KRUZIFIXE IN SCHULRÄUMEN ALS MENSCHENRECHTSVERLETZUNG? Professor Dr. Stefan Mückl, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. I. Gerichtliche Auseinandersetzungen über die Zulässigkeit religiöser Symbole in der öffentlichen Schule können der Aufmerksamkeit nicht nur der juristischen Fach-, sondern auch der allgemeinen Öffentlichkeit stets gewiß sein. Derartige Verfahren werden – mit überaus unterschiedlichem Ausgang – seit knapp zwei Jahrzehnten nicht nur vor den nationalen (Verfassungs-)Gerichten, sondern vermehrt auch vor europäischen Spruchkörpern geführt. Kontroverser Beurteilung unterfallen insbesondere zwei Sachverhalte: Die Zulässigkeit der Ausstattung der Unterrichtsräume mit religiösen Symbolen (bisher: durchweg mit einem Kreuz bzw. einem Kruzifix) sowie die Statthaftigkeit der Verwendung religiöser Symbole durch die am Unterricht beteiligten Personen (zumeist: das Tragen eines Kopftuches durch Frauen – wobei es rechtlich einen gewichtigen Unterschied macht, ob die Trägerin eine Lehrkraft1 oder aber eine Schülerin2 ist). Die Entscheidung der 2. Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 3. November 2009 in der Rechtssache Lautsi gegen Italien betritt also keineswegs Neuland. Auf nationaler Ebene hatten bereits das Schweizerische Bundesgericht (1990)3 und das deutsche Bundesverfassungsgericht (1995)4 über vergleichbare Konstellationen zu befinden gehabt. Speziell die letztgenannte Entscheidung hatte in Deutschland einen bis dahin Die in den Fußnoten verwendeten Abkürzungen folgen den juristischen Gepflogenheiten: BGE (Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts); BVerfG (Bundesverfassungsgericht); BVerfGE (Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts); BVerwGE (Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts); EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte); EKMR (Europäische Kommission für Menschenrechte); EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention); EuGRZ (Europäische Grundrechte-Zeitschrift); GG (Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland); NJW (Neue Juristische Wochenschrift); SchwBGer (Schweizerisches Bundesgericht); VVDStRL (Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer); ZaöRV (Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht); ZRP (Zeitschrift für Rechtspolitik). 1 SchwBGer, in: BGE Bd. 123 II, S. 296, hat ein behördliches Kopftuch-Verbot gegenüber einer muslimischen Lehrerin bestätigt. Diese Entscheidung steht nach EGMR, in: NJW 2001, S. 2871 (Dahlab/Schweiz), mit der EMRK im Einklang. – Dagegen hat das BVerfGE Bd. 108, S. 282, ein derartiges Kopftuchverbot – zumindest ohne spezialgesetzliche Grundlage – für verfassungswidrig erklärt. 2 Die Problematik stellt sich mit einer gewissen Schärfe vor allem in Frankreich. Dort hatte bereits 1994 der Conseil d’État ein die nachfolgende Praxis prägendes Rechtsgutachten vorgelegt, dazu näher P. Rädler, Glaubensfreiheit und staatliche Neutralität an französischen Schulen, in: ZaöRV Bd. 56 (1996), S. 353. – Verwandt ist die Konstellation eines an Hochschul-Studentinnen gerichtetes Kopftuch-Verbots, wie es in der Türkei gilt: Türkisches Verfassungsgericht, in: EuGRZ 1990, S. 146; der EGMR sah im 2004/2005 entschiedenen Fall Şahin/Türkei (in: EuGRZ 2005, S. 31 [Kammer] sowie in: EuGRZ 2006, S. 28 [Große Kammer]) darin keinen Verstoß gegen die Glaubensfreiheit. 3 SchwBGer, in: BGE Bd. 116 Ia, S. 352. 4 BVerfGE Bd. 93, S. 1. 1 gänzlich unbekannten Sturm der Ablehnung und Empörung in weiten Teilen der Öffentlichkeit ausgelöst. Nicht anders verliefen die Reaktionen auf den Straßburger Spruch vom November 2009 – sowohl im betroffenen Staat selbst wie auch auf europäischer Ebene haben (über alle politischen Grenzen) hinweg Unverständnis und zum Teil überaus heftige Kritik vorgeherrscht5. Die Entscheidungen des BVerfG von 1995 wie des EGMR von 2009 haben nicht nur vergleichbare Reaktionen hervorgerufen, sondern weisen sowohl von den tatsächlichen Umständen des Falles wie vom Duktus des erkennenden Gerichts erkennbare Ähnlichkeiten auf. So liegt es nahe, bei der Analyse des Spruchs des EGMR in der Rechtssache Lautsi gegen Italien auch den vorgängigen Beschluß des BVerfG mit einzubeziehen (II.). Diesem ersten Schritt hat die Untersuchung zu folgen, ob und inwieweit sich diese Entscheidung in das System der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) im allgemeinen und der bisherigen Rechtsprechungspraxis des EGMR zur Gewährleistung der Gedanken-, Gewissens- und Glaubensfreiheit (Art. 9 EMRK) im besonderen einfügt (III.). Schließlich sind Folgewirkungen auf das Verhältnis von Staat und Kirche – bzw. allgemeiner – Religion in den Vertragsstaaten der EMRK zu bedenken (IV.). II. Die Rechtssache Lautsi gegen Italien nahm ihren Anfang im Schuljahr 2001-2002 in einer öffentlichen Schule in der Provinz Padua: Die aus Finnland stammende Mutter6 zweier schulpflichtiger, seinerzeit 11 und 13 Jahre alten Jungen, verlangte die Entfernung der in den Klassenräumen angebrachten Kruzifixe. Dieses Ansinnen begründete sie mit dem „Prinzip der Laizität“, nach dem sie ihre Kinder erzogen wissen wollte, und verwies zur Abstützung ihrer Position auf eine Entscheidung des Italienischen Kassationsgerichtshofs aus dem Jahr 20007, demzufolge die Anbringung von Kruzifixen in den Wahllokalen8 zur Durchführung der staatlichen Wahlen mit dem verfassungsgesetzlichen Prinzip der Laizität des Staats 5 Fundierte juristische Würdigung bei S. Cañamares Arribas, La Cruz de Estrasburgo. En torno a la sentencia Lautsi v. Italia, del Tribunal Europeo de Derechos Humanos, in: Revista General de Derecho Canónico y Derecho Eclesiástico del Estado 22 (2010), S. 1 ff. 6 Zu einer der Merkwürdigkeiten des Falles rechnet der Umstand, daß als Beschwerdeführerin allein die Mutter (in ihrem Namen wie dem ihrer beiden Söhne) auftritt – nicht aber der (mit der Beschwerdeführerin auch verheiratete) Vater, obschon er im gesamten Zeitraum des Rechtsstreits mit der Familie zusammenlebte und auch ihm das elterliche Sorgerecht für die Söhne zustand. 