Dr. Ulrike Guérot Senior Transatlantic Fellow, Europe German Marshall Fund of the United States Vortrag Jubiläumsfeier Bosch-Stiftungskolleg 17. September 2005 ‚Deutschlands Rolle in einer globalen Welt’ Sehr geehrte Damen und Herren, Als ich gestern einen Anruf erhielt und gebeten wurde, kurzfristig für Herrn Botschafter Timken einzuspringen und einen kleinen Vortrag über ‚Deutschlands Rolle in einer globalen Welt’ zu halten, habe ich mich natürlich sehr gefreut; gleichzeitig aber war mir ein bisschen mulmig zumute, vor solch einem herausragenden Publikum einer so renommierten Stiftung wie dem Bosch-Stiftungskolleg zu sprechen. Und natürlich kann ich mitnichten Ambassador Timken vertreten. Gleichzeitig aber ist mir das Stiftungskolleg und seine Arbeit bestens vertraut, weil ich schon öfter die Gelegenheit hatte, vor Stipendiaten zu sprechen, um Fragen, insbesondere Fragen der europäischen Integration, zu diskutieren, und das waren immer sehr reiche Gespräche. Darum möchte ich der Bosch-Stiftung gleich an dieser Stelle danken, auch heute an dieser Stelle ein paar Ausführungen zum Thema ‚Deutschland in einer globalen Welt’ machen zu dürfen, wobei ich mich besonders auf Deutschlands Rolle in Europa und die transatlantischen Beziehungen konzentrieren werde. Ich möchte dies tun aus der Sicht einer ‚Beobachterin’, die sich seit längerem mit Fragen der europäischen Integration beschäftigt, und seit neuestem immer intensiver mit den transatlantischen Beziehungen. Dabei möchte ich aber auch die eine oder andere persönliche Meinung oder Einschätzung zum Ausdruck bringen. An dieser Stelle möchte ich anfügen, dass das hier Angeführte meine eigenen Überlegungen sind, und nicht notwendigerweise in ihrer Gänze Meinungen des German Marshall Fund of the United States zum Ausdruck bringen. Vorgehen möchte ich dabei in drei Schritten: Zunächst möchte ich versuchen darzustellen, wie Deutschland im Ausland perzipiert wird. Dabei kann ich mich natürlich nur auf eine Wiedergabe dessen beschränken, was mir in vielfältigen Gesprächen mit ‚Ausländern’, Europäern sowie Amerikanern so zugetragen wird. Und möchte auch nicht unbedingt behaupten, dass dies repräsentativ ist. In einem zweiten Schritt möchte ich dann versuchen zu analysieren, wo Deutschland derzeit in der Welt steht? Wie wurde die deutsche Außenpolitik in den letzten Jahren wahrgenommen? Was hat sich unter Schröder/ Fischer geändert? Was zum Gutem, was möglicherweise zum Schlechten? Wo sind andere Länder besorgt um unsere zukünftige Orientierung? Und schließlich möchte ich dann, drittens, versuchen auszuführen, was ich denke, was die Notwendigkeiten in der deutschen Europa- und Außenpolitik der zukünftigen deutschen Regierung sein werden, welche Regierung wir auch immer haben werden. Die Perzeption Deutschlands in der Welt In aller Kürze lässt sich wohl sagen: sie ist gut. Deutschland wird noch immer geschätzt, ernst genommen, beobachtet. Wir werden nicht beäugt oder mit Misstrauen bedacht. Aber manchmal runzelt man die Augenbrauen über die Verkrustungen, vor allem viele ‚ausländische’ junge Leute, die ich kenne, und die hier leben. Auf der kursorischen oder anekdotischen Ebene sind Ladenschluss oder die mittelalterlich anmutende Unmöglichkeit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Deutschland durchaus ein Thema, sowie ‚’the German Angst’ oder ‚Le Waldsterben’ vor 20 Jahren schon als Kuriosität durch englische und französische Gazetten huschten. Auf der historisch sensibleren Ebene sind die Diskussionen wie jene um das Museum für Vertriebene – und vor allem die Art, wie sie von einigen hier geführt wird - insbesondere in Osteuropa ganz problematisch und unsere Verkrampfung, an der Geschichte festzuhalten, wird mit Kopfschütteln bedacht. Man hat den Eindruck, dass sich fast alle leichter damit tun, Deutschland als ‚normal’ zu betrachten, als die Deutschen selbst. Und die zweite Diskussion, die ich als problematisch wahrnehme, ist die Frage, wie Deutschland mit dem Thema Migration umgeht. Nicht, dass es solche Probleme und schwierige Diskussionen auch in Frankreich, den Niederlanden oder woanders gäbe; aber unsere besonders schwermütig2 schwerfällige Art, mit Migranten umzugehen, unsere sehr unschöne Diskussion über die Türkei, unsere Nicht-Offenheit, die sich ablesen lässt in der Art und Weise, wie wir noch bis vor kurzem ‚Staatsbürgerschaft’ über ius sanguinis definiert haben, sowie an vielen Ausbrüchen der Xenophobie; unsere augenscheinlich besondere ‚Kunst’, türkische oder russische , Parallelwelten’ in Deutschland zuzulassen, und davor die Augen zu verschließen, während Staaten wie Kanada oder Neuseeland hervorragende Resultate dabei haben, Schulen mit 60% Ausländeranteil zu organisieren und erfolgreich