Wolfgang Schild Philosophische Hintergründe von Wagners „Tristan und Isolde“ Zur Erinnerung: Werkgeschichte 16.12.1854: erste Erwähnung; im Zusammenhang mit dem „Schopenhauer-Erlebnis“ 1852 Bekanntschaft mit den Wesendoncks Liebe zu Mathilde Wesendonck Ende April 1857 Bezug des „Asyl“ 28. April 1857 Beschluss, mit der Komposition des 2. Aufzugs von „Siegfried“ abzubrechen und sich dem neuen Projekt zuzuwenden August/ September 1857: Prosaentwurf, Urschrift der Dichtung Oktober 1857 Fertigstellung der Textdichtung (Dezember 1858 Druck) und Beginn der Komposition 3. April 1858: Fertigstellung des 1. Aufzugs 7. April 1858 Skandal, Auszug aus dem Asyl 18. März 1859 Fertigstellung des 2. Aufzugs in Venedig 6. August 1859 Fertigstellung der Partitur (1860 Druck) 10. Juni 1865 Uraufführung München (Hans von Bülow) 1. Hinführung: Vorspiel „Tristan-Akkord“ (genauso: „Isolde-Akkord“) „mir erkoren – mir verloren; hehr und heil, kühn und feig -; Tod geweihtes Haupt! Tod geweihtes Herz!“ Die Geschichte von Tantris „Von seinem Bette blickt´ er her, - nicht auf das Schwert, nicht auf die Hand, - er sah mir in die Augen. Seines Elendes jammerte mich; das Schwert – das ließ ich fallen: die Morold schlug, die Wunde, sie heilt´ ich, dass er gesunde, und heim nach Hause kehre, - mit dem Blick mich nicht mehr beschwere“ 2. Bedeutung des Blicks: (1) Schopenhauer: Welt-Vorstellung und Welt-Wille Gattungswille und Geschlechtstrieb Täuschung der Individuen: nur Geborenwerden – Liebessehnsucht – Sterben für neues Leben Blick = allererste Entstehung des neuen Individuums, der reinste Ausdruck des Willens zum Leben in seiner Bejahung (2) Feuerbach: Sinnliche geschlechtliche Vereinigung von Mann und Frau als Vervollkommnung des Menschen Aufheben des Egoismus in der Liebe, Du als die Welt Platons „Symposion“: Begierde nach Zusammenwachsen im Geschlechts- und Zeugungsakt (3) Romantik: Die furchtbare „Nacht des Ich“ (Hegel) Augen-Blick Novalis: „Hymnen an die Nacht“ (1798-1800): Im Leben Angleichung des transzendentalen Ichs (Fichte) und des empirischen Ichs: magischer Idealismus Liebestod Abwertung des Lichtes und des Tages, Hochwertung des Dunklen und der Nacht Nacht öffnet ihm und in ihm die unendlichen Augen „Ich schaue dir ins tiefe dunkle Auge, sehe nicht(s) als Lieb und Seligkeit“ 1 „Nachtgeweihte“ Zerreißen des Bandes der Geburt Nacht als Mutter (Maria) 3. Isoldes Geschichte: Der eigene Blick: Blick des Mitleidens Der andere Blick (der des Anderen [Tristans]): „messender Blick“, der „mein Bild sich stahl“ Tödliche Rache für sich und Morold Verschweigen des Wesentlichen und Lüge Aber auch Wille zur Selbsttötung Erzählung des Bewusstgewordenen im 2. Aufzug: „Dem Licht des Tages wollt´ ich entfliehn, dorthin in die Nacht dich mit mir ziehn … Dich im Verein wollt´ ich [mich] dem Tode weihn!“ Liebestod 4. Tristans Geschichte: Völlige Verdrängung des Blicks im Leben als Held Erzählung des Bewusstgewordenen im 2. Aufzug: Im Augen-Blick offen für Liebesbild, dann aber Verschließung „in des Herzens bergendem Schein“ Daher nur unwahres, oberflächliches Bild der Schönheit und Anpreisung als geeignete Königin (und Frau des Königs), daher Brautwerbung als Held Erkennen des Tötungswillens der Isolde: „da erdämmerte mit erhabner Gewalt im Busen mir die Nacht“, „mein Tag war da vollbracht“ „Trug des Herzens, Traum der Ahnung: ew´ger Trauer einz´ger Trost, Vergessens güt´ger Trank“ Aber auch: Nachtsichtigkeit für „Wonnereich der Nacht“; ebenfalls Liedestod Keine Wirkung des Liebestranks, den Brangäne vertauscht hat 5. Erkenntnis nach dem Trank: „welten-entronnen du mir gewonnen!