Die wiederholende Feststellung, der Staat müsse sich in seinen
Einrichtungen jedes, auch jedes indirekten, Einflusses auf die Überzeugungen der Bürger
enthalten, verstärkt die Kammer für den schulischen Bereich: Dieser sei deshalb ein
besonders sensibles Terrain, weil es den Kindern an hinreichend kritischen Fähigkeiten noch
fehlen würde (Tz. 48). Gerade religiöse Symbole könnten, zumal wenn die große Mehrheit
der Bevölkerung einer bestimmten Religion angehöre, für anders- oder ungläubige Schüler
„Druck“ erzeugen (Tz. 50). Die Einrede der italienischen Regierung, dem Kruzifix komme
nicht ausschließlich religiöse Bedeutung zu, sondern es verkörpere die in der Geschichte und
Tradition des Landes insgesamt verkörperten Werte (Tz. 34-44 sowie 51), hält die Kammer in
einem Satz die eigene Einschätzung entgegen (la Cour considère), das Anbringen von
Kruzifixen in Schulräumen gehe über den historische Bezüge in Erinnerung rufenden
Gebrauch hinaus (Tz. 52). Demgegenüber wird der Vortrag der Beschwerdeführerin – das
Kruzifix sei Symbol der Katholischen Kirche, an deren Seite sich der Staat durch das
Anbringen in den Schulräumen stelle, was das Recht ihrer Kinder, sich nicht zum
katholischen Glauben zu bekennen, verletze – abermals breit referiert und ohne weiteres als
„nicht willkürlich“ akzeptiert (Tz. 53). Nach der Feststellung, das Kruzifix müsse als ein
auffällig religiöses Symbol klassifiziert werden (un signe extérieur fort, Tz. 54), meint die
Kammer feststellen zu können, dessen Anwesenheit in den Schulräumen könne von Schülern
aller Altersstufen nicht nur als religiöses Symbol interpretiert werden, sondern weitergehend
dahingehend verstanden werden, sie würden im Sinne einer bestimmten Religion erzogen. Für
bestimmte religiöse Schüler könne dies ermutigend, für anders- oder ungläubige Schüler
12
Hervorhebung nur hier, die Originalfassung lautet insoweit: „qui puisse être considéré comme“.
4
hingegen „emotional verstörend“ (perturbant émotionnellement) wirken. Die „negative“
Glaubensfreiheit, welche nicht auf das Fehlen von Schulgottesdiensten und
Religionsunterricht reduziert werden dürfe, sondern sich auch auf Praktiken und Symbole
beziehe, in denen sich ein Glaube, eine Religion oder der Atheismus verkörpere, verdiene
dagegen „besonderen Schutz“ (mérite une protection particulière), wenn der Staat einen
Glauben zum Ausdruck bringe und den einzelnen damit in eine Lage versetze, der er sich
nicht oder nur unter unzumutbaren Anstrengungen entziehen könne (Tz. 55). Die Anbringung
religiöser Symbole läßt sich nach Ansicht der Kammer auch nicht durch den Wunsch anderer
Eltern, die für ihre Kinder eine religiöse Erziehung wünschen, rechtfertigen. Deren
Überzeugungen müßten diejenigen anderer Eltern „berücksichtigen“ (prendre en compte).
Der Staat seinerseits müsse auf dem Gebiet des öffentlichen Erziehungswesens die
konfessionelle Neutralität wahren, da ungeachtet religiöser Überzeugungen eine allgemeine
Schulpflicht bestehe und die Schüler zu kritischem Denken anzuhalten seien. Vor diesem
Hintergrund vermag die Kammer nicht zu erkennen (La Cour ne voit pas), inwiefern die
Ausstattung der Schulräume mit einem Symbol, das verständigerweise mit dem
Katholizismus zu assoziieren sei (qu’il est raisonnable d’associer au catholicisme), zu einer
pluralistischen Erziehung beitragen könne, die zur Erhaltung einer demokratischen
Gesellschaft im Sinne der Konvention wesentlich sei (Tz. 56).
Analysiert man die Entscheidung des EGMR näher, so offenbaren sich deutlich erkennbare
Anleihen an den Kruzifix-Beschluß des BVerfG von 1995: Obgleich diese Anleihen dem
Inhalt und mitunter sogar dem Wortlaut nach evident sind, unterbleibt jede formale
Bezugnahme auf das vorbildhafte Judikat. Im einzelnen:
Die Betroffenheit der „negativen“ Glaubensfreiheit hatte das BVerfG seinerzeit daraus
abgeleitet, diese schütze nicht nur die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten
Glaubens fernzubleiben (was nicht streitig ist), sondern „beziehe“ sich „ebenfalls auf die
Symbole“, in denen sich ein Glaube darstelle. Die Glaubensfreiheit überlasse dem Einzelnen,
zu entscheiden, welche religiösen Symbole er anerkenne und verehre und welche er ablehne13.