zu machen und in Menschen Potential und nicht nur Bedrohung sehen, und Asylanten in anderen Ländern arbeiten dürfen. Dies alles sticht doch irgendwie besonders hervor, wird wahrgenommen, und thematisiert. Vor allem aber ist, glaube ich, der wichtigste Punkt, dass Deutschland undurchsichtig ist, weil es so komplex ist. Angefangen vom Wahlsystem (2 Stimmen und ‚Überhangmandate’), das kaum einem ausländischen Journalisten zu erklären ist, bis hin zur Auffächerung in BundLänder und Gemeinden, unser ‚Flächentarifsystem’ oder unser Steuersystem, die Rolle der Kirche im Staat (Kirchensteuer oder das ‚Wort zum Sonntag’) oder: Deutschland ist ‚inexplicable’, intraduisible’: Pendlerpauschale, Eigenheimzulage, Zustimmungsgesetz, Vermittlungsausschuss, Flächentarifvertrag, Mittelstand, Kreissparkasse, Bündnis für Arbeit oder Daseinsvorsorge sind alle unübersetzbar, unerklärbar, irgendwie absonderlich, irgendwie nicht modern, und dahinter stehen eben nicht nur Systeme, sondern vielleicht systemische Schwierigkeiten für Deutschland in der Welt bei der Wahrnehmung einer internationalen Rolle. Wir sind nicht klar. Und zudem immer noch einen Tick kollektiv melancholischer als die anderen. Wo stehen wir außenpolitisch in der Welt? Nun, wir stehen in der Mitte. Und gerade jetzt, anlässlich der Wahlen, in der Mitte der Aufmerksamkeit. Ich denke, viele von Ihnen haben die CNN-Plakate gesehen: ‚60 Mio Voters, but 6,5 Bio spectators’. Oder: ‚Germany is voting, but the world is watching you’. Wir sind das vielleicht wichtigste Land in Europa – jedenfalls eins, an dessen Orientierung einiges hängt und Europa ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde mit Deutschland als ökonomischem Zugpferd. Wird die deutsche Wirtschaft wieder in Schwung kommen und wieweit werden die Reformen gehen? Wird Deutschland wieder Amerikas Juniorpartner oder nicht? Wird Deutschland Frankreich fallen lassen? Wird es härter gegenüber Russland auftreten? Das Verhältnis zu Osteuropa verbessern? Die Einhaltung der Menschenrechte in 3 China fordern? So ungefähr lauten die – jedenfalls mir – meistgestellten Fragen von Journalisten. Wir stehen also in der Mitte, von Deutschland hängt viel ab, es trägt Verantwortung. Ich denke tatsächlich, dass von dem, was in Deutschland passiert, ein gewisser ‚spin’ abhängt für das, was europäisch, transatlantisch und damit auch in der Welt passieren kann. Aber zunächst: wie ist die Lage? Wenn man sie so benennen möchte, ist die Negativ-Liste unserer außenpolitischen Situation lang: wir haben sehr problematische Beziehungen zu den USA, die doch immer unser herausragendes Standbein waren, bis sich Deutschland 2003 zum ersten Mal in seiner Geschichte in einer strategischen Frage von Krieg und Frieden nicht an die Seite der USA gestellt hat, was in der Tat einer tektonischen Verschiebung gleich kommt, wenn man die deutsche Außenpolitik an den Parametern der deutschen Außenpolitik von Adenauer bis Kohl messen möchte, in der stets europäische Integration und transatlantische Beziehungen zwei Seiten derselben Medaille waren. Dabei möchte ich offen anmerken, dass ich in der Sache nicht gegen die deutsche Regierungsposition gewesen bin; auch ich persönlich, zusammen mit vielen anderen, habe den Irak-Krieg für falsch gehalten. Aber der Preis, den wir, zumindest vorübergehend, dafür bezahlt haben, nämlich die Spaltung Europas, die wir gerade mühsam überwinden, den fand ich zu hoch, und ich denke, es hätte Lösungen gegeben, um diese fatale Konsequenz, die uns immer noch belastet, zu vermeiden. Deutschland hat vermeintlich exzellente Beziehungen zu Frankreich, aber ich möchte im weiteren Verlauf versuchen zu begründen, warum diese Beziehungen im Grunde genommen derzeit höchst kontraproduktiv für Deutschland und Europa als Ganzes sind. Durch die sehr engen, zu engen Beziehungen zu Frankreich hat Deutschland seine vierfache Brückenfunktion in Europa aufgegeben: die Brücke zu den kleinen Ländern, jene zu Großbritannien, jene nach Osteuropa, und jene zentrale zu den USA. Die Essenz der deutsch-französischen Beziehungen in Europa und für Europa war es stets, die anderen Staaten mitzuziehen. Europäische Fortschritte konnten immer dann erzielt werden, wenn Deutschland und Frankreich, die meist von unterschiedlichen Positionen kamen (z.B. beim Euro) sich auf einen Kompromiss verständigen konnten, der Plattform für die Zustimmung der anderen Länder werden konnte. Genau dies aber war in den letzten Jahren nicht der Fall. Es war genau die zu große Intimität und Exklusivität, die bei unseren anderen EU-Partnerstaaten Misstrauen hervorgerufen hat. Es war der schale Beigeschmack der Tatsache, dass der deutsch-französische Kompromiss zwar vielleicht Deutschland und Frankreich, aber