7 Corte Costituzionale, Beschluß vom 1. März 2000, n° 4273. 8 Im Tatsächlichen dürfte es sich um dieselben Räumlichkeiten gehandelt haben, dienen doch auch Schulräume als Wahllokale (in denen vermutlich die vorhandenen Kruzifixe am Wahltag nicht eigens entfernt wurden). 2 unvereinbar sei. Im Laufe des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ergänzte die Beschwerdeführerin ihr Vorbringen, indem sie auf eine – angebliche – Verletzung des Prinzips der Unparteilichkeit der öffentlichen Verwaltung sowie des elterlichen Erziehungsrechts abhob. Der innerstaatliche Rechtsschutz hatte indes keinen Erfolg; im Jahr 2006 entschied der italienische Staatsrat, die Glaubensfreiheit sei nicht verletzt, da das Kruzifix nicht nur ein religiöses Symbol sei, sondern auch die säkularisierten Werte (valeurs laïques) der italienischen Verfassung verkörpere9. Der Sachverhalt in der Rechtssache Lautsi entspricht im Wesentlichen der Konstellation, welche zum Kruzifix-Beschluß des BVerfG geführt hatte: Dort wandte sich ein Elternpaar aus der bayerischen Oberpfalz, das der anthroposophischen Weltanschauung nach der Lehre Rudolf Steiners anhing, sowohl im eigenen Namen wie dem ihrer drei minderjährigen Kinder gegen die Ausstattung der von diesen frequentierten Schulräume. Sie rügten, durch die Darstellung eines „sterbenden männlichen Körpers“ würde auf ihre Kinder im Sinne des Christentums eingewirkt, was ihren Erziehungsvorstellungen und ihrer Weltanschauung (sowie derer ihrer Kinder) zuwiderlaufe. Während der Rechtsweg vor den bayerischen Verwaltungsgerichten durchweg erfolglos blieb, erkannte hingegen der Erste Senat des BVerfG auf die Verfassungsbeschwerde der Elternpaars mehrheitlich10 einen Verstoß gegen das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes [GG]) sowie gegen die („negative“) Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG). In seiner rechtlichen Bewertung formuliert der EGMR11 in überaus knapper Form „allgemeine Grundsätze“ (Tz. 47), die er sodann – auf gut doppeltem Raum – auf den Fall anwendet (Tz. 48-58). Hinsichtlich der grundsätzlichen Maßstäbe legt die Kammer einen erkennbaren Schwerpunkt auf das elterliche Erziehungsrecht (Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK). Dieses verlange ein schulisches Umfeld, welches sich als offen und die Integration fördernd erweisen müsse. Die Schule dürfe keine Schaubühne missionarischer Aktivitäten oder der Predigt sein (théâtre d’activités missionaires ou de prêche), sondern müsse die Begegnung der verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen ermöglichen (Tz. 47c). Dem Staat erwachse daraus positiv die Verpflichtung, die 9 Consiglio di Stato, Beschluß vom 13. Februar 2006, n° 7314/2006. Der Beschluß erging mit 5:3 Stimmen. Die tiefgreifende Spaltung des erkennenden Senats offenbaren die pointierten Sondervotum: Den Dissens in der materiellen Rechtsfrage bekunden die Richter Seidl, Söllner und Frau Haas (BVerfGE Bd. 93, 1 [25]); letztere hielt überdies die Verfassungsbeschwerde bereits für unzulässig (BVerfGE Bd. 93, S. 1 [33]). 11 Die Entscheidung ist auf Französisch – einer der Amtssprachen des EGMR – abgefaßt; soweit zum besseren Verständnis erforderlich, wird im Folgenden auf die Originalfassung Bezug genommen. 10 3 Unterrichtsinhalte „objektiv, kritisch und pluralistisch“ darzubieten und verbiete ihm negativ, ein Ziel der Indoktrination (but d’endoctrinement) zu verfolgen, das den Eindruck hervorrufen könnte12, die religiösen oder weltanschaulichen Ziele der Eltern nicht zu respektieren (Tz. 47d). Der Konventionsgewährleistung der Glaubensfreiheit dagegen widmet die Kammer nur wenige – freilich in dezidiertem Ton gehaltene – Zeilen: Dem Hinweis, die Garantie umfasse auch die negative Komponente, wird sogleich das Diktum angeschlossen, die Verpflichtung des Staates zur Neutralität sei unvereinbar mit seiner wie auch immer gearteten Kundgabe bezüglich der Legitimität religiöser Überzeugungen oder deren Ausdrucksformen. Im schulischen Bereich habe die Neutralität den Pluralismus zu garantieren (Tz. 47e). Aus den dergestalt zusammengestellten Maßstäben schreitet die Kammer zur konkreten Fallentscheidung. Die wiederholende Feststellung, der Staat müsse sich in seinen Einrichtungen jedes, auch jedes indirekten, Einflusses auf die Überzeugungen der Bürger enthalten, verstärkt die Kammer für den schulischen Bereich: Dieser sei deshalb ein besonders sensibles Terrain, weil es den Kindern an hinreichend kritischen Fähigkeiten noch fehlen würde (Tz. 48). Gerade religiöse Symbole könnten, zumal wenn die große Mehrheit der Bevölkerung einer bestimmten Religion angehöre, für anders- oder ungläubige Schüler „Druck“ erzeugen (Tz. 50). Die Einrede der italienischen