Das BVerfG hatte weiter einen Eingriff in die so verstandene „negative“ Glaubensfreiheit mit
drei Erwägungen konstruiert, die sich der EGMR – an unterschiedlichen Stellen seiner
Begründung und ohne dies dogmatisch so zu klassifizieren – zu eigen macht: Eine
13
BVerfGE Bd. 93, S. 1 (15).
5
Eingriffslage werde vom Staat bereits durch die Kombination von allgemeiner Schulpflicht
und Ausstattung der Schulräume mit religiösen Symbolen geschaffen; die Schüler würden
„ohne Ausweichmöglichkeit mit diesem Symbol konfrontiert“ und seien damit „gezwungen
…, unter dem Kreuz zu lernen“14. Wie jetzt der EGMR hatte schon das BVerfG ein
Verständnis von Kreuz und Kruzifix als „Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten
abendländischen Kultur“ kurzerhand verworfen und ihm – unter Verweis auf zwei eher
einleitende theologische Lexika – einen (jederzeit) spezifischen religiösen Gehalt attestiert15.
Im Unterschied zum EGMR hatte das BVerfG schließlich zwar den (nicht fernliegenden)
Einwand gesehen und thematisiert, daß die Ausstattung der Schulräume mit religiösen
Symbolen den Schülern weder eine Identifizierung mit dessen Symbolgehalt noch gar Akte
der Ehrerbietung abverlange. Gleichwohl maß das BVerfG dem Kruzifix in Schulräumen
einen „appellativen Charakter“ bei, der deswegen auf die Schüler „einwirke“, da sie Personen
seien, „die aufgrund ihrer Jugend in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt sind,
Kritikvermögen und Ausbildung eigener Standpunkte erst erlernen sollen und daher einer
mentalen Beeinflussung besonders leicht zugänglich sind“16.
Denkbare gegenläufige Rechtspositionen, welche einen Eingriff in die negative
Glaubensfreiheit rechtfertigen könnten, hatte – wenngleich in deutlich vorsichtigeren
Wendungen als nun der EGMR – bereits das BVerfG nicht für durchschlagend erachtet,
nämlich den aus Art. 7 Abs. 1 GG17 fließenden staatlichen Erziehungsauftrag sowie die
positive Glaubensfreiheit der christlichen Schüler und Eltern18. Allerdings hatte sich
seinerseits das BVerfG in den (freilich nicht tragenden) Gründen des Beschlusses noch um
atmosphärische Akzeptanz seiner Entscheidung bemüht, wenn es die rechtskulturelle Prägung
auch des säkularen Gemeinwesens durch Religion im allgemeinen und Christentum im
besonderen hervorgehoben hat: „Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend
gewährleistet und sich damit selber zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet,
kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und
Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von
denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und die
christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen mag, von
überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen,
14
BVerfGE Bd. 93, S. 1 (18).
BVerfGE Bd. 93, S. 1 (19 sowie 24).
16
BVerfGE Bd. 93, S. 1 (20 f.).
17
„Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.“.
18
BVerfGE Bd. 93, S. 1 (21 ff.).
15
6
Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein. Das gilt in
besonderem Maß für die Schule, in der die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft
vornehmlich tradiert und erneuert werden. Überdies darf der Staat, der die Eltern verpflichtet,
ihre Kinder in die staatliche Schule zu schicken, auf die Glaubensfreiheit derjenigen Eltern
Rücksicht nehmen, die eine religiös geprägte Erziehung wünschen.“19
III.
Bei der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – kurz:
Europäische Menschenrechtskonvention – handelt es sich um einen regionalen
Menschenrechtspakt im institutionellen Kontext des Europarats. Seiner Rechtsnatur nach ein
völkerrechtlicher Vertrag, wurde er am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet und trat
1953 in Kraft. Gegenwärtig besteht das System der EMRK aus 47 Vertragsstaaten, in denen
gut 800 Millionen Menschen leben. Über die Einhaltung der in der Konvention verbürgten
Gewährleistungen wacht der in Straßburg ansässige EGMR, der – ebenso wie die frühere
„Europäische Kommission für Menschenrechte“ (EKMR) – eine umfangreiche Judikatur zur
Glaubens-, Gewissens- und Glaubensfreiheit (Art. 9 EMRK20) entfaltet hat21. Somit steht für
die Frage, ob und inwieweit sich die Entscheidung vom 3. November 2009 in die bisherige
Rechtsprechungspraxis einfügt, hinreichend Material zur Verfügung.
Vor diesem Hintergrund ist die bescheidene handwerkliche Qualität des Judikats um so
verwunderlicher: Schon im Ansatz fällt als erhebliches Manko negativ ins Gewicht, daß der
Entscheidung jede erkennbare inhaltliche wie argumentative Struktur fehlt. Nicht zuletzt
infolge der – auch institutionellen – Wechselbeziehung zur Rechtsprechungstätigkeit
19
BVerfGE Bd. 93, S. 1 (22).
