Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat Der hypothetische und der empirische Volkswille 1. Ein idealtypisches repräsentatives Regierungssystem strebt nach der optimalen Realisierung des Volkswillens (Vorzug des hypothetischen Volkswillens), stellt gleichzeitig das Funktionieren des Staatsapparates sicher und gewährleistet Rechtssicherheit und Einflussmöglichkeit von Minoritätsgruppen. 2. Ein idealtypisches plebiszitäres Regierungssystem strebt nach der optimalen Kongruenz von empirischem Volkswillen und Gesamtinteresse (Vorzug des empirischen Volkswillens). 3. Aus der Gefahr der Selbstauflösung, die sowohl dem repräsentativen als auch dem plebiszitären Prinzip droht, ergibt sich das Postulat, ein gemischt plebiszitär-repräsentatives, demokratisches Regierungssystem auszugestalten. Repräsentative und plebiszitäre Elemente im englischen Regierungssystem 4. Burkes Repräsentativtheorie der absoluten Souveränität des englischen Parlaments als Vertretung des Volkes erforderte die Verwerfung des imperativen Mandats und die Anerkennung der Notwendigkeit parlamentarischer Parteienbildung („party“ = Fraktion!). 5. Das englische parlamentarische Regierungssystem befindet sich zwar im Übergangsstadium zum plebiszitären System, ist aber – durch den Einfluss der „trust-Idee“- seinem Wesen nach eine repräsentative Demokratie. ( Idee des „King in Parliament“) Repräsentative und plebiszitäre Elemente im Regierungssystem der USA 6. In dem Regierungssystem der USA herrscht eine Diskrepanz zwischen der Verteilung der repräsentativen und plebiszitären Komponente im Bund und in den Einzelstaaten seit Erlass der amerikanischen Verfassung 1787. Ein plebiszitär gewählter Präsident steht einem unabhängigen Kongress als Repräsentativorgan gegenüber. ( Idee der „checks and balances“). Volksbegehren, Volksentscheid und Repräsentativverfassung 7. In einem demokratischen Verfassungsstaat sind plebiszitäre Verfassungsinstitutionen nur dann unentbehrlich, wenn der empirische Volkswille daran gehindert ist, in angemessener Weise die Parteiinstanzen unmittelbar zu dirigieren und dergestalt mittelbar die Staatsinstanzen zu kontrollieren. 8. Gekennzeichnet wird eine parlamentarische Demokratie dadurch, dass ihre Parteien als Parlamentsfraktion Träger eines repräsentativen, und als Massenorganisationen Träger eines plebiszitären Regierungssystems sind. Repräsentative und plebiszitäre Elemente in der französischen Verfassungsentwicklung 9. Die französische Demokratie ist geprägt von einem Kampf zwischen repräsentativen und plebiszitären Elementen (Bsp. Problem der Parlamentsauflösung). 10. Eine zusätzliche Sozialverfassung beseitigt die Gefahr der einseitig-repräsentativen Staatsverfassung, in dem plebiszitären Kräften ein Betätigungsfeld eröffnet wird (vgl. Französische Revolution). Repräsentative und plebiszitäre Elemente in der Verfassungsdiskussion der deutschen Linken vor 1918 11. Das deutsche politische Denken wurde von den Entwicklungen in England, Amerika und Frankreich beeinflusst. 12. Die monarchische Souveränität verschleierte viele Probleme im Hinblick auf die Frage nach Volkssouveränität. In der Geburtsstunde der deutschen Republik („Alle Macht den Räten“) war der Sturz der Monarchie mit einem Frontalangriff auf das Repräsentativsystem verbunden. Repräsentative und plebiszitäre Elemente im Regierungssystem der Weimarer Republik 13. Der Weimarer Republik wurde ihr Bekenntnis zu einem plebiszitären Typ der Demokratie zum späteren Verhängnis. Repräsentative und plebiszitäre Elemente unter der Herrschaft des Grundgesetzes 14. Demokratie im Staat ist abhängig von der Demokratie innerhalb der Parteien – die Frage nach einem möglichen Ausgleich zwischen plebiszitären und repräsentativen Komponenten ist primäres Problem der Parteiverfassung. Diskussionsfragen Frage 1: Wichtiger als der Erlass eines Parteiengesetzes dürfte die Entfaltung einer Parteiautonomie sein, durch die ein Vertrauensverhältnis zwischen den politisch aktiven Wählern und den Gewählten begründet wird., ohne das ein primär repräsentativ orientiertes Regierungssystem heute sich auf die Dauer nicht zu halten vermag. Von ausschlaggebender Bedeutung wird es sein, ob es gelingt, den Wähler nicht nur in seiner abstrakten Eigenschaft als Staatsbürger, sondern auch in seiner konkreten Eigenschaft als Mitglied seines Interessenverbandes davon zu überzeugen, dass seine Stimme gehört und berücksichtigt wird (vgl. S. 202). Wie kann es den Parteien und Interessenverbänden gelingen, in Zeiten einer vorherrschenden Politikverdrossenheit diese Wähler von sich zu überzeugen? Ist durch die abnehmende Wahlbeteiligung beispielsweise der Bestand der Demokratie noch gewährleistet? Frage 2: Der Bestand der Demokratie im Staat hängt ab von der Pflege der Demokratie in den Parteien. Nur, wenn den plebiszitären Kräften innerhalb der Verbände und Parteien ausreichend Spielraum gewährt wird, kann eine Repräsentativverfassung sich entfalten (vgl. S.203). Wie sieht dieser erforderliche „Spielraum“ aus? Welche Störfaktoren können die Entfaltung der Repräsentativverfassung verhindern? Frage 3: In Deutschland haben sich die Volksvertreter seit jeher um ein „Mandat“ beworben; sie haben sich von ihren Wählern abhängig gefühlt, weil ihnen - … - bestenfalls ein „Mitbestimmungsrecht“ zugestanden war. Sie haben traditionsgemäß eine Mittelstellung zwischen der „Obrigkeit“ und dem „Volk“ eingenommen (vgl. S. 188). Welche Stellung nehmen politische Funktionäre heute ein (Bundestagsabgeordnete etc.)? Frage 4: Parteien, die auf dem Prinzip der Fraktionsdisziplin aufgebaut sind, können nicht darauf verzichten, dass ihre Mitglieder und Funktionäre – ganz zu schweigen von ihren Abgeordneten - eine strikte Plebiszitdisziplin befolgen (vgl. S. 175). Demzufolge können Mandatsträger beispielsweise zu einer einheitlichen Abstimmung „gezwungen werden“ ( Rolle des „Fraktionszwangs“). Inwiefern entspricht dieses Vorgehen noch demokratischen Strukturen? Welche Konsequenzen kann dieses Vorgehen mit sich bringen (pro/contra)?