Regierung, dem Kruzifix komme nicht ausschließlich religiöse Bedeutung zu, sondern es verkörpere die in der Geschichte und Tradition des Landes insgesamt verkörperten Werte (Tz. 34-44 sowie 51), hält die Kammer in einem Satz die eigene Einschätzung entgegen (la Cour considère), das Anbringen von Kruzifixen in Schulräumen gehe über den historische Bezüge in Erinnerung rufenden Gebrauch hinaus (Tz. 52). Demgegenüber wird der Vortrag der Beschwerdeführerin – das Kruzifix sei Symbol der Katholischen Kirche, an deren Seite sich der Staat durch das Anbringen in den Schulräumen stelle, was das Recht ihrer Kinder, sich nicht zum katholischen Glauben zu bekennen, verletze – abermals breit referiert und ohne weiteres als „nicht willkürlich“ akzeptiert (Tz. 53). Nach der Feststellung, das Kruzifix müsse als ein auffällig religiöses Symbol klassifiziert werden (un signe extérieur fort, Tz. 54), meint die Kammer feststellen zu können, dessen Anwesenheit in den Schulräumen könne von Schülern aller Altersstufen nicht nur als religiöses Symbol interpretiert werden, sondern weitergehend dahingehend verstanden werden, sie würden im Sinne einer bestimmten Religion erzogen. Für bestimmte religiöse Schüler könne dies ermutigend, für anders- oder ungläubige Schüler 12 Hervorhebung nur hier, die Originalfassung lautet insoweit: „qui puisse être considéré comme“. 4 hingegen „emotional verstörend“ (perturbant émotionnellement) wirken. Die „negative“ Glaubensfreiheit, welche nicht auf das Fehlen von Schulgottesdiensten und Religionsunterricht reduziert werden dürfe, sondern sich auch auf Praktiken und Symbole beziehe, in denen sich ein Glaube, eine Religion oder der Atheismus verkörpere, verdiene dagegen „besonderen Schutz“ (mérite une protection particulière), wenn der Staat einen Glauben zum Ausdruck bringe und den einzelnen damit in eine Lage versetze, der er sich nicht oder nur unter unzumutbaren Anstrengungen entziehen könne (Tz. 55). Die Anbringung religiöser Symbole läßt sich nach Ansicht der Kammer auch nicht durch den Wunsch anderer Eltern, die für ihre Kinder eine religiöse Erziehung wünschen, rechtfertigen. Deren Überzeugungen müßten diejenigen anderer Eltern „berücksichtigen“ (prendre en compte). Der Staat seinerseits müsse auf dem Gebiet des öffentlichen Erziehungswesens die konfessionelle Neutralität wahren, da ungeachtet religiöser Überzeugungen eine allgemeine Schulpflicht bestehe und die Schüler zu kritischem Denken anzuhalten seien. Vor diesem Hintergrund vermag die Kammer nicht zu erkennen (La Cour ne voit pas), inwiefern die Ausstattung der Schulräume mit einem Symbol, das verständigerweise mit dem Katholizismus zu assoziieren sei (qu’il est raisonnable d’associer au catholicisme), zu einer pluralistischen Erziehung beitragen könne, die zur Erhaltung einer demokratischen Gesellschaft im Sinne der Konvention wesentlich sei (Tz. 56). Analysiert man die Entscheidung des EGMR näher, so offenbaren sich deutlich erkennbare Anleihen an den Kruzifix-Beschluß des BVerfG von 1995: Obgleich diese Anleihen dem Inhalt und mitunter sogar dem Wortlaut nach evident sind, unterbleibt jede formale Bezugnahme auf das vorbildhafte Judikat. Im einzelnen: Die Betroffenheit der „negativen“ Glaubensfreiheit hatte das BVerfG seinerzeit daraus abgeleitet, diese schütze nicht nur die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben (was nicht streitig ist), sondern „beziehe“ sich „ebenfalls auf die Symbole“, in denen sich ein Glaube darstelle. Die Glaubensfreiheit überlasse dem Einzelnen, zu entscheiden, welche religiösen Symbole er anerkenne und verehre und welche er ablehne13. Das BVerfG hatte weiter einen Eingriff in die so verstandene „negative“ Glaubensfreiheit mit drei Erwägungen konstruiert, die sich der EGMR – an unterschiedlichen Stellen seiner Begründung und ohne dies dogmatisch so zu klassifizieren – zu eigen macht: Eine 13 BVerfGE Bd. 93, S. 1 (15). 5 Eingriffslage werde vom Staat bereits durch die Kombination von allgemeiner Schulpflicht und Ausstattung der Schulräume mit religiösen Symbolen geschaffen; die Schüler würden „ohne Ausweichmöglichkeit mit diesem Symbol konfrontiert“ und seien damit „gezwungen …, unter dem Kreuz zu lernen“14. Wie jetzt der EGMR hatte schon das BVerfG ein Verständnis von Kreuz und Kruzifix als „Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur“ kurzerhand verworfen und ihm – unter Verweis auf zwei eher einleitende theologische Lexika – einen (jederzeit) spezifischen religiösen Gehalt attestiert15. Im Unterschied zum EGMR hatte das BVerfG schließlich zwar den (nicht fernliegenden) Einwand gesehen und thematisiert, daß die Ausstattung der Schulräume mit religiösen Symbolen den Schülern weder eine Identifizierung mit dessen Symbolgehalt noch gar Akte der Ehrerbietung abverlange. Gleichwohl maß das BVerfG dem Kruzifix in Schulräumen einen „appellativen Charakter“ bei, der deswegen auf die Schüler „einwirke“, da sie Personen seien, „die aufgrund ihrer Jugend in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt sind, Kritikvermögen und Ausbildung eigener Standpunkte erst erlernen sollen und daher einer mentalen Beeinflussung besonders leicht zugänglich sind“16. Denkbare gegenläufige Rechtspositionen, welche einen Eingriff in die negative Glaubensfreiheit rechtfertigen könnten, hatte – wenngleich in deutlich vorsichtigeren Wendungen als nun der EGMR – bereits das BVerfG nicht für durchschlagend erachtet, nämlich den aus Art. 7 Abs. 1 GG17 fließenden staatlichen Erziehungsauftrag sowie die positive Glaubensfreiheit der christlichen Schüler und Eltern18. Allerdings hatte sich seinerseits das BVerfG in den (freilich nicht tragenden) Gründen des Beschlusses noch um atmosphärische Akzeptanz seiner Entscheidung bemüht, wenn es die rechtskulturelle Prägung auch des säkularen Gemeinwesens durch Religion im allgemeinen und Christentum im besonderen hervorgehoben hat: „Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selber zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, 14 BVerfGE Bd. 93, S. 1 (18). BVerfGE Bd. 93, S. 1 (19 sowie 24). 