Bibelforscher im Raum Herford 1910

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european-migration/Jehovas Zeugen
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Bibelforscher im Raum Herford 1910 - 1933
Jochen Schlüer
[email protected]
Die frühesten Hinweise auf die Tätigkeit der Bibelforscher im Raum Herford
finden sich in den geplanten Reiserouten der sog. Pilgerbrüder (reisende Prediger)
der Glaubensgemeinschaft, die in den zeitgenössischen Ausgaben ihrer Zeitschrift,
Der Wachtturm, veröffentlicht wurden. Danach besuchte der Pilgerbruder Hermann
Herkendell bereits im Jahre 1910 Bünde. Der Ort taucht dann bis 1933 häufiger in
den Reiserouten der Pilgerbrüder (später Bezirksdienstleiter) auf. Herford wurde
danach zum erstenmal 1918 besucht, regelmäßige Besuche sind für Löhne ab 1921,
für Herford ab 1925 festgehalten.
Weitere
Hinweise
finden
sich
in
den
Aufzeichnungen
der
Glaubensgemeinschaft
über
die
Anwesendenzahlen
beim
sogenannten
Gedächtnismahl (Abendmahl des Herrn), das von den Bibelforschern als jährliche
Gedenkfeier begangen wurde. Da in den ersten Jahren der Bibelforscherbewegung
Außenstehende an diesen Feiern nicht teilnehmen konnten, lassen die Zahlen
Rückschlüsse auf erste Gemeindestrukturen zu. So meldet Bünde als einziger Ort im
Kreis Herford für das Jahr 1919 bereits 22 Teilnehmer. Für die Jahre 1920 bis1923
sind nur Gesamtzahlen festgehalten. 1924 meldet Herford 23 und Kirchlengern 55
Anwesende. Im Jahre 1925 wurden in Löhne 40, Bünde 67 und Kirchlengern 102
Teilnehmer gezählt.
Man kann davon ausgehen, dass sich an den Orten, die von den reisenden
Predigern und Beauftragten der Wachtturm-Gesellschaft (neben der internationalen
Bibelforscher-Vereinigung eine der rechtlichen Körperschaften der Bibelforscher bzw.
Zeugen Jehovas im Deutschen Reich) besucht wurden, in der Regel mindestens ein
Bibelforscher befand wahrscheinlich aber mehrere eine kleine oder größere Gruppe
bildeten. Daher lassen die vorgenannten Daten und Zahlen folgenden Schluss zu:
Die ersten Einzelpersonen, die sich zum Glauben der Bibelforscher bekannten,
dürfte es im Kreis Herford um das Jahr 1910 gegeben haben. Um diese Zeit wäre
demnach auch der Beginn ihrer Missionstätigkeit im hiesigen Raum anzusetzen. Die
Bildung erster Gruppenstrukturen darf man wohl noch vor 1920 vermuten, direkt
belegbar wäre sie allerdings erst ab 1924.
Diese Schlussfolgerung wird gestützt durch Quellen, in denen die Reaktion der
‚religiösen Konkurrenz’ auf die Tätigkeit der Bibelforscher erhalten ist. Für den Raum
Herford sind das im Wesentlichen die Verhandlungsprotokolle der Kreissynode
Herford und der ‚Herforder Evangelische Gemeindebote’, das Sonntagsblatt der
evangelischen Gemeinden Herfords.
Diese Reaktionen sind einerseits im Hinblick auf Art und Umfang der Aktivitäten
der Bibelforscher interessant. Andererseits zeigen sie zur Frage der Entstehung von
Vorurteilen auch, wie sich die Herausbildung der von den Nazis gegen Jehovas
Zeugen benutzten Diffamierungsstrategie, auch für den Herforder Raum, bereits in
den 20er Jahren abzeichnet.
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Das Verhandlungsprotokoll der Kreissynode Herford hält im Jahr 1911 unter
‚Dissidenten’ fest: “In Stift Quernheim und der ganzen Umgegend verbreitet ein
früheres Gemeindeglied...die Irrlehre des Amerikaners Russell,... Ob seine sehr
eifrige Werbearbeit Erfolg haben wird, läßt sich noch nicht behaupten, Wachsamkeit
ist jedenfalls geboten.“
Charles Taze Russell (1852-1916) entstammte einer wohlhabenden
amerikanischen Textilkaufmannsfamilie. Er war ursprünglich Presbyterianer und
später Mitglied der Kongregationalistenkirche, wurde aber auch von Adventisten
beeinflusst. In den 1870er Jahren begann er mit einer kleinen Gruppe
Gleichgesinnter ein unabhängiges Bibelstudium und stellte in der Folge viele Lehren
und Traditionen der etablierten Kirchen in Frage. Die Veröffentlichung der Zeitschrift
‚Zions Wacht Tower’ begann 1879, am 13. Dezember 1884 erhielt die ‚Zions Wacht
Tower Tract Society’ im Staate Pennsylvania den gesetzlichen Status einer
nichtkommerziellen religiösen Körperschaft. Russell, der sein nicht unbeträchtliches
Vermögen für die öffentliche Verbreitung seiner religiösen Überzeugung opferte, sah
sich selbst jedoch nicht als Religionsgründer. Er und seine Mitverbundenen
verstanden ihre Tätigkeit als eine Wiederbelebung urchristlicher Werte und
Hoffnungen. Ab 1897 gab es in Deutschland ein Versanddepot für deutsche Schriften
der ‚Wacht Tower Society’. Mit der Eröffnung des ersten Zweigbüros dieser
Gesellschaft im Jahre 1903 in Elberfeld, nahm die organisierte Tätigkeit der
Bibelforscher in Deutschland ihren eigentlichen Anfang.
Die häufigen Warnungen im ‚Herforder Evangelischen Gemeindeboten’ vor
„Sekten amerikanischer Herkunft“ unter besonderem Hinweis auf die „Russelianer“
oder „Ernsten Bibelforscher“, in den Jahren 1917/18, lassen vermuten, dass es
bereits gegen Ende des ersten Weltkriegs aktive Bibelforscher in Herford gab.
Begründet werden die Warnungen in diesen Jahren bereits damit, dass „diese
Sekten...in vaterländischer Beziehung eine Gefahr bedeuten“. Man unterstellt einen
Zusammenhang zwischen „Sektentreiben und Fahnenflucht“. In der Ausgabe des
‚Herforder Evangelischen Gemeindeboten’ vom 1. Sept. 1918 wird daher mit
Genugtuung
festgestellt,
dass
der
„Vereinigung
ernster
Bibelforscher...durch...Verfügung des stellvertr. Generalkommandos des 7.
Armeekorps in Münster vom 9. August jede Vortragstätigkeit und
Schriftenverbreitung untersagt“ wurde.
Demgegenüber spricht, wie Frau Dr. Minninger in ihrer (im Begleitbericht
zitierten) Untersuchung feststellt, das Verhandlungsprotokoll der Kreissynode Herford
„ausnahmsweise respektvoll von einem ‚Anhänger der Rysselschen Sekte, welcher
wegen militärischer Gehorsamsverweigerung verurteilt war’ und 1917 im Herforder
Gefängnis einsaß. ‚Er hatte aus religiösen Gründen nicht nur den Dienst mit der
Waffe, sondern jegliche Beteiligung am Kriege verweigert. Er wurde von einem
Prediger der Vereinigung ernster Bibelforscher besucht. Er führt sein Leben mit
großem Ernst und erwartet die Offenbarung des wiedergekehrten Christus.’“
Am 1. Juni 1919 vermeldet der ‚Herforder Evangelische Gemeindebote’ einen
„neuen Sekten-Vorstoß“. Emil Zellmann, reisender Prediger aus Berlin, hatte am 30.
Mai im Saal des Gastwirtes Tiemeyer in Herford-Stiftberg einen öffentlichen Vortrag
zum Thema: “Warum müssen diese Reiche stürzen?“ gehalten. Die „großspurige
Ankündigung in den hiesigen Zeitungen“, so befand der ‚Gemeindebote’, sei als
„wortreiches Tam-Tam nach amerikanischem Muster“ zu bewerten. Das „einträgliche
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Hauptgeschäft“ der Bibelforscher sei, „die deutschen Ausgaben der Russel´schen
Bücher an den Mann zu bringen“ und dadurch „Deutschlands Wohl durch allerlei
Umtriebe an Amerika zu verkaufen“.
