VorlesungWS07

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PD Dr. Klaus Semsch
WS 2007/08 – Vorlesung
Vorlesung: Kulturgeschichte und Literatur der Frankophonie
2. Vorlesung
- Geschichte und Problemstellungen der Frankphonie
I.: Diversité ≠ Identité: In der Romanistik wird das Thema Frankophonie seit den
80er Jahren v.a. aus der Perspektive der Thematik von Identität und Diversität
betrachtet. Dieser Ansatz ist freilich eurozentrisch, d.h. er orientiert sich an
Problemstellungen des europäischen Kultur- und Lebensraums und versucht, diese an
außereuropäischen Kulturen kritisch zu hinterfragen oder auch zu bestätigen.
Strukturalismus, Postmoderne, Poststrukturalismus und gender studies haben dabei die
bereits seit den 50er Jahren in die Krise geratene, europäische Identität dekonstruiert
und ihr ein Denken der Alterität, der Diversität, der Pluralität (altérité, diversité,
pluralité) entgegen gestellt. Machte man allgemein eine überzogene – in der
Aufklärung entstandene – Werteorientierung am Individuum (Ich, Subjekt) für die
Krise Europas verantwortlich, die in polarisierte Ideologien wie in 2 Weltkriege führte,
so setzt man dagegen nun verstärkt auf kulturelle Vielfalt und Koexistenz. Die
Kulturen der Frankophonie erschienen plötzlich als (mögliche) Vorbildkulturen, baut
doch ihre Geschichte von jeher auf einem vielfältigen Völkergemisch auf, für das die
Stichworte von créolité und métissage stehen können. Auch die französische
Kulturpolitik hat das alte Idealbild von der Leitkultur Frankreichs und der
französischen Sprache durch ein demokratisch anmutendes Leitmotiv der ‚Kulturen
des Französischen’ ersetzt. Nicht zuletzt fördert auch die Globalisierung der Welt
diesen Ansatz, wird doch interkulturelle Kommunikation auf allen Ebenen des
öffentlichen wie privaten Lebens täglich bedeutsamer. Die Überlegung, wie eine für
Europa neue Identität funktioniere, die auf diversité beruhe wird spätestens seit den
80er Jahren mehr und mehr zum zentralen Interesse europäischen Kulturschaffens.
- Die Länder der Frankophonie genießen somit heutzutage ein hohes Ansehen in der
öffentlichen Diskussion und haben auch selbst diese neue, unverhoffte Stellung
geschickt zu nutzen gewusst, indem sie am neuen Paradigma oder Mythos von der
‚créolisation du monde’ (Glissant u.a.) maßgeblich beteiligt waren und sind. Ist aus
europäischer Sicht die ‚Peripherie’ der Welt ein neues Zentrum oder war sie es
vielleicht immer schon? Vergessen wird dabei bisweilen, dass die Vielfalt, das
Völkergemisch der frankophonen Länder in allererster Linie von zwei Faktoren
geprägt wurden, die so gar nicht zu Vorbildern dienen: gemeint sind Kolonialismus
und die damit einhergehende Sklaverei.
II.: Colonialisme et esclavage: 1 Der politische Auslöser für die Entstehung der
Frankophonie ist die Rolle Frankreichs (und Belgiens) als Kolonialmacht zwischen
1534 und 1962. Weitere große Kolonialmächte Europas sind England, Spanien,
Portugal, Holland und auch Deutschland.
1
Die folgenden Ausführungen orientieren sich v.a. an Erfurt, 2005, Kap. 3, 77ff.