nicht unbedingt Europa dient (siehe Göteborg 4 2001 oder Kopenhagen 2002). Es war die Tatsache, dass sich Deutschland und Frankreich angemaßt haben, dass ihre Meinung diejenige der EU ist oder sein müsse (siehe Irak). Und wir haben übersehen, dass Führung verdient werden muss, dass man aber schlecht den Großmeister der Integration spielen kann, wenn man sich selber nicht an die Regeln hält (Stabilitätspakt). Und jenes Gefühl, dass vor allem Deutschland und Frankreich gerne in den letzten Jahren vermittelt haben, nämlich dass eigentlich nur sie wissen, wie Europa eigentlich auszusehen hat, wie die ‚politische Union’ auszusehen hat und wer dazugehören darf, anknüpfend leider allzu oft an die Diskussion der 90er Jahre über Kerneuropa, befangen in der Nostalgie des ‚l’Europe de Charlemagne’ – Wobei doch, diese Fußnote sei mir hier erlaubt, gerade Deutschland und Frankreich wegen Scharmützel über ‚fédération’ oder ‚gouvernement économique’ in den 90er Jahren selbst alle ‚windows of opportunities’ verpasst haben, um eben diese ‚politische Union’ zu bauen, einmal 1994 (Kerneuropa-Papier), und einmal 2000, als die Franzosen den EU-Gipfel in Nizza zum Desaster haben werden lassen! Nein, man hatte leider nicht das Gefühl, dass Deutschland und Frankreich in den letzten Jahren das große, das moderne Europa vorbereitet haben. Wir haben einen nicht unbedingt guten Ruf in Osteuropa, und zwar nicht nur im Baltikum und in Polen aus gegebenem Anlass; wir haben pro forma gute Beziehungen zu Russland, aus denen wir – natürlich abgesehen vom Erdgas! – aber bisher keinen politischen Vorteil (Einflussnahme auf die russische Politik in Tschetschenien z.B.!) gezogen haben (und ähnlich dürfte dies auch für unsere Beziehungen China gelten). Ferner haben wir die europäische Bühne nicht nur sträflich vernachlässigt, sondern sogar einige Prinzipien unserer Integrationspolitik über Bord geworfen; wir pflegen nicht mehr die Kommission und das Europäische Parlament, sondern haben uns mit Frankreich zusammen ‚intergouvernementalisiert’. Wir haben die kleinen Länder in der EU übersehen, eine zunehmend nationale Diktion entwickelt – ohne dass wir dadurch zwingend ‚deutsche nationale Interessen’ (wenn es denn solche gibt) sichtbar besser durchgesetzt hätten. Und schließlich haben wir uns durch die Jagd auf einen Sitz im Sicherheitsrat in kühne – und wie sich dann herausgestellt hat: kühle – Sphären emporgeschwungen, die uns nicht gut bekommen sind. Es gleicht alles ein bisschen dem Spatz in der Hand und der Taube auf dem Dach. Unser europäisches Haus – das doch gerade DAS Haus für Deutschland ist – haben wir nicht bestellt. Und die Kathedrale nicht bekommen. Und dies alles, diese These möchte ich hier wagen, da wir unsere ureigene Symbiose zwischen deutschen und europäischen 5 Interessen in den vergangen Jahren allzu oft übersehen haben, sondern zunehmend ‚deutsche’ gegen ‚europäische’ Interessen ausgespielt und dabei auch vergessen haben, dass vieles, was in deutschem Interesse ist, nur europäisch erreicht werden kann. Deutschland war immer das einzige der drei großen europäischen Länder mit ‚esprit communautaire’. Großbritannien und Frankreich sind zwar groß, aber nicht so sehr communautaire’; beide auf ihre Weise. Und Italien (und Spanien) sind zwar – wenn auch beide ein bisschen unterschiedlich stark – ‚communautaire’, aber eben nicht ganz so groß. Dieses Markenzeichen, das zugleich ein gewichtiger Kitt der EU gewesen ist, dies haben wir aufgegeben. Die Positiv-Liste der deutschen Außenpolitik nun, denn ein paar positive Aspekte gibt es ja auch: Deutschland ist natürlich global gewachsen und hat Verantwortung übernommen, vor allem militärische: im Balkan, in Afghanistan. Dass dies in dieser Koalition möglich war, das ist vielleicht der größte Verdienst. Damit hat Deutschland nicht nur ein Stück Normalität, sondern auch ein Stück Größe gewonnen. Die Wiederentdeckung von ‚deutschen’ Interessen und inzwischen auch deutschen ‚Ambitionen’ in der Welt oder besser für die Welt hat auch einen gesunden, heilsamen Aspekt. Damit einher geht ein Stück neues Selbstvertrauen, das wichtig ist. Was ist zu tun? Natürlich ist es immer sehr leicht zu sagen, was getan werden müsste, wenn man keine Verantwortung trägt und nicht in partei- oder machtpolitische Kompromisse genötigt wird, wenn der Blick auf das Gewünschte vielleicht den Blick auf die Realität verstellt. Dies ist vielleicht mein Fehler. Und dennoch möchte ich mir erlauben, hier einfach mal zu skizzieren, was ich denke, was eine neue deutsche Regierung machen müsste. Es ist eine Art Wunschliste, aber manchmal scheint mit, dass dies Teil des Problems ist, nämlich dass wir gar nicht mehr so genau wissen, was wir uns außenpolitisch eigentlich