16 BVerfGE Bd. 93, S. 1 (20 f.). 17 „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.“. 18 BVerfGE Bd. 93, S. 1 (21 ff.). 15 6 Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein. Das gilt in besonderem Maß für die Schule, in der die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft vornehmlich tradiert und erneuert werden. Überdies darf der Staat, der die Eltern verpflichtet, ihre Kinder in die staatliche Schule zu schicken, auf die Glaubensfreiheit derjenigen Eltern Rücksicht nehmen, die eine religiös geprägte Erziehung wünschen.“19 III. Bei der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – kurz: Europäische Menschenrechtskonvention – handelt es sich um einen regionalen Menschenrechtspakt im institutionellen Kontext des Europarats. Seiner Rechtsnatur nach ein völkerrechtlicher Vertrag, wurde er am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet und trat 1953 in Kraft. Gegenwärtig besteht das System der EMRK aus 47 Vertragsstaaten, in denen gut 800 Millionen Menschen leben. Über die Einhaltung der in der Konvention verbürgten Gewährleistungen wacht der in Straßburg ansässige EGMR, der – ebenso wie die frühere „Europäische Kommission für Menschenrechte“ (EKMR) – eine umfangreiche Judikatur zur Glaubens-, Gewissens- und Glaubensfreiheit (Art. 9 EMRK20) entfaltet hat21. Somit steht für die Frage, ob und inwieweit sich die Entscheidung vom 3. November 2009 in die bisherige Rechtsprechungspraxis einfügt, hinreichend Material zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund ist die bescheidene handwerkliche Qualität des Judikats um so verwunderlicher: Schon im Ansatz fällt als erhebliches Manko negativ ins Gewicht, daß der Entscheidung jede erkennbare inhaltliche wie argumentative Struktur fehlt. Nicht zuletzt infolge der – auch institutionellen – Wechselbeziehung zur Rechtsprechungstätigkeit 19 BVerfGE Bd. 93, S. 1 (22). Die Bestimmung lautet: „(1) Jedermann hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens und Glaubensfreiheit; dieses Recht umfaßt die Freiheit des einzelnen zum Wechsel der Religion oder der Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. (2) Die Religions- und Bekenntnisfreiheit darf nicht Gegenstand anderer als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind.“. 21 Überblick aus dem (deutschsprachigen) Schrifttum bei C. Grabenwarter, Glaubens-, Gewissens- und Glaubensfreiheit, in: ders., Europäische Menschenrechtskonvention. Ein Studienbuch, München, C. H. Beck, 20052, § 22 Rn. 82 ff.; H. de Wall, Von der individuellen zur korporativen Glaubensfreiheit – die Rechtsprechung zu Art. 9 EMRK, in: J. Renzikowski (Hrsg.), Die EMRK im Privat-, Straf- und Öffentlichen Recht. Grundlagen einer europäischen Rechtskultur, Wien, Manz, 2004, S. 237 ff.; C. Walter, Religions- und Gewissensfreiheit, in: R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, 2006, Tübingen, Mohr Siebeck, S. 817 ff.; zusammenfassend S. Mückl, Kommentierung zu Art. 4 GG, in R. Dolzer/C. Waldhoff/K. Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 135. Aktualisierung, Heidelberg, C. F. Müller, August 2008, Rn 237 ff. 20 7 nationaler Verfassungsgerichte kann es heute (eigentlich) als Gemeingut einer Grund- bzw. Menschenrechtsprüfung angesehen werden, in einer systematisch abgeschichteten Weise vorzugehen: Jedenfalls ist deutlich danach zu trennen, ob (1.) ein bestimmtes staatliches Handeln in den „Schutzbereich“ einer Konventionsgewährleistung eingreift sowie – bejahendenfalls – (2.), ob ein solcher Eingriff gerechtfertigt ist. Daran fehlt es hier ebenso wie an einer deutlichen Trennung von der Exposition der allgemeinen Maßstäbe und fallbezogener Subsumtion. Derartige Anforderungen sind mitnichten formalistische Schemata, sondern Garanten korrekter juristischer Methodik wie beständiger argumentativer Selbstvergewisserung. Sie außer acht zu lassen, mag „Kreativität“ fördern – einer rechtlich nachvollziehbaren und Rechtsfrieden schaffenden Entscheidung dient es hingegen nicht. Vor die Klammer gezogen, verdient ein weiterer kritischer Aspekt Aufmerksamkeit. Daß der EGMR im Sinne einer „gemeineuropäischen Grundrechtsentwicklung“ auch die Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte einbezieht, ist nur zu begrüßen. Freilich muß sich ein supranationales Gericht dabei stets der Begrenztheiten derartiger nationaler Entscheidungen – zumal ihrer Verwurzelung in einem spezifischen verfassungsrechtlichen Rahmen – bewußt sein. Mit der schlichten Übertragung der von einem nationalen Verfassungsgericht gewonnenen Erkenntnisse ist es nicht getan (denn warum sollte nur dessen Rechtsüberzeugung in einem supranationalen Rechtskontext maßgeblich sein?). Die bloße Indienstnahme geliehener Amtsautorität erweist