“ „Du mir einzig bewusst, höchste Liebeslust“ Wirkung des Tranks = Verwirklichung des Urgesetzes; „mir erkoren“ Zurück zum Augen-Blick: Nicht erklärbar aus Schopenhauer Eher Novalis (Hegel) Auch Feuerbach: weil sinnliches Verlangen nach Vereinigung im Leben 6. Szene im Garten (2. Aufzug): Löschen der Fackel Sinnliche Raserei bei der Begrüßung: „du mir einzig bewusst, höchste Liebeslust“ Sehnen nach der Nacht: nicht nur weil kein Licht/ keine Sonne mehr scheint, sondern Abkehr vom Tagesleben in der äußeren Realität Trennung von äußerer Szene (Realität als Tag) und musikalischer Darstellung des Ersehnten (Nacht) Frau Minne: „des Welten-Werdens Walterin“; „Leben und Tod sind ihr untertan, die sie webt aus Lust und Leid“ „Frau Minne will, es werde Nacht, dass hell sie dorten leuchte“ Nachtgeweihte 2 „sink hernieder, Nacht der Liebe; gib Vergessen, dass ich lebe; nimm mich auf in deinen Schoß, löse von der Welt mich los“ Nachtgeweihte als Todgeweihte „stürb´ ich nun [der Liebe], der so gern ich sterbe, wie könnte die Liebe mit mir sterben? Die ewige lebende mit mir enden?“ Tristan und Isolde? „so stürben wir, um ungetrennt, ewig einig, ohne End´, ohn´ Erwachen, ohne Bangen, namenlos in Lieb´ umfangen, ganz uns selbst gegeben, der Liebe nur zu leben“ Statt „Du mir einzig bewusst, höchste Liebeslust“ nun: „ein-bewusst: heiß erglühter Brust höchste Liebes-Lust“ Nicht mehr „Nacht des Du“ (das die Welt ist), sondern „Nacht des Ich“, die bestimmungslos ist, daher auch das Ich auflösen muss Schopenhauers Gattungswille als Liebe „Holder Tod, sehnend verlangter Liebes-Tod! In deinen Armen, dir geweiht, ur-heilig, Erwarmen, von Erwachens Not befreit“ Musikalische Vereinigung – philosophisches Gespräch (Reflexion über Wesen der Liebe) Ersehnt: „Holder Tod, sehnend verlangter Liebes-Tod! In deinen Armen, dir geweiht, urheilig Erwarmen, von Erwachsens Not befreit“ 7. Versuch des realen Liebestodes Tristans: Selbsttötung als Heimkehr in das „dunkle nächt´ge Land, daraus die Mutter einst mich entsandt“, in das „Wunderreich der Nacht, aus der ich einst erwacht“ Rückkehr nicht in den Mutterleib, sondern in den Ursprung vor Zeugung Nirwana Reich der sich selbst liebenden Liebe (nach der Struktur des Schopenhauerschen Gattungsals Weltwillen), daher ebenso zerrissen und widersprüchlich Rückkehr in die Gattung/ Gattungsliebe „in ihr nur kann ich sterben“ 8. Szene im Hof der Burg Kareol (3. Aufzug): Kein Eingang in Nirwana: „nur ein Wissen dort uns eigen: göttlich ew´ges Ur-Vergessen“ Zwang zum Leben und damit zum Sehnen ohne Erfüllungsmöglichkeit Sehnen nach Isolde als Sehnen nach dem realen Liebestod Tristans Lebensmelodie: die alte Weise Leben ist Sehnen und Sterben: Gattungswille Tristan kann nicht sterben: Liebe als furchtbare Qual daher Verfluchung des Liebestranks aber nicht der Liebe als Sehnen und Sterben (Gattungswille) Selbstverfluchung, weil er den Trank selbst gebraut hat Aber Wirkung nur erneut: das Urgesetz der Frau Minne Sterben (Liebestod Tristans): Vision der Ankunft Isoldes „Ha, diese Sonne! Ha, dieser Tag! Ha, diese Wonne sonnigster Tag! Jagendes Blut, jauchzender Mut! Lust ohne Maßen, freudiges Rasen“ „hör ich das Licht?“ „mein Blut, lustig nun fließe! Die mir die Wunde auf ewig schließe, sie naht wie ein Held, sie naht mir zum Heil: vergehe die Welt meiner jauchzenden Eil´!“ 3 „Die Leuchte verlischt!“ Liebestod Isoldes Liebestod („Verklärung“): anfangs Wunsch: „uns beiden vereint erlösche das Lebenslicht“ Dann: Sterben in Nachfolge des Novalis Nicht mehr „du mir einzig bewusst: höchste Liebeslust“ Nicht mehr „eins-bewusst: höchste Liebeslust“ Sondern: „unbewusst – höchste Lust!“ Nicht Himmelfahrt, auch nicht Abstieg in die Nacht, sondern Eingehen in Nirwana Realität: gestorbene Menschen, Segen Markes 9. Struktur der Handlung: Verwirklichung des Urgesetzes: Augen-Blick: die furchtbare Nacht des Ich Für-sich-Werden des An-Sich Vorspiel „Frau Minne will, es werde Nacht“ Auflösung des „Tristan-Akkordes“ 10. Abschluss: Eigentliches Ende: Verklingen der Musik Das Letzte ist daher das Schweigen der Unbestimmtheit der Nacht (Hegel) Wahn! Welch trauriges Stück! (Hans Sachs) 4