Inhalt Vorwort 7 1. Natürliche Zahlen 9 1.1 Zählen 9 1.2 Eigenschaften von Zahlen 11 1.3 Magische Quadrate 16 1.4 Primzahlen 19 1.5 Von Pythagoras zu Fermat 23 1.6 Was sind natürliche Zahlen? 27 1.7 Anwendung: Kryptographie 31 2. Zahlendarstellungen 36 2.1 Wie hat man früher Zahlen geschrieben? 2.2 Abakus und Rechentisch 39 2.3 Das Dezimalsystem 45 2.4 Teilbarkeitsregeln 48 2.5 Binärzahlen 52 2.6 Anwendung: Strichcodes 54 36 3. Rational und irrational 57 3.1 Gebrochene Zahlen 57 3.2 Verhältnisse 60 3.3 Rationale Zahlen 65 3.4 Irrationale Zahlen – die erste Krise der Mathematik 3.5 Dezimalbrüche 75 4. Transzendente Zahlen 79 4.1 Die geheimnisvollste Zahl 79 4.2 Grenzwerte 83 4.3 Wie viele transzendente Zahlen gibt es? 90 70 5. Imaginär und komplex 96 5.1 Lineare Gleichungen 97 5.2 Quadratische Gleichungen 98 5.3 Das Drama um die Gleichung dritten Grades 102 5.4 Die Tragödie um die Gleichung fünften Grades 105 5.5 Alle Gleichungen sind lösbar! 107 Literatur 112 3.3 Rationale Zahlen 65 101 = 2 · 35 + 31 35 = 1 · 31 + 4 31 = 7 · 4 + 3 4=1·3+1 3=3·1 Mit Hilfe des euklidischen Algorithmus kann man den größten gemeinsamen Teiler auch sehr großer Zahlen leicht berechnen, ohne die Primfaktorzerlegung dieser Zahlen kennen zu müssen. Diese Technik spielt in vielen Anwendungen eine Schlüsselrolle, zum Beispiel in der modernen Kryptographie (siehe Kapitel 1). 3.3 Rationale Zahlen Natura non facit saltus. Bruchzahlen kann man auf verschiedene Weise einführen: als Anteile, als Bruchteile oder als Verhältnisse. Wenn man heutige Schulbücher aufschlägt, sieht man unterschiedlichste Modelle für Bruchzahlen: Kuchen- oder Pizzateile, Teile von Rechtecken oder von Strecken. Für Bruchzahlen hat sich auch der Begriff «rationale Zahlen» eingebürgert. Diese Bezeichnung kommt vom lateinischen Wort ratio, welches unter anderem «Verhältnis» bedeutet. «Rationale Zahlen» sind vom Wortsinn her also Verhältniszahlen, bedeuten aber das Gleiche wie Bruchzahlen. Auch ganze Zahlen sind Bruchzahlen, denn man kann die Zahl 5 natürlich auch als ⁄ schreiben. Das heißt: Die Menge der ganzen Zahlen ist in der Menge der Bruchzahlen enthalten. Mit rationalen Zahlen kann man wunderbar rechnen; als Rechengrößen lassen sie kaum einen Wunsch offen: Man kann addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren. Und das geht so gut, wie man sich das nur wünschen kann. Addieren und Subtrahieren von rationalen Zahlen ist besonders einfach, jedenfalls wenn man sich eine rationale Zahl als Strecke, als «Kuchenstück» oder als eine andere geeignete Größe vorstellt. Um ⁄ + ⅜ zu bestimmen, betrachten wir zum Beispiel eine Strecke der Länge ⁄ und eine Strecke der Länge ⅜ 66 3. Rational und irrational und fügen dann die beiden Streckenstücke aneinander. Das Ergebnis ist eine Strecke der Länge ⁄ + ⅜. Schwierig wird diese Aufgabe erst dann, wenn wir das Ergebnis ⁄ + ⅜ wieder als Bruch darstellen wollen. Dafür macht man sich zunächst eine einfachere Aufgabe klar: Wenn zwei Brüche den gleichen Nenner haben, ist die Addition einfach: ein Fünftel plus drei Fünftel sind vier Fünftel. Man tut dabei so, als wenn «Fünftel» eine Objektbezeichnung wäre, so etwas wie Äpfel oder Pizza. Ein Fünftel einer Pizza plus zwei Fünftel einer Pizza sind natürlich drei Fünftel einer Pizza. Wie löst man nun ⁄ + ⅜? Hier kommt die wunderbare