Ähnliche Töne wurden in einem eigens in Herford von der Druckerei
Heidemann hergestellten doppelseitigen Flugblatt mit dem Titel „Amerikanische
Sektiererei!“ angeschlagen, das dem ‚Herforder Evangelischen Gemeindeboten’ am
30. November 1919 beilag. Kurz zuvor, am 18. November, hatten die Bibelforscher in
Herford zu einem Vortrag eingeladen, bei dem die Kirchen mit dem „Babylon“ des
Bibelbuches Offenbarung verglichen wurden. Mit der „Internationalen Vereinigung
ernster Bibelforscher (I.V.E.B.)“, so das Flugblatt, versuche nun eine der „jüngeren
Sekten amerikanischen Ursprungs...auch in unseren Gemeinden...mit verdoppeltem
Eifer Anhänger...“ zu gewinnen. Nach „vaterlandsgefährlichen Umtrieben... während
des Weltkrieges“, versprächen nun die in „Millionen verbreiteten Schriften großen
Geschäftsgewinn“.
In den Jahren 1923/24 häufen sich derartige Klagen und Warnungen im
‚Herforder Evangelischen Gemeindeboten’. Nach einem Vortrag der Bibelforscher am
22. Januar 1923 in einer Schulaula, „die ihnen versehentlich dafür eingeräumt
wurde“, befand das Blatt am 28. Januar: „Die ganze Mache ist...verquickt mit
politischen Absichten... Amerikanisches Geld steckt dahinter und, wie es heißt, auch
das Geld von Nichtchristen“.
In der Ausgabe des 30. März 1924 war, in Verbindung mit der Verteilung einer
„Proklamation“ der Bibelforscher, von einem „neuen Eroberungsangriff auf unsere
Gemeinden“, die Rede. Die Lehren Russels zu theologischen Fragen bewertete man
als „geradezu tolle Schriftverdrehung“. Das mochten die Herforder Bibelforscher nicht
auf sich sitzen lassen und reagierten mit einer „Oeffentlichen Erklärung!“ in der
örtlichen Presse. „Prüfen Sie daher selbst...“ wurden die Leser aufgefordert und auf
die jeden Donnerstag, abends 8 Uhr, stattfindenden Vorträge in der Bürgerschule
Wilhelmsplatz (Hauptgebäude) hingewiesen.
Am 7. September des gleichen Jahres warnte der ‚Herforder Evangelische
Gemeindebote’ vor der mit „erhöhtem Eifer“ durchgeführten „Werbetätigkeit der
Ernsten Bibelforscher“. Man solle sich durch die „bestechend moderne Aufmachung“
der neuen Zeitschrift „Das Goldene Zeitalter“ nicht täuschen lassen.
Die intensiven Aktivitäten der Bibelforscher fanden ihren besonderen
Niederschlag auch im Verhandlungsprotokoll der Kreissynode Herford für 1924.
Unter „Dissidenten“ heißt es: “Die Sekte der ‚Ernsten Bibelforscher’ treibt in den
Gemeinden der Synode eine eifrige und nicht ganz erfolglose Propaganda. Fast aus
allen Gemeinden kommen Klagen“. Es wird auf über 50 Übertritte zu den
Bibelforschern verwiesen, wobei nicht aus allen Gemeinden konkrete Zahlen
genannt werden. Die Synodalvertreter Rödinghausens sehen bei den Bibelforschern
eine „raffinierte Verquickung radikal-kommunistischer Ideen... mit dem Evangelium“.
Die Synode beschließt „einstimmig, den Gemeinden es zur ernsten Pflicht zu
machen, ... besonders der Sekte der Russelianer, rechtzeitig mit Nachdruck in Wort
und Schrift entgegenzutreten“.
Derartiges ist im ‚Herforder Evangelischen Gemeindeboten’ bereits gegen Ende
des Jahres 1924 festzustellen. Die Ausgabe vom 16. November behandelt als
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Hauptthema: „Unsere Stellung zu den ‚Ernsten Bibelforschern’“. Beigefügt ist ein
achtseitiges Traktat aus der Reihe „Prüfet die Geister – Blätter zur Abwehr
gefährlicher Irrtümer“, herausgegeben vom Quell-Verlag der Evang. Gesellschaft,
Stuttgart. Titel: „Die Ernsten Bibelforscher (IVEB) Millenniums- oder Russelsekte“.
Neben einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Lehre und Erwartung der
Gemeinschaft, findet der Autor in einer Fußnote auf Seite 3 auch deutliche Worte
zum vermuteten finanziellen Hintergrund: „Ob und in welchem Maße jüdisches Geld
den ‚Bibelforschern’ zur Verfügung steht, vermag ich nicht nachzuprüfen. Ich
beschränke mich deshalb auf die Mitteilung, daß das weitverbreitete ausgezeichnete
evang. Wochenblatt ‚Licht und Leben’ in Nr. 17, Jahrg. 1924 S. 236 f. ‚die Nachricht
nicht mehr für unglaublich hält, daß die Millenniumssekte vom Weltjudentum gestützt
und gefördert wird.’“ Nach dem Zugeständnis, dass sich in den Schriften Russels
„mancher schöne und gute Gedanke findet“, behauptet der Autor abschließend:
„Grundsätzlich und planmäßig geht die IVEB auf die Zerstörung unserer Kirche aus.
Sie verfügt dabei über Geldmittel, die ihr offenbar aus Kreisen zufließen, die an der
Verelendung des deutschen Volkes ihre Freude haben“.
Die Kreissynode Herford beklagt auch im Jahre 1925 die „Wühlarbeit der
Russelianer“. Das Presbyterium Mennighüffen wünscht sich das „Recht... ein solches
Russelianerhaus, wenn es nicht selbst austritt, aus der evangelischen Landeskirche
auszuschließen“. Ein entsprechender Antrag wird einstimmig an die Provinzialsynode
weitergegeben, von dieser aber, nach dem Protokoll des Folgejahres, abschlägig
beschieden. Verbunden wird damit allerdings der Hinweis: „In geeigneten Fällen
kann auch ein strafrechtliches Vorgehen in Frage kommen“.
In den Jahren 1926 bis 28 ist nach den Protokollen der Kreissynode ein
Rückgang der Übertritte zu den Bibelforschern festzustellen. Das Presbyterium
Löhne gibt dennoch im Jahre 1928 zu bedenken: „ Von Zeit zu Zeit arbeiten...[die
Bibelforscher]...mit Flugblättern. Von ihrem tätigen Zeugniseifer könnten unsere
evangelischen Gemeindeglieder lernen. Die Mitglieder dieser Sekte reden überall wo
sie Leute treffen, von dem, wovon ihnen das Herz voll ist, während man sich auf
unserer Seite scheut, ein offenes Bekenntnis abzulegen“.
„Unter neuer Firma die alte Sache“. Mit dieser Überschrift berichtet der ev.
Gemeindebote in Herford am 13. Dezember 1931, die Sekte der ernsten
Bibelforscher hätte „wieder einmal das Bedürfnis empfunden..., eine Auffrischung
ihrer Zugkraft durch Aenderung ihrer Firma zu versuchen. Jetzt hat sie sich den
neuen Namen ‚Jehovas Zeugen’ gegeben.... Am letzten Dienstag, 8.Dez.,
veranstaltete ...die ‚Herforder Gruppe’... in einem hiesigen Saale einen ‚großen’
öffentlichen Vortrag“.
Nach den Aufzeichnungen über die Reiserouten der reisenden Prediger der
Wachtturm-Gesellschaft war es der Bezirksdienstleiter W. Fischer, der an diesem
Abend in Herford sprach. Diese Aufzeichnungen lassen außerdem erkennen, dass
von Mai 1932 bis März 1933 noch zwölf solcher Vortragstermine für den Raum
Herford geplant waren, davon fünf in Herford selbst. Unter den reisenden Predigern
die Herford besuchten war auch der später, nach 8jähriger Haft, in Dachau
ermordete Karl Schurstein.
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Im ‚Herforder Evangelischen Gemeindeboten’ finden diese Veranstaltungen
keine Resonanz mehr, lediglich am 6. März 1932 wird noch einmal auf die an
mehreren Abenden stattfindende Vorführung des „Schöpfungsdrama“ hingewiesen,
eines „Lichtbild und Filmwerkes mit Orchesterbegleitung“. Man bewertete das Ganze
als einen weiteren Versuch der „neuen Firma ‚Jehovas Zeugen’“, mit einer „GratisLichtbilder- und Filmvorführung...Neugierige und Schaulustige“ zu ködern.