- Die Verbreitung und Entwicklung bzw. Mischung des Französischen und auch der
französischen Kultur und Geisteswelt entwickelt sich in 4 großen Schritten:
o Erste Phase: Durchsetzung des Französischen auf dem Territorium
der Nation: Ab dem hohen Mittelalter (ca. 1300) gewinnt die Sprache
an Einfluss und einigt mehr und mehr die Einzugsgebiete von langue
d’œil und langue d’oc. Ab 1515, Herrschaftsantritt von François I,
beginnt die absolutistische Phase Frankreichs und die zentralistischen
Einigungsbemühungen, die ungebrochen, wenn auch unterschiedlich
legitimiert, bis ins 19. Jahrhundert reichen und dem Land eine hohe
Machtposition einbringen. Die leitende Position des Französischen an
internationalen europäischen Höfen wie in der Gesellschaft trägt dem
Rechnung.
o Zweite Phase: Erstes Kolonialreich (Premier Empire: 1534 – 1815):
1492 entdeckte bekanntlich ein Genueser in Diensten der spanischen
Krone den Seeweg zu den Antillen, wo er auf der Insel Dominica (heute
Dom. Rep./Haiti) landete, die fortan ‚Isla espanola’ genannt wurde:
CHRISTOPHER KOLUMBUS. Der Bretone JACQUES CARTIER nimmt
zwischen 1534 und 1542 das Gebiet entlang des Sankt-Lorenz-Stroms
(heute Québec) im Namen des französischen Königs François I in Besitz.
Die 1534 einsetzende französische Kolonialisierung steht im Dienste der
expansionistischen
Machtinteressen
der
absolutistischen
Herrscherpolitik. Sie folgt in allererster Linie also merkantilen Interessen
(Gold, Zuckerrohr, Pelze, Tabak, Gewürze u.a.) und somit einer „Logik
der kapitalistischen Akkumulation“ (Erfurt, 2005, 79).
 Assimilation: Die Durchsetzung des Französischen in den
Kolonien sichert dabei die Macht des Kolonisators langfristig und
verbreitet den Einflussbereich französischer Kultur. Man spricht
hier von Assimilation. Seit dem 19. Jahrhundert ist diese Logik
brüchig
geworden,
gibt
es
doch
weitaus
mehr
Französischsprecher außerhalb Frankreichs als innerhalb der
Staatsgrenzen, wodurch die Monopolstellung der culture
métropolitaine gefährdet ist: Welches Französisch ist noch das
‚Richtige’, gibt es noch eine französische Kultur des
Französischen? usw.
 La Nouvelle-France: Mit dem Handelsstützpunkt Port-Royal im
heutigen Neu-Schottland (ab 1604) und der Stadt Québec, die ab
1608 administratives Zentrum der Kolonien in Amerika wird,
festigt sich der französische Einfluss enorm. Das koloniale
Einzugsgebiet, die Nouvelle-France, erstreckt sich am Ende des
17. Jahrhunderts von Ostkanada über die Großes Seen,
Mississippi und Missouri im Nordosten bis zum Golf von Mexiko
im Süden und umfasst die Antilleninseln Guadeloupe, Martinique,
Saint Domingue in der Karibik sowie die Inseln Seychellen, La
Réunion, Mauritius im Indischen Ozean. In Brasilien,
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Französisch-Guayana, in Nord- und Westafrika, auf Madagaskar
wie an der Ostküste Indiens unterhält Frankreich Forts bzw.
Handelskontore.
Migration in Nordamerika: Im nördlichen Gebiet der NouvelleFrance gibt es ab dem 16. Jahrhundert verstärkt Ansiedlungen von
französischen Bürgern. In den kanate (indianischer Begriff für
Dorfgemeinschaften, später Kanada) lassen sich Fischer,
Handwerker, Verwaltungsbeamte, Geistliche und Militärs nieder,
die colons, die zumeist von der französischen Atlantikküste
übersiedeln. Von Richelieu wird berichtet, er habe zwischen 1663
und 1673 zahlreiche junge Frauen aus den Waisenhäusern, die
‚filles du roi’, nach Kanada geschickt, um dort für ein gutes
Bevölkerungswachstum zu sorgen. Die Migration ist insgesamt
gesehen aber recht gering: Ende des 17. Jh. leben circa 15000
Franzosen in diesem Gebiet (gegenüber 200000 Briten in
Nordamerika).
Die Cadiens/Cajuns: 1763 muss Frankreich die kanadischen
Gebiete der Nouvelle-France an England abtreten. Die Briten
wiederum siedeln ab 1755 circa 6000 französische Katholiken der
östlichen Gebiete (Acadie) in die heißen Sumpfgebiete des
heutigen Louisiana um. Dort streiten sie bis heute für ihre
sprachliche wie kulturelle und politische Autonomie.