wünschen sollten und vor allem Dingen die Dynamiken zwischen Innen- und Außenpolitik immer noch nicht ausreichend beleuchten: 1. Europa wieder Ernst nehmen und bauen – aber nach vorne, nicht zurück! Ich persönlich habe es als fast erschreckend gefunden, wie wenig Europa, die EU, in diesem Wahlkampf vorgekommen ist, weder als Rahmen oder Referenz für nationale 6 Debatten, noch als Lösung. Auch die gesamte sozial-ökonomische Reformdiskussion hat keinerlei Einbindung in europäische Zusammenhänge erfahren. Europa erscheint höchstens als Problem (Erweiterung, Budget); die Europadebatte ist eine einzige Abwehrdebatte, angefangen beim Feinstaub bis hin zur Türkei. Manchmal scheint es, dass man sich vor zuviel Europa gleichsam nach innen – zuviel Integration – und nach außen – noch mehr Länder – schützen müsste, bzw. dass ein Gegensatz aufgebaut wird: wenn noch mehr Länder kommen, dann kann die Integration nicht mehr funktionieren. Darum, so heißt es, müsse jetzt endlich die Finalität Europas und müssen die Grenzen definiert werden. Ich denke hingegen, dass beides immer noch zusammengehört, und dass auch weiterhin die Erweiterung die Vertiefung bedingen wird. Darum möchte ich die umgekehrte These wagen, nämlich dass wir die Finalitätsdiskussion ad acta legen sollten. Europa, die EU ist nicht statisch. Die EU ist Prozess und Projekt. Und das ist vielleicht ihre größte Stärke, denn es kann ihr erlauben, sich an die Welt, wie sie morgen sein wird, anzupassen, sich darauf einzustellen. Der eigentliche Punkt scheint mir zu sein, dass, wenn wir die Grenzen ändern, wir auch das Projekt der Integration ändern müssen. Neue Länder werden nicht in die EU von heute kommen, sondern in eine andere. Um es auf den Punkt zu bringen: wir werden die Türkei nicht in das Europe de Charlemagne integrieren. Aber vielleicht werden wir die Türkei in eine neue, veränderte Europäische Union aufnehmen können. Die EU neu denken. In den Parteiprogrammen habe ich dazu leider nichts gelesen. Und doch steht die EU nach den gescheiterten Referenden vor der vielleicht größten Herausforderung ihrer Geschichte. Das Neudenken muss allerdings in der nächsten Legislaturperiode erfolgen, denn die Welt wartet nicht. Ich würde mir wünschen, dass für diese Diskussion große Impulse von Deutschland ausgehen, und möchte dazu eine konkrete Idee ansprechen: wir sollten darauf hinwirken, Verfassung und Vertragsreform zu trennen. Denn es war u.a. die Tatsache, dass das Dokument zu lang und zu übersichtlich war, die zu seiner Ablehnung geführt hat. Meine Idee wäre es, eine schlanke, übersichtliche Verfassung, im Wesentlichen den Teil I und die Grundrechtecharta, 2007 neu zu verabschieden. Unter deutschem Impuls sollten wir dabei versuchen, das Datum des 27. März 2007, den 50. Geburtstag der Römischen Verträge, zu nutzen, der im übrigen mit der nächsten deutschen EU Präsidentschaft zusammenfallen wird. Dieses Datum sollte uns erlauben, noch einem die ‚große Laute der Geschichte’ zu spielen, und die Bürger 7 auch emotional wieder zu der Schönheit und dem Reichtum des europäischen Projektes zu führen, das auch morgen noch das sein wird, was es seit seinen Anfängen war: Garant für Frieden, Freiheit, Sicherheit und Stabilität. Die technische Vertragsreform kann dann zwischen 2007 und 2009 passieren. Nizza kann bis 2009 gelten, ohne das die EU Schaden erleiden wird. Problematisch wird Nizza erst beim Beitritt des 28. Landes – wahrscheinlich Kroatien – denn der Vertrag gilt nur für 27 Staaten. Insofern sollten wir bis Ende der Dekade eine Vertragsreform erreichen, uns dafür aber Zeit nehmen. Ich glaube nicht daran, dass die österreichische Ratspräsidentschaft hier Großes leisten kann; ich denke, dass wir in Frankreich einen Regierungswechsel brauchen, um diesem Ziel näher zu kommen. Ich glaube auch nicht daran, dass uns die großen transnationalen Debatten über die Zukunft Europas viel bringen (was verstehen wir unter ‚sozial’? die Frage ist so nicht zu beantworten….), und ich denke, dass Deutschland daher einen solchen Zeitrahmen vorbereiten sollte. Das heißt nicht, dass wir bis 2007 nichts tun. Im Gegenteil: es sollten viele pragmatische Schritte unternommen werden, und Deutschland könnte hierfür resolut die Initiative ergreifen: - Der konsequente Ausbau eines Europäischen Diplomatischen Dienstes - Die Erweiterung des Schengen-Raums nach Mittel- und Osteuropa ab 2006 - Die Erreichung der Headline Goals inkl. der Battle Groups und Gallilei, sowie die Schaffung einer europäischen Armee - Die Heranführung der mittel- und osteuropäischen Länder an den Euro – dem Juwel der europäischen Integration - bis 2010 - Ein unbedingt erfolgreicher Beitritt Bulgariens und Rumäniens - Konstruktive Lösungen für den Balkan - Auch Zukunft pragmatisch denken und auf kommende, große Veränderungen einstellen. Z.B. gibt es Simulationen, nach denen Deutschland, Frankreich und Italien auf der BIP-Basis ca. 2007 von den sogenannten BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) überholt werden. Wir sollten daher darüber nachdenken, ob nicht die EU/ Eurozone als solches in der G-8 vertreten sein sollte. - Ein EU Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Das alles würde gleichsam faktische Schwerkraft für das Projekt Europa schaffen, die dann für die Vertragsreform hilfreich sein würde. 