Die Jehovas Zeugen betreffenden Ereignisse der Folgejahre werden im
Gemeindeboten nicht mehr kommentiert. Weder das Verbot der BibelforscherVereinigung vom 24.Juni 1933 für Preußen, noch das „Reichsverbot“ vom 1. April
1935, verbunden mit der Auflösungsverfügung für die Wachtturm Bibel- und TraktatGesellschaft in Magdeburg, finden Erwähnung. Auch der im Begleitbericht
beschriebene Herforder „Bibelforscherprozeß“ vor dem Sondergericht Dortmund im
Mai 1937 bleibt unberücksichtigt. Ab Kriegsausbruch im Jahre 1939 ist der ‚Herforder
Evangelische Gemeindebote’ im Kommunalarchiv Herford nicht mehr überliefert.
Quellen:
-Verhandlungsprotokolle der Kreissynode Herford 1911, 1918, 1924, 1925, 1926, 1928, 1931
(freundlicherweise von Frau Dr. Minninger zur Verfügung gestellt).
-Herforder ev. Gemeindebote (KAH, Bibliothek) vom: 19.08.17, 07.10.17, 17.03.18, 25.08.18,
01.09.18, 01.06.19, 30.11.19 (Beilage), 28.01.23, 14.10.23, 30.03.24,13.04.24, 07.09.24, 16.11.24
(Beilage), 01.02.25, 26.04.25, 12.07.25, 02.08.25, 27.09.31, 13.12.31, 06.03.32.
-Reiserouten der Vortragsredner der Wachtturm-Gesellschaft, Bild H. Herkendell (Geschichtsarchiv
der Zeugen Jehovas Selters/Taunus).
-zu Russell: Wrobel, Johannes, Die frühen Bibelforscher und ersten Veröffentlichungen der Zeugen
Jehovas in Pennsylvanien und Deutschland um das Jahr 1900, in: Hirch, Waldemar (Hrsg.),
Zersetzung einer Religionsgemeinschaft – Die geheimdienstliche Bearbeitung der Zeugen Jehovas in
der DDR und in Polen, edition corona, Niedersteinbach, 2001.
Die Verfolgung der Zeugen Jehovas (Bibelforscher) im Raum Herford 1933 1945
Jochen Schlüer
[email protected]
Einführung
„Wir Christen von heute stehen beschämt da vor einer
sogenannten Sekte wie der der ernsten Bibelforscher [Jehovas
Zeugen], die zu Hunderten und Tausenden ins Konzentrationslager
und in den Tod gegangen sind, weil sie den Kriegsdienst ablehnten
und sich weigerten, auf Menschen zu schießen.“
(Ach Gott im Himmel sieh darein. Sechs Predigten, Verlag Chr. Kaiser, München 1946, Seite 27,28)
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Martin Niemöller, führendes Mitglied der Bekennenden Kirche, KZ-Häftling und
späterer Kirchenpräsident veröffentlichte die obenstehenden Worte im Jahre 1946.
Heute erinnern sie an Umstände, die in den Nachkriegsjahrzehnten in der deutschen
Öffentlichkeit nahezu völlig in Vergessenheit geraten waren.
Erst in den 1990er Jahren wurden Jehovas Zeugen (bis 1931 nannten sie sich
Bibelforscher), wieder als Opfergruppe des Nationalsozialismus wahrgenommen.
Wesentlich dazu beigetragen haben das Seminar „The Nazi Assault Against
Jehovah’s Witnesses“ am United States Holocaust Memorial Museum (Washington,
29. September 1994), sowie die Arbeiten verschiedener Historiker im In-und Ausland.
Dr. Monika Minninger, Historikerin im Stadtarchiv Bielefeld, hat in ihrer im Februar
2001 veröffentlichten Studie ‚Eine Bekennende „Kirche“ – Zur Verfolgung Von
Zeugen Jehovas In Ostwestfalen Und Lippe, 1933 – 1945’, die Verfolgung dieser
Glaubensgemeinschaft für den hiesigen Raum umfassend dokumentiert. Für
weitergehende regionalhistorische Nachforschungen z.B. zur Geschichte und
Sozialstruktur der Gemeinschaft, aber auch zur Chronologie der Verfolgung sei
bereits hier auf diese Arbeit verwiesen. Zum grundsätzlichen Verhältnis zwischen
Jehovas Zeugen und dem NS-Staat ein kurzer Auszug:
i
„Keine andere religiöse, politische oder weltanschauliche Bewegung war in ihrem
Gedankengut dem Nationalsozialismus so diametral entgegengesetzt wie die
Zeugen Jehovas: Hier fanatischer Nationalismus, dort Internationalismus, Ablehnung
jeden Rassebegriffs, Leitung durch eine amerikanische Zentrale; hier das
Tausendjährige Reich der Deutschen und Nationalsozialisten, dort das „Millennium“
als Gottes „neue Welt“, die das Hitlerreich in Kürze ablösen würde; hier Hitler als
oberste Autorität und Heilsbringer, dort Jehova, der hebräische Judengott und „unser
Führer Jesus Christus“ (Abschiedsbrief [des wegen Wehrdienstverweigerung zum
Tode verurteilten] Wilhelm Kusserow vom 26.4.1940); hier geradezu krankhafter
Judenhaß, dort zwar religiös motivierter Antijudaismus, aber Ablehnung von
Judenverfolgung, Wertung des Zionismus als deutliches Zeichen der Endzeit,
Errechnung des einzigen IBV-Feiertages wie das jüdischen Pesachfest; hier
Errichtung eines Führerstaates, dem jeder Einzelwille unterzuordnen ist, dort das
Konzept einer „Eigenstaatlichkeit“ (Garbe) mit den für Bibelforscher typischen
Verweigerungsformen im Dritten Reich (Ablehnung jeglichen Kultes, der nicht Jehova
galt, wie Hitler- und Fahnengruß, keine Beteiligung an politischen Wahlen und
Veranstaltungen, Verweigerung jeglichen Wehrdienstes und jeglicher Betätigung für
militärische Zwecke).Die „Gefährlichkeit“ der Bibelforscher für den totalitären Staat
liegt darin, „dass sie sich jeder politischen Teilnahme, aber damit auch staatlicher
Kontrolle entziehen“, wie Gabriele Yonan im Hinblick auf die Totalitarismusforschung
betont.“
ii
Die hier von Frau Minninger beschriebene Konfliktlage zwischen Jehovas Zeugen
und dem Nationalsozialismus spiegelt sich, auf den Kreis Herford bezogen, sehr
deutlich in der Presseberichterstattung zum Massenprozess gegen 22 „Ernste
Bibelforscher“ vor dem 2. Senat des Sondergerichts Dortmund, vom 19. bis 22. Mai
1937 im Amtsgericht Herford. Der nachstehende Bericht über diesen Prozess, sowie
die daran anschließende Schilderung von Einzelschicksalen, soll die
Zermürbungsstrategien und Verfolgungsmaßnahmen gegen die Zeugen Jehovas am
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konkreten Beispiel deutlich machen. Die Darstellung basiert im wesentlichen auf dem
Aufsatz „Wir werden nun mal nicht verstanden – Schicksale von Zeugen Jehovas im
Raum Herford 1933 – 1945“, der ursprünglich im Historischen Jahrbuch für den Kreis
Herford 1998 erschienen ist. Für die Verwendung auf dieser Website wurde er
gekürzt und in Teilen überarbeitet.
Der Prozess
„...das internationale System der IBV [ist] restlos auszurotten...“
„Zeugen Jehovas vor dem Richter.“ Mit dieser Schlagzeile im Herforder Kreisblatt
vom 20. Mai 1937 erfuhr die heimische Öffentlichkeit, dass einen Tag zuvor im
Herforder Amtsgericht ein Sondergerichtsverfahren gegen 22 „Ernste Bibelforscher“
begonnen hatte. Der Name „Jehovas Zeugen” wurde von der Glaubensgemeinschaft
1931 angenommen. Bis dahin nannten sie sich „Bibelforscher” oder „Ernste
Bibelforscher”. Da die Bezeichnung „Bibelforscher” in der NS-Zeit in der deutschen
Öffentlichkeit, bei den Gläubigen selbst und besonders von den
Verfolgungsinstanzen weiter benutzt wurde, werden im vorliegenden Beitrag beide
Bezeichnungen verwendet.