Eigenschaft der Bruchzahlen zum Einsatz, dass sich nämlich die gleiche Bruchzahl durch verschiedene Brüche darstellen lässt. Klar, ⁄ ist das Gleiche wie ½, ⁄ das Gleiche wie ⅜. Mit anderen Worten: Man kann Brüche erweitern, indem man Zähler und Nenner mit der gleichen Zahl multipliziert – und die Bruchzahl verändert sich beim Erweitern nicht. Beim Addieren von zwei Brüchen erweitert man beide Brüche so, dass sie den gleichen Nenner haben. In der Schule sagt man dazu: Man bringt sie auf den «Hauptnenner»: In unserem Beispiel ist ⁄ = ⁄ (Erweiterung mit 8) und ⅜ = ⁄ (Erweiterung mit 7). Also gilt ⁄ + ⅜ = ⁄ + ⁄. Da diese Brüche den gleichen Nenner haben, kann man deren Summe bestimmen: ⁄ + ⁄ = ⁄. Bei der Addition von Brüchen kann man sehr großzügig vorgehen. Man darf die Reihenfolge vertauschen: ½ + ⅓ ist das Gleiche wie ⅓ + ½. Addiert man mehr als zwei Brüche, will man zum Beispiel wissen, was ⅓ + ¼ + ⅛ ist, dann darf man sich aussuchen, welches der beiden Pluszeichen zuerst ausgeführt wird. Man könnte zuerst ⅓ + ¼ rechnen (das ergibt ⁄) und dann ⅛ dazuaddieren. Das ist ⁄ + ⁄, also ⁄. Man könnte aber auch zunächst das zweite Pluszeichen ausführen (also ¼ + ⅛ = ⅜ rechnen) und dann ⅓ dazuaddieren. Es ergibt sich ⁄ + ⁄ = ⁄. Egal, wie man rechnet, es kommt das Gleiche raus! Diese Eigenschaften heißen Kommutativgesetz und Assozia- 3.3 Rationale Zahlen 67 tivgesetz. Ich finde den Begriff «Gesetz» hier irreführend, denn bei Gesetzen denken wir an Einschränkungen. Es handelt sich aber um Möglichkeiten der Freiheit. Sie können sich Ihre Reihenfolge bei der Addition von gewissen Bruchzahlen wählen, ich kann mir meine aussuchen – und beide werden wir das gleiche Ergebnis erhalten! Produkte und Quotienten von Bruchzahlen sind schwieriger vorzustellen, und das liegt nicht an den Brüchen. Die Griechen hatten sich Zahlen immer als Streckenlängen gedacht. Dann ist klar, was Strecke mal Strecke sein soll, nämlich eine Fläche. Aus einer Strecke mit 4 und einer mit 5 Längeneinheiten erhält man als Produkt ein Rechteck mit 20 Flächeneinheiten. Das klingt gut, birgt aber eine fatale Schwierigkeit in sich. Das Produkt ist nämlich prinzipiell etwas ganz anderes als die einzelnen Faktoren – eine Fläche. Das Produkt aus drei Strecken ist ein Volumen, und ein Produkt aus vier Strecken ist nicht mehr vorstellbar. Auch beim Teilen führt diese Vorstellung zu Schwierigkeiten. Was ist 12 geteilt durch 3? Um diese Aufgabe zu lösen, kann man sie auf verschiedene Weise interpretieren: (a) Gegeben sei ein Rechteck mit dem Flächeninhalt 12. Wenn eine Seitenlänge die Länge 3 hat, wie lang ist dann die andere? Achtung: Jetzt muss man eine Zahl als Flächeninhaltszahl auffassen! (b) Wie oft passt eine Strecke der Länge 3 in eine Strecke der Länge 12? Die Antwort ist einfach: 4 Mal. Achtung: Jetzt ist das Ergebnis eine Anzahl und keine Streckenlänge! Den gedanklichen Durchbruch schaffte René Descartes (1596–1650), der Erfinder der Analytischen Geometrie, also der Geometrie, in der mit Koordinaten gerechnet wird. Zur Multiplikation schreibt er: «Es sei zum Beispiel AB die Einheit und es wäre BD und BC zu multiplizieren, so habe ich nur die Punkte A und C zu verbinden, dann DE parallel mit CA zu ziehen und BE ist das Product der Multiplication.» Um die Strecke BC mit der Strecke AD zu multiplizieren, wählt 68 3. Rational