Die Bestimmung lautet: „(1) Jedermann hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens und Glaubensfreiheit; dieses
Recht umfaßt die Freiheit des einzelnen zum Wechsel der Religion oder der Weltanschauung sowie die Freiheit,
seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat durch
Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. (2) Die Religions- und
Bekenntnisfreiheit darf nicht Gegenstand anderer als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die in
einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der
öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind.“.
21
Überblick aus dem (deutschsprachigen) Schrifttum bei C. Grabenwarter, Glaubens-, Gewissens- und
Glaubensfreiheit, in: ders., Europäische Menschenrechtskonvention. Ein Studienbuch, München, C. H. Beck,
20052, § 22 Rn. 82 ff.; H. de Wall, Von der individuellen zur korporativen Glaubensfreiheit – die
Rechtsprechung zu Art. 9 EMRK, in: J. Renzikowski (Hrsg.), Die EMRK im Privat-, Straf- und Öffentlichen
Recht. Grundlagen einer europäischen Rechtskultur, Wien, Manz, 2004, S. 237 ff.; C. Walter, Religions- und
Gewissensfreiheit, in: R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, 2006, Tübingen, Mohr
Siebeck, S. 817 ff.; zusammenfassend S. Mückl, Kommentierung zu Art. 4 GG, in R. Dolzer/C. Waldhoff/K.
Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 135. Aktualisierung, Heidelberg, C. F. Müller, August
2008, Rn 237 ff.
20
7
nationaler Verfassungsgerichte kann es heute (eigentlich) als Gemeingut einer Grund- bzw.
Menschenrechtsprüfung angesehen werden, in einer systematisch abgeschichteten Weise
vorzugehen: Jedenfalls ist deutlich danach zu trennen, ob (1.) ein bestimmtes staatliches
Handeln in den „Schutzbereich“ einer Konventionsgewährleistung eingreift sowie –
bejahendenfalls – (2.), ob ein solcher Eingriff gerechtfertigt ist. Daran fehlt es hier ebenso wie
an einer deutlichen Trennung von der Exposition der allgemeinen Maßstäbe und
fallbezogener Subsumtion. Derartige Anforderungen sind mitnichten formalistische
Schemata, sondern Garanten korrekter juristischer Methodik wie beständiger argumentativer
Selbstvergewisserung. Sie außer acht zu lassen, mag „Kreativität“ fördern – einer rechtlich
nachvollziehbaren und Rechtsfrieden schaffenden Entscheidung dient es hingegen nicht.
Vor die Klammer gezogen, verdient ein weiterer kritischer Aspekt Aufmerksamkeit. Daß der
EGMR im Sinne einer „gemeineuropäischen Grundrechtsentwicklung“ auch die
Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte einbezieht, ist nur zu begrüßen. Freilich muß
sich ein supranationales Gericht dabei stets der Begrenztheiten derartiger nationaler
Entscheidungen – zumal ihrer Verwurzelung in einem spezifischen verfassungsrechtlichen
Rahmen – bewußt sein. Mit der schlichten Übertragung der von einem nationalen
Verfassungsgericht gewonnenen Erkenntnisse ist es nicht getan (denn warum sollte nur
dessen Rechtsüberzeugung in einem supranationalen Rechtskontext maßgeblich sein?). Die
bloße Indienstnahme geliehener Amtsautorität erweist sich als um so problematischer, wenn
die materielle Autorität derartiger Erkenntnisse keineswegs unbestritten ist. Bekanntlich hat
der Kruzifix-Beschluß des BVerfG in der Fachöffentlichkeit weit überwiegend massive bis
vernichtende Kritik erfahren. Schon aus diesem Grund wäre zu erwarten gewesen, daß der
EGMR diese wissenschaftliche Kritik zur Kenntnis nimmt und unter ihrer Verarbeitung zu
einer argumentativ stringenten Entscheidung gelangt. Bedauerlicherweise ist all dies
erkennbar nicht geschehen. Pointiert formuliert: Sämtliche Schwachstellen des KruzifixBeschlusses finden sich auch in der Entscheidung des EGMR wieder, und dies zu weiten
Teilen in verschärfter und vergröberter Form. Im einzelnen:
Ebenso zutreffend wie unbestritten ist, daß Grundrechte auch eine negatorische