Die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft waren in
der ‚Internationalen
Bibelforschervereinigung’ (IBV) zusammengeschlossen, die auf Anordnung des
preußischen Innenministers seit dem 24. Juni 1933 verboten war. Auf dieses Verbot
bezieht sich auch der Berichterstatter des Kreisblattes und zählt dann einige der
Konfliktpunkte zwischen dem NS-Staat und den Zeugen Jehovas auf:
„Aus den Bibelworten: ‚Du sollst nicht töten!´ leiten sie, wie in den BibelforscherProzessen immer wieder in ernsthafter Anwandlung vorgetragen wird, das Recht her,
den Kriegsdienst mit der Waffe in der Hand zu verweigern. Die Bibelforscher lehnen
es auch ab, ihrer Wahlpflicht zu genügen; wenn sie jedoch im Wahllokal erscheinen,
geben sie leere Wahlzettel ab. Auch lehnen sie durchweg den deutschen Gruß ‚Heil
Hitler!’ ab, da nach Apostelgeschichte 4,12 das Heil nur in Jehova sei.”
Der Verfasser des Artikels stellt aufgrund dieser Umstände fest, wobei er die
Anklageschrift des Prozesses nahezu wörtlich wiedergibt, dass die Lehre der IBV die
„Abtötung des National-bewußtseins und Verherrlichung und Verbreitung des
pazifistisch-liberalistischen
Gedankens
mit
all
seinen
verderblichen
Nebenerscheinungen” bezwecke. Weiter heißt es: „Die IBV ist daher in hohem Maße
staatsgefährlich und staatsfeindlich”.
iii
Die »Staatsfeindlichkeit« der Herforder Angeklagten ergab sich, folgt man der
Anklageschrift, daraus, dass sie sich trotz Verbot weiter versammelt, über Bibeltexte
und Literatur der IBV gesprochen und diese weitergegeben hatten. Aufgrund aller
Vorwürfe gegen die Angeklagten kam der Anklagevertreter, Gerichtsassessor Dr.
Haas, bei „genereller Bejahung der Schuldfrage für 20 von 22 Angeklagten” zu dem
Schluss, ihre Bestrafung resultiere unter anderem aus der „Notwendigkeit, das
internationale System der IBV restlos auszurotten”.
Unter dieser Vorgabe und mit Hinweis auf 㤠4, Absatz 1, der Verordnung des
Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 als
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8
Rechtsgrundlage”, wurden folgende Angeklagten zu Gefängnisstrafen verurteilt: Carl
Hofmann zu einem Jahr und sechs Monaten, Lieschen Begemann zu fünf Monaten,
Gustav Nolting zu einem Jahr, Anna Kleemeier zu sechs Wochen, Anna Brenning zu
sechs Wochen, Erich Langmack zu einem Jahr, Martha Langmack zu fünf Monaten,
Friedrich Meyer zu drei Monaten, Karl Braunschweig zu einem Jahr, Sandor Baier zu
acht Monaten, Wilhelm Klemme zu vier Monaten.
iv
Das Verfahren gegen die übrigen 11 Angeklagten wurde eingestellt. Von den
Verurteilten blieb nur der 47jährige Carl Hofmann weiter in Haft, da bei allen anderen
die verhängten Strafen durch die Untersuchungshaft bereits mehr als verbüßt waren.
Da Hoffmann als Leiter der Herforder Bibelforscher-Gruppe galt und wegen
„Einzelvorgängen einschlägig vorbestraft” war, fiel das Urteil gegen ihn entsprechend
hoch aus. Bereits vor seiner Haftzeit hatte er seine Stellung bei der Sparkasse Herford verloren, weil er nicht bereit war, den Hitler-Gruß anzuwenden.
v
Berufsverbot
„...da Sie...sich... einer illegalen Tätigkeit... schuldig gemacht haben...“
Friedrich Meyer war als Justizangestellter beim Amtsgericht Herford beschäftigt.
Mit Schreiben vom 18. Mai 1936, wurde ihm mitgeteilt: „Da Sie nach heutiger
Auskunft der Geh. Staatspolizei in Bielefeld sich einer illegalen Tätigkeit durch
Vertreibung von Schriften der ‚Ernsten Bibelforscher’ schuldig gemacht haben,
entlasse ich Sie aus dem Angestelltenverhältnis.”(Link?) Ein im Dezember des
gleichen Jahres ausgestelltes Zeugnis (Link?) lässt durchaus einen gewissen Unmut
darüber vermuten, dass man in Meyer einen brauchbaren Mitarbeiter verloren hatte.
Es gibt ziemlich unverhohlen zu erkennen, dass allein die politischen Vorgaben
Ursache dafür waren, dass er entlassen werden „mußte“.
vi
Meyer blieb ein Jahr und sechs Monate ohne Unterstützung arbeitslos. Außerdem
wurden Maßnahmen eingeleitet, um seine Mitgliedschaft in der Berufskrankenkasse
der Behörden- und Büroangestellten zu streichen. Mit diesen Repressalien und
seiner Verurteilung zu drei Monaten Haft, der eine siebenmonatige
Untersuchungshaft vorausging, waren die Schwierigkeiten für ihn allerdings noch
nicht beendet. Am 27. Februar 1945 wurde der 45jährige erneut verhaftet, weil er
wiederholten Stellungsbefehlen zum Volkssturm nicht gefolgt war. Zunächst blieb er
bis zum 15. März 1945 im Keller des Herforder Rathauses in Schutzhaft. In den
folgenden polizeilichen Vernehmungen lehnte er eine „Vereidigung auf den Führer”
ab.
vii
viii
Nach seinen eigenen handschriftlichen Angaben aus dem Jahre 1945 sollte er
daraufhin vor ein Standgericht gestellt werden, blieb aber, da aufgrund der
Kriegsverhältnisse keine Transportmöglichkeiten bestanden, im Herforder Gefängnis
in Haft. Seine Tochter, die diese Ereignisse als Siebzehnjährige miterlebte, ist sich
bis heute sicher, dass dafür nicht allein fehlende Transportmöglichkeiten
ausschlaggebend waren, sondern auch die Bekanntschaft ihres Vaters mit Polizeiund Justizbeamten aufgrund seiner Tätigkeit beim Amtsgericht. Ein Indiz dafür wäre
der Umstand, dass ihr gestattet wurde, ihrem Vater während seiner Haftzeit im
Rathauskeller regelmäßig das Essen zu bringen. Unterstützt wurde Friedrich Meyer
auch
von
seinem
zweiten
Herforder
Arbeitgeber
Walter
Angenete
ix
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(Herrenoberbekleidungsfirma Angenete & Scholle). Dieser habe ihn, so schreibt er in
einem Brief im Juli 1945, „wo er nur konnte, dem Zugriff der Partei entzogen”.
x
Denunziation
...bei der... Dreier... müsste...ein Exempel statuiert werden...
Wilhelmine Dreier aus Oetinghausen wurde am 3. Juli 1944 im Alter von 60
Jahren in Haft genommen. Bemerkenswert sind die Umstände, die zu ihrer
Verhaftung führten. Auf neun Protokollseiten hat die Gestapo Aussagen von vier
Personen, die teils „vorgeladen” wurden, teils „freiwillig erschienen” waren, über
Wilhelmine Dreier festgehalten. Diese beschuldigen sie, eine „fanatische
Bibelforscherin”, „300prozentige Kommunistin” und „ausgesprochene Staatsfeindin”
zu sein, Feindsender zu hören, nicht mit dem Deutschen Gruß zu grüßen und dem
‚Führer’ die Schuld am Krieg gegeben zu haben.
Der „vorgeladene“ W. S. gab zu Protokoll: „Gerade in diesem Falle bei der Ww.