8 Deutschland fällt hier eine große Aufgabe zu, denn es muss zwischen Großbritannien und Frankreich vermitteln, und zwar auf mehreren Ebenen. Im Grunde genommen bedarf es heute eher eines britisch-französischen Motors oder Konsenses in der EU, denn eines deutschfranzösischen, stellen doch Frankreich und Großbritannien die Antipoden in der EU dar, hinsichtlich ihres Sozialmodells, ihrer Haltung zu den USA sowie ihrer Position in den EUBudget-Verhandlungen. Das Budget wird die erste Aufgabe sein, wo Deutschland sich in die Mitte der beiden stellen kann: die Briten müssen auf den Rabatt und die Franzosen noch mehr auf die GAP verzichten, damit ein modernes Europa entstehen kann. Denn ein neues Europa braucht auch eine neue Re-allokation von Ressourcen. Dies wird schwierig, denn schon jetzt sind die Franzosen besorgt, dass eine neue Regierung Merkel ‚Frankreich fallen lassen könnte’. Ich denke, dies ist nicht der Punkt. Deutschland kann und darf Frankreich nicht fallen lassen. Frankreich ist und bleibt wichtigster strategischer Partner und kann durch niemanden ersetzt werden. Zumal Großbritannien ja nur halb in Europa ist (Schengen/ Euro). Aber Deutschland muss wieder fordernder (‚plus exigeante’) gegenüber Frankreich werden, denn Europa war oft ein französisches Projekt, aber zu deutschen Konditionen, und auch das haben in letzter Zeit vergessen. Und natürlich muss Deutschland seine eigenen europapolitischen Hausaufgaben machen. Ein solch erneuertes deutsch-französisches Tandem hätte wieder alle Chancen, Führung zu übernehmen und wieder Respekt zu erlangen, auch und vor allem in Osteuropa, der anderen großen Baustelle Deutschlands. Das Budget, die erwähnten pragmatischen Schritte und eine Trennung von Verfassung und Vertragsreform sowie eine schöne Feier im März 2007: das wäre meine europapolitische Wunschliste an Deutschland nach innen. Nach außen, was die Grenzen der EU betrifft, hätte ich zwei Wünsche (oder auch Ideen): ich hätte gerne, dass Deutschland in den nächsten Jahren die treibende Kraft für eine Diskussion über ‚The costs of non-enlargement’ wird. Eine Art Cecchini-Bericht1 über die politischen, ökonomischen und kulturellen Kosten der Nicht-Erweiterung. Ich denke nämlich, dass dies in der Diskussion viel zu oft übersehen wird. Was auf dem Spiel steht, ist nicht weniger als folgendes: die Glaubwürdigkeit der EU, wenn wir unser 1 1988 errechnete Paolo Cecchini im Auftrag der Europäischen Kommission, was eine Nichtverwirklichung des europäischen Binnenmarktes kosten würde. 9 Beitrittsversprechen mit der Türkei brechen; die Chance, ‚to proof Huntington wrong’, nämlich die Chance auf eine cross-nationale und cross-kulturelle und cross-religiöse Verständigung mit der muslimischen Welt; Wachstumspotentiale östlich und südlich unserer Grenzen, die ja gerade dann weniger zur ‚Gefahr’ werden, wenn wir die domestizierenden Instrumente des Binnenmarktes haben und anbieten können. Stabilität, Sicherheit…. Kurz: ich wünsche mir, dass der Begriff ‚europäische Geo-strategie’ zu deutschen Vokabel wird, und zwar einhergehend mit dem Begriff der europäischen Interessen. So wichtig der Begriff der Identität ist: es gibt keine Politik ohne Interesse. Allzu oft wird getan, als sei die EU eine Art altruistischer Folkloreladen, nett zu allen, nie fordernd, eine Art Mäzen. Das ist aber nicht so. Mit europäischer Geo-strategie meine ich nämlich, dass es um unsere Interessen geht, um unsere Energiesicherheit, um unsere Rolle um Kaukasus und im Schwarzmeerraum, um unseren Einfluss auf den Nahen Osten, um einen stabilen und prosperierenden Balkan oder um unser Verhältnis zu Russland. Im Rahmen einer europäischen Geo-Strategie, einer Europäisierung der deutschen Russlandpolitik, könnten auch Spannungen wie wir sie jüngst erlebt haben, vermieden werden. Aber natürlich geht es dabei auch darum, dass wir die ‚transformative Kraft’ der EU, d.h. also den Zwang, die anderen auf unsere Regeln zu verpflichten (was wir ja wollen), nur haben, wenn wir auch klare Beitrittsperspektiven anbieten. Im übrigen: so zu tun, als würden die Staaten, wie etwa die Türkei oder auch Georgien etc. irgendwie von der Landkarte