(terminologisch korrekter als die verbreitete Rede von einer „negativen“) Komponente
aufweisen. Speziell für die Glaubensfreiheit haben dies die Konventionsorgane – EKMR und
EGMR – bereits frühzeitig ausgesprochen und (zu Recht) betont, diese schütze den einzelnen
davor, „gegen seinen Willen unmittelbar in religiöse Aktivitäten einer Religionsgemeinschaft
8
einbezogen zu werden, ohne Mitglied … zu sein“22. Indes bewirkt oder bezweckt eine
visuelle „Konfrontation“ nichts – vor allem kein eigenes Bekenntnis, sei es affirmativer oder
ablehnender Art. In einer älteren Entscheidung hatte das deutsche BVerfG diesen Aspekt sehr
wohl gesehen23; der Kruzifix-Beschluß ging darüber mit einem Satz, der bloße Behauptung
bleibt, hinweg: Die negative Glaubensfreiheit „beziehe“ sich „ebenfalls“ auf die Symbole, in
denen sich ein Glaube oder eine Religion darstelle. Bereits diese Weichenstellung war in der
wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Kruzifix-Beschluß auf wohlbegründete
Kritik gestoßen24. Um so erstaunlicher ist es, wenn nunmehr der EGMR sich auf die schlichte
Übernahme jener Behauptung beschränkt und noch nicht einmal den Versuch einer
argumentativen Absicherung unternimmt. Der gleiche Fehlschluß, dem BVerfG wie nun der
EGMR unterliegen, besteht in einem unzutreffenden Verständnis der negatorischen
Dimension der Grundrechte25: Diese berechtigt zur eigenen Nichtbetätigung und
Verweigerung, nicht aber dazu, die (grundrechtlich geschützte) Betätigung anderer zu
unterbinden – sie gewährleistet Entsagung, deckt aber nicht die Untersagung26. Ebenso wenig
läßt sich ihr ein (gleich in welcher Richtung wirkender) Konfrontationsschutz entnehmen27:
Weder hat der Gläubige ein Recht darauf, nicht durch Manifestationen des Unglaubens
verunsichert zu werden, noch ist der Ungläubige von Rechts wegen vor der Begegnung mit
dem Glauben gefeit. Unter Rekurs auf die „negative“ Komponente der Glaubensfreiheit eine
„religionslose“ Umgebung reklamieren zu wollen ist schon im Ansatz verkehrt, unabhängig
davon, ob das Unterlassen von Glockengeläut und Muezzin-Ruf, das Abhängen von Kreuz
und Kruzifix oder das Ablegen des Kopftuchs einer muslimischen Lehrerin begehrt werden.
Gleichfalls nicht zu überzeugen vermögen die Erwägungen zum Grundrechtseingriff. Das
BVerfG hatte diesen Prüfungspunkt im Kruzifix-Beschluß noch als solchen thematisiert und
EGMR, in: EuGRZ 1990, S. 410 (411), Tz. 51 – Darby/Schweden (Veranlagung eines Nichtmitglieds zur
Kirchensteuer); EGMR, in: EuGRZ 1976, S. 478 (485), Tz. 53 – Kjeldsen/Dänemark (Verbot religiöser oder
weltanschaulicher Indoktrination in der staatlichen Schule); EGMR, in: NJW 1999, S. 2957 – Buscarini/San
Marino (Ableistung des religiösen Amtseides durch Amtsträger).
23
BVerfGE Bd. 35, S. 366 (375): „(D)as bloße Vorhandensein eines Kreuzes verlangt … weder eine eigene
Identifizierung mit den darin symbolhaft verkörperten Idealen noch ein irgendwie geartetes aktives Verhalten“.
24
J. Isensee, Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation. Der Kruzifix-Beschluß des BVerfG, in: ZRP 1996, S.
10 ff.; D. Merten, Der „Kruzifix-Beschluß“ des Bundesverfassungsgerichts aus grundrechtsdogmatischer Sicht,
in; J. Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München, C.
H. Beck, 1997, S. 987 ff.
25
Zum folgenden bereits Mückl (FN 21), Art. 4 Rn. 123.
26
Allgemein zur Grundrechtsdogmatik D. Merten, Negative Grundrechte, in: ders./H.-J. Papier (Hrsg.),
Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa (HGR), Bd. II, Heidelberg, C. F. Müller, 2006, § 42 Rn.
75; speziell zur Glaubensfreiheit M. Heckel, Glaubensfreiheit, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV,
Tübingen, Mohr Siebeck, 1997, S. 647 (771).
27
Ganz ähnlich H. Bethge, Mittelbare Grundrechtsbeeinträchtigungen, in: HGR (FN 26), Bd. III, 2009, § 58 Rn.
66, 101.