(Witwe) Dreier müsste unbedingt ein Exempel statuiert werden, damit sie ihr
teuflisches Treiben nicht weiter fortsetzen kann.“ Der Gestapo-Vermerk vom 18. Juli
1944 über das Verhör von Wilhelmine Dreier stellt fest, dass „die Beschuldigte mit
ihrer Tochter Eugenie Tücke bis in die letzte Zeit hinein die Bibel besprochen und
Bibelsprüche ausgelegt” habe. Weiter heißt es: „Frau Dreier will nicht bekannt
gewesen sein, daß das Auslegen der Bibel mit dem heutigen Zeitgeschehen und das
Erörtern von Bibelsprüchen verboten ist.” Deshalb erging am 19. Juli Haftbefehl
gegen Wilhelmine Dreier unter anderem wegen „verbotenen Bibelforschens” und
„Teilnahme an einer wehrfeindlichen Verbindung.“
xi
Über den weiteren Verlauf heißt es in einer Forschungsarbeit: “Die 60jährige
Wilhelmine Dalier (Dreier, siehe Anmerkung 12) ist am 17.07.44 zu vier Monaten Haft
verurteilt worden. Nach drei Monaten ist sie aus Gesundheitsgründen aus der Haft
entlassen worden. Kurze Zeit später starb sie - ein kausaler Zusammenhang
zwischen der Behandlung in der Haft und dem Tod ist wahrscheinlich.“
xii
Gefängnis und Zuchthaus
...wegen „Teilnahme an einer wehrfeindlichen Verbindung...“
Im Februar 1939 stand ein Ehepaar aus Bünde, Amalie und Rudolf Wiesner, vor
dem hier tagenden Sondergericht Dortmund. Amalie Wiesner war zu diesem
Zeitpunkt 31 Jahre alt. Sie wurde wegen „illegaler Betätigung für die IBV” zu fünf
Monaten Gefängnis verurteilt. Durch die vorausgehende Untersuchungshaft im Jahre
1938 galt die Strafe als verbüßt. Im Juli 1944 wurde sie in Hagen-Haspe erneut von
der Gestapo festgenommen und in das Polizei-gefängnis in Bielefeld eingeliefert. In
den Vernehmungen verweigerte sie unter anderem die Anwendung des Hitlergrußes,
die Tätigkeit in einem Rüstungsbetrieb und das Unterschreiben einer
Abschwörungserklärung. Am 19. Juli erging Haftbefehl und sie kam in das
Untersuchungsgefängnis in Bielefeld. Zu einer Verurteilung kam es nicht mehr.
Amalie Wiesner wurde am 31. März 1945 von den Alliierten befreit.
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Als ihr Mann Rudolf im Jahre 1939 gemeinsam mit ihr in Bünde vor Gericht stand,
war er 37 Jahre alt. Sein Urteil lautete auf zwei Jahre Haft. Am 18. Oktober 1944
stand Rudolf Wiesner wieder vor einem Sondergericht, diesmal in Bielefeld. Die
Anklage lautete jetzt auf „Notdienstverweigerung (Wiesner hatte sich geweigert, der
Organisation Todt beizutreten) und Teilnahme an einer wehrfeindlichen Verbindung”.
Man verurteilte ihn zu drei Jahren Zuchthaus und drei Jahren Ehrverlust und brachte
ihn in das Sammellager Gütersloh-Pavenstädt, wo er am 2. April 1945 auf Anweisung
der Besatzungstruppen aus der Haft entlassen wurde. Insgesamt war Rudolf Wiesner
drei Jahre und drei Monate in Haft.
xiv
Die vergleichsweise hohen Strafen bei der Verurteilung des Ehepaars Wiesner
erklären sich u.a. durch eine Deliktverschiebung infolge verschärfter
Strafrechtsbestimmungen in den Kriegsjahren. Insbesondere die mit der
Mobilmachung in Kraft getretene Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) wirkte
nachhaltig auch in den Bereich des zivilen Strafrechts hinein. Aus der beim Herforder
Prozess geahndeten „verbotenen Bibelforschertätigkeit“ wurde durch diese
Verordnung „Teilnahme an einer wehrfeindlichen Verbindung“ oder gar
„Wehrkraftzersetzung“. Für Zeugen Jehovas denen die Herstellung oder
Vervielfältigung verbotener Literatur, z.B. des Wachtturms, nachgewiesen wurde,
konnte die Anklage durchaus auch auf „Hochverrat“ lauten und damit die Todesstrafe
nach sich ziehen.
xv
Lagerhaft
...da Sie „sich erneut für die IBV illegal betätigt... haben“
Sandor Baier war im Herforder Bibelforscherprozess vom Mai 1937 zu acht
Monaten Gefängnis verurteilt worden, die durch eine vorhergehende zehnmonatige
Untersuchungshaft als verbüßt galten. Im August 1944 wurde er von der Gestapo
abermals verhaftet. Man verdächtigte ihn, „sich erneut für die IBV illegal betätigt zu
haben”.
xvi
Ihm wurde, wie den meisten Zeugen Jehovas, die ‚Verpflichtungserklärung für
Bibelforscher’ (Link?) vorgelegt. Durch diese Erklärung konnten sich die Zeugen
Jehovas von ihrem Glauben lossagen, sich gleichzeitig zum NS-Staat bekennen und
dadurch einer weiteren Inhaftierung oder einer Einweisung ins Konzentrationslager
entgehen. Wie das Vernehmungsprotokoll deutlich erkennen lässt, unterschrieb
Sandor Baier diese Erklärung nicht. Außerdem weigerte er sich, in einem
Rüstungsbetrieb zu arbeiten und mit „Heil Hitler!” zu grüßen.
xvii
xviii
War im Herforder Prozess von 1937 noch so etwas wie die ‚Beweislage’
ausschlaggebend für die Strafzumessung, regierte nun völlig die Willkür der Gestapo.
Die Gestapoaußenstelle Bielefeld verlangt in einem Begleitschreiben zur Vorführung
Baiers im Amtsgericht: „Sollte kein (!) Haftbefehl erlassen werden, so ist B a i e r in
das Polizeigefängnis zurückzuführen.“ Ohne weiteres Verfahren oder Urteil landete
dieser in der Folge im sogenannten ‚Arbeitserziehungslager’ Lahde (bei
Petershagen/Kreis Minden). „Wie grausam die Bedingungen in Lahde waren”, so die
Historikerin Ulrike Puvogel, „mag man daran ermessen, daß in dem Lager bei einer
european-migration/Jehovas Zeugen
11
durchschnittlichen Belegung von etwa 700 Häftlingen in 22 Monaten fast 800
Gefangene zu Tode kamen”. Auch Sandor Baier wurde in Lahde durch
Stockschläge und Peitschenhiebe schwer misshandelt. Wie ein Arzt später
feststellte, führten diese Stockschläge bei ihm zu einer Absprengung des rechten
Schulterknochens, die unverheilt blieb.
xix
xx
Am 1. April 1945 wurde das Lager Lahde angesichts der heranrückenden
Amerikaner aufgelöst. Einen Tag später setzte man die Häftlinge in drei Kolonnen in
Richtung Hannover in Marsch. Der Entlassungsschein von Sandor Baier datiert vom
3. April 1945. Er hat also offenbar die schrecklichen Ereignisse bei der Auflösung des
Lagers miterlebt. 51 kranke Häftlinge wurden nach Aussagen von Überlebenden im
Bunker des Lagers umgebracht, weil sie einen Fußmarsch nicht mehr mitmachen
konnten. Ob sich Sandor Baier auch noch am 6. April bei der Kolonne aus Lahde
befand, ist nicht mehr festzustellen. Das wäre möglich, weil sein Entlassungsschein
vom 3. April den ausdrücklichen Befehl enthält, sich bei der “Stapo-Nebenstelle Bad
Eilsen” erneut zu melden. Sicher ist hingegen, dass am 6. April die Gefangenen aus
Lahde selektiert wurden und 80 bis 100 von ihnen, überwiegend russische
Zwangsarbeiter, auf dem Friedhof Seelhorst bei Hannover in einer Massenexekution
erschossen wurden. Dieses Schicksal blieb Sandor Baier erspart, er überlebte.
xxi
xxii
Heinrich Gerlach wurde am 22. Februar 1937, im Alter von 47 Jahren verhaftet.
Zunächst blieb er für 14 Tage im Bielefelder Polizeigefängnis in ‚Schutzhaft’, dann
weitere vier Monate in Untersuchungshaft, wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt
und verbüßte seine Haft in Gefängnissen in Bünde, Hagen, Lingen an der Ems sowie
im Lager Neusustrum. Als im November 1939 das Ende seiner Haftzeit anstand,
wurde er aber, wie viele andere Zeugen Jehovas, nicht entlassen, sondern in das KZ
Sachsenhausen und kurze Zeit darauf in das KZ Neuengamme verbracht.
xxiii
Detlef Garbe beschreibt unter der Überschrift „Konflikte zwischen Justiz und
Polizei beim Vorgehen gegen die Internationale Bibelforscher -Vereinigung”, wie es
der Gestapo möglich wurde, Personen, die ihre Haftstrafe verbüßt hatten, unmittelbar
nach ihrer Entlassung in ein KZ zu bringen. „Mit Runderlass vom 02.07.1937 ordnete
der Reichsminister der Justiz an, daß der jeweils zuständigen Stelle der Gestapo die
bevorstehende Entlassung von Bibelforschern … anzuzeigen und die Gefangenen
mit Ende der Justizhaft der Gestapo ‚zur Verfügung zu stellen’ seien … Vier Tage
später … erklärte der Reichsjustizminister in einem Schreiben an den ReichsführerSS … sein grundsätzliches Einverständnis mit der Inschutzhaftnahme von
Bibelforschern nach Beendigung der Strafhaft in den Fällen, in denen diese sich nicht
glaubhaft von der IBV getrennt hätten.”