verschwinden, ausradiert werden, wenn wir dies nicht tun, ist natürlich illusorisch. Die Probleme blieben; wir würden uns nur den Handlungsrahmen vergeben, sie zu lösen. Wenn wir den Begriff des ‚positiven Imperiums’ für die EU Ernst nehmen (siehe den von H. Münkler verwendeten Begriff der‚soft-super-power’, der in seinem letzten Buch darlegt, dass Europa in seiner Außenpolitik Anleihen bei imperialen Strukturen nehmen sollte2), dann darf nicht jedes neue Land als Bürde empfangen, sondern sollte als Chance gesehen werden. Denn ein ‚Imperium’ muss einfach groß sein. Es braucht Gewicht und Masse. Insofern sollten wir uns auch überlegen, ob nicht jedes Land auch ein Zugewinn, jede Erweiterung der Eurozone uns letztlich dienlich sein könnte. Ich möchte hierbei nicht missverstanden werden: ich möchte keine sofortige Erweiterung um x Staaten mehr, und zumal nicht unter aufgeweichten Bedingungen. Aber ich denke einfach, dass wir die Frage, wer irgendwann in die EU soll und kann, heute nicht beantwortet werden 2 Herfried Münkler: Imperien. Berlin, 2005 10 kann, und darum sollten wir diese Frage auch offen halten. Niemand kann wissen, wo wir 2010 oder 2015 stehen; ob die Ukraine dann eine Bereicherung für die EU sein könnte oder nicht. Wir sollten der EU die Chance geben, an ihren Herausforderungen zu wachsen. Darum müssen, ganz konkret, die Verhandlungen mit der Türkei jetzt beginnen. Aber wir sollten der EU für dieses Wachstum auch neue Instrumente geben. Darum möchte ich in die Diskussion als zweite Idee, die ich einer neuen deutschen Europapolitik gerne in den Mund legen würde, den Begriff der ‚partiellen Mitgliedschaft’ anbieten. Nicht nur, weil ‚priviligierte Partnerschaft’ in meinen Augen viel zu arrogant klingt. Sondern weil das Konzept erstens nichts enthält, was die Türkei nicht schon hätte, und zweitens wir uns die semantische Haarspalterei zwischen Vollmitgliedschaft und priviligierter Partnerschaft sparen sollten. Wer das Kommissionsdokument vom Oktober 2004 gelesen hat, wird festgestellt haben, dass die Türkei dort ohnehin keine Mitgliedschaft im klassischen Sinn angeboten bekommt und sie z. B. weder an der GAP noch in Bezug auf die Freizügigkeit voll beteiligt würde. Das Konzept einer partiellen Mitgliedschaft würde die Beitrittshürde niedriger setzen und damit auch Ängsten in Westeuropa entgegenwirken. Es müsste natürlich institutionell unterfüttert werden. Es wäre die Konkretisierung jener ‚Kerneuropa-Ideen’ in einem modernen Sinn. Denn die EU hat segregierte Politikbereiche (Binnenmarkt, GASP, Schengen, Steuern, Europol, Euro), von denen man sich durchaus vorstellen kann, dass sie sozusagen einzeln bzw. Schritt für Schritt angeboten werden könnten. So können Potentiale der konkreten Kooperation ausgeschöpft werden, ohne die Beitrittshürde zu hoch zu setzen, und zum unglaubwürdigen Versprechen zu machen. Transatlantische Beziehungen Zum Abschluss jetzt noch meine Wunschliste für die deutsche Rolle in den transatlantischen Beziehungen. Vor allem, wenn Frau Merkel Kanzlerin wird, so wird verkündet, wird Deutschland seine Beziehungen zu Amerika wieder nachdrücklich verbessern und Deutschland wieder Amerikas Juniorpartner in Europa. Das ist in der Tat dringend notwendig, es wäre gut und wünschenswert. Für Deutschland, für Europa und die USA. Denn tatsächlich geht in Europa nicht viel ohne die USA, und kaum etwas gegen die USA. Für die europäische Integration ist amerikanische Unterstützung unabdinglich. Und auch sie könnte wieder blühen, wenn Deutschland nicht mehr ‚suspicious’ ist, wenn Deutschland gar noch Frankreich (unter 11 Sarkozy) in einem transatlantischen ‚renouveau’ mitziehen könnte, und wenn der europäische Osten sich nicht mehr Sorgen machen müsste, zwischen EU und NATO / USA zerrieben zu werden. Kurz: wenn beides wieder zusammengehört, wie eh und je. Ich sehe trotzdem zwei Probleme, ein kleines und ein großes, und zwar für alle potentiellen neuen deutschen Koalitionen (besonders aber für Merkel). Das kleine zuerst, und das Problem ist die Gefahr einer ‚post-honey-moon-depression’. Ich meine damit die Gefahr, dass Frau Merkel, trotz all ihrer Ambitionen und ihrem Willen, die transatlantischen Beziehungen zu verbessern, wahrscheinlich da nicht wird liefern können, wo die USA es am meisten wünschen. Damit meine ich gar nicht einmal deutsche Truppen im Irak. Und auch nicht – je nachdem wie sich die Lage im Iran und die transatlantische Strategie entwickeln sollte – die wahrscheinliche Unmöglichkeit einer deutschen Regierung, sich aus dem europäischen Konsens der ‚Big Three’ zu lösen. Nein. Betrachtet man die Hauptthemen des US-Interesses in Europa, dann sind dies genau Türkei, Balkan/ Kosovo, Schwarzmeerraum, also genau die ‚europäische Geo-Strategie’. Und