22
9
das Vorliegen eines Eingriffs der Sache nach aufgrund des Zusammenwirkens dreier Faktoren
(keine Ausweichmöglichkeit, genuin religiöser Charakter des Symbols, „appellativer
Charakter“) angenommen. Der EGMR seinerseits greift jene Faktoren zwar nahezu wörtlich
auf, läßt aber im Unklaren, welche rechtliche Relevanz er seinen Erwägungen beigemessen
wissen will. Inhaltlich stehen diese, im einen wie im anderen Fall, auf kaum belastbarem
Fundament: Selbst wenn im Einzelfall gegenüber einem Symbol keine Ausweichmöglichkeit
bestehen sollte, würde der durch die negative Glaubensfreiheit geschützte Freiheitsbereich –
dessen Einschlägigkeit unterstellt – nicht berührt. Der Symbolbetrachter wird nicht zur
Annahme oder Billigung des Symbolgehalts angehalten, ja noch nicht einmal zu überhaupt
einer Stellungnahme28. Hinzu kommt, daß der Symbolgehalt mitnichten so einfach zu
bestimmen ist, wie es sich BVerfG und EGMR machen. Selbstverständlich kommt dem
Kruzifix eine spezifisch religiöse Bedeutung zu – im genuin kirchlichen, zumal sakralen und
liturgischen, Kontext. Doch seiner Natur nach ist ein Symbol eine Chiffre, die erst der
Auflösung bedarf – und diese Auflösung kann je nach Kontext eine durchaus unterschiedliche
sein. Daher ist es kurzschlüssig, einem Symbol in verschiedenen
Verwendungszusammenhängen monokausal ein- und denselben Symbolgehalt unterschieben
zu wollen29 – ganz abgesehen davon, daß dies aufgrund des ohne weiteres akzeptierten
Parteivortrags der Beschwerdeführerin abermals bloß behauptet wird („das Gericht ist der
Auffassung“) und weiter abgesehen von dem Umstand, daß eine einseitige religiöse Deutung
objektiv mehrdeutiger Symbole seitens staatlicher resp. supranationaler Organe sub specie des
Prinzips der religiös-weltanschaulichen Neutralität der öffentlichen Gewalt überaus
problematisch ist. Schließlich verharrt auch der dritte von BVerfG und EGMR ausgemachte
Faktor – der vorgebliche „appellative Charakter“ des Kruzifixes – im Bereich der bloßen
These. Selbst wenn man schon die Präsenz eines Kruzifixes in Schulräumen so verstehen
möchte, bliebe sie bloßer Appell. In seinem Wesen liegt es, daß er zu nichts bestimmt – eine
Rückäußerung des Symbolbetrachters wird weder gefordert noch erwartet, weder im positiven
noch im negativen Sinn. Worin dann aber eine reale Freiheitseinbuße liegen soll, ist
unerfindlich. Die – wohl zur Erhärtung jenes „appellativen Charakters“ – angefügten
Besorgnisse um die kindliche Psyche („in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt“, „einer
mentalen Beeinflussung besonders leicht zugänglich“, Gefahr einer „emotionalen
Verstörung“) entbehren nicht nur jeglichen Belegs, sondern werden schon durch die
28
Zutreffend herausgestellt bei S. Cañamares Arribas (FN 5), S. 1 (6 f.).
Weitere Beispiele aus der deutschen Staatspraxis: Die deutschen Streitkräfte führen als Hoheitszeichen u.a.
das Eiserne Kreuz; der vom deutschen Bundespräsidenten in verschiedenen Stufen gestiftete Orden zur
Würdigung von Verdiensten um das Gemeinwohl heißt Bundesverdienstkreuz. – Soweit ersichtlich, hat bislang
niemand (ernsthaft) behauptet, der Staat mache sich damit unzulässigerweise religiöse Überzeugungen zu eigen.
29
10
Schulpraxis hinreichend widerlegt: Weder aus Bayern noch aus Italien sind je durch das
Kruzifix in Schulräumen bewirkte Bekehrungen bekannt geworden.
Die schwerwiegendsten, schon handwerklichen, Mängel weist die Entscheidung des EGMR
schließlich auf der Prüfungsebene der Rechtfertigung eines Eingriffs auf. Eine derartige
Rechtfertigung ist nach der längst gefestigten Rechtsprechung des EGMR unter drei
Voraussetzungen möglich: Vorhandensein einer gesetzlichen Grundlage für den Eingriff,
dessen Legitimation durch eines der enumerativ benannten Eingriffsziele (öffentliche
Sicherheit, Ordnung, Gesundheit oder Moral, Schutz der Rechte und Freiheiten anderer)
sowie Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit („in einer demokratischen
Gesellschaft notwendig“). Gleichfalls ist es ständige Rechtsprechung des EGMR, daß den
Vertragsstaaten sowohl bei der Prüfung des legitimen Eingriffsziels wie der
Verhältnismäßigkeit ein Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) zukommt30, in
welchen zulässigerweise auch nationale Ordnungsvorstellungen und namentlich die
jeweiligen staatskirchenrechtlichen Gegebenheiten einfließen können. Diesen
Beurteilungsspielraum zugunsten der Vertragsstaaten hat der EGMR regelmäßig respektiert
und es nicht unternommen, seine eigene Einschätzung an die Stelle derjenigen der regelmäßig
sachnäheren nationalen Instanzen zu setzen – einerlei, ob sie eher zugunsten31 oder zu
Lasten32 der Glaubensfreiheit ausgefallen ist.
