„Oligarchische Traditionen und Klientelismus: Gründe für Demokratiedefizite in postosmanischen Staaten“ Dr. Tilman Lüdke Arnold-Bergstraesser-Institut Windausstr. 16 D-79110 Freiburg Tel. 0049-761-88878-28 [email protected] Abstract: Nach dem Ende des Osmanischen Reiches setzten in allen postosmanischen Staaten Prozesse des „Nation-Building“ ein. Die (pragmatische)1 Toleranz der imperialen Periode machte einer aggressiven Integrations- und Assimiliationspolitik Platz. Anstatt der Adpotion des Ideals des Staatsbürgers – eines Individuums, das ohne Ansehen der Person gleiche Rechte und Pflichten hat wie ethnisch, religiös oder kulturell „Andere“ - kam es in allen postosmanischen Staaten zu „social engineering“: dem Versuch, unterschiedliche Gruppen zu einer nationalen Einheit zu verschmelzen, oder der Etablierung der Herrschaft einer dominanten Gruppe auf Kosten anderer. Der Status eines Individuums hängt in derartigen Systemen somit nicht von seinen individuellen Rechten als Staatsbürger(in) ab, sondern von der Zugehörigkeit zur einen wie zur anderen Gruppe. Machterhalt der jeweils dominanten Gruppe nimmt Priorität ein gegenüber gesellschaftlicher Integration. „Gruppen“ müssen dabei nicht ethnisch oder religiös definiert sein, sondern können durchaus auch für politische Parteien und ihre Gefolgschaft stehen. Dieser Mechanismus existiert auch in vermeintlich demokratischen Staaten, wie der Türkei, dem Libanon und Israel, die somit als defizitäre Demokratien anzusehen sind. Jedoch ist die Türkei im Unterschied zu vielen anderen postosmanischen Staaten wesentlich demokratischer. Die Reformen der AKP-Regierung nach 2002 gaben sogar zu der Hoffnung Anlass, dass die verbleibenden Defizite der türkischen Demokratie überwunden werden könnten (Neutralisierung des Militärs im politischen Bereich, Versprechen einer neuen Politik der kulturellen Toleranz an die Kurden); doch hat sich im Verlauf der Gezi-Park Proteste (die brutale Niederschlagung der Proteste sowie die Bezeichnung der Demonstranten als „Terroristen“ durch Erdoğan) gezeigt, dass die Türkei noch immer am Gift des Autoritarismus leidet. Anstatt einer grundsätzlichen Änderung der politischen Kultur scheint 1 „Pragmatisch“ bezieht sich hier auf die Gewährung von Autonomie nicht als Selbstzweck, sondern um die Regierbarkeit der Bevölkerungen zu garantieren. sich lediglich ein Wandel der Eliten, die politische Konflikte unter sich abmachen, abzuzeichnen. Dies rückt die Türkei jedoch wieder stärker in die Nähe anderer postosmanischer Staaten: selbst Revolutionen ändern wenig an einem grundsätzlich autoritären und nicht selten gewaltsamen Politikstil. Sind politische und gesellschaftliche Institutionen für diese Hartnäckigkeit des Autoritarismus in der Türkei und anderen postosmanischen Staaten verantwortlich? Der deutsche Soziologe Robert Michels formulierte sprach von einem „Eisernen Gesetz der Oligarchien“, das es unwichtig macht, welche Gruppe in einer durch Patronage- und Klientelbeziehungen gekennzeichneten Gesellschaft dominiert: das Erringen von Macht (auch auf demokratischem Weg) führt vermeintlich unmittelbar zu ihrer Korrumpierung und somit Ent-Demokratisierung.2 Herrschaft wird somit zunehmend durch Gewalt sowie das Ausschütten von Renten an die Klienten zu sichern versucht, anstatt sich demokratischen Wahlprozessen zu unterwerfen. Klientelismus und die lange Tradition oligarchischer Herrschaftsformen könnten Erklärungen für strukturelle Demokratiedefizite sein. Sie könnten ebenso einen Grund liefern, somit weswegen auch die Existenz als essentiell für eine Demokratisierung angesehene gesellschaftliche Prozesse noch nicht zu einer tiefgreifenden Demokratisierung der türkischen Gesellschaft geführt haben: Alphabetisierung, das Entstehen einer gebildeten und wirtschaftlich zunehmend gut gestellten Mittelschicht sowie einer großen und umfangreichen Zivilgesellschaft. Der Beitrag möchte diese Zusammenhänge analysieren und sich mit Möglichkeiten beschäftigen, wie pro-demokratische Akteure unter diesen Umständen gestärkt werden können. 2 Zitiert nach Acemoglu, Daron/ Robinson, James A.: Why Nations Fail: The Origins of Power, Prosperity and Poverty, London 2012, S. 360.