sich als um so problematischer, wenn die materielle Autorität derartiger Erkenntnisse keineswegs unbestritten ist. Bekanntlich hat der Kruzifix-Beschluß des BVerfG in der Fachöffentlichkeit weit überwiegend massive bis vernichtende Kritik erfahren. Schon aus diesem Grund wäre zu erwarten gewesen, daß der EGMR diese wissenschaftliche Kritik zur Kenntnis nimmt und unter ihrer Verarbeitung zu einer argumentativ stringenten Entscheidung gelangt. Bedauerlicherweise ist all dies erkennbar nicht geschehen. Pointiert formuliert: Sämtliche Schwachstellen des KruzifixBeschlusses finden sich auch in der Entscheidung des EGMR wieder, und dies zu weiten Teilen in verschärfter und vergröberter Form. Im einzelnen: Ebenso zutreffend wie unbestritten ist, daß Grundrechte auch eine negatorische (terminologisch korrekter als die verbreitete Rede von einer „negativen“) Komponente aufweisen. Speziell für die Glaubensfreiheit haben dies die Konventionsorgane – EKMR und EGMR – bereits frühzeitig ausgesprochen und (zu Recht) betont, diese schütze den einzelnen davor, „gegen seinen Willen unmittelbar in religiöse Aktivitäten einer Religionsgemeinschaft 8 einbezogen zu werden, ohne Mitglied … zu sein“22. Indes bewirkt oder bezweckt eine visuelle „Konfrontation“ nichts – vor allem kein eigenes Bekenntnis, sei es affirmativer oder ablehnender Art. In einer älteren Entscheidung hatte das deutsche BVerfG diesen Aspekt sehr wohl gesehen23; der Kruzifix-Beschluß ging darüber mit einem Satz, der bloße Behauptung bleibt, hinweg: Die negative Glaubensfreiheit „beziehe“ sich „ebenfalls“ auf die Symbole, in denen sich ein Glaube oder eine Religion darstelle. Bereits diese Weichenstellung war in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Kruzifix-Beschluß auf wohlbegründete Kritik gestoßen24. Um so erstaunlicher ist es, wenn nunmehr der EGMR sich auf die schlichte Übernahme jener Behauptung beschränkt und noch nicht einmal den Versuch einer argumentativen Absicherung unternimmt. Der gleiche Fehlschluß, dem BVerfG wie nun der EGMR unterliegen, besteht in einem unzutreffenden Verständnis der negatorischen Dimension der Grundrechte25: Diese berechtigt zur eigenen Nichtbetätigung und Verweigerung, nicht aber dazu, die (grundrechtlich geschützte) Betätigung anderer zu unterbinden – sie gewährleistet Entsagung, deckt aber nicht die Untersagung26. Ebenso wenig läßt sich ihr ein (gleich in welcher Richtung wirkender) Konfrontationsschutz entnehmen27: Weder hat der Gläubige ein Recht darauf, nicht durch Manifestationen des Unglaubens verunsichert zu werden, noch ist der Ungläubige von Rechts wegen vor der Begegnung mit dem Glauben gefeit. Unter Rekurs auf die „negative“ Komponente der Glaubensfreiheit eine „religionslose“ Umgebung reklamieren zu wollen ist schon im Ansatz verkehrt, unabhängig davon, ob das Unterlassen von Glockengeläut und Muezzin-Ruf, das Abhängen von Kreuz und Kruzifix oder das Ablegen des Kopftuchs einer muslimischen Lehrerin begehrt werden. Gleichfalls nicht zu überzeugen vermögen die Erwägungen zum Grundrechtseingriff. Das BVerfG hatte diesen Prüfungspunkt im Kruzifix-Beschluß noch als solchen thematisiert und EGMR, in: EuGRZ 1990, S. 410 (411), Tz. 51 – Darby/Schweden (Veranlagung eines Nichtmitglieds zur Kirchensteuer); EGMR, in: EuGRZ 1976, S. 478 (485), Tz. 53 – Kjeldsen/Dänemark (Verbot religiöser oder weltanschaulicher Indoktrination in der staatlichen Schule); EGMR, in: NJW 1999, S. 2957 – Buscarini/San Marino (Ableistung des religiösen Amtseides durch Amtsträger). 23 BVerfGE Bd. 35, S. 366 (375): „(D)as bloße Vorhandensein eines Kreuzes verlangt … weder eine eigene Identifizierung mit den darin symbolhaft verkörperten Idealen noch ein irgendwie geartetes aktives Verhalten“. 24 J. Isensee, Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation. Der Kruzifix-Beschluß des BVerfG, in: ZRP 1996, S. 10 ff.; D. Merten, Der „Kruzifix-Beschluß“ des Bundesverfassungsgerichts aus grundrechtsdogmatischer Sicht, in; J. Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München, C. H. Beck, 1997, S. 987 ff. 25 Zum folgenden bereits Mückl (FN 21), Art. 4 Rn. 123. 26 Allgemein zur Grundrechtsdogmatik D. Merten, Negative Grundrechte, in: ders./H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa (HGR), Bd. II, Heidelberg, C. F. Müller, 2006, § 42 Rn. 75; speziell zur Glaubensfreiheit M. Heckel, Glaubensfreiheit, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV, Tübingen, Mohr Siebeck, 1997, S. 647 (771). 27 Ganz ähnlich H. Bethge, Mittelbare Grundrechtsbeeinträchtigungen, in: HGR (FN 26), Bd. III, 2009, § 58 Rn. 66, 101. 