Von alledem findet man in der Entscheidung des EGMR – nichts. Allein ein gegenläufiger
Belang, der für das Anbringen von Kruzifixen sprechen könnte (der entsprechende Wunsch
religiös eingestellter Eltern), findet sich – ohne nähere Zuordnung zum Prüfungsraster der
Eingriffsrechtfertigung (korrekt: Schutz der Rechte und Freiheiten anderer) – kurz referiert
und binnen weniger Zeilen dezidiert verworfen. Selbst wann man bis zu dieser Stelle den
Annahmen der Kammer folgen wollte, stellt sich doch das Verhältnis zwischen negatorischer
und positiver Glaubensfreiheit als bei weitem komplexer dar, als die Kammer glauben
machen will. Die unscheinbare Wendung, religiös eingestellte Eltern müßten die
Überzeugungen anderer Eltern „berücksichtigen“, räumt letzteren – jedenfalls im
Grdl. EGMR, in: EuGRZ 1977, S. 38 (40 ff.), Tz. 47 ff. – Handyside/Vereinigtes Königreich; dazu näher aus
dem Schrifttum S. Prebensen, The Margin of Appreciation and Articles 9, 10 and 11 of the Convention, in:
Human Rights Law Journal 19 (1998), pp. 13 ss.
31
EGMR, in: Österreichische Juristenzeitung 1995, S. 154 – Otto-Preminger-Institut/Österreich (zulässiges
Einschreiten gegen blasphemischen Film zum Schutz des religiösen Friedens).
32
EGMR, in: Reports of Judgements and Decisions 1997-IV, 199 – Kalaç/Türkei (Zwangspensionierung eines
Richters wegen „anti-laizistischen Verhaltens“); sowie die bereits zitierten Fälle Dahlab/Schweiz (FN 1) sowie
Şahin/Türkei (FN 2).
30
11
Argumentationsduktus der Kammer – in der Sache eine Vetoposition ein. Gänzlich verfehlt
ist es, wenn sogleich im nächsten Satz diese Pflicht zur Berücksichtigung als Ausfluß der
konfessionellen Neutralität des Staates präsentiert wird33. Schließen zwei Optionen einander
aus, ist es schon logisch wie semantisch schlichtweg falsch, die Wahl einer dieser Optionen
als „neutral“ auszugeben34. Wie schon das BVerfG in seinem Kruzifix-Beschluß, verkennt
nun auch der EGMR, daß die negative Glaubensfreiheit gerade kein „Obergrundrecht … zur
Verhinderung von Religion“ beinhaltet35. Grundrechtskonflikte sind nicht einseitig im Wege
der „Intoleranz der Negation“36 durch „laizistische Eliminierung“37 zu lösen.
Das wohl größte Manko der Entscheidung liegt darin, daß der den Vertragsstaaten zustehende
Einschätzungsspielraum – obgleich von der italienischen Regierung ausdrücklich vorgetragen
(Tz. 38) – in den Entscheidungsgründen mit keiner einzigen Silbe erwähnt wird: Die Art und
Weise, mit der eine Kammer des EGMR nicht nur die ständige Rechtsprechung des
Gerichtshofs ignoriert, sondern zudem auch ihre sehr speziellen Überzeugungen autoritativ an
die Stelle der nationalen Instanzen dekretiert (La Cour ne voit pas), ist ohne Vorbild in der
bisherigen Rechtsprechungstätigkeit der Organe der EMRK.
IV.
Die Wirkungen der Entscheidung werden – selbst wenn diese endgültig werden sollte – sehr
begrenzt bleiben. Ein endgültiges Urteil vermag allein die Große Kammer des EGMR
auszusprechen (Art. 44 Abs. 1 EMRK); der betroffene Vertragsstaat (hier also Italien) wäre
völkerrechtlich verpflichtet, es zu befolgen (Art. 46 Abs. 1 EMRK). Allerdings bestünde die
Rechtskraftwirkung ausschließlich inter partes (sog. subjektive Grenze des
Streitgegenstands), also im Verhältnis zum am Prozeßrechtsverhältnis beteiligten
Beschwerdeführer. Allein ihm gegenüber wäre Italien verpflichtet, eine vom EGMR
festgestellte Konventionsverletzung zu beenden sowie Wiedergutmachung zu leisten38.
Beides wäre hier aus tatsächlichen Gründen nicht möglich, da die beiden Söhne der
33
Berechtigte Kritik hieran auch bei S. Cañamares Arribas (FN 5), S. 1 (10).
Zur Erinnerung: Das dem Fremdwort „Neutralität“ zugrunde liegenden Adjektivs neuter, neutrum bedeutet:
keiner von beiden, keines von beiden. – Brillante Kritik an derartigen Fehlverständnissen bei J. H. H. Weiler, Ein
christliches Europa. Erkundungsgänge, Salzburg – München, Anton Pustet, 2004, S. 34 f. (italienische
Originalausgabe: Un’Europa cristiana. Un saggio esplorativo, BUR Saggi, Milano, 2003).
35
Richtig BVerfGE Bd. 93, S. 1 (25, 32) – Sondervotum der Richter Seidl, Söllner und Frau Haas.
