DIE ZEIT 12. Mai 2014

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Jetzt erst recht
EIN GASTBEITRAGVON RUPRECHT POLENZ (CDU – Christlich Demokratische
Union Deutschlands – auch Merkel gehört dieser Partei an; ist zurzeit Fellow am
Istanbul Policy Center)
DIE ZEIT 12. Mai 2014
Ein Land, in dem die Regierung ihren Kritikern droht und demokratische Werte mit
Füßen tritt, kann nicht zu Europa gehören. Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der
Türkei müssten sofort gestoppt werden, sagte der CSU-Generalsekretär Andreas
Scheuer zu Beginn […] vergangene Woche. Die CSU ist sich mit der CDU, meiner
Partei, in einer Sache einig: Der zunehmend autoritäre und repressive Kurs der
Regierung von Premierminister Tayyip Erdoğan würde es rechtfertigen, dass die EU
die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei so lange aussetzt, bis die Regierung zu
einem an Demokratie und Rechtsstaat orientierten Reformkurs zurückkehrt.
Allerdings wäre es unklug, die Beitrittsverhandlungen jetzt zu stoppen. Es gibt bessere
Möglichkeiten, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei zu
stärken – indem man gerade jetzt die Beitrittsverhandlungen intensiviert.
Es stimmt, in letzter Zeit war in der Politik Erdoğans von Europa-Orientierung nicht
mehr viel zu spüren. Der brutale Umgang mit den Gezi-Park-Protesten, die
Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit und der Druck auf missliebige
Journalisten, die massenhafte Versetzung von Polizisten und Korruptionsermittlern
seit Mitte Dezember, die Versuche einer stärkeren politischen Kontrolle über die Justiz
und zuletzt die Sperrung von Twitter und YouTube – das alles entfernt die Türkei von
Europa und den Zielen des Beitrittsprozesses.
Brüssel hätte jede Rechtfertigung, die Verhandlungen auszusetzen. Aber was wäre die
Folge? Die Wirtschaft, ohnehin beunruhigt wegen der politischen Krise in der Türkei,
wäre noch stärker verunsichert. Auslandsinvestitionen würden zurückgehen. Das
schwächelnde Wirtschaftswachstum würde weiter zurückgehen. Erdoğan würde wohl
eher seinen bisherigen Verschwörungstheorien eine weitere hinzufügen, statt seine
autoritäre Politik zu ändern. Ein Stopp der Beitrittsverhandlungen würde auch die
türkische Zivilgesellschaft schwächen und jenen in den Rücken fallen, die gegen die
autoritäre Repression protestieren und auf die Straße gehen.
Trotz all ihrer Krisen und Defizite wirkt die Türkei angesichts der Konflikte in der
Region immer noch wie eine Insel der Stabilität. Seit 1996 sind wir in einer Zollunion
verbunden. Die Türkei ist unsere Nato-Partnerin, der wir im Fall eines Angriffs auf ihr
Territorium Beistand schulden. Als EU brauchen aber auch wir sie, um unsere
Interessen im Nahen Osten oder in der Schwarzmeerregion zu verfolgen. Das gilt beim
Thema Energieversorgung genauso wie für eine mögliche Beendigung des syrischen
Bürgerkriegs oder eine Lösung des Nahostkonflikts zwischen Israel, den
Palästinensern und den arabischen Staaten.
Wir haben ein grundsätzliches Interesse daran, dass sich die Türkei in Richtung
Europa orientiert.
Statt also die Beitrittsverhandlungen zu stoppen, sollte die EU Premierminister
Erdoğan dazu zwingen, Farbe zu bekennen. […]. Über die Beitrittsverhandlungen
könnte die EU unmittelbar Einfluss nehmen und Rechtsstaatlichkeit und Demokratie
in der Türkei stärken. Die Türkei hat noch einen langen Weg vor sich. […]
Gleichzeitig müsste die EU deutlich machen, dass sie es mit der Türkei als Mitglied
ernst meint, wenn sie denn die Beitrittskriterien erfüllt. Viele Türken glauben nicht
mehr daran, dass ihr Land wirklich eine faire Chance hat. Zu oft haben sie von
führenden Politikern aus Europa etwas anderes gehört. Die Aussicht, eines Tages EUMitglied zu werden, hat einmal Reformanstrengungen befördert – mittlerweile lassen
sie nach.
Die Türkei hat noch einen langen Weg vor sich. […]
Wenn Premierminister Erdoğan dieses Angebot nicht annimmt, wäre er es, der die
Verhandlungen beendet. Die EU muss die Türkei jetzt vor genau diese Wahl stellen.
POLENZ, R. (2014): Jetzt erst recht.
verhandlungen> [Zugriff: 2014-06-01].
<http://www.zeit.de/2014/20/tuerkei-eu-beitritt-
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