xxiv
Genau das tat Heinrich Gerlach nicht. Er blieb bis zum Kriegsende, also insgesamt sieben Jahre und vier Monate inhaftiert, die längste Haftzeit aller verurteilten
Zeugen Jehovas aus dem Raum Herford.
xxv
Wilhelm Johannsmeier, Malermeister aus Löhne-Gohfeld wurde im Frühjahr
1936 im Alter von 46 Jahren verhaftet. Bis März 1937, fast ein Jahr, blieb er in
Untersuchungshaft und wurde dann vom Sondergericht Dortmund wegen „verbotener
Bibelforschertätigkeit”, wozu schon das Lesen verbotener Literatur und das
Zusammentreffen mit Gleichgesinnten gehören konnte, zu einem Jahr und sechs
european-migration/Jehovas Zeugen
12
Monaten Gefängnis verurteilt. Da die Untersuchungshaft angerechnet wurde, entließ
man ihn am 29. November 1937 aus einem Bielefelder Gefängnis.
Auch er wurde nach dem erwähnten Erlass des Reichsjustizministers vom 2. Juli
1937 der „Gestapo zur Verfügung gestellt”, da er ebenfalls nicht bereit war, sich
„glaubhaft von der IBV zu trennen”. Am 18. Dezember 1937 wurde er in das KZ
Sachsenhausen gebracht. Drei Monate später, mit Datum vom 22. März 1938, erhielt
seine Frau Minna eine Sterbeurkunde des Amtes Oranienburg übersandt, in der es
lapidar hieß: „Der Lagerkommandant des Lagers Sachsenhausen hat mitgeteilt, dass
der Malermeister Wilhelm Karl Heinrich Johannsmeier, 48 Jahre alt, am 18. März
1938 verstorben ist.” Nach einem Schreiben des Rechtsanwalts der Witwe vom 11.
Oktober 1945 soll als Todesursache „Herzschwäche” angegeben worden sein. Das
gleiche Schreiben betont, dass Wilhelm Johannsmeier bis zu seiner Verhaftung
immer gesund war und niemals an Herzschwäche litt.
xxvi
„Die Forderung, den Bibelforscherglauben als ‚Irrlehre’ zu verleugnen“, so Garbe,
„nahm den Zeugen Jehovas jeden Spielraum. Eine solche Erklärung zu
unterzeichnen, war für sie gänzlich unmöglich, da dies in ihren Augen einem ‚Verrat’
an dem Gott gegebenen Treueversprechen gleichkam. Viele Zeugen Jehovas waren
eher bereit zu sterben, als sich dazu bereit zu finden.”
xxvii
Zu den besonderen Merkmalen der Häftlingsgruppe der Zeugen Jehovas in den
Konzentrationslagern gehörte neben der Möglichkeit durch das Unterzeichnen einer
‚Verpflichtungserklärung’ mit großer Wahrscheinlichkeit frei zu kommen, auch ihre
besondere Kennzeichnung. 1938 wurde für alle Konzentrationslager ein einheitliches
System von festgelegten Farbcodes eingeführt. Die Häftlinge hatten nun auf der
linken Brustseite ein farbiges Dreieck zu tragen, darunter auf weißem Rechteck eine
schwarze Häftlingsnummer. Die Bibelforscher oder Zeugen Jehovas erhielten den
violetten oder lila Winkel. Nach Garbe erfolgte „die Eingruppierung der Bibelforscher
als eigenständige Kategorie... aus dem Interesse der SS, die von den anderen
Gefangenen zu separierenden Zeugen Jehovas sichtbar kenntlich zu machen...“.
Damit, so Garbe weiter, „war eine Zuordnung gewählt, die speziell und einzig für die
Angehörigen einer Weltanschauungsgemeinschaft galt“.
xxviii
Zwangserziehung
„...da ...sie...für die Volksgemeinschaft unbrauchbar werden.“
Von den Verfolgungsmaßnahmen des NS-Staates konnten auch ganze Familien
betroffen sein. Das zeigt der Fall der Familie Brune, ebenfalls aus Löhne. Der Vater,
Wilhelm Brune, wurde 1938 vom Sondergericht Dortmund in Bielefeld wegen
„verbotener Bibelforschertätigkeit” zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Aufgrund
einer Amnestie kam er nach sechs Monaten frei. Seine Frau Mathilde stand 1943 in
Bielefeld vor Gericht. Neben „verbotener Bibelforschertätigkeit” warf man ihr „Verstoß
gegen die Staatsordnung” vor, weil sie ihre Kinder Irmgard und Helmut in ihrem
Glauben erzogen habe. Sie wurde zu neun Monaten Gefängnis verurteilt, die sie voll
verbüßen musste.
xxix
Der härteste Schlag traf die Familie Brune jedoch mit einem Beschluss des
Amtsgerichtes Bad Oeynhausen vom 10. Juni 1943. Auslöser dazu war das
Verhalten des 12jährigen Sohnes Helmut. Dieser hatte sich am 20. April (Hitlers
european-migration/Jehovas Zeugen
13
Geburtstag) in der Schule geweigert, mit erhobenem Arm das Gedicht „Der Führer”
aufzusagen. Außerdem lehnte er es ab, die Fahne zu grüßen. Zur Begründung
verwies er gegenüber dem Klassenlehrer, dem Schulleiter und später auch
gegenüber dem Schulrat auf das erste der zehn Gebote: „Du sollst keine anderen
Götter neben mir haben.”
Im Beschluss des Amtsgerichtes vom 10. Juni 1943 wird dazu festgestellt, dass
„der Schüler Helmut das Gedankengut der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung
in sich aufgenommen hat”. Obwohl ausdrücklich bemerkt wird, dass „gegen
Leistungen und Betragen” der Kinder Irmgard und Helmut „an sich nichts
einzuwenden“ sei, kam man zu dem Schluß, „daß die Kinder im Elternhaus so
beeinflußt werden, daß sie für die Volksgemeinschaft unbrauchbar werden”. Den
Eltern wurde das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen. Die 17jährige Irmgard kam zu
einer nationalsozialistischen Familie nach Herford, bei der sie, wie sie bis heute
betont, gut behandelt wurde. Ihr Bruder Helmut wurde in das NSV-Erziehungsheim
nach Nettelstedt gebracht. Dort zog er sich, wie Vater und Schwester
übereinstimmend berichten, ein schweres Lungenleiden zu. Helmut Brune starb an
den Folgen der Krankheit 1948 im Alter von 18 Jahren.
xxx
Todesurteile
...im Normalfall...[wird]... die Todesstrafe angezeigt sein...“
Der 32jährige Gärtner Willi Joecks aus Löhne hatte noch große Pläne. Er wollte
sich mit einer kleinen Gärtnerei selbständig machen, ein Häuschen bauen und mit
seiner jungen Frau Marie eine Familie gründen. Am 11. Juli 1940 erhielt er vom
Wehrbezirkskommando den »Einberufungsbefehl A« für den 15. Juli.
An diesem Tag erklärte Willi Joecks schriftlich gegenüber der Polizei in Löhne und
wohl auch mündlich gegenüber dem Bürgermeister, dass er aus religiösen Gründen
den Wehrdienst nicht antreten werde. „Wie ein Schwerverbrecher wurde er
weggebracht”, beobachtete seine Frau, „abgeführt von zwei Polizisten mit
Schäferhunden”.
xxxi
Nachdem er ins Gerichtsgefängnis Bielefeld eingeliefert worden war, untersuchte
man ihn in der psychiatrischen Abteilung des Reservelazaretts Bielefeld auf seinen
Geisteszustand hin und erklärte ihn für „voll verantwortlich”.
In den folgenden Verhören brachte Willi Joecks zum Ausdruck, dass er die
Selbstverpflichtung übernommen habe, den Willen Gottes zu tun und ihm treu zu
bleiben. Aufgrund dieser Einstellung und zufolge des Gebotes „Du sollst nicht töten”
sei er schon vor dem Krieg zu dem Entschluss gekommen, einer Einberufung zum
Wehrdienst keine Folge zu leisten.
Am
11.
September
1940
überführte
man
ihn
in
das
Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Berlin-Tegel. Die Hauptverhandlung vor dem 2.