dies sind Themen, die in der amerikanischen Diskussion – oft kontraproduktiv – mit einer europäischen Beitrittsperspektive verbunden werden. Genau hier aber wird insbesondere Frau Merkel Probleme haben, in der Substanz zu liefern, wenn sie sich – unter dem Druck ihrer Partei – diesen Debatten verschließen sollte. Nur Rhetorik wird aber in den transatlantischen Beziehungen nicht lange weiterhelfen. Nun zum vielleicht noch größeren – oder besser zum strukturellen – Problem. Und das heißt für mich, dass wir eigentlich auch die transatlantischen Beziehungen neu denken, dass heißt, in die Zukunft, und nicht zurück denken müssten. Mir scheint, zumal wenn ich z.B. das CDUParteiprogramm zu diesem Thema lese, als ob die Welt wieder in Ordnung wäre, wenn wir nur zur alten schönen NATO zurückkehrten, diese wieder stärkten, und alles wird gut. So wie vor 1989. Wird es aber nicht. Denn die Welt hat sich geändert. Und ich denke, wir denken auch die Veränderungen, die sich dadurch für das transatlantische Verhältnis ergeben, nicht resolut genug zuende. Ich möchte die These wagen, dass die NATO nicht mehr die am besten geeignetste Institution ist, um die transatlantischen Probleme von heute zu lösen, einfach weil die heutigen transatlantischen Probleme zu einem großen Teil keine NATO-Themen mehr sind: 12 Transatlantische Streitpunkt sind heute Iran, Proliferation, das Waffenembargo mit China und die Nachbarschaftspolitik der EU. Im breiteren Sinne auch Entwicklungspolitik, die Reform der UN und die Milleniumsagenda. Dazu ICC und Kyoto. Nichts davon kann die NATO wirklich lösen. Und auch im ‚Kampf gegen den Terror’, wenn man denn meint, dass er an der Wurzel und nicht in erster Linie militärisch bekämpft werden muss, kann die NATO in letzter Konsequenz nicht viel ausrichten. Sie kann vielleicht die Fische fangen, aber nicht den See austrocknen. Für viele dieser Dinge ist die EU inzwischen tendenziell der geeignetere Ansprechpartner. Die EU verhandelt mit dem Iran, sie kann jedoch nicht unilateral das Waffenembargo mit China aufheben; die EU kann (oder auch nicht) Beitrittperspektiven in ihrer Nachbarschaft anbieten und damit dauerhafte Stabilisierungs- und Demokratisierungsprozesse zementieren. Die Zukunft für den Balkan ist daher eher die EU und nicht die NATO. ICC und Kyoto, Milleniumsagenda sind ebenfalls eher EU Themen, und ich denke, wir müssen es in den transatlantischen Beziehungen ermöglichen, eine umfassende, globale Agenda zu behandeln. Denn transatlantische Beziehungen sind eben heute keine Nabelschau mehr, in der wir uns im Grunde selber gegeneinander betrachten, sondern in denen es darum gehen sollte, was wir wie gemeinsam in der Welt tun. Die EU ist möglicherweise die Institution, die in ihrer Komplexität Lösungen anbieten kann, für Probleme, die eine politische und wirtschaftliche Dimension haben, weil die EU in ihren Politikfeldern und Politikbereichen umfassend ist. Insofern wehre ich mich zunehmend gegen die semantische Gleichsetzung von EU und NATO als ‚euro-atlantische’ Institutionen, als wenn es dabei um das gleiche ginge. Ich denke daher, dass aus diesen Gründen die Beziehungen zwischen den USA und der EU langfristig aufgewertet werden müssen. Nun gibt es aber keine brauchbare und politisch ausreichend respektierte Einrichtung, kein geo-strategisches Forum, um diesen EU-US Dialog zu den zentralen Themen, die uns bewegen, zu führen. Das ist institutionell noch nicht gedacht, sollte aber vielleicht gedacht werden. Denn transatlantische Beziehungen in der Zukunft sind eben nicht mehr, was wir miteinander machen (wie wir miteinander mit einem Feind umgehen; UdSSR), sondern was wir zusammen in der Welt und für die Welt machen. Dies setzt aber eine neue Diskussionskultur über Ziele und Instrumente voraus, die vielleicht auch institutionelle begleitet werden müsste. Denn der exogene Zwang der Bedrohung (und damit implizit die sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA) hält uns heute nicht mehr zusammen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die jüngste Umfrage, die der GMF 13 gerade wieder publiziert hat, die Transatlantic Trends 053, in der diese unterschiedlichen Befindlichkeiten auf vielfältige Art und Weise in den Zahlen zum Ausdruck kommen. Deshalb sollte ein Dialog ermöglicht werden, der in der Essenz gleichberechtigte Partnerschaft und nicht Gefolgschaft zum Ziel haben, und es ist fraglich, ob die NATO hier institutionell ausreicht, da dort die USA gleichsam Primus inter Pares sind, und die NATO Konsensentscheidungen notwendig macht, wo vielleicht einmal kein Konsens besteht. Das heißt nun gerade nicht, dass die NATO etwa obsolet ist. Aber sie sollte sich vielleicht wieder mehr um ihr Kerngeschäft, die militärische