Die Begegnung mit den Ureinwohnern: Die Ureinwohner
Kanadas, die Huronen, Cree, Montagnais, Micmac u.a.
unterhalten weitgehend einen friedlichen Beziehungen mit den
Franzosen: sie profitieren vom Handel und lassen sich schnell
christianisieren. Auseinandersetzungen gibt es nur mit den
Irokesen, die sich der englischen Kolonialpolitik beugen.
Sklavenhandel von La Gorée: Anders stellt sich die Situation
auf den Antillen und in Westafrika dar. Hier geht die
Kolonialpolitik Frankreichs mit Ausrottung, Unterdrückung und
mit einem groß angelegten Sklavenhandel der indigenen
Bevölkerung einher. Vor allem in den afrikanischen gebieten
werden schwarze Menschen gefangen genommen und auf die
kleine INSEL GORÉE gebracht, die vor der Küste der heutigen
Hauptstadt des Senegals, Dakar, liegt. Von dort werden sie
gewinnbringend in die unterschiedlichen Kolonialgebete
verschleppt, wo sie als billige Arbeitskräfte und unter widrigen
Umständen auf den Zucker-, baumwoll- und Kaffeeplantagen
arbeiten müssen. Die Kolonialherren achten darauf, dass Familien
auseinander gerissen werden und es auch eine ethnische
Mischung der Schwarzen gibt, um die Sklaven zu schwächen.
Untereinander sowie im Kontakt mit den Sklavenhaltern
entwickeln sich zahlreiche KREOLSPRACHEN.
Diskurse der Assimilation bzw. der Unterdrückung: Die
frankophonen Gebiete entwickeln von dieser Situation ausgehend
ihre Kulturen. Findet man dabei in den kanadischen Gebieten
sowie in Louisiana weitgehend assimilierende Tendenzen, so ist
der Diskurs auf den Antillen wie in Afrika und den Gebieten des
Indischen Ozeans bis in unsere Zeit dezidiert von den Themen
Unterdrückung, Sklaverei und Befreiungskampf geprägt.
o Dritte Phase: Zweites Kolonialreich (Second Empire: 1830 – 1962):
Das zweite Kolonialreich bemisst sich an den Daten der Okkupation
(1830) bzw. später der Unabhängigkeit Algeriens. Dabei spielen die
nordafrikanischen Maghrebländer (Marokko, Algerien, Tunesien), Westund Äquatorialafrika eine führende Rolle. Die West-Ost-Tangente
Nordafrikas wird ausgebaut vom westlich gelegenen Senegal bis zum
Horn von Afrika im Osten, wo Frankreich in Dschibuti (Frz. Somalia)
einen strategisch wichtigen Stützpunkt zum Roten Meer und zu
Madagaskar und den Komoren aufbaut. Ein neues Expansionsgebiet
entsteht in Indochina, wo die französische Flotte 1858 das damalige
Königreich Annam (heute Vietnam) besetzt. Am Ende des 1.
Weltkrieges, als vom besiegten Deutschen Reich noch Togo und
Kamerun an Frankreich fallen umfassen die französischen Kolonien
einen geografischen Raum, der 22mal größer ist als das Mutterland
selbst, mit einer Bevölkerung von 68 Mio. Einwohnern.
 Mission civilisatrice: Politischer Sendungswille, militärische
Strategien sind die zentralen Interessen des zweiten Empires. Das
ökonomische Ziel, sich in den Kolonien neue Absatzmärkte zu
verschaffen ist dagegen wichtig aber zweitrangig. Frankreich
steht nach dem Jahrhundert der Aufklärung am Beginn des
bürgerlichen Zeitalters und gedenkt, die neue ‚Vernunft’ zu
verbreiten. Der Sieg der raison über die Barbarei ist das Ziel. Der
Missionsgeist ist also hier zivilisatorisch motiviert, auch wenn
natürlich die Rückbesinnung auf den katholischen Glauben bei
der bürgerlichen Neuordnung im eigenen Lande eine große Rolle
spielte. Allerdings sieht man für die Kolonien das strenge System
einer ‚administration directe’ vor, die eine direkte Abhängigkeit
von Frankreich impliziert. 1848 wird im Zuge der Revolution die
Sklaverei abgeschafft; eine Assimilation, d.h. Integration der
kolonialen Untertanen in ein französisches Wertesystem ist das
neue Ziel.