Senat des Reichskriegsgerichts Berlin-Charlottenburg wurde auf den 2. Oktober
festgesetzt. Er wurde zum Tode verurteilt.
Nach der Sterbeurkunde des Standesamtes Brandenburg ist „der Gärtner August
Wilhelm Joecks, gottgläubig …, am 02.11.1940, um 5 Uhr 45 Minuten, in
european-migration/Jehovas Zeugen
14
xxxii
Brandenburg, Winterfeldallee 22, verstorben”. Mit Datum vom 4. November 1940
erhielt seine Witwe noch ein Schreiben mit folgendem Text: „Das
Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis übersendet in der Anlage für den Ziv. Willi
Joecks …1 Hemd (grün gestreift). Um Empfangsbescheinigung wird gebeten”.
xxxiii
xxxiv
Hermann Abke erhielt am 27. April 1944, als 40jähriger Familienvater, den
Einberufungsbefehl zu einem Baupionierbatallion in Arnsberg. Als er sich noch am
gleichen Vormittag auf den Weg zum Wehrbezirkskommando Herford machte,
wusste er vermutlich, dass er nicht wieder zurückkehren würde. Das
Wehrbezirkskommando Herford nahm seine Erklärung als Wehrdienstverweigerer
nicht an und verwies ihn an den Truppenstandort Arnsberg.
xxxv
Was weiter geschah, fasst der sogenannte Tatbericht der Militärbürokratie an das
Divisionsgericht wie folgt zusammen: „Der am 27.04.1944 nach hier Einberufene
verweigert die Einkleidung als Soldat und die Leistung des Eides.” Wie Hermann
Abke seine Verweigerung begründete, ist in 22 Protokollzeilen festgehalten: „Seit
meinem 16. Lebensjahr bin ich, beeinflußt durch die Eindrücke des vorherigen
Krieges, der Auffassung, daß es unchristlich ist, einen Menschen zu töten.
Diese Auffassung finde ich auch in der Bibel begründet. Aus diesem Grunde halte
ich es für meine Pflicht, meiner christlichen Überzeugung treu zu bleiben. Es verstößt
auch gegen meinen Glauben, mich in die Wehrmacht einordnen zu lassen, selbst
wenn ich nicht mit der Waffe zu kämpfen brauche, da die Wehrmacht eine
Organisation ist, die den christlichen Grundsätzen widerstreitet. … Ich bekenne mich
zu den Zeugen Jehovas.”
xxxvi
Hermann Abke wurde zwangsweise als Soldat eingekleidet und in das
Wehrmachtsgefängnis Fort Zinna in Torgau überführt. Am 27. Juni 1944 verurteilte
ihn das Reichskriegsgericht durch ein sogenanntes Feldurteil „wegen Verweigerung
des Wehrdienstes zum Tode, zum dauernden Verlust der Ehrenrechte und zum
Verlust der Wehrwürdigkeit”. Dieses Urteil wurde am 7. Juli vom Präsidenten des
Reichskriegsgerichts bestätigt.
xxxvii
In einem Brief an seine Frau vom 15. Juli 1944, den Abke aus dem Gefängnis
schmuggeln ließ, legte er noch einmal ein ausführliches Bekenntnis zu seinem
Glauben ab. Er schrieb: „Ich danke dem Allmächtigen, daß ich diesen Weg gehen
durfte.” Ein besonderer Trost sei ihm dabei das Paulus-Wort aus dem 2. TimotheusBrief 4,7 gewesen. („Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf
vollendet, ich habe Glauben gehalten.”). Einige Zeilen weiter schrieb er: „Der Kampf
bestand nur darin, daß ich von allen Seiten immer wieder aufgefordert wurde, doch
einzugestehen. Der Krieg würde nur noch kurze Zeit dauern und, vor allen Dingen,
ich solle doch an die Kinder denken, die dann doch keinen Vater mehr haben. Ich
habe die dazugehörigen Antworten gegeben, aber wir werden nun mal nicht
verstanden. Nun mein liebes Mariechen, liebe Kinder, alle Verwandte und Bekannte,
recht herzliche Grüße von Hermann. Auf Wiedersehen.”
xxxviii
Am 20. Juli 1944 erhielt Mariechen Abke in Herford folgende Nachricht: „Es wird
Ihnen mitgeteilt, dass ihr Ehemann, der Baupionier Hermann Abke, am 27.06. durch
european-migration/Jehovas Zeugen
15
den 1. Senat des Reichskriegsgerichts wegen Verweigerung des Wehrdienstes zum
Tode verurteilt wurde und daß dieses Urteil am 17.07.1944 vollstreckt wurde. Ein
letzter Brief Ihres Mannes wird beigefügt.”
xxxix
Hintergrund dieser Todesurteile war die am Mobilmachungstag in Kraft getretene
Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO). Die sich aus dieser Verordnung für die
den Kriegsdienst verweigernden Zeugen Jehovas ergebenden Konsequenzen
beschreibt Detlef Garbe wie folgt: „Die mit dem § 5 Abs.1 Zif.3 KSSVO geschaffene
Strafvorschrift
bestimmte
die
Todesstrafe
als
Regelstrafe
für
Kriegsdienstverweigerung. Zwar ermöglichte der Absatz 2 die Annahme eines
‚minder schweren Falles’, und damit die Zuerkennung einer Zuchthaus- oder
Gefängnisstrafe, aber nach den ‚Grundsätzen’ der Reichskriegsanwaltschaft waren
die
Voraussetzungen
für
eine
Absenkung
des
Strafmaßes
in
Kriegsdienstverweigerungsfällen regelmäßig nicht gegeben: ‚Gegen den
hartnäckigen Überzeugungstäter (Bibelforscher) wird wegen der propagandistischen
Wirkung seines Verhaltens im Normalfall nur die Todesstrafe angezeigt sein.’” Nach
von Garbe zitierten Dokumenten gingen diese Bestimmungen auf persönliche
Entscheidungen Hitlers zurück.
xl
Die hier beschriebenen strafverschärfenden Bestimmungen wurden in ihrer
unerbittlichen Konsequenz nicht nur gegenüber Hermann Abke und Willi Joecks zur
Anwendung gebracht. Auch Heinrich Ostermöller (Link Anklageverfügung?) und Walter
Möller (Link Urteil?) aus dem Raum Bünde mussten ihre aus dem Glauben begründete
Verweigerungshaltung mit dem Leben bezahlen. Ebenso Wilhelm Rahde aus Löhne,
der nach offenbar religiös motivierter „Fahnenflucht“, noch am 1. Mai 1945, als der
Krieg in seiner Heimat längst zu Ende war, standrechtlich erschossen wurde. Damit
sind bisher im Kreis Herford fünf von reichsweit mehr als 250 Todesurteilen infolge
Kriegsdienstverweigerung gegen Zeugen Jehovas bekannt geworden.
xli
Zusammenfassung
Um einen zahlenmäßigen Überblick zu geben, kann nach derzeitiger Quellenlage
folgendes festgestellt werden: Im Bereich der Orte, Herford, Löhne, Vlotho, Bünde
und der Ortschaften des heutigen Hiddenhausen sind durch Aktennachweise und
Aussagen von Zeitzeugen für die Zeit ab 1933 mindestens ca. 100 Zeugen Jehovas
namentlich nachweisbar. Wie die nachfolgende Liste erkennen lässt standen
mindestens 44 von ihnen vor unterschiedlichen Gerichten, mindestens eben so viele
wurden zu Haftstrafen verurteilt bzw. befanden sich in Untersuchungshaft, wobei die
Haftzeiten zwischen wenigen Wochen und – unter Einbeziehung der KZ-Zeiten –
sieben Jahren und vier Monaten schwanken. Zwei Kinder wurden ihren Eltern
entzogen und sieben Zeugen Jehovas verloren ihr Leben, davon fünf durch
Hinrichtung.
xlii
Stellt man diese – unvollständigen – Zahlen für den Raum Herford den bisher
ermittelten Ergebnissen der Geschichtsforschung für die Verfolgung im gesamten
Deutschen Reich gegenüber, so ergibt sich eine tendenzielle Übereinstimmung, was
das Ausmaß betrifft. Es ist davon auszugehen, dass es im Deutschen Reich im
Jahre 1933 rund 25.000 Zeugen Jehovas gab. Nach unvollständigen Angaben
wurden von 1933 bis 1945 fast 10.000 Zeugen Jehovas unmittelbar Opfer des
Nationalsozialismus (d.h. Verlust des Arbeitsplatzes oder der Rente, Kinder entführt,
european-migration/Jehovas Zeugen
16
Verurteilung zu Geld- oder Haftstrafen usw.). Ungefähr 8.000 waren in Gefängnissen
und Konzentrationslagern inhaftiert, wobei etwa 1.400 das Leben verloren, davon
über 360 durch Hinrichtung (einschließlich Wehrdienstverweigerer). In etwa 500
Fällen wurde Eltern das Sorgerecht für Ihre Kinder entzogen.