und irrational Multiplikation von Strecken nach Descartes man zunächst A so, dass BA die Länge 1 hat, und konstruiert dann den Punkt E so wie beschrieben. Nach dem sogenannten ersten Strahlensatz ist dann . Wegen BA = 1 folgt daraus BE = BD · BC. Also Strecke mal Strecke = Strecke! Nun kann man beliebig viele Zahlen miteinander multiplizieren und es kommt immer eine Streckenlänge heraus! Diese Einsicht hat viel zum abstrakten Zahlenbegriff beigetragen. Denn wenn sowohl die Faktoren als auch das Produkt Strecken sind, dann ist es naheliegend, die Streckenlängen irgendwann zu vergessen und nur noch an Zahlen zu denken. Die Regeln für Multiplikation und Division von Bruchzahlen sind als Regeln einfach, aber nicht ganz einfach zu verstehen. ⅔ · ½ ist einfach auszurechnen. Man multipliziert die Nenner und die Zähler, somit ergibt sich als Produkt ˙⁄˙, also ⁄, und das ist ⅓. Wie lässt sich das erklären? Hier hilft eine sorgfältige sprachliche Formulierung. Die Aufgabe ⅔ · 6 kann als «⅔ von 6» beschrieben werden, und dann ist klar, dass sich 4 ergibt. Entsprechend lautet die Aufgabe ⅔ · ½ in sprachlicher Form «⅔ von ½», und dann wird auch klar, dass das Ergebnis ⁄ ist. (Man teilt ½ in drei Sechstel; ⅔ davon sind dann zwei Sechstel.) 3.3 Rationale Zahlen 69 Die Division durch eine Bruchzahl ist noch schwieriger vorzustellen. Betrachten wir zunächst die Aufgabe 3 : ½. Die Frage, die uns dieses Rätsel löst, heißt: Wie oft passt ½ in 3? Das ist einfach zu beantworten: 6 Mal. Also ist 3 : ½ = 6. Damit ist auch die Frage ⅔ : ½ zu lösen: Wie oft passt ½ in ⅔? Gleichwertig dazu kann man fragen: Wie oft passt ⁄ in ⁄? Oder entsprechend, wie oft passt 3 in 4? Antwort: genau ¾ Mal. Division lässt sich demnach auf Multiplikation zurückführen: Durch einen Bruch zu dividieren ist das Gleiche wie mit seinem Kehrwert zu multiplizieren. Das heißt, wenn man durch ⅔ dividieren möchte, kann man genauso gut mit dem Kehrwert, also ⁄, multiplizieren. Zum Beispiel: ½ : ⅔ = ½ · ⁄ = ⁄˙ = ¾. Im Mittelalter hatte sich praktisches Rechnen mit Brüchen etabliert. De facto hatte man akzeptiert, dass ⅔ nicht nur ein Verhältnis ganzer Zahlen ist, sondern auch eine Zahl neuen Typs. In der mathematischen Theorie wurde diese Erfahrung aber erst viel später aufgegriffen. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte Bernard Bolzano (1781–1848) in seiner Reinen Zahlenlehre eine «Theorie der Zahlenmenge, die gegenüber den vier Grundrechenarten abgeschlossen ist». Bolzano sah den Begriff einer Zahl von den Rechenoperationen her: Eine sinnvolle Zahlenmenge muss die natürlichen Zahlen enthalten und so geartet sein, dass man je zwei Zahlen addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren kann (ausgeschlossen ist allein, durch 0 zu teilen), und in jedem Fall muss sich wieder eine Zahl ergeben. Bolzano sagt, dass man erst Zahlen (Plural!) definieren müsse, um sagen zu können, was eine Zahl (Singular!) ist. Sein Hauptkriterium dafür, dass man die Elemente dieser Menge «Zahlen» nennt, ist, dass sich damit problemlos und ohne Einschränkungen rechnen, das heißt addieren und substrahieren, multiplizieren und dividieren, lässt. Mathematiker nennen eine solche Struktur einen «Körper» und sprechen zum Beispiel vom «Körper der rationalen Zahlen». Das ist der mathematische Aspekt. In der Praxis wurden rati-