 La ‚Bête noire’ und die europäische Rassenlehre: Bis ins 20.
Jahrhundert hält sich jedoch der rassistische Topos vom
Schwarzen als bête noire, wie Joseph Arthur Gobineau (18161882) ihn in seinem vierbändigen Essai sur l'inégalité des races
humaines (1853-1855) ‚theoretisch’ begründete. Im Zuge der
Gründung der europäischen Nationalstaaten fällt die Idee von
‚großen Helden’: die Idee der Volksstaatlichkeit erfordert ein
neues legitimierendes Ideal rassischer Größe. G. formuliert in
seinem Essay die These von der natürlichen Überlegenheit der
arischen Rassen, insbesondere der Germanen: das Buch wird
später zu einer vorzüglichen Vorlage für die nazistische Ideologie.
Darin heißt es etwa: „Der Schwarze kann nur wiederholen. Alles,
was man ihm beibringt, ist ‚Sache der weißen’. […] Aus einem
cerveau nègre können nur sinnlos reproduzierte Wortfolgen
kommen: ohne Zusammenhang, ohne Ordnung, Verstand oder
Logik. Die französische Sprache selbst, mit ihrer subtilen Syntax,
ihrem ‚Genie’, wird dem Schwarzen auf ewig verschlossen
bleiben […].“ (zit. n. Erfurt 2005, 102). Folgende Elemente der
Rassentheorie sind für spätere Diskurse aus der oder über die
Frankophonie von bisweilen erschreckender aber großer
Signifikanz:
1. Anti-aufklärerisch, anti-progressiv: Die Rassenlehre muss
den aufklärerischen Gedanken von der ‚perfectibilité
humaine’ ablehnen: ist der Mensch grundsätzlich
unendlich perfektibel, sind es alle Menschen und Rasen:
eine Vorherrschaft eines Volkes, eines Staates wäre dann
illegitim.
2. Gegen Eklektizismus: Die Aufklärer haben den Zuwachs
des modernen Wissens in erster Linie als Summe
vielfältiger geistiger Errungenschaften angesehen. Für G.
ist Fortschritt nur möglich, sofern ein System in sich
abgeschlossen und homogen bleibt.
3. Physiognomie als Grenze geistiger Entfaltung: Die
Grenzen geistigen Potenzials sind bereits durch die
physiognomische Beschaffenheit gesteckt. Kleinere bzw.
‚unförmige’ Schädel lassen etwa weniger Geist zu. Die
‚platten Füße’ des Negers belegten seine Nähe zum Affen
und damit zum Reich der Natur mehr als zum Reich des
Verstandes. Dazu Gobineau: « Un autre individu paraît:
c’est un nègre de la côte occidentale d’Afrique, grand,
d’aspect vigoureux, aux membres lourds, avec une
tendance marquée à l’obésité. La couleur est […]
entièrement noire ; les cheveux sont […] épais, grossiers,
laineux et poussant avec exubérance ; la mâchoire
inférieure avance en saillie, le crâne affecte cette forme
que l’on a appelé prognathe, et quant à la stature, elle n’est
pas moins particulière. Les os longs sont déjetés en dehors
[…], les pieds sont très plats […]. Quand l’œil s’est fixé un
instant sur un individu ainsi conformé, l’esprit se rappelle
involontairement la structure du singe […]. » (Gobineau,
Essai, I, 10, 119).
4. Le mélange ethnique als Quelle sozialer Dekadenz: Jede
Mischung, auch die Völkermischung führt so zwangsläufig
zur Dekadenz und Verfall.