36
M. Heckel, Kirchen unter dem Grundgesetz, in: VVDStRL Bd. 26 (1968), S. 14 (50, Leitsatz 12).
37
M. Heckel, Vom Religionskonflikt zur Ausgleichsordnung. Der Sonderweg des deutschen Staatskirchenrechts
vom Augsburger Religionsfrieden 1555 bis zur Gegenwart, Tübingen, Mohr Siebeck, 2007, S. 59.
38
Näher J. Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte, Berlin – Heidelberg, Springer, 1993, S. 93 ff., 97 ff.
34
12
Beschwerdeführerin längst nicht mehr eine Schule besuchen39. Eine allgemein verbindliche
Wirkung haben die endgültigen Urteile des EGMR hingegen nicht.
Indes scheint die Kammer ihrem Judikat darüber hinausgehend eine Art „Pionier-Rolle“
beimessen zu wollen, um ein ihr angemessen erscheinendes Verhältnis von Staat und Kirche
oder, allgemeiner formuliert, öffentlicher Gewalt und Religion zu befördern. Jedenfalls deutet
die selbstbewußte Setzung einer recht einseitigen Laizismus-Konzeption, die – unter
Ausblendung jeglicher anderweitigen Sichtweise – als schon beinahe naturrechtlich
vorgegeben insinuiert wird, in diese Richtung40. Damit nähert sich die Kammer bedenklich
den „roten Linien“, welche die EMRK zieht und bringt ihre Entscheidung in die prekäre Nähe
eines ultra vires-Aktes. Denn die Kammer verkennt von Grund auf, daß die EMRK gerade
keine Einheitsordnung auf dem sensiblen Terrain des Staat-Kirche-Verhältnisses errichtet hat
und errichten wollte. Dieses Beziehungsgefüge ist so sehr von den historisch-kulturellen
Gegebenheiten eines jeden Vertragsstaates abhängig, daß es schon aufgrund der tatsächlichen
Umstände der Größe und Vielfalt des „Vertragsraums“ der EMRK schlicht vermessen wäre,
allein ein maßgebliches System ausfindig machen zu wollen. Die bisherige Linie der
Rechtsprechung der Konventionsorgane hat hier eine kluge (und, in Erkennung der
immanenten Begrenztheiten supranationaler Organe, demütige) Linie der Zurückhaltung
verfolgt, nationale Entscheidungen hinsichtlich eines spezifischen Zuordnungsverhältnisses
von Staat und Kirche zu respektieren41. Letztlich maßt sich die Kammer die Rolle eines
gesamteuropäischen Gesetzgebers an, indem sie eine ihrer Auffassung nach „richtige“, und
daher allgemeingültige, Positionsbestimmung in die Form einer – naturgemäß nur den
konkreten Einzelfall betreffenden – gerichtlichen Entscheidung kleidet.
Mit einem derartigen Anspruch überhebt sich aus funktionalrechtlichen Gründen ein jedes
Gericht, bereits unabhängig von allen inhaltlichen Erwägungen. Derart fundamentale
(Richtungs-)Entscheidungen bedürfen, um Akzeptanz zu finden, jedenfalls der hinreichenden
vorhergehenden öffentlichen Diskussion mit dem Austausch der jeweiligen Sachargumente.
39
Eine Wiedergutmachung wäre grundsätzlich auf Naturalrestitution gerichtet. Nur für den Fall, daß diese aus
Gründen des innerstaatlichen Rechts nicht möglich wäre, könnte der EGMR eine gerechte Entschädigung
zusprechen (Art. 41 EMRK). – Gleichwohl hat hier die Kammer der Beschwerdeführerin eine Entschädigung für
„moralischen Schaden“ in Höhe von 5.000 € zuerkannt und dies auf die erstaunliche Erwägung gestützt, die
italienische Regierung habe sich nicht dazu bereiterklärt, die gesetzlichen Bestimmungen hinsichtlich des
Anbringens von Kruzifixen in Schulräumen zu überprüfen. Die Vereinbarkeit dieser recht eigenwilligen Exegese
mit Art. 41 EMRK mag hier aber auf sich beruhen.
40
S. zudem die vorstehende Fußnote.
41
Nach EKMR, in: Decisions and Reports/Décisions et Rapports Bd. 5, S. 157, verbietet Art. 9 EMRK noch
nicht einmal das System einer Staatskirche in einem Vertragsstaat.