Komponente, kümmern und dazu notwendigerweise auch wieder ‚politisiert’ werden, wie viele es derzeit fordern. Im militärischen Kerngeschäft hat sie sozusagen ihr ‚competitive advantage’, ist sie unersetzbar. Und vielleicht sollte die NATO wagen, dies auszubauen? Etwa darüber nachdenken, ob man Israel eine Mitgliedschaft anbieten könnte? Gerade vor dem Hintergrund der iranischen nuklearen Bemühungen. Könnte dies nicht ein starkes, transatlantisches Signal sein? Wäre dies nicht gerade für Deutschland eine Frage, die des Nachdenkens wert ist? Ich glaube, die internationalen Beziehungen brauchen viel mehr ‚out-of the box’ Denken, als wir uns dies heute klarmachen. In der Zusammenfassung: wir müssen auch die transatlantischen Beziehungen nach vorne denken dürfen, ohne in den Verruf des Anti-Amerikanismus zu kommen, oder den Verruf, die Demontage der NATO betreiben zu wollen. Und wer anders als Deutschland könnte eine solche Debatte konstruktiv anstoßen, hat unsere Glaubwürdigkeit, unsere transatlantische Tradition, unser Gewicht? Wir sollten kreativ die Herausforderung annehmen, den ‚Westen’ auch institutionell und umfassender zu denken, als die NATO dies bieten kann. Vorschläge dazu gibt es bereits: ein ‚Transatlantischer Rat’, einmal jährlich, ähnlich dem EU-Rat? Ein aufgewerteter US-EU Gipfel? Regelmäßige Minister-, Kommissionskonsultationen? Eine transatlantische Freihandelszone? Wir müssen ja nicht soweit gehen wie Richard Rosencrance in seinem jüngsten Artikel, der schlichtweg einen euro-amerikanischen Merger vorschlägt. Obgleich ich gegen einen Beitritt der USA zur EU in letzter Konsequenz auch nichts hätte. Aber gerade in diesem Zusammenhang möchte ich einen letzten Satz machen: den Westen neu denken. Welches Land könnte besser geeignet sein, dieser Herausforderung auch intellektuell nachzugehen als Deutschland, die wir von E. Kant bis H. Morgenthau große Denker der internationalen Beziehungen hervorgebracht haben. Mir scheint aber, dass in 3 The German Marshall Fund of the United States und die Compagnia di San Paolo mit Unterstützung der Fundação Luso-Americana sowie der Fundación BBVA: Transatlantic Trends 2005 14 diesem ‚den Westen neu denken’ auch eine Gefahr schlummert, nämlich die – leider auch eine deutsche Idee – ein neues ‚Freund-Feind’ Schema zu erfinden. Hintergrund für den neuen Zusammenschluss des Westens ist nämlich oft die ‚Gefahr’, die anderswo lauert, und gegen die man sich zusammenschließen müsse, entweder die muslimische Welt, oder aber, prosaischer, der Aufstieg Chinas. Dazu nur ein Gedanke aus einer Diskussion letztens, in der ein US Redner eine chinesische Rolle im Peace-Process des Nahen Osten forderte. Es sei unsinnig, dass sich die USA / der Westen und China hier auch noch politisch Konkurrenz machten, denn eigentlich wollen wir beide dasselbe: ’Stabilität und Cheap Oil’. Darum sollten wir uns mit den Chinesen strategisch zusammentun. Mein erster Gedanke aber war: wie hätte ich auf diesen Satz reagiert, wenn ich jetzt aus Syrien, Irak, Saudi Arabien oder Bahrein wäre? Und ich eigentlich nur einen fordernden Hegemon gegen zwei eintausche, die eigentlich nur wollen, dass ich ruhig bin und keine Ansprüche stelle. Kann so die Welt von morgen aussehen, die doch, wie Michael Friedman schreibt, flach geworden ist? Kann es Strategie des ‚Westens’ sein, im Prinzip darauf zu bestehen, dass der Westen (plus China?) Dinge besitzt, die wir anderen Staaten nicht zugestehen (Atomwaffen)? Weil wir besser sind bzw. es immer waren? Müsste die ehrliche Strategie eines modernen Westens mit China im Mittleren Osten nicht wenigstens lauten: Stability and expensive oil, und wir dadurch unsere Bereitschaft bekunden, die wirtschaftliche Entwicklung im Mittleren Nahen Osten voranzutreiben, und so auch dem Terrorismus vielleicht seinen Nährboden zu entziehen? Werden wir in der Lage sein, diese Themen mit den Amerikanern zu thematisieren? Wird Deutschland es wagen? Ich würde es mir wünschen! Nun werden sie alle sagen, ein so energisches Neudenken von Europa und den transatlantischen Beziehungen ist Utopie. Vielleicht. Doch darauf antworte ich immer mit Henry Kissinger: „Sceptics don’t build cathedrals.“ Ich wünsche mir das moderne, große, offene Europa mit Deutschland in seiner energetischen Mitte und die transatlantische Gemeinschaft, den Westen, als offene, der Welt zugewandte, entity, nicht exklusiv und abschottend, und zwar ganz einfach für die Welt, in der meine Kinder leben sollen. Damit die nicht wieder, wie einst Heinrich Heine 1851, in ihr Tagebuch schreiben müssen: Meine Hühneraugen jucken Habe deutsche enge Schuh Und wo mich die Schuhe drücken 15 Weiß ich wohl – laß mich in Ruh. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. 16