5. La race ariane: Aber bereits jede einzelne Rasse hat einen
verschiedenen Wert. Nur die weisse Rasse, unwiderruflich
gemischt und so dekadent seit Anfang unserer christlichen
Zeitrechnung, weise eine hohe Qualität auf. G. zu den
einzelnen Rassen: « Ainsi, les nations européennes, par
l’éclat de leurs sciences et la netteté de leur civilisation, ont
les rapports les plus évidents avec l’état lumineux, et,
tandis que les noirs dorment dans les ténèbres de
l’ignorance, les Chinois vivent dans un demi-jour qui leur
donne une existence sociale incomplète, cependant
puissante. Pour les Peaux-Rouges, disparaissant peu à peu
de ce monde, où trouver une plus belle image de leur sort
que le soleil qui se couche ! »
6. La sensualité du nègre: Der Topos vom körper- und
sinnesbetonten Schwarzen wird bei G. abwertend
formuliert und bestimmt die Diskussion bis heute. So sagt
er zur ‚variété mélanienne’, die er als unterste Stufe des
Schwarzen ansieht Folgendes: « Elle ne sortira jamais du
cercle intellectuel le plus restreint. Ce n’est cependant pas
une brute pure et simple, que ce nègre à front étroit et
fuyant, qui porte, dans la partie moyenne de son crâne, les
indices de certaines énergies grossièrement puissantes. Si
ces facultés pensantes sont médiocres ou même nulles, il
possède dans le désir, et par suite dans la volonté, une
intensité souvent terrible. Plusieurs de ses sens sont
développés avec une vigueur inconnue aux deux autres
races : le goût et l’odorat principalement. Mais là,
précisément, dans l’avidité même de ses sensations, se
trouve le cachet frappant de son infériorité. Tous les
aliments lui sont bons, aucun ne le dégoûte, aucun ne le
repousse. Ce qu’il souhaite, c’est manger, manger avec
excès, avec fureur ; il n’y a pas de répugnante charogne
indigne de s’engloutir dans son estomac. Il en est de même
pour les odeurs, et sa sensualité s’accommode non
seulement des plus grossières, mais des plus odieuses. À
ces principaux traits de caractère il joint une instabilité
d’humeur, une variabilité de sentiments que rien ne peut
fixer, et qui annule, pour lui, la vertu comme le vice. […]
Enfin, il tient également peu à sa vie et à celle d’autrui : il
tue volontiers pour tuer, et cette machine humaine, si
facile à émouvoir, est, devant la souffrance, ou d’une
lâcheté qui se réfugie volontiers dans la mort, ou d’une
impassibilité monstrueuse. » (Gobineau, Essai, I, 16, 195f.)
o Vierte Phase: Décolonisation, Indépendances, Emancipation:
Nachdem Frankreich aus dem Zweiten Weltkrieg als Siegermacht
hervorgeht, kämpft es anderthalb Jahrzehnte um den Verbleib seiner
Kolonien in Asien und Afrika (Indochina: 1947-1954, Madagaskar:
1947, Algerien: 1958-1962). Zugleich gründet man die Union française
(1946-1958), die demokratischere Formen der Mitbestimmung auf den
Weg bringen soll. So bekommen die Kolonien 1946 einen egalitären
Status zum Mutterland, ohne jedoch einen größeren politischen Einfluss
zu erhalten. Die politische Bindung der Kolonien an Frankreich wird neu
geregelt: die Protektorate Tunesien und Marokko werden ‚assoziierte
Staaten’, die Mandatsgebiete Togo und Kamerun „assoziierte
territorien“, die karibischen Kolonien Martinique, Guadeloupe, La
Réunion und Französisch-Guayana werden als DÉPARTEMENTS
D’OUTRE-MER (D.O.M.) integrale Teile der Republik. Die weiteren
Kolonien in West-, Zentralafrika und im Pazifik werden zu TERRITOIRES
D’OUTRE-MER (T.O.M.) ernannt. Vor allem in den Maghrebländern, aber
auch in West- und Zentralafrika gibt es im Folgenden harte Kämpfe um
die Unabhängigkeit, die bis 1963 in allen Ländern durchgesetzt ist.