13
In einem rechtsförmigen Verfahren vor Gericht ist dies schon dann schwer zu
bewerkstelligen, wenn die Öffentlichkeit in Gestalt einer mündlichen Verhandlung und durch
die Kenntnisnahme der vorgebrachten Rechtsstandpunkte Kenntnis nehmen konnte. Nicht
einmal diese minimalen Anforderungen wurden hier gewahrt: Die Entscheidung der Kammer
erging als Beschluß – also ohne mündliche Verhandlung –; die Entscheidung ist nach
Monaten unverändert nur auf Französisch zugänglich (und damit noch nicht einmal den
Interessenten aus dem betroffenen Vertragsstaat – geschweige denn, trotz offenkundiger
gesamteuropäischer Relevanz, denen aus anderen Staaten – ohne weiteres zugänglich). Daß
unter derartigen Umständen eine gerichtliche Entscheidung Akzeptanz finden kann, worin die
entscheidende tatsächliche Voraussetzung für das wesentliche Ziel jeder Rechtsprechung,
nämlich: Rechtsfrieden zu schaffen, liegt, ist nicht zu erwarten. Gerade auf diese Akzeptanz
ist aber ein Gericht bei der Entscheidung in kontroversen Fragen essentiell angewiesen;
gerade hier sind seine stärksten „Waffen“ die in jeder Hinsicht transparente Gestaltung des
Verfahrens und das Gewicht des inhaltlichen Arguments. In beidem hätte die Kammer des
EGMR durch die Erfahrungen des BVerfG von 1995 gewarnt sein müssen42.
Manches spricht dafür, daß die jetzige Entscheidung auch das Schicksal ihres Vorläufers
teilen könnte – die überaus begrenzte praktische Relevanz. Nach dem Kruzifix-Beschluß
wurden in Bayern nur in wenigen Fällen tatsächlich die Kruzifixe und Kreuze aus den
Klassenzimmern entfernt (nicht zuletzt aufgrund der ausgewogenen Änderung des
Schulrechts, mit dem der bayerische Gesetzgeber auf die seinerzeitige Entscheidung reagiert
hatte43). In Anbetracht der sehr dezidierten Reaktionen in der italienischen Politik und der
Bevölkerung steht Ähnliches für die Rezeption der Entscheidung des EGMR zu erwarten.
Das leitet zu einem letzten Aspekt: Den wirklichen Schaden dieser Entscheidung wird nicht
der italienische Staat und auch nicht das Kruzifix haben, sondern der EGMR selbst sowie die
europäische Idee. Eine einzige Kammer hat hier die Autorität des gesamten Gerichtshofs aufs
Spiel gesetzt – eine Autorität, auf die der EGMR in anderen Fällen, in denen (in des Wortes
wirklicher Bedeutung) Menschenrechtsverletzungen in Rede stehen, elementar angewiesen
42
Auch das BVerfG hatte seinerzeit ohne mündliche Verhandlung entschieden, die wenig überzeugend
abgefaßten Entscheidungsgründe haben die erwähnte heftige Kritik aus der Wissenschaft provoziert, ein dem
Beschluß vorangestellter Leitsatz mußte gar (ein Novum in der Geschichte des Gerichts) durch nachträgliche
Erläuterung des Senatsvorsitzenden „präzisiert“ werden.
43
Sog. „Widerspruchsregelung“ in Art. 7 Abs. 3 des Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes:
Grundsätzlich wird in den Schulräumen ein Kruzifix oder Kreuz angebracht. Wird seitens der Eltern oder
Schüler aus nachvollziehbaren Gründen widersprochen, hat sich der Schulleiter um eine angemessene Lösung zu
bemühen, die dann – je nach Umständen des Einzelfalls – auch zur Entfernung des Symbols führen kann. –
Diese Regelung hat BVerwGE Bd. 109, S. 40, als verfassungsgemäß gebilligt.
14
ist. Und auch der Gedanke der europäischen Einigung hat weiteren Schaden genommen, wird
doch so „Europa“ (unbeschadet, daß hier nicht das Handeln eines Organs der – ihrerseits
kaum noch populären – Europäischen Union, sondern des Europarats in Rede steht) einmal
mehr als Gefährdung mitgliedstaatlicher Traditionen und Souveränität wahrgenommen.
So beträchtlich der bereits entstandene Schaden auch ist, ist er gleichwohl noch reparabel:
Auf Antrag Italiens hat der Gerichtshof mittlerweile, am 2. März 2010, die Rechtssache an die
Große Kammer verwiesen. Bei der nun anstehenden neuen Verhandlung und Entscheidung44
bleibt nun das nachzuholen, was im ersten Durchgang versäumt wurde – die Besinnung auf
die Rolle eines supranationalen Gerichtshofs, die am Wortlaut der EMRK und an der
ständigen Rechtsprechung orientierte Exegese der Glaubensfreiheit, die rechtsprechende (und
nicht rechtschaffende) Anwendung auf den zu entscheidenden Fall und nicht zuletzt das
prozedurale Bemühen, eine akzeptanzfähige Entscheidung zu treffen.
44
Zur Entscheidungsfindung sind nunmehr 17 Richter berufen. Den Statuten entsprechend, rechnet von den am
Verfahren vor der Kammer beteiligten Richtern nur der Vorsitzende sowie das Mitglied aus dem betroffenen
Vertragsstaat dazu. Da der italienische Richter inzwischen ausgeschieden und durch einen Nachfolger ersetzt ist,
wird vor der Großen Kammer nur noch ein Mitglied des Ausgangsverfahrens mitwirken.
15
Herunterladen