xliii
Die von Detlef Garbe damit im Zusammenhang vorgenommene Bewertung wird
mit Blick auf die Ereignisse im Kreis Herford auch hier Gültigkeit haben: „Wenn es
auch die bislang zumeist genannten Zahlen zu korrigieren galt, so bleibt doch
festzuhalten, daß die Zeugen Jehovas – nach den Angehörigen des jüdischen
Glaubens – die am härtesten vom NS-Regime verfolgte Glaubensgemeinschaft
waren.“
xliv
i
Minninger, Monika: EINE BEKENNENDE „KIRCHE“ – ZUR VERFOLGUNG VON ZEUGEN
JEHOVAS IN OSTWESTFALEN UND LIPPE 1933 – 1945, Bielefeld 2001 (im folgenden: Minninger,
Bielefeld 2001). Bezugsquellen der Studie: Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek,
Rohrteichstr.19, 33597 Bielefeld; Arbeitskreis LILA WINKEL, c/o Henning Kahle, Am Landerbach 33a,
33758 Schloß Holte. Zu den Arbeiten verschiedener Historiker zum Thema siehe die voranstehende
Literaturliste der Studie.
ii
Yonan, Gabriele: Jehovas Zeugen, Opfer unter zwei deutschen Diktaturen, 1939 –1945, 1949 –
1989,
Berlin 1999.
iii
UaP (Unterlagen aus Privatbesitz), Jochen Schlüer, Anklageschrift S. 6, 7.
iv
Ebd., hier Urteilsabschrift des Prozesses.
v
KAH (Kommunalarchiv Herford), Kreis Herford, Personalakten Carl Hoffmann, P 2121,
freundlicherweise von Christoph Laue zur Verfügung gestellt.
vi
Wie Anm. 3, hier Kündigungsschreiben und Zeugnis des Amtsgerichts Herford.
vii
Ebd., hier Haftbescheinigung, Gefängnis Bielefeld.
viii
StA (Staatsarchiv) Detmold, Bestand D 21 A, Nr. 1347.
ix
Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas, Selters/Taunus, handschriftliche Mitteilung von Friedrich
Meyer, 04.10.1945.
x
Erinnerungsbericht Hildegard Schlüer, geb. Meyer; Brief wie Anm. 3.
xi
StA Detmold, Bestand D 21 A, Nr. 268
xii
Kaufhold, Bernd/De Witt, Jan: Die Verfolgung der Bibelforscher und Kommunisten in Löhne und
Hiddenhausen von 1933 – 1945 und die Wiedergutmachung nach 1945. Hausarbeit im
interdisziplinären Seminar Geschichtswissenschaft/Rechtswissenschaft, Universität Münster, Masch.,
1991. Die in der Arbeit zu findende Schreibweise des Hausnamens (Dalier statt Dreier) könnte auf
einem Lesefehler aufgrund undeutlicher Handschrift in den Prozessakten beruhen, da alle anderen
Daten weitgehend übereinstimmen. Der Enkel Heinrich Dreier bestätigt in bezug auf Wilhelmine Dreier
die dargestellte Ereignisabfolge (Inhaftierung, vorzeitige Entlassung aus Gesundheitsgründen, kurz
darauf folgender Tod), Telefoninterview vom 15.7.1997.
xiii
KAH Herford, Kreis Herford, Wiedergutmachungsakten A. Wiesner; StA Münster, Akten des SG
Dortmund, Nr. 1942; s.a. Bünder Generalanzeiger, 14. Februar 1939: „Sondergericht Dortmund in
Bünde/Ehepaar wegen verbotener Bibelforschertätigkeit verurteilt.“ Zu 1944: StA Detmold, Bestand D
21 A, Nr. 311.
xiv
Ebd. ; zu 1944: StA Detmold, Bestand D 21 A, Nr. 1113; ferner Geschichtsarchiv der Zeugen
Jehovas, handschriftliche Mitteilungen von R. Wiesner, 22.10.1945.
xv
Dazu ausführlicher: Minninger, Bielefeld 2001, S. 22 –25 unter Hinweis auf Raumer und Haase
(Anm.89).
xvi
StA Detmold, Bestand D21A, Nr. 279.
european-migration/Jehovas Zeugen
17
xvii
Zur Entwicklung dieser zunächst unterschiedlich, ab Dez. 1938 einheitlich formulierten Erklärungen
siehe Garbe, Detlef: Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im „Dritten Reich“,
Studien zur Zeitgeschichte, 3. Aufl. München 1997 (im folgenden: Garbe, 1997), S. 302-310.
xviii
xix
xx
Wie Anm. 16
Puvogel Ulrike: Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, Bonn 1995, S. 610.
KAH, Kreis Herford, Wiedergutmachungsakten Sandor Baier.
xxi
Ebd.
xxii
Die Angaben zur Auflösung des Lagers Lahde sind entnommen aus Brinkmann, Friedrich, Das
‚Arbeitserziehungslager’ Lahde 1943-1945, in: Joachim Meynert/Arno Klönne (Hg.), Verdrängte
Geschichte. Verfolgung und Vernichtung in Ostwestfalen 1933-1945, Bielefeld 1986, S. 167-199.
xxiii
KAH, Kreis Herford, Wiedergutmachungsakten Heinrich Gerlach.
xxiv
xxv
Garbe, 1997, S. 300.
Wie Anm. 23.
xxvi
StA Münster, Akten des SG Dortmund, Nr. 1741; ferner KAH, Kreis Herford,
Wiedergutmachungsakten Wilhelm Johannsmeier.
xxvii
Garbe, 1997, S. 307.
xxviii
xxix
Ebd., S.405-406.
KAH, Kreis Herford, Wiedergutmachungsakten von Wilhelm, Mathilde, Irmgard und Helmut Brune.
xxx
Ebd., Abschrift des Gerichtsbeschlusses, Brief des Vaters. Ferner EB Irmgard Döhr, geb. Brune,
26.4.1997.
xxxi
Neue Westfälische, 8.3.1997, Lokalausgabe Löhne, Schilderung der Witwe Marie Kaminski, verw.
Joecks. Der dortigen Schreibweise des Hausnamens (Jögst statt Joecks) liegt ein Schreibfehler
zugrunde.
xxxii
xxxiii
xxxiv
KAH, Kreis Herford, Wiedergutmachungsakten Willi Joecks.
UaP, Familie Kaminski, Löhne.
Die nachfolgende Schilderung des Schicksals von Hermann Abke basiert im wesentlichen auf den
Nachforschungen von Dieter Begemann, veröffentlicht in: ders., Ein Wehrdienstverweigerer geht in den Tod,
Neue Westfälische, Nr. 268, 17.11.1990, Lokalausgabe Herford.
xxxv
UaP, Dieter Stuckmann, Postkarte von Hermann Abke.
xxxvi
Bundesarchiv Zentralnachweisstelle, Wehrstammunterlagen Hermann Abke, hier: Tatbericht und
Vernehmungsniederschrift, 2.5.1944.
xxxvii
Ebd., hier: Bestätigungsverfügung.
xxxviii
xxxix
UaP, Dieter Stuckmann, Abschiedsbrief.
wie Anm. 36, Mitteilung des Reichskriegsgerichts.
xl
Garbe, 1997, S. 365, vgl. dort auch S. 379-384, „Grundsätzlich keine ‚minder schweren’ Fälle”. Zur
Rolle Adolf Hitlers siehe S. 370-372.
xli
KAH, Kreis Herford, Wiedergutmachungsakten zu Möller, Ostermöller und Rahde.
xlii
Die Verfolgtenliste zum Kreis Herford sowie die Literaturliste zum Thema, wurden aus der unter
Anm. 1 beschriebenen Studie mit freundlicher Genehmigung der Autorin übernommen.
xliii
Wrobel, Johannes (Leiter des Geschichtsarchivs der Zeugen Jehovas, Selters/Taunus): Die
Verfolgung der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus – Forschung, Rezeption und Erinnerung
(Kurzreferat über die Opfergruppe vor dem Beirat der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden
Europas), Berlin, 15. Juli 2001.
xliv
Garbe, 1997, S. 500.
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