III.: Aktuelle Problemstellungen:
- Identité culturelle, nationale: Die ehemaligen Kolonien Frankreichs kämpfen und
streiten im 20. Jahrhundert zunächst um ihre je eigene Identität – in Abgrenzung zum
früheren Kolonisator. Ein schwieriger Prozess, da wesentliche Bereiche kultureller wie
ökonomischer und technischer Entwicklung der neuen unabhängigen Staaten oder
départements outre-mer europäisch geprägt sind. Ökonomischer Wohlstand,
Bildungsstand, nationaler Frieden, ethisches und religiöses Wertesystem bzw. Glaube
sind hier neu auszutarieren, wobei man in vielen Aspekten nicht mehr hinter einige
fundamentale Errungenschaften europäischer ‚Zivilisation’ zurücktreten möchte.
Entfremdung (bereits in der frz. Sprache), Assimilation und nationaler, karibischer,
afrikanischer, maghrebinischer usw. Identität bilden einen kulturellen, politischen,
ökonomischen Spannungsraum, der nur schwer zufrieden stellend zu gestalten scheint.
Die enormen Anstrengungen organisatorischer Gemeinschaft der ehemaligen Kolonien
leistet hier viel.
Aber nicht nur in der Ausgrenzung von und Beziehung zu Frankreich stellen sich
Probleme. Bereits innerhalb der frankophonen Lebensräume ist es eine schwierige
Aufgabe, Kreolen (Nachfahren frz. Siedler), Mestizen (le métis), Schwarze und andere
Volkszugehörigkeiten friedlich zusammen zu führen. Auch sind manche Gebiete nach
wie vor politisch sehr instabil, andere wiederum sehr autonom oder aber assimiliert.
Letztlich ist auch die Rolle Frankreichs selbst schwierig: Kulturelles
Selbstbewusstsein, europäisches Krisenmanagement mit der Geste historischer
Aussöhnung, Wiedergutmachung und dem Willen zu neuer Vertrauensbildung und
emanzipatorischer Gemeinschaft zu verbinden ist keine leichte Aufgabe.
- Diversité culturelle: Die Krise Europas, ökonomisch wie auch kulturell und die
Globalisierung der Welt haben der positiven Akzentuierung von kultureller Vielfalt
enormen Aufschwung verliehen. Im Zeichen der diversité wird die gespaltene Identität
der frankophonen Länder zu einem realistischen, zeitgemäßen, ja gar utopischen
Signum des globalen Menschen. Métissage und créolité erscheinen plötzlich als
weltweite Grundbedingung menschlichen Lebens schlechthin. So schauen die
Franzosen etwa in den karibischen Vielvölkerraum, um Antworten zu finden, wenn sie
mit der banlieue-Problematik nicht zurande kommen, die ja im Kern eine Frage der
Integration diverser Kulturen ist.
- Où va la francophonie au début du troisième millénaire: Zu Beginn des 3.
nachchristlichen Jahrtausends fand im Mai 2005 im süditalienischen Bari ein
Kolloquium statt zum Thema: Où va la francophonie au début du troisième
millénaire? (Paris 2005). Dort versuchte man, Chancen der Homogenität des großen
frankophonen Raumes in der globalen Welt auszuloten, auch neue Utopien
vorzuzeichnen: « […] la volonté d’un ensemble si divers de peuples et de nations de
partager un même idéal de civilisation tout en restant fidèles à leurs identités
respectives. » (ebd., 15). Dabei legt man Wert auf ein neues, humanitäres Bewusstsein
der Frankophonie: Beitragen zur Lösung globaler Probleme, gerade weil man selbst
über vielfältige Erfahrungen, über eine tiefe Problemkenntnis verfüge.
Im Konzert globalisierter Machtverteilung versucht die Frankophonie als homogenes
Staaten- und Kulturbündnis aktuell, zum Teil gemeinsam mit der Hispanophonie, ein
Gegengewicht zu anderen bestehenden (USA) oder neuen (China) Machtblöcken bzw.
historischen Herausforderungen (z.B. islamischer Fundamentalismus usw.) zu
organisieren.
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