22 9 das Vorliegen eines Eingriffs der Sache nach aufgrund des Zusammenwirkens dreier Faktoren (keine Ausweichmöglichkeit, genuin religiöser Charakter des Symbols, „appellativer Charakter“) angenommen. Der EGMR seinerseits greift jene Faktoren zwar nahezu wörtlich auf, läßt aber im Unklaren, welche rechtliche Relevanz er seinen Erwägungen beigemessen wissen will. Inhaltlich stehen diese, im einen wie im anderen Fall, auf kaum belastbarem Fundament: Selbst wenn im Einzelfall gegenüber einem Symbol keine Ausweichmöglichkeit bestehen sollte, würde der durch die negative Glaubensfreiheit geschützte Freiheitsbereich – dessen Einschlägigkeit unterstellt – nicht berührt. Der Symbolbetrachter wird nicht zur Annahme oder Billigung des Symbolgehalts angehalten, ja noch nicht einmal zu überhaupt einer Stellungnahme28. Hinzu kommt, daß der Symbolgehalt mitnichten so einfach zu bestimmen ist, wie es sich BVerfG und EGMR machen. Selbstverständlich kommt dem Kruzifix eine spezifisch religiöse Bedeutung zu – im genuin kirchlichen, zumal sakralen und liturgischen, Kontext. Doch seiner Natur nach ist ein Symbol eine Chiffre, die erst der Auflösung bedarf – und diese Auflösung kann je nach Kontext eine durchaus unterschiedliche sein. Daher ist es kurzschlüssig, einem Symbol in verschiedenen Verwendungszusammenhängen monokausal ein- und denselben Symbolgehalt unterschieben zu wollen29 – ganz abgesehen davon, daß dies aufgrund des ohne weiteres akzeptierten Parteivortrags der Beschwerdeführerin abermals bloß behauptet wird („das Gericht ist der Auffassung“) und weiter abgesehen von dem Umstand, daß eine einseitige religiöse Deutung objektiv mehrdeutiger Symbole seitens staatlicher resp. supranationaler Organe sub specie des Prinzips der religiös-weltanschaulichen Neutralität der öffentlichen Gewalt überaus problematisch ist. Schließlich verharrt auch der dritte von BVerfG und EGMR ausgemachte Faktor – der vorgebliche „appellative Charakter“ des Kruzifixes – im Bereich der bloßen These. Selbst wenn man schon die Präsenz eines Kruzifixes in Schulräumen so verstehen möchte, bliebe sie bloßer Appell. In seinem Wesen liegt es, daß er zu nichts bestimmt – eine Rückäußerung des Symbolbetrachters wird weder gefordert noch erwartet, weder im positiven noch im negativen Sinn. Worin dann aber eine reale Freiheitseinbuße liegen soll, ist unerfindlich. Die – wohl zur Erhärtung jenes „appellativen Charakters“ – angefügten Besorgnisse um die kindliche Psyche („in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt“, „einer mentalen Beeinflussung besonders leicht zugänglich“, Gefahr einer „emotionalen Verstörung“) entbehren nicht nur jeglichen Belegs, sondern werden schon durch die 28 Zutreffend herausgestellt bei S. Cañamares Arribas (FN 5), S. 1 (6 f.). Weitere Beispiele aus der deutschen Staatspraxis: Die deutschen Streitkräfte führen als Hoheitszeichen u.a. das Eiserne Kreuz; der vom deutschen Bundespräsidenten in verschiedenen Stufen gestiftete Orden zur Würdigung von Verdiensten um das Gemeinwohl heißt Bundesverdienstkreuz. – Soweit ersichtlich, hat bislang niemand (ernsthaft) behauptet, der Staat mache sich damit unzulässigerweise religiöse Überzeugungen zu eigen. 29 10 Schulpraxis hinreichend widerlegt: Weder aus Bayern noch aus Italien sind je durch das Kruzifix in Schulräumen bewirkte Bekehrungen bekannt geworden. Die schwerwiegendsten, schon handwerklichen, Mängel weist die Entscheidung des EGMR schließlich auf der Prüfungsebene der Rechtfertigung eines Eingriffs auf. Eine derartige Rechtfertigung ist nach der längst gefestigten Rechtsprechung des EGMR unter drei Voraussetzungen möglich: Vorhandensein einer gesetzlichen Grundlage für den Eingriff, dessen Legitimation durch eines der enumerativ benannten Eingriffsziele (öffentliche Sicherheit, Ordnung, Gesundheit oder Moral, Schutz der Rechte und Freiheiten anderer) sowie Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit („in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“). Gleichfalls ist es ständige Rechtsprechung des EGMR, daß den Vertragsstaaten sowohl bei der Prüfung des legitimen Eingriffsziels wie der Verhältnismäßigkeit ein Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) zukommt30, in welchen zulässigerweise auch nationale Ordnungsvorstellungen und namentlich die jeweiligen staatskirchenrechtlichen Gegebenheiten einfließen können. Diesen Beurteilungsspielraum zugunsten der Vertragsstaaten hat der EGMR regelmäßig respektiert und es nicht unternommen, seine eigene Einschätzung an die Stelle derjenigen der regelmäßig sachnäheren nationalen Instanzen zu setzen – einerlei, ob sie eher zugunsten31 oder zu Lasten32 der Glaubensfreiheit ausgefallen ist. Von alledem findet man in der Entscheidung des EGMR – nichts. Allein ein gegenläufiger Belang, der für das Anbringen von Kruzifixen sprechen könnte (der entsprechende Wunsch religiös eingestellter Eltern), findet sich – ohne nähere Zuordnung zum Prüfungsraster der Eingriffsrechtfertigung (korrekt: Schutz der Rechte und Freiheiten anderer) – kurz referiert und binnen weniger Zeilen dezidiert verworfen. Selbst wann man bis zu dieser Stelle den Annahmen der Kammer folgen wollte, stellt sich doch das Verhältnis zwischen negatorischer und positiver Glaubensfreiheit als bei weitem komplexer dar, als die Kammer glauben machen will. Die unscheinbare Wendung, religiös eingestellte Eltern müßten die Überzeugungen anderer Eltern „berücksichtigen“, räumt letzteren – jedenfalls im Grdl. EGMR, in: EuGRZ 1977, S. 38 (40 ff.), Tz. 47 ff. – Handyside/Vereinigtes Königreich; dazu näher aus dem Schrifttum S. Prebensen, The Margin of Appreciation and Articles 9, 10 and 11 of the Convention, in: Human Rights Law Journal 19 (1998), pp. 13 ss. 31 EGMR, in: Österreichische Juristenzeitung 1995, S. 154 – Otto-Preminger-Institut/Österreich (zulässiges Einschreiten gegen blasphemischen Film zum Schutz des religiösen Friedens). 32 EGMR, in: Reports of Judgements and Decisions 1997-IV, 199 – Kalaç/Türkei (Zwangspensionierung eines Richters wegen „anti-laizistischen Verhaltens“); sowie die bereits zitierten Fälle Dahlab/Schweiz (FN 1) sowie Şahin/Türkei (FN 2). 30 11 Argumentationsduktus der Kammer – in der Sache eine Vetoposition ein. Gänzlich verfehlt ist es, wenn sogleich im nächsten Satz diese Pflicht zur Berücksichtigung als Ausfluß der konfessionellen Neutralität des Staates präsentiert wird33. Schließen zwei Optionen einander aus, ist es schon logisch wie semantisch schlichtweg falsch, die Wahl einer dieser Optionen als „neutral“ auszugeben34. Wie schon das BVerfG in seinem Kruzifix-Beschluß, verkennt nun auch der EGMR, daß die negative Glaubensfreiheit gerade kein „Obergrundrecht … zur Verhinderung von Religion“ beinhaltet35. Grundrechtskonflikte sind nicht einseitig im Wege der „Intoleranz der Negation“36 durch „laizistische Eliminierung“37 zu lösen. Das wohl größte Manko der Entscheidung liegt darin, daß der den Vertragsstaaten zustehende Einschätzungsspielraum – obgleich von der italienischen Regierung ausdrücklich vorgetragen (Tz. 38) – in den Entscheidungsgründen mit keiner einzigen Silbe erwähnt wird: Die Art und Weise, mit der eine Kammer des EGMR nicht nur die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs ignoriert, sondern zudem auch ihre sehr speziellen Überzeugungen autoritativ an die Stelle der nationalen Instanzen dekretiert (La Cour ne voit pas), ist ohne Vorbild in der bisherigen Rechtsprechungstätigkeit der Organe der EMRK. IV. Die Wirkungen der Entscheidung werden – selbst wenn diese endgültig werden sollte – sehr begrenzt bleiben. Ein endgültiges Urteil vermag allein die Große Kammer des EGMR auszusprechen (Art. 44 Abs. 1 EMRK); der betroffene Vertragsstaat (hier also Italien) wäre völkerrechtlich verpflichtet, es zu befolgen (Art. 46 Abs. 1 EMRK). Allerdings bestünde die Rechtskraftwirkung ausschließlich inter partes (sog. subjektive Grenze des Streitgegenstands), also im Verhältnis zum am Prozeßrechtsverhältnis beteiligten Beschwerdeführer. Allein ihm gegenüber wäre Italien verpflichtet, eine vom EGMR festgestellte Konventionsverletzung zu beenden sowie Wiedergutmachung zu leisten38. Beides wäre hier aus tatsächlichen Gründen nicht möglich, da die beiden Söhne der 33 Berechtigte Kritik hieran auch bei S. Cañamares Arribas (FN 5), S. 1 (10). Zur Erinnerung: Das dem Fremdwort „Neutralität“ zugrunde liegenden Adjektivs neuter, neutrum bedeutet: keiner von beiden, keines von beiden. – Brillante Kritik an derartigen Fehlverständnissen bei J. H. H. Weiler, Ein christliches Europa. Erkundungsgänge, Salzburg – München, Anton Pustet, 2004, S. 34 f. (italienische Originalausgabe: Un’Europa cristiana. Un saggio esplorativo, BUR Saggi, Milano, 2003). 35 Richtig BVerfGE Bd. 93, S. 1 (25, 32) – Sondervotum der Richter Seidl, Söllner und Frau Haas. 36 M. Heckel, Kirchen unter dem Grundgesetz, in: VVDStRL Bd. 26 (1968), S. 14 (50, Leitsatz 12). 37 M. Heckel, Vom Religionskonflikt zur Ausgleichsordnung. Der Sonderweg des deutschen Staatskirchenrechts vom Augsburger Religionsfrieden 1555 bis zur Gegenwart, Tübingen, Mohr Siebeck, 2007, S. 59. 38 Näher J. Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Berlin – Heidelberg, Springer, 1993, S. 93 ff., 97 ff. 34 12 Beschwerdeführerin längst nicht mehr eine Schule besuchen39. Eine allgemein verbindliche Wirkung haben die endgültigen Urteile des EGMR hingegen nicht. Indes scheint die Kammer ihrem Judikat darüber hinausgehend eine Art „Pionier-Rolle“ beimessen zu wollen, um ein ihr angemessen erscheinendes Verhältnis von Staat und Kirche oder, allgemeiner formuliert, öffentlicher Gewalt und Religion zu befördern. Jedenfalls deutet die selbstbewußte Setzung einer recht einseitigen Laizismus-Konzeption, die – unter Ausblendung jeglicher anderweitigen Sichtweise – als schon beinahe naturrechtlich vorgegeben insinuiert wird, in diese Richtung40. Damit nähert sich die Kammer bedenklich den „roten Linien“, welche die EMRK zieht und bringt ihre Entscheidung in die prekäre Nähe eines ultra vires-Aktes. Denn die Kammer verkennt von Grund auf, daß die EMRK gerade keine Einheitsordnung auf dem sensiblen Terrain des Staat-Kirche-Verhältnisses errichtet hat und errichten wollte. Dieses Beziehungsgefüge ist so sehr von den historisch-kulturellen Gegebenheiten eines jeden Vertragsstaates abhängig, daß es schon aufgrund der tatsächlichen Umstände der Größe und Vielfalt des „Vertragsraums“ der EMRK schlicht vermessen wäre, allein ein maßgebliches System ausfindig machen zu wollen. Die bisherige Linie der Rechtsprechung der Konventionsorgane hat hier eine kluge (und, in Erkennung der immanenten Begrenztheiten supranationaler Organe, demütige) Linie der Zurückhaltung verfolgt, nationale Entscheidungen hinsichtlich eines spezifischen Zuordnungsverhältnisses von Staat und Kirche zu respektieren41. Letztlich maßt sich die Kammer die Rolle eines gesamteuropäischen Gesetzgebers an, indem sie eine ihrer Auffassung nach „richtige“, und daher allgemeingültige, Positionsbestimmung in die Form einer – naturgemäß nur den konkreten Einzelfall betreffenden – gerichtlichen Entscheidung kleidet. Mit einem derartigen Anspruch überhebt sich aus funktionalrechtlichen Gründen ein jedes Gericht, bereits unabhängig von allen inhaltlichen Erwägungen. Derart fundamentale (Richtungs-)Entscheidungen bedürfen, um Akzeptanz zu finden, jedenfalls der hinreichenden vorhergehenden öffentlichen Diskussion mit dem Austausch der jeweiligen Sachargumente. 39 Eine Wiedergutmachung wäre grundsätzlich auf Naturalrestitution gerichtet. Nur für den Fall, daß diese aus Gründen des innerstaatlichen Rechts nicht möglich wäre, könnte der EGMR eine gerechte Entschädigung zusprechen (Art. 41 EMRK). – Gleichwohl hat hier die Kammer der Beschwerdeführerin eine Entschädigung für „moralischen Schaden“ in Höhe von 5.000 € zuerkannt und dies auf die erstaunliche Erwägung gestützt, die italienische Regierung habe sich nicht dazu bereiterklärt, die gesetzlichen Bestimmungen hinsichtlich des Anbringens von Kruzifixen in Schulräumen zu überprüfen. Die Vereinbarkeit dieser recht eigenwilligen Exegese mit Art. 41 EMRK mag hier aber auf sich beruhen. 40 S. zudem die vorstehende Fußnote. 41 Nach EKMR, in: Decisions and Reports/Décisions et Rapports Bd. 5, S. 157, verbietet Art. 9 EMRK noch nicht einmal das System einer Staatskirche in einem Vertragsstaat. 13 In einem rechtsförmigen Verfahren vor Gericht ist dies schon dann schwer zu bewerkstelligen, wenn die Öffentlichkeit in Gestalt einer mündlichen Verhandlung und durch die Kenntnisnahme der vorgebrachten Rechtsstandpunkte Kenntnis nehmen konnte. Nicht einmal diese minimalen Anforderungen wurden hier gewahrt: Die Entscheidung der Kammer erging als Beschluß – also ohne mündliche Verhandlung –; die Entscheidung ist nach Monaten unverändert nur auf Französisch zugänglich (und damit noch nicht einmal den Interessenten aus dem betroffenen Vertragsstaat – geschweige denn, trotz offenkundiger gesamteuropäischer Relevanz, denen aus anderen Staaten – ohne weiteres zugänglich). Daß unter derartigen Umständen eine gerichtliche Entscheidung Akzeptanz finden kann, worin die entscheidende tatsächliche Voraussetzung für das wesentliche Ziel jeder Rechtsprechung, nämlich: Rechtsfrieden zu schaffen, liegt, ist nicht zu erwarten. Gerade auf diese Akzeptanz ist aber ein Gericht bei der Entscheidung in kontroversen Fragen essentiell angewiesen; gerade hier sind seine stärksten „Waffen“ die in jeder Hinsicht transparente Gestaltung des Verfahrens und das Gewicht des inhaltlichen Arguments. In beidem hätte die Kammer des EGMR durch die Erfahrungen des BVerfG von 1995 gewarnt sein müssen42. Manches spricht dafür, daß die jetzige Entscheidung auch das Schicksal ihres Vorläufers teilen könnte – die überaus begrenzte praktische Relevanz. Nach dem Kruzifix-Beschluß wurden in Bayern nur in wenigen Fällen tatsächlich die Kruzifixe und Kreuze aus den Klassenzimmern entfernt (nicht zuletzt aufgrund der ausgewogenen Änderung des Schulrechts, mit dem der bayerische Gesetzgeber auf die seinerzeitige Entscheidung reagiert hatte43). In Anbetracht der sehr dezidierten Reaktionen in der italienischen Politik und der Bevölkerung steht Ähnliches für die Rezeption der Entscheidung des EGMR zu erwarten. Das leitet zu einem letzten Aspekt: Den wirklichen Schaden dieser Entscheidung wird nicht der italienische Staat und auch nicht das Kruzifix haben, sondern der EGMR selbst sowie die europäische Idee. Eine einzige Kammer hat hier die Autorität des gesamten Gerichtshofs aufs Spiel gesetzt – eine Autorität, auf die der EGMR in anderen Fällen, in denen (in des Wortes wirklicher Bedeutung) Menschenrechtsverletzungen in Rede stehen, elementar angewiesen 42 Auch das BVerfG hatte seinerzeit ohne mündliche Verhandlung entschieden, die wenig überzeugend abgefaßten Entscheidungsgründe haben die erwähnte heftige Kritik aus der Wissenschaft provoziert, ein dem Beschluß vorangestellter Leitsatz mußte gar (ein Novum in der Geschichte des Gerichts) durch nachträgliche Erläuterung des Senatsvorsitzenden „präzisiert“ werden. 43 Sog. „Widerspruchsregelung“ in Art. 7 Abs. 3 des Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes: Grundsätzlich wird in den Schulräumen ein Kruzifix oder Kreuz angebracht. Wird seitens der Eltern oder Schüler aus nachvollziehbaren Gründen widersprochen, hat sich der Schulleiter um eine angemessene Lösung zu bemühen, die dann – je nach Umständen des Einzelfalls – auch zur Entfernung des Symbols führen kann. – Diese Regelung hat BVerwGE Bd. 109, S. 40, als verfassungsgemäß gebilligt. 14 ist. Und auch der Gedanke der europäischen Einigung hat weiteren Schaden genommen, wird doch so „Europa“ (unbeschadet, daß hier nicht das Handeln eines Organs der – ihrerseits kaum noch populären – Europäischen Union, sondern des Europarats in Rede steht) einmal mehr als Gefährdung mitgliedstaatlicher Traditionen und Souveränität wahrgenommen. So beträchtlich der bereits entstandene Schaden auch ist, ist er gleichwohl noch reparabel: Auf Antrag Italiens hat der Gerichtshof mittlerweile, am 2. März 2010, die Rechtssache an die Große Kammer verwiesen. Bei der nun anstehenden neuen Verhandlung und Entscheidung44 bleibt nun das nachzuholen, was im ersten Durchgang versäumt wurde – die Besinnung auf die Rolle eines supranationalen Gerichtshofs, die am Wortlaut der EMRK und an der ständigen Rechtsprechung orientierte Exegese der Glaubensfreiheit, die rechtsprechende (und nicht rechtschaffende) Anwendung auf den zu entscheidenden Fall und nicht zuletzt das prozedurale Bemühen, eine akzeptanzfähige Entscheidung zu treffen. 44 Zur Entscheidungsfindung sind nunmehr 17 Richter berufen. Den Statuten entsprechend, rechnet von den am Verfahren vor der Kammer beteiligten Richtern nur der Vorsitzende sowie das Mitglied aus dem betroffenen Vertragsstaat dazu. Da der italienische Richter inzwischen ausgeschieden und durch einen Nachfolger ersetzt ist, wird vor der Großen Kammer nur noch ein Mitglied des